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JOHANNES

VOM KREUZ

DIE

LEBENDIGE FLAMME
BRIEFE
und

ANWEISUNGEN

1
ZUM VERLAG

PDF erstellt von André Rademacher

2
Inhalt
BRIEFE

0I. BRIEF 5
02. BRIEF 5
03. BRIEF 6
04. BRIEF 6
05. BRIEF 7
06. BRIEF 8
09. BRIEF 9
10. BRIEF 10
11. BRIEF 11
12. BRIEF 13
13. BRIEF 14
14. BRIEF 14
15. BRIEF 15
16. BRIEF 16
17. BRIEF 16
l8. BRIEF 17
19. BRIEF 18
20. BRIEF 19
21. BRIEF 20
22. BRIEF 21
23. BRIEF 22
24. BRIEF 22
25. BRIEF (FRAGMENT) 22
26. BRIEF 23
27. BRIEF (FRAGMENT) 23

WEISUNGEN 25

WEISUNGEN AN EINEN ORDENSGEISTLICHEN 25


ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT 25
VORSICHTSREGELN 27
GEGEN DIE WELT 27
GEGEN DEN DÄMON 28
GEGEN DAS FLEISCH 30
GUTACHTEN DES HEILIGEN ÜBER EINE ORDENSTOCHTER 30
UND DIE BEGLEITERSCHEINUNGEN IHRES GEBETES 30
AUSSPRÜCHE EINSICHTIGER LIEBE ' GEBET 31
WEISUNGEN DER LIEBE 37
WEISUNGEN DES HEILIGEN 42
ANDERE WEISUNGEN 43
GEBET HEILIGER LIEBE 43

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G E D I C H T E 46

LEBENDIGE LIEBESLOHE 47
GESÄNGE DER SEELE IN DER INNIGSTEN GOTTEINIGUNG 47
Erste Strophe 48
Zweite Strophe 59
DRITTE STROPHE 69
vierte Strophe 92

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BRIEFE

I. BRIEF

An die M. Catalina von Jesus

Catalina von Jesus legte die Gelübde bei den Karmelitinnen der Reform in Valladolid ab, im Jahre 1572. Sie war
in der Gründung Palencia, als Johannes vom Kreuz ihr diesen Brief schrieb. Von dort nahm Teresa sie für ihre
Gründung in Burgos mit. Sie h in einem Kloster der Reform in Soria. Der Heilige schreibt ihr als einer vertrauten
Tochter und spielt auf seine Gefangenschaft in Toledo an, sich mit Jonas vergleichend.

Jesus sei in Ihrer Seele, meine Tochter Catalina!

Wenn ich auch nicht weiß, wo Sie weilen, möchte ich Ihnen doch diese Zeilen schreiben, im Vertrauen, daß un-
sere Mut ter sie Ihnen zustellen wird, falls Sie nicht mit ihr unterwegs sind. Und wenn Sie nicht mit ihr reisen
können, dann trösten Sie sich mit mir: ich bin entlegener verbannt und einsamer hierzulande. Seitdem mich je-
ner Walfisch einschluckte und mich in diesem seltsamen Hafen ausspie, ist es mir niemals beschieden gewesen,
weder sie noch die Heiligen dort zu sehen. Gott lenkte es zum Heil Verlassenheit meißelt uns aus, und erduldete
Finsternis ist Vorläufer starken Lichtes.

Gefalle es Gott, daß wir nicht in Finsternis dahingehen. Oh, gar vieles möchte ich Ihnen sagen! Doch ich schreibe
allzusehr ins Dunkle hinein, ohne Hoffnung, daß Sie solches empfangen; so breche ich ab.

Gedenken Sie meiner vor Gott. Nichts weiteres möchte ich Ihnen von hier mitteilen, der Sinn steht mir nicht
danach.

Baeza, 6. Juli 1581


Ihr Diener in Christus
Fray Juan de la Cruz

2. BRIEF

Die an zweiter und dritter Stelle angeführten Briefe des Ordensvaters entstammen einer feierlichen Erklärung der
Empfänger' die sie unvollständig zitiert. Die Empfängerin, Ana von St. Albtus, gehört zu den vertrauten Töchtern
der Ordenseltern. Im Jahre 1575 wurde sie von Teresa zur Gründerin in Caravaca bestimmt ein Karmel, in dem
sie sich viele Jahre als Prior in bewährte. Während seines Rektorates in Baeza war Johannes zum erstenmal im Kar-
mel zu Caravaca, nachdem Teresa ihn der Priorin brieflich als ihr anderes Ich, als begnadeten Helfer in seelischen
Nöten empfohlen hatte. Erhalten ist noch ein Brief des Heiligen an die Priorin aus dem Jahre 1586 (Nr. 4) und
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ein weiterer aus seinem Todesjahr.

An die M. Ana von St. Albertus, Priorin im Karmel von Caravaca

Wie lange vermeinen Sie, Tochter, daß fremde Arme Sie voranbringen sollen? Ich möchte Sie nun in so großer
Entblößung und Unabhängigkeit von der Kreatur sehen, daß die ganze Hölle Sie nicht zu erschüttern vermag.
Wie unberech tigt sind die Tränen, die Sie jetzt vergießen! Wieviel wert volle Zeit, bedenken Sie, geht Ihnen über
solchen Skrupeln verloren! Wenn Sie mir Ihre Schwierigkeiten mitteilen wol len, dann treten Sie vor jenen makel-
losen Spiegel des ewigen Vaters, vor seinen Sohn, in dem ich Sie jeden Tag gewahre; und ohne Zweifel werden Sie
von dort getröstet hinwegge hen und es nicht nötig haben, vor den Türen armer Leute zu betteln.

