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in der Geistesgeschichte
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in einer Höhle lebt und deshalb nur einen
Antike: Plato und gebrochenen Zugang zur Realität hat. Was
Aristoteles wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, sind
in Wirklichkeit nur Schatten des wahrhaft
Der Maler Raffael (1483–1520) hat ein Seienden. Die eigentliche Wahrheit liegt
berühmtes Gemälde über „Die Schule im Bereich des Geistigen.
von Athen“ geschaffen. Darauf sieht man
im Zentrum des Geschehens die beiden Die Höhle steht für die mit unseren
Vordenker Plato und Aristoteles. Während Sinnen wahrnehmbare Welt. Der Höh-
ersterer mit einem Finger nach oben zeigt, lenbewohner muss nun einen harten
verweist letzterer in Richtung Erde. Aufstieg unternehmen, bis er mit seiner
Seele tatsächlich zur „Idee“ emporgelangt.
Plato (427-347 v. Chr.) zeigt also nach oben. Erst dann kann er erkennen, was hinter
Er geht von der übergeordneten Idee aus, den Dingen steht. Das Entscheidende
dem Urbild und dem Allgemeinen. Aber ist die Idee hinter den Dingen. Schon
schon Plato glaubt zu wissen, dass wir nur Plato thematisiert also das Problem einer
einen gebrochenen Zugang zur Wahrheit gebrochenen Wahrheitserkenntnis. Ihm
haben. Die gegenständliche Welt, die wir ist bewusst, dass der Mensch an die Idee
mit unseren Augen sehen und mit unseren als solche nicht herankommt. Plato geht
Händen begreifen können, ist nur ein immerhin noch davon aus, dass es eine
Schatten, ist nur Abbild einer Idee, welche absolute Wahrheit gibt. Aber wer kann sie
dahintersteht. In seinem berühmten „Höh- als Ganzes erfassen?
lengleichnis“ legt Plato diesen Gedanken
aus: Es spricht von Menschen, die in einer Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) dagegen
unterirdischen Höhle von Kindheit an zeigt mit seinem Finger nach unten und
so festgehalten sind, dass sie ihre Köpfe verweist damit auf die gegenständliche
nicht bewegen können. Sie sehen nur auf Welt. Er fordert, dass wir genau beobachten
die ihnen gegenüberliegende Wand. Die und den Dingen empirisch auf den Grund
Öffnung der Höhle liegt hinter ihnen. Dort gehen sollen. Er kommt zu einer klaren
brennt auch ein Feuer, so dass der Raum Definition des Wahrheitsbegriffs. „Wahr“
erhellt wird. Es werden Bilder und Gegen-
stände hinter dem Rücken der Menschen
Der Stärkere gewinnt
vorbeigetragen, so dass deren Schatten auf
der Wand erscheinen. Die Menschen in der
Höhle sehen nur den Schatten, nicht die
Dinge selbst. Deshalb halten sie die Schat-
ten für die reale Welt. Plato will damit sa-
gen, dass der Mensch in seinem Alltag wie
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Der Mensch - Nabel der Welt
weiter. Der Bereich der Gnade (in dem der ein wichtiges Thema - zugleich verlangten
biblische Anspruch gilt) wird zunehmend sie dessen biblische Orientierung und
an den Rand gedrängt, während sich der Normierung.
Bereich der Natur (in dem die menschlich- Es gilt festzuhalten: Während auch die
rationalistische Deutungshoheit gilt) Reformation sich als wissenschafts-
immer weiter aufbläht. Die zuletzt gülti- freundlich verstand, zum Gebrauch des
ge Interpretation und Bewertung seines Verstandes aufrief und zu einer kriti-
Lebens behält der neuzeitliche Mensch schen Haltung gegenüber menschlichen
sich selbst vor. In diesem revolutionären Traditionen, wusste sie doch zugleich
Prozess werden alle Autoritäten hinter- um die Begrenztheit und Fehlbarkeit
fragt, längst nicht nur die Bibel. allen menschlichen Denkens. Für Luther
war der Verstand eine „Hure“, die man
beliebig manipulieren und den eigenen
Die „moderne“ Reformation Wünschen dienstbar machen könne. Die
Folgen des Sündenfalls wiegen schwer.