3. BRIEF

An die M. Ana von St. Albertus, Priorin in Caravaca

Wenn Sie mir auch nichts sagen ich sage Ihnen, seien Sie nicht töricht, plagen Sie sich nicht mit Befürchtungen,
die Ihre Seele entmutigen. Sie schulden Gott, was er Ihnen gegeben hat und Tag für Tag gibt. Es hat den Anschein,
als wollten Sie Gott mit dem Maße Ihrer eigenen Fähigkeit essen; und das darf nicht sein. Bereiten Sie sich vor:
Gott will Ihnen eine große Gnade erweisen.
Fray Juan de la Cruz

4. BRIEF

An die M. Ana von St. Albertus, Priorin in Caravaca

Sevilla, Juni 1586

Jesus sei in Ihrer Seele. Als ich nach Granada zur Gründung in Cordoba aufbrach, habe ich Ihnen in Eile ge-
schrieben. Und hier in Cordoba empfing ich Briefe von Ihnen und von den Herren, die nach Madrid reisten
und die wohl glaubten, mich auf der Ordenstagung zu treffen. Wissen Sie, zu dieser Versammlung ist es nicht
gekommen, da ein Ende dieser Visitationen und Gründungen noch nicht abzusehen ist. Der Herr geht in diesen
Tagen so stürmisch vor, daß wir kaum durch solchen Andrang hindurchwaten können. Die Grün dung unseres
Mönchskarmel in Cordoba ist abgeschlossen, mit einer Festlichkeit und einem Beifall der ganzen Stadt, wie sie
hier noch keinem Orden bereitet worden sind. Denn die ganze Geistlichkeit und die Bruderschaften schlossen
sich an; und das Heiligste Sakrament wurde aus der Haupt kirche aufs feierlichste hinausgetragen; alle Straßen
reich aus geschmückt, und das Volk wie an Fronleichnam. Das war am Sonntag nach Himmelfahrt; und der Herr
Bischof kam und predigte und spendete uns hohes Lob. Das Kloster befindet sich in der besten Lage der Stadt, im
Sprengel der Hauptkirche. Schon sorge ich in Sevilla für die Übersiedelung unserer Nonnen; diese haben einige
ausgezeichnete Häuser dort ge kauft und bezahlten trotz deren Wert von mehr als zwanzig tausend Dukaten nur
etwa vierzehntausend Dukaten dafür. Schon sind sie eingezogen; und am Tage des heiligen Barnabas wird der
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Kardinal das Heiligste Sakrament mit großer Feierlichkeit dort aufstellen. Und ich möchte dort vor meiner Abrei-
se ein anderes Mönchskloster gründen, so daß deren zwei in Sevilla geben wird. Von hier breche ich Johannistag
nach Ecija auf, wo wir mit Gottes Beistand ' weiteres gründen werden, und von dort sogleich nach Mal ga, von
dort weiter zur Ordenstagung.

Wollte Gott, ich hätte Ermächtigung für die erwähnt Gründung, wie ich sie für die hier genannten habe, dann
würde ich unverweilt ans Werk gehen. Auf der Tagung will ich mein Bestes tun. Sagen Sie das jenen Herren, de-
nen ich noch schreiben will.

Es mißfällt mir, daß mit den Patres der Gesellschaft Jesu nicht sogleich der Vertrag abgeschlossen worden ist.
Nach meiner Erfahrung stehen sie nicht zuverlässig zu ihrem Wort sie könnten nicht nur manches abändern wol-
len, sondern wie ich sie kenne, bei einem längeren Hinzögern ihre Zusage ganz zurückziehen, falls es ihnen nütz-
lich erscheint. So las sen Sie sich's gesagt sein: verhandeln Sie mit Herrn Gonzalo Munoz, ohne den Patres oder
anderen Personen etwas mitzuteilen. Verhandeln Sie mit ihm über den Kauf jenes anderen Hauses in der anderen
Lage. Machen Sie alles schriftlich; am Ende werden jene dann zugänglicher. Und wenig Hegt daran, wenn man
nachträglich erfährt, daß wir mit dem Kauf der Häuser uns von jenem Ärger befreien wollten. Vielleicht werden
jene schließlich einlenken, so daß wir ohne derartiges Kopfzerbrechen zum Ziele kommen. Unterrichten Sie nur
wenige und handeln Sie; denn Umschweifen kann man oft nur durch Umschweife begegnen.

Das Büchlein mit den Kanzonen des Geistlichen Gesanges möchte ich von Ihnen zurückerbitten. Denn inzwi-
schen dürfte Madre de Dios die Abschrift vollendet haben.

Allzusehr verzögert sich diese Tagung; das bedaure ich, weil sich die Aufnahme von Dona Catalina dadurch hin-
zieht. Ich würde sie gern gewähren ...

Ihr Diener Fray Juan de la Cruz


Bitte empfehlen Sie mich Herrn Gonzalo Munoz, dem ich nicht durch Schreiben lästig fallen will.
Auch wird Euer Liebden ihm meinen Brief mitteilen.

5. BRIEF

An die unbeschuhten Karmelitinnen in Beas

Von den zweifellos zahlreichen Briefen, die Johannes an die ihm besonders liebe Gemeinschaft und an einzelne
Schwestern dieser Gemeinschaft geschrieben haben wird, sind nur die drei folgenden erhalten. Einige dieser Kar-
melitinnen, zumal Ana de Jesus, sind von kirchengeschichtlicher Bedeutung.

Jesus sei in Ihren Seelen, meine Töchter. Denken Sie viel leicht, weil ich so stumm bleibe, ich verlöre Sie aus den Au
gen, und ich beachtete nicht mehr, wie überaus leicht Sie auf Ihrem Wege heilig werden können, und wie Sie im
sicheren Schutz Ihres beseligenden Geliebten und Bräutigams voran schreiten? Nun, ich komme zu Ihnen, und
Sie werden sehen, ich vergaß Sie nicht; und wir werden Ihre Schätze zusammen betrachten, die gewonnen sind
in der reinen Liebe und auf den Pfaden des ewigen Lebens, betrachten werden wir Ihr schönes Voranschreiten in
Christus. Entzücken und Krone sind ihm seine Bräute, Kronen, die nicht über den Boden rollen dürfen, sondern
nach ihrem Werte von Engelhänden erhoben und ehrfürchtig auf das Haupt des Herren gesetzt werden sollen.
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Wenn das Herz zur Erde niedertrachtet, dann rollt die Krone hinab, und jede Niedrigkeit kann sie mit Füßen
treten. Doch wenn das Herz hochstrebend wird, wie David es kennzeichnet, dann wird Gott erhöht und bekrönt
mit der Hochherzigkeit seiner Braut, am Tage seiner innigen Freude, seines Weilens mit den Menschenkindern.
Diese Gewässer innerer Erquickung entspringen nicht der Erde. Empor zum Himmel soll sich der Mund des
Verlangens richten, frei von allem anderen Ausfüllenden. Und damit der Mund des Verlangens nicht durch den
Geschmack eines andersartigen Bissens geschmälert wird, öffne er sich unbelastet empor zu ihm, der verheißt:
«Öffne deinen Mund weit, und ich werde ihn dir anfüllen» (Ps 80, 11).

Wer demnach bei irgend etwas seine Lust sucht, der ist bereits nicht mehr ledig für Gottes ausfüllende Beseli-
gungen. Entsprechend dem Beginn ist der Verlauf. Wer mit beladenen Händen vor Gott hintritt, der kann seine
Gaben nicht mehr ergreifen. Gott befreie uns von so argen Belastungen, die uns so kostbarer Freiheit berauben.

Dienen Sie Gott, meine geliebten Töchter in Christus; folgen Sie seinen Fußspuren, seiner Selbstverleugnung
in aller Geduld, im Stillschweigen und im Verlangen nach Lei den als Vernichter des Behagens, abtötend, was
vielleicht noch zu ertöten blieb, so daß nichts die innere Auferstehung des Geistes behindert, der in Ihren Seelen
weilen möge.

Aus Malaga, 18.November 1586


Ihr Diener
Fray Juan de la Cruz

6. BRIEF

An die unbeschuhten Karmelitinnen von Beas

Jesus, Maria seien in Ihren Seelen, meine Töchter in Christus. Tröstlich war mir Ihr Brief; unser Herr vergelte
Ihnen. Wenn ich nicht schrieb, war es nicht fehlender Wille, denn aufrichtig wünsche ich Ihr Bestes. Nur scheint
es mir, es sei genug gesagt und geschrieben, ausreichend, um das Wich tige ins Werk zu setzen. Und wenn noch
etwas fehlen sollte, so ist es nicht Schriftliches oder Mündliches, woran zumeist kein Mangel besteht, sondern es
ist Schweigen und Wirken. Zudem zerstreut das Sprechen, und schweigende Betätigung

bringt Sammlung und stählt den Geist. Sobald jemand auf gefaßt hat, was ihm zu seiner Förderung gesagt wurde,
braucht er nichts Weiteres zu hören oder zu reden, er braucht es nur ernstlich ins Werk zu setzen, in Stille und
Sorgfalt, in selbstverleugnender Demut und Liebe. Nicht tut es not, sogleich auf Neues auszugehen, womit nur
der Trieb nach Äußerlichem befriedigt werden soll und doch nicht befriedigt wird, wodurch aber der Geist ge-
schwächt und öde wird, ohne innere Kraft. Bei solcher Veräußerlichung fördert we der das Erste noch das Letzte;
es ist wie eine Überladung mit Speisen, wobei die natürliche Wärme sich zerspaltet und die Kraft fehlt, die Speise
zum Nährstoff zu verarbeiten, was zur Erkrankung führt. Überaus notwendig ist es, meine Töchter, den Kern des
Geistes dem Dämon und der Sinnlichkeit zu entziehen. Geschieht das nicht, so finden wir uns unversehens zu-
rückgeglitten und weit entfernt von den Tugenden Christi. Und wenn wir zu uns kommen, dann finden wir unse-
re Arbeit mißraten; und unsere Lampe, die zu leuchten schien, scheint nun erloschen, so als ob unser anfachender
Hauch nur dazu gedient hätte, sie zu ersticken. Um das zu verhindern, sage ich: es gibt kein besseres Hilfsmittel
als Leiden, Wirken und Schweigen und die Augen schließen, hingegeben an die Einsamkeit, im Vergessen aller
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Kreaturen und aller Ereignisse, mag auch die Welt vergehen. Ob Gutes oder Böses, bleiben Sie gelassenen Her-
zens, voll inbrünstigen Verlangens, bei allem, was sich bietet, sich zu kasteien. Denn die Vollkommenheit ist von
so erhabener Bedeutung, und die Beseligung des Geistes hat so hohen Preis, wollte Gott, daß all das Genannte
dafür hinreicht. Gott zu nahen, ist ja unmöglich, es sei denn in der Tugendkraft des Handelns und Leidens, ganz
eingehüllt in Schweigen. Das habe ich mir sagen lassen, Töchter: die Seele, die ihre Aufmerksamkeit leichthin auf
Gerede und Umgang richtet, sie merkt sehr wenig auf Gott. Merkt sie auf ihn, dann wird sie von inneren Mächten
flugs in das Schweigen gezogen,

Hochwürden mit steter Sorgfalt darauf achten, daß weder Priester noch andere sich in die Ausbildung der No-
vizen einmischen. Wie Euer Hochwürden weiß, gibt es für die Novizen nichts Verderblicheres, als durch viele
Hände zu gehen und von Unzuständigen durchgerüttelt zu werden. Und da in Ihrem Konvent so viele sind, sollte
der Pater Fray Angel Unterstützung und Erleichterung finden, wie wir ihn denn auch zum Prior ernannt haben,
um ihm mehr Autorität zu verleihen. Hingegen scheint Pater Fray Miguel in Ihrer Gemeinschaft jetzt nicht unent-
behrlich zu sein, so daß er dem Orden an anderer Stelle wohl besser dienen könnte. Über Pater Gracian ist nichts
Neues zu berichten, außer daß Pater Fray Antonio schon dort ist.
Aus Segovia, 9.November 1588.

Fray Juan de la Cruz

9. BRIEF

An Dona Juana de Pedraza in Granada

Juana de Pedraza hatte in Granada den Heiligen, damals Prior des hochgelegenen Klosters Los Martires, zum
Seelenführer gewonnen. Er führt auch sie, wie ein zweiter erhaltener Brief (18.Brief) be kräftigt, den Steilweg der
Subida. Die väterliche Warmherzigkeit seiner Führung, in den Briefen spürbar, wird von Dona Juana selber be-
zeugt: Johannes hieß sie nach der Beichte in seinem Kloster warten und den Abstieg nach Granada erst zu einer
bestimmten Stunde unternehmen. Während dieser Wartezeit brach ein heftiges Gewitter herein, das bei Ablauf
dieser Frist sich verlogen hatte.