Auch die Reformation erweist sich an Sie betreffen nicht nur das moralische
einigen Punkten als „quasi neuzeitlich“ Vermögen des Menschen, sondern ebenso
(während sie jedoch an anderen Stellen sein Denken und seine Fähigkeit, die
als dezidiert anti-neuzeitliches Kontrast- Wahrheit zu erkennen. Entsprechend
programm verstanden werden muss). hat die Reformation dem vom Sündenfall
Auch die Reformatoren gingen neue Wege gezeichneten menschlichen Verstand
- allerdings unter steter Berufung auf die niemals die Machtposition einer letzten
Bibel. Auch sie stellten Traditionen in Instanz zugestanden, sondern stets dessen
Frage - aber nur die menschlichen Traditi- Unterordnung unter die Autorität der
onen, die etwa zur Herausbildung der Ka- Bibel gefordert.
tholischen Kirche geführt hatten und der
Bibel widersprachen. Wie die Humanisten Genau diese Nüchternheit, die mit den
wollten auch die Reformatoren zurück zu Folgen des Sündenfalls rechnet, fehlt dem
den Quellen - aber nicht zu den Quellen klassischen Humanismus, der die Mög-
der Antike, sondern zu der einzig maßgeb-
Die wahre Quelle
lichen Quelle der Bibel. Das Gewissen des
Einzelnen war auch für die Reformatoren
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open minded
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10 Das
DasFundament
Fundament02.2010
02.2010
Die Suche nach Wahrheit in der Geistesgeschichte
Trotzdem ist die Neuzeit von einem zwischen Naturwissenschaft und Glaube
starken Optimismus geprägt, dass der zu konstatieren.
Mensch die Wahrheit erfassen, sein
Wissen vermehren und damit sein Leben Halten wir es fest: Der neuzeitliche Kon-
bewältigen könne. Karl Popper formulier- flikt zwischen Naturwissenschaft und
te diesen Optimismus so: „Die Wahrheit christlichem Glauben erwächst weder aus
mag verschleiert sein, aber sie kann sich der Naturwissenschaft als solcher noch
uns enthüllen. Und wenn sie sich uns aus dem Glauben als solchem. Er resultiert
nicht von selbst enthüllt, dann kann sie vielmehr aus einer ideologischen Gefan-
immerhin von uns enthüllt werden.“ genschaft, in die viele das naturwissen-
Natürlich brachte diese Einstellung viel schaftliche Denken hineinsperren wollen.
Kreativität hervor und förderte einen star- Dabei wird es weltanschaulich in Dienst
ken Erfindergeist. Die Naturwissenschaf- genommen und der Dogmenkonflikt mit
ten blühten auf, die technische Revolution den biblischen Vorgaben ist dann nicht
nahm eine Hürde nach der anderen. mehr zu vermeiden.
Aber der Humanismus war nicht der Bei Thomas von Aquin trat, wie wir
einzige Motor für die Entwicklung der Na- gesehen hatten, das Denken (Bereich der
turwissenschaften. Auch die Reformation Natur) eigenständig neben den Glauben
gewann aus der biblischen Offenbarung (Bereich der Gnade). Bei Descartes tritt
ein differenziert positives Verhältnis zur das Denken an die Stelle des Glaubens -
Welt. Gott ist ein Schöpfer der Ordnung. Denken statt Bibel! Es ist nur eine Frage
Er ist ein realer Gott, der handelnd und der Zeit, bis sich das Denken schließlich
ordnend seine Schöpfung gestaltet. Und
wenn ein guter und lebendiger Gott diese
Welt nach seinen Gesetzen erschaffen hat,
dann müssen sich diese Gesetzmäßigkei-
ten - auch nach dem Sündenfall – noch an-
satzweise in der Schöpfung wiederfinden
lassen. Darum lohnt es sich, die Naturwis-
senschaften zu fördern. Darum gibt es die
Chance, Spuren des Schöpferhandelns in
seinen Geschöpfen wiederzufinden. Nicht
wenige Naturwissenschaftler jener Zeit
waren überzeugte Christen und betrieben
ihre Forschung mit der hier beschrie-
benen Motivation. Sie wären nicht auf
die Idee gekommen, einen Widerspruch
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gegen die Bibel und ihren autoritativen lässige Informationen über die Natur, die
Anspruch richten wird. Da wird dann Geschichte, die Moral und den Menschen
die Wahrheitskompetenz des Glaubens erhalten wir nur aus der Kombination von
prinzipiell bestritten und es darf per de- Sinneswahrnehmung und Vernunftge-
finitionem keine Offenbarung über reale, brauch. Um es holzschnittartig zu sagen:
geschichtliche oder naturwissenschaft- Der Verstand interpretiert die eingehen-
liche Zusammenhänge geben. Somit den Sinneseindrücke und erstellt sich auf
kommen wir zu Immanuel Kant. diesem Wege sein Bild von der Wirklich-
keit. Dabei hilft ihm ein mit bestimmten
Voraussetzungen ausgestatteter „Erkennt-
Immanuel Kant nisapparat“. (Nach Kant liegen unserem
Verstand a priori bestimmte Formen und
Thomas hat die Kompetenz des Denkens Kategorien zugrunde, mit denen wir die
von der Kontrolle durch die biblische Of- uns begegnenden Eindrücke erfahren
fenbarung getrennt. Bei Kant (1724-1804) und ordnen.) Zugang zu den Dingen an
kommen wir zu einer Art Quantensprung, sich, welche hinter der Erfahrung liegen,
mit dem Glaube und Wissen total vonein- ist nach Kant nicht möglich (vergleiche
ander getrennt werden. Eine Mauer der hier auch das Höhlengleichnis Platos).Wir
Scheidung entsteht. Die Rationalität hat erstellen mit Hilfe der a priori-Kategorien
nichts mehr mit Glauben und Offenba- nur ein Bild von der Wirklichkeit. So
rung zu tun. In der Philosophiegeschichte entsteht „Erkenntnis“.