Jesus sei in Ihrer Seele. Vor wenigen Tagen schrieb ich Ihnen durch Vermittlung von Pater Fray Juan [Evangelista],
als Antwort auf Ihren letzten Brief, der so gut aufgenommen wurde, wie Sie es hofften. Ich schrieb in jener Ant-
wort, daß ich doch wohl all Ihre Briefe empfangen habe, und daß ich Ihre Beschwerden und Leiden und Einsam-
keiten mit fühle. Ohne Worte rühren all Ihre Nöte ständig mich an, so wahrnehmbar, daß die Feder nicht soviel
ausdrücken kann. All dies ist ein liebeheischendes Anpochen und Anschlagen an die Seele; es bewegt zu Gebeten
und Seufzern des Geistes empor zu Gott, damit er das erfüllt, was die Seele in seinem Sinn erbittet. Bereits sagte
ich Ihnen, daß für das Eingehen in jenen ... nichts anderes not sei, als das Auferlegte auszuführen. Und sollte man
Ihnen Hindernisse bereiten: Gehorsam und Nachricht an mich. Und Gott wird das Beste vorsehen. Die Gott
wahrhaft lieben, erfahren seine Fürsorge, ohne daß sie sich um ihre Anliegen bemühen.

Am besten ist es für die Sicherheit der Seele, sich an nichts zu klammern und nichts zu begehren; doch muß die
Seele sich ganz aufrichtig an den halten, der sie führt andernfalls widerstrebt sie einer Führung. Und wenn ein
Seelenführer als der richtige erprobt ist, dann sind weitere überflüssig oder störend. An nichts soll sich die Seele
heften; wo Gebet ist, da sorgt Gott für das Besitztum, das in Wahrheit das seine ist. Dies ist meine Ansicht: je mehr
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die Dinge mir zu eigen sind, um so tiefer vergräbt sich Seele und Sorge darein. Denn das Geliebte wird eines mit
dem Liebenden, und so wird Gott eines mit dem, der ihn liebt. So kann man das Ge liebte nicht vergessen, ohne
seiner eigenen Seele zu verges sen. Und über dem Geliebten wird sogar die eigene Seele vergessen, da der Lieben-
de mehr im Geliebten als in sich selber lebt.

O großer Gott der Liebe, unser Herr! In welchem Überfluß ergießest du deine Reichtümer in den, der nichts
liebt und niemanden begehrt als dich! Dich selber gibst du ihm hin in verschmelzender Liebe! Und in solcher
Verschmelzung läßt du die Seele kosten und lieben, was sie am meisten in dir begehrt und was ihr am Heilvollsten
ist. Wie darf das Kreuz uns fehlen, da es unserm Geliebten bis hin zu seinem Liebestode nicht fehlte. Er ordnet un-
sere Leidenschaften, in der Liebe zu dem am innigsten Begehrten. So wird unsere Aufopferung größer und damit
unser Wert. Allein alles ist kurz: das Messer wird wider Isaak erhoben; und sogleich wird sein Leben bewahrt, und
es erfolgt die Verheißung reicher Nachkommenschaft.

Geduld tut not, meine Tochter, in einer Armut, die uns ein gutes Scheiden von unserer Erde bereitet und einen
gu ten Eingang in das Leben, das uns mit allem erquicken wird, in das Leben ... Nicht weiß ich zur Zeit, wann ich
weggehen werde. Mein Ergehen ist gut, wenn auch die Seele sehr zurückgewendet. Schließen Sie mich in Ihr
Gebet. Und geben Sie die Briefe an Fray Juan weiter und, wenn möglich, auch häufiger an die Nonnen. Wären sie
weniger knapp, so wäre es besser.

Segovia, 28. Januar 1589.

Fray Juan de la Cruz

10. BRIEF

An ein junges Mädchen aus der Provinz Avila,


die im Karmel aufgenommen werden möchte

Nach ihrer Aufnahme in den reformierten Karmel nahm die Empfängerin dieses Briefes den Namen Ana de la
Cruz an, aus Verehrung für ihren geistlichen Meister, als dessen würdige Tochter sie sich erwies.

Jesus sei in Ihrer Seele. Der Bote für die Post ist zu einer Zeit vorbeigekommen, wo ich noch keine Antwort sen-
den konnte; und auch jetzt wartet er bereits. Gott gebe Ihnen, meine Tochter, immer seine verklärende Gnade, so
daß alles in allem seiner heiligen Liebe dient; nichts anderes ist Ihre Aufgabe, nur dafür sind Sie geschaffen und
erlöst worden. Über die drei Punkte, die Sie mir vorlegen, ließe sich viel ausführen, mehr, als es die knappe Zeit für
den Brief erlaubt, poch werde ich Ihnen drei andere nennen, die Ihnen etwas weiterhelfen können.

Sünden, die Gott so sehr verabscheut, daß er zu ihrer Til gung den Tod auf sich nahm, sollen von Ihnen beweint
und gemieden werden; dafür ist es nötig, Umgang mit Leuten so weit wie nur angängig zu fliehen und zu jeder
Angelegen heit nicht mehr als das Nötige zu reden; denn mit Menschen über das reinweg Erforderliche hinaus
umzugehen, hat niemandem, so heilig er sein möge, gutgetan. Und dazu: Gottes Gesetz einhalten, mit Genauig-
keit und voll Liebe.

Im Mitleiden mit der Passion des Herren kasteien Sie sich mit Maß, üben Sie Selbstverleugnung und Demüti-
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gung und befriedigen Sie Ihren Willen und Ihr Gelüst in nichts, bedenkend, daß Sie Anlaß seines Leidens und
Sterbens waren. Doch bei alldem befolgen Sie den Rat Ihrer Mutter.