spricht man hier von einer agnostischen
Wende. Für den „oberen Bereich“ von Of- Die radikale Kritik an jeder übergeordne-
fenbarung und Glauben kann man nicht ten Offenbarung, an allen Dingen jenseits
wirklich Sinnvolles erkennen und aus- des Greifbaren, ist das Produkt dieses
sagen. Kant fordert eine Aufklärung, die Denkens. Kant stellt alle Erkenntnis auf
den Menschen von seiner „Unmündigkeit“ die Spitze des autonomen Subjekts. Ganz
gegenüber allen autoritativen traditions- allein aus sich heraus erstellt sich der
bedingten Vorgaben befreit. Wenn er eine Mensch sein Bild von der Wirklichkeit.
strikte Trennung zwischen Glauben und
Denken vollzieht, stellt sich die Frage, wie
wir dann überhaupt noch Erkenntnisse
gewinnen können. Antwort: Allein durch
Sinneswahrnehmung und den Gebrauch
des Verstandes können wir Erkenntnis
gewinnen, ohne dass wir eine zusätzliche
Informationsquelle benötigten, die uns
von außen mit Wissen versorgt. Zuver-
„Wohin gehts?“
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es ist ihnen kein Erfolg beschieden, am ihrer Erkenntnis. Statt dessen nehmen im
Ende des Tages droht der postmoderne Gefolge des 18. Jahrhunderts die Kennzei-
Totalverlust. chen der Verunsicherung weiter zu. Dafür
Die Hoffnung, durch eigene Denkanstren- stehen exemplarisch drei Protagonisten,
gungen dem Ziel näher zu kommen und deren Beitrag zur Wahrheitssuche im
wirkliche Wahrheit zu erkennen, hat sich Folgenden kurz skizziert sei.
nicht erfüllt. Die vielen Egos und unter-
schiedlichen Wahrheitssucher und Selbst-
denker sind in einem beständigen Streit Friedrich Nietzsche
miteinander. Es gab auch keine Chance,
in diesem Streit zu schlichten. Denn dann Nietzsches (1844-1900) provokante These
hätte es einer übergeordneten Instanz behauptet: Gott ist tot. Religionen und
bedurft, vor der sie sich alle hätten verant- Weltanschauungen sind Ausdruck für
worten müssen. Dieser letzte Maßstab, die das Bedürfnis des Menschen nach Sinn,
Autorität Gottes in seinem Wort, wurde Struktur und Halt. Selbst philosophische
abgelehnt, lächerlich gemacht, ja sogar Systeme sind am Ende nur Fiktionen, die
gewaltsam zerstört. uns vor unseren Sinnlosigkeitsgefühlen
schützen und unser Herz zur Ruhe brin-
Die bisher skizzierte Entwicklungsge- gen sollen. Philosophie führt niemals zur
schichte des Wahrheitsbegriffs ist bei Wahrheit. Und auch wissenschaftliche
aller Unterschiedlichkeit der Zugänge Bemühung entspringt nicht Wahrheitsei-
dennoch durch eine entscheidende fer, sondern ist dem Willen zur Macht ge-
Gemeinsamkeit bestimmt; bei aller Un- schuldet. Gott gibt es nicht, folglich auch
sicherheit, dennoch durch eine erstaun- keine verbindlichen Werte. Wir können
liche Gewissheit: Die Bibel spielt bei dem nicht erwarten, in irgendeiner übergeord-
Versuch der Erkenntnisgewinnung keine neten Theorie Wahrheit zu finden. Es gibt
Rolle mehr. In der Folge steht der Mensch
nun ganz allein bei sich selbst und seinen
erfolglosen Denkversuchen. Wahrheit finden
Zwischenbilanz:
Die Moderne stolpert
Gefangen
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„Objektive Wahrheit“