Um das Dritte, die ewige Seligkeit recht zu betrachten und zu lieben, erachten Sie alle Schätze und Freuden der
Welt für Unrat und ekle Eitelkeit, wie sie es in Wahrheit sind; und halten Sie nichts für unschätzbar, wie groß und
kostbar es auch sei. Köstlich ist nur, mit Gott zu weilen. Das Beste hienieden ist, mit jenen ewigen uns vorherbe-
stimmten Gütern verglichen, häßlich und bitter. Und diese Bitterkeit und Häßlichkeit, an sich kurz, sie werden für
immer in einer Seele haften, die sie hochschätzt.

Ihr Anliegen vergesse ich nicht, wenn ich auch im Augen blick, trotz besten Willens, nichts darin tun kann. Tragen
Sie es vor Gott, und nehmen Sie zu Ihren Sachwaltern Un sere liebe Frau und den heiligen Joseph.

Auch Ihrer Mutter, der ich mich empfehle, gilt dieser Brief. Und gedenken Sie beide meiner vor Gott, und bitten
Sie Ihre Freundinnen, aus frommer Liebe das gleiche zu tun.

Gott erfülle Sie mit seinem Geist.

Aus Segovia, im Februar.


Fray Juan de la Cruz

11. BRIEF

An einen von ihm geleiteten Mönch

Der Friede Jesu Christi sei immer, Sohn, in Ihrer Seele. Ich empfing Ihren Brief, Hochwürden, worin Sie von dem
großen Verlangen sprechen, das unser Herr Ihnen eingibt dem Verlangen, sich ihm mit ganzem Willen hinzuge-
ben und ihn über alles zu lieben. Und Sie erbitten von mir einige Ratschläge, um solchem Verlangen gerechtzu-
werden.

Es freut mich, daß Gott in Ihnen so heilige Wünsche er weckt hat; und sehr viel mehr werde ich mich freuen,
wenn sie von Ihnen in die Tat umgesetzt werden. Dafür müssen Sie beachten, wie alle Gelüste, Genüsse und Nei-
gungen immer in der Seele kraft des Willens erregt werden, durch ein Verlangen nach Gegenständen, die sich als
gut, zusagend und lustvoll anbieten und die als erfreulich und lustvoll angenommen werden. Und entsprechend
richten sich die Neigungen auf sie: der Wille erhofft sie; und hat er sie gewonnen, genießt er sie und fürchtet, sie
zu verlieren. Und gemäß ihren Neigungen, ihren Genüssen an den Dingen wird die Seele beunruhigt und aufge-
wühlt.

Um solche Neigungen zu kasteien, alle Gelüste nach dem, was nicht Gott ist, zu vernichten, muß Folgendes ver-
merkt werden: alles, was der Wille deutlich genießen kann, ist süß und erfreulich, weil es ihm so erscheint. Und
nichts An genehmes und Lustvolles, woran er Genuß finden kann, ist Gott. So wenig Gott von den übrigen See-
lenkräften erfaßt werden kann, so wenig fällt er unter die Gelüste und Genüsse des Willens. Denn da die Seele in
diesem Leben Gott nicht nach seinem Wesen genießen kann, so ist alles Angenehme, alles Köstliche, wie erlesen
es sei, unmöglich Gott.

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Alles, was der Wille in Deutlichkeit begehren und verkosten kann, betrifft immer diesen oder jenen wahrgenom-
menen Gegenstand. Da der Wille niemals Gott so erfahren hat, wie er ist, ihn niemals mit Hilfe einer Triebregung
erkannt hat und folglich nicht weiß, was Gott ist, so kann sein Gelüst ihn nicht wesentlich erfassen, noch weiß er
nicht mit seinem Gelüst und Gefallen Gott recht zu erstreben, ihn, der über eine Fassungskraft erhaben ist. So
dürfte es klar geworden sein daß nichts deutlich Besondertes, das der Wille zu genießen vermag, Gott sein kann.
Will er sich mit ihm vereinigen, muß er sich freimachen von jeder ungeordneten Hin neigung zu deutlichen Ge-
genständen der Lust, seien sie himmlisch oder irdisch, zeitlich oder geistlich. Ist er einmal ledig aller ungeordneten
Triebe, Gelüste und Genüsse, dann kann er sich ganz, mit all seinen Neigungen der Liebe zu Gott hingeben. Denn
wenn es für den Willen eine Weise gibt, Gott zu erfassen und sich mit ihm zu einen, dann ist es die Liebe und
nicht eine bildhafte Vorstellung der Begierde.

Und weil das Angenehme und Wohlige, weil jede Art von Lust im Bereich des Willens nicht Liebe ist, so ergibt
sich, daß keinerlei Lustgefühl als angemessenes Mittel den Willen mit Gott eint, sondern nur dessen lautere Be-
tätigung. Es ist die Betätigung des Willens durchaus unterschieden von seinen Gefühlswallungen: durch seine
Betätigung einigt er sich mit Gott als seinem einzigen Ziel, mit ihm, der Liebe ist; und solches tut er keineswegs
durch Gefühle und Vorstellungen seines Triebes, der die Seele selber zum Ziel hat und in ihr sich festsetzt. Soll
der Wille emporgelangen, dann dürfen Gefühle nur als Beweger zur Liebe Geltung finden. Die Lustgefühle als
solche treiben die Seele nicht voran zu Gott, sondern halten sie bei sich fest. Aber bei der Betätigung des Willens,
nämlich in der Liebe zu Gott, richtet die Seele nur auf ihn ihre Neigung, ihre Freude und Befriedigung, mit einer
Liebe, die über alle Dinge hinausgeht.

Wenn dem nach jemand zur Gottesliebe bewegt wird, ohne daß ihn liebliche Gefühle dazu antreiben, dann hat er
jenes Wohlge fühl schon überwunden und seine Liebe auf Gott gerichtet, den er nicht fühlt. Würde er hingegen
seine Liebe auf das Wohlgefühl richten und bei ihm verweilen, so wäre das bereits eine Hinwendung zu etwas
Geschöpflichem, eine Auf werfung des Motivs zum Endziel. Und das wäre eine Fehlbetätigung des Willens; denn
da Gott unbegreifbar und un zugänglich ist, so darf der Wille, der seine Liebesbetätigung an Gott hinzugeben
strebt, sich nicht auf das dem Triebe Greifbare und Faßbare richten, vielmehr auf das, was er mit ihm nicht fassen,
nicht greifen kann. Auf solche Weise be harrt bei einer gewissen und wahrhaftigen Liebe der Wille im Sinne des
Glaubens im Leeren und im Dunkeln mit all seinen Empfindungen für alles Fühlbare und Vorstellbare, er verharrt
in einem Glauben und in einer Liebe, die alles Faßliche überschwingen.

So wäre es höchst töricht, bei einem Fehlen geistlichen Wohlgefühls anzunehmen, daß damit auch Gott fehle,
und bei einem Vorhandensein von Lustgefühl zu wähnen, damit habe man Gott selber. Und noch törichter wäre
es, solches Wohlgefühl in Gott zu suchen und darin zu schwelgen. Bei solchem Verhalten würde Gott nicht mit
einem Willen gesucht werden, der auf ledigen Glauben und ledige Liebe sich stützt; im Verfolgen triebhaften
Genusses würde geistliche Lust beim Geschöpflichen gesucht werden. Das hieße Gott nicht über alles heben,
die ganze Kraft des Willens lauter ihm zuwendend; denn der Wille, der sich verlangend an ein solches Geschöpf
anheftet, der schwingt sich nicht dar über hinaus zu Gott, dem unzugänglichen. Ist es doch un möglich, daß der
Wille zu der milden Beseligung der Gott einigung gelangen kann, daß er umfangend das Hebreiche Umfangen
Gottes zu empfinden vermag, es sei denn in voll ( kommener Entblößtheit von der Gier nach Sonderfreuden,
kämen sie von oben oder unten. Das wollte David mit seinen Worten sagen:«Öffne deinen Mund, und ich will
ihn dir füllen» (Ps 80,11).

Die Begierde, das muß man wissen, ist der Mund des Willens, der offensteht, wenn ihn nicht ein Bissen Lust
aus füllt und belegt. Denn richtet sich die Begier auf irgend et was, so verengt sich dadurch der Mund, da alles
außer Gott Engnis ist. Soll demnach die Seele erfolgreich zu Gott hin streben und sich ihm einigen, so muß sie
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den Mund ihres Willens ausschließlich für Gott erschließen und jeden Bissen der Begier abweisen, um ganz von
Gottes holder Liebe er füllt zu werden. Hungernd und dürstend nur nach Gott, so muß sie verharren, ohne an
Anderem ein Genügen zu finden, da Gott hier nicht nach seinem Wesen verkostet werden kann. Was die Begier-
de stillt, macht unempfänglich für Gott. Das lehrt Isaias:«Ihr alle, die ihr dürstet, kommt zu den Wassern» (Is 55,
1). Damit lädt er alle, die nur nach Gott schmachten, zu den stillenden Gewässern der Gotteinigung, alle nämlich,
die nicht ihre Gelüste befriedigen.

Wollen Euer Hochwürden tiefen Seelenfrieden genießen und Vollkommenheit gewinnen, dann geben Sie Ihren
Willen gänzlich Gott hin, damit er sich Ihnen eine; beschäftigen Sie ihn nicht mit den Niedrigkeiten der Erde.

Die göttliche Majestät mache Sie so geistig und heilig wie ich es wünsche.

Segovia, 14. April [1589?]

Fray Juan de la Cruz

12. BRIEF

An M. Maria de Jesus, Priorin in Cordoba

Zwei weitere Briefe, hier Nr. IJ und Nr. /9, an die gleiche Empfängerin sind erhalten. Sie bestärken die Priorin der
Neugründung in den Regeln und dem Geist des erneuerten Karmel. Jesus sei in Euer Ehrwürden und mache Sie
so heilig, so geistig arm, wie Sie es begehren. Und ein Gleiches erbitten Sie für mich von der göttlichen Majestät!
Hier sehen Sie die Lizenzen für die vier Novizinnen. Achten Sie darauf, daß diese sich für Gott eignen. Jetzt will
ich auf all Ihre Zweifel antworten, in der mir gebotenen Kürze. Ich habe sie zuvor mit jenen Patres erörtert, da
unser Pater [Doria] nicht hier sondern unterwegs ist. Gott lenke ihn.

1. Es gibt keine Kasteiung mit Ruten mehr, auch nicht bei feiertäglichem Offizium. Dies wurde mit dem Offizium
des alten Karmel beseitigt, der minder ausgedehnt war und wenig Feiertage kannte.

2. Als zweites: Geben sie weder der Gemeinschaft noch den Einzelnen Erlaubnis, aufgrund jenes Wegfalls oder
aus anderen Gründen dreimal in der Woche die Disziplin zu nehmen; machen Sie keine Ausnahmen. Sehen Sie
zum Rechten. Bewahren Sie das Gemeinschaftliche!

3. Im allgemeinen soll niemand früher aufstehen als es die Konstitution, das heißt, die Gemeinschaft anordnet.

4. Die Genehmigungen erlöschen mit dem Abgang des Vorgesetzten. Deshalb sende ich Ihnen neue Genehmi-
gun gen, damit im Notfall ein Beichtiger, ein Arzt, Bader oder Handwerker das Kloster betreten kann.

5. Als fünftes: In Ihrem Kloster ist noch reichlich Platz für Nonnen; wenn es notwendig werden sollte, dann könn-
te man den Eintritt der Schwester Aldonza in Erwägung zie hen. Bringen Sie die Schwester und mich vor Gott. Er
sei mit Ihnen. Über anderes kann ich mich nicht verbreiten.

Segovia, 7. Juni 15 89.


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Fray Juan de la Cruz

13. BRIEF

An M. Leonor de San Gabriel in Cordoba

Leonor de San Gabriel war eine der vertrautesten Töchter der bei den Gründer. Aus dem Karmel zu Malagön
nahm Teresa diesen «Engel an Einfalt», wie sie diese Nonne in einem Briefe nennt, mit zur Gründung nach Se-
villa. Mutter Leonor wurde wahr scheinlich auf Veranlassung des Ordensvaters als Subpriorin für die Gründung
in Cordoba bestimmt. An sie richtet sich ein weiterer, nicht voll lesbarer Brief, hier Nr. 14. Diese Schreiben, wie ein
weiteres an die Priorin, mühen sich um den Geist der Erneuerung in dem jungen Karmel zu Cordoba.

Jesus sei in Ihrer Seele, meine Tochter in Christus. Ich danke Ihnen für Ihr Schreiben. Und ich danke Gott, daß es
ihm gefallen hat, sich Ihrer bei dieser Gründung zu bedienen, womit auch Sie selber gewiß Förderung erfahren
sollen. Je mehr Gott gewähren will, um so lebendigeres Verlangen erweckt er, bis alle anderen Wünsche verdrängt
sind und er uns mit seinen Gütern erfüllen kann. Die Schwestern, die Sie in Sevilla zurückgelassen haben, können
einander mit ihrer Liebe trösten; Sie aber möchte der Herr ganz einsam wissen, in seiner Liebe möchte er in Ih-
nen das Verlangen wecken, nur ihm allein zugesellt zu sein. Denn Gottes über strömende Güter können nur von
einem ledigen, einsamen Herzen aufgefangen werden. Und so muß Euer Ehrwürden darauf bedacht sein, nur an
seiner Zugeselltheit Genüge zu finden. Selbst im Himmel fände die Seele kein Genügen, wenn ihr Wille nicht sol-
che Zugeselltheit erstrebte. Wenn Gott auch immer mit uns weilt, die Seele kann nicht zur Ruhe kommen, sofern
sie nicht ausschließlich Gott anhängt.

Gern will ich glauben, daß die in Sevilla sich ohne Sie vereinsamt fühlen werden. Doch vielleicht hatte Euer Ehr
würden dort schon so förderlich gewirkt, wie es möglich war, und Sie sollen nach Gottes Willen jetzt in der neuen
Gründung, die vorbildlich sein soll, segensreich wirken. Und so mögen Sie der Mutter Priorin hilfreich zur Seite
stehen, mit liebevoller Übereinstimmung in allen Dingen. Doch das brauche ich Ihnen kaum anzuempfehlen, so
erfahren wie Sie seit langem in den Vorgängen bei Gründungen sind. Darum eben haben wir Euer Ehrwürden
ausersehen. An Nonnen, die dafür nicht geeignet sind, hätten wir dort keinen Mangel gehabt.

Der Schwester Maria de la Visitación bitte ich meinen treuen Gruß zu übermitteln und der Schwester Juana de
San Gabriel meinen Dank für den ihren.
Gott gebe Euer Ehr würden seinen Geist.

Segovia, 8. Juli 15 89.


Fray Juan de la Cruz

14. BRIEF

An M. Leonor de San Gabriel in Cordoba

14
Jesus sei in Ihrer Seele, meine Tochter in Christus. Ihr Brief ließ mich Ihre Beschwerden mitfühlen; und mich
beküm mert der Schaden, den Ihr Geist, aber auch Ihre Gesundheit dadurch erleiden kann. Doch wissen Sie,
mir scheint, Sie müßten sich die Sache weniger zu Herzen nehmen. Denn ich ... [fand] unsern Pater ohne jeden
Unwillen gegen Sie... gäbe es wirklich einen Verstoß, er wäre mit Ihrer Reue er ledigt ... Und wenn noch etwas
zurückgeblieben wäre, ... ich würde ... [bei gegebener Gelegenheit] ... zum Guten reden. Lassen Sie sich nicht nie-
derdrücken und geben Sie der Sache kein Gewicht, es besteht wirklich kein Anlaß da zu. Und so bin ich der Über-
zeugung, daß der Dämon Sie damit versucht und Ihnen diese Sache vergegenwärtigt, da mit Sie sich nicht Gott
vergegenwärtigen. Mut, meine Toch ter ! Geben Sie sich voll Eifer dem Gebet hin, darüber dieses und anderes
vergessend. Gibt es doch kein anderes Heil, ... keinen anderen Halt, keinen Trost [als] ... dies. Da wir alles für Gott
verlassen haben, so ist es recht, daß wir an nichts... Halt suchen außer an ihm. Es ist ein großes [Erbarmen?], ihn zu
haben; mit ihm sollen wir [verharren?]..., dann wird Sie nichts beschweren... Trösten Sie sich mit dem Gedanken,
daß Sie [durch die Gnade des Himmelskönigs] ... gerettet sein werden, da wir nicht seine Gnade eingebüßt haben
... [Sollte es dennoch nötig sein?], so werde ich ...

Madrid, Juli...

15. BRIEF

An M. Maria de Jesus, Priorin der unbeschuhten Karmelitinnen zu Cordoba

Jesus sei in Ihrer Seele. Ihre Gemeinschaft ist verpflichtet, sich vor dem Herrn als würdig des Beifalls zu erweisen,
mit dem Sie dort empfangen worden sind. Sicherlich, der Bericht darüber war mir tröstlich. Und daß die Gemein-
schaft in so ärmliche Häuser, und dies bei solcher Hitze, eingezogen ist, das war Gottes Anordnung: Geben Sie
denn ein erbauliches Beispiel, tun Sie dar, was Ihre Gelübde enthal ten: Christus, den entblößten. Dann ersehen
jene, die noch eintreten wollen, in welchem Geiste sie sich einfinden müssen.

Hiermit sende ich Ihnen alle Genehmigungen. Achten Sie darauf, wen Sie anfangs aufnehmen; denn entspre-
chend diesen werden die Folgenden sein. Und bewahren Sie sorg fältig den Geist der Armut und der Abweisung
von allem, und lassen Sie es sich an Gott genügen. Andernfalls wer den Sie in tausend geistliche und zeitliche
Nöte geraten. Und seien Sie sich bewußt: Sie werden nur das als Not emp finden, woran Ihr Herz versklavt ist.
Ist doch der geistig Arme im Mangel am gleichmütigsten und heitersten. Hat er doch sein Ganzes auf nichts und
wieder nichts gesetzt und so die Unbeschränktheit des Herzens gewonnen. Glück seliges Nichts und glückselige
Verborgenheit des Herzens, von so hohem Wert, daß sie alles unterwirft, ohne etwas un terwerfen zu wollen, alle
Sorgen verliert und höhere Liebes glut gewinnt!

Grüßen Sie im Herrn alle Schwestern von mir. Sagen Sie ihnen: da unser Herr sie zu Ecksteinen erwählt hat,
müssen sie sich als solche bewähren; auf sie, als die stärkeren, müssen die anderen sich stützen. Erschließen Sie
sich diesem ur sprünglichen Geist, den Gott zum Anbeginn verleiht, und beschreiten Sie den Weg der Vollkom-
menheit mit neuer Frische, demütig, innerlich und äußerlich losgelöst, nicht mit kindischem Gemüt, sondern mit
kraftvollem Willen. Befolgen Sie Kasteiung und Buße, im Verlangen, für diesen Christus etwas aufzuopfern, und
seien Sie nicht wie jene die Bequemliches und Tröstliches suchen, in Gott wie außer ihm. Suchen Sie in ihm und
außer ihm das Leiden für ihn in Schweigen und Hoffen und liebevollem Gedenken. Sagen Sie das Gabriela und
den Ihren aus Malaga; denn auch ihnen gilt mein Schreiben. Ihnen gebe Gott seinen Geist. Amen.
15
Segovia, 18. Juni 1589.
Fray Juan de la Cruz

Pater Fray Antonio und die Patres empfehlen sich Ihnen. Dem Pater Prior von Guadalcázar sagen Sie Grüße von
mir.

16. BRIEF

An M. Magdalena del Espiritu Santo in Cordoba

Die Empfängerin ist eine begabte und begnadete Tochter des Hei ligen. Seit der ersten Bekanntschaft in Beas, im
Jahre 1578 bis zu seinem Tode ist er ihr ausschließlicher Seelenführer. Ihre Aufzeich nungen über sein Leben auf
Grund ihrer Erfahrungen sind ein wert volles Dokument.

Jesus sei in Ihrer Seele, meine Tochter in Christus. Erfreut haben mich Ihre guten Vorsätze, die ich aus Ihrem
Brief er sehe. Ich lobe Gott, der in allem vorsorgt. Denn wohl be dürfen Sie deren beim Beginn einer Gründung,
in Sommer hitze, Beengtheit, Armut und Mühsal jeder Art; bei solcher Hilfe müssen Sie nicht fragen, ob etwas
schmerzt oder nicht schmerzt. Bedenken Sie, daß Gott bei solchen Anfängen die Seelen frei von Trägheit, Verzär-
telung und Selbstliebe will. Und deshalb hilft der Himmelskönig mehr bei solchem Be ginn. Und so können Sie
bei einigem Eifer jetzt in jeder Tugend Fortschritte machen; und Sie müssen es als großes Glück ansehen, daß er
nicht Andere, sondern gerade Sie zu dieser Gründung ausersah. Mag Ihnen das Zurückgelassene noch so teuer
sein es ist ein Nichts, ein Etwas, von dem Sie sich früher oder später doch hätten trennen müssen. Und um Gott in
allem zu haben, muß man restlos nichts haben, Denn wie kann das Herz, das einem selbst gehört, gänzlich einem
Anderen gehören?

Das Gleiche sage ich der Schwester Juana. Gedenken wolle sie meiner vor Gott, der in Ihrer Seele wohnen möge.
Amen.

Segovia, 28. Juli 1589.

Fray Juan de la Cruz

17. BRIEF

An P. Nicolas de Jesus (Doria) Generalvikar der Unbeschuhten

Es ist der einzige erhaltene Brief den der Ordensvater an den Generalvikar der Reform, den von der Ordensmut-
ter herausgehobenen Genuesen Doria schrieb, als deren Stellvertreter bei dem neuge schaffenen Zentralorgan
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der Reform, der Consulta. Unter dem Generalvikariat dieses Genuesen wurde der geistliche Lieblingssohn der
heiligen Mutter, Gracian de la Madre de Dios, aus ihrer Grün dung ausgestoßen und fand der Mitgründer Johan-
nes die von ihm er sehnte martyriumgleiche Verfolgung durch die eigenen geistlichen Söhne.

Jesus Maria seien mit Euer Hochwürden. Es hat uns auf richtig gefreut, daß Euer Hochwürden gut angelangt ist
und dort alles, und auch den Herrn Nuntius, wohl ange troffen hat. Gott wird die Ihnen Anvertrauten in Ob-
hut nehmen. Bei uns sind die Armen wohlauf und einträchtig. Ich werde das von Ihnen Angeordnete sogleich
erledigen, sobald die erwarteten (?) angekommen sind. Was jene angeht, die in Genua sich um Aufnahme in
die dortige Gründung bewerben, ohne Grammatik studiert zu haben, so meinen hier die Patres, solches sei von
geringer Bedeutung, sofern sie das Latein so weit beherrschen, wie es vom Konzil vorgeschrieben wurde, derart,
daß sie die Satzbildung verstehen. Wenn das dort zur Priesterweihe genügt, dann, meinen die Patres, könne man
sie aufnehmen. Wenn jedoch den Priestern dort solche Ausbildung nicht genügt, dann meinen die Patres entspre-
chen sie nicht den Anforderungen des Konzils; und es wäre mühevoll, sie zur Weihe und Ausbildung hierher zu
bringen. Und um die Wahrheit zu sagen: sie möchten nicht, daß viele Italiener hierherkämen.

Die Briefe werden an Padre Fray Nicolas adressiert wer den, wie Euer Hochwürden es wünschen, den unser Herr
nach seinem Ratschluß uns bewahren möge.

Segovia, 21. September 1589.

Frayjuan de la Cruz

l8. BRIEF

An Dona Juana de Pedraza in Granada

Außer einem früheren Brief (hier Nr. 9) ist von der Korrespondenz zwischen dem Seelenführer und Juana de
Pedraza nur noch dieser eindringliche Brief erhalten.

Jesus sei in Ihrer Seele. Und ihm sei Dank, daß Sie mir von ihm gegeben sind, damit ich, wie Sie es nennen, die
Armen nicht vergesse. Wenn Sie schreiben, ich vergäße Sie gleich einem Schatten, dann müßte ich heftig zürnen,
falls Sie es wirklich meinen. Sie zu vergessen, recht übel wäre das von mir, nach allem, was Sie mir erwiesen, auch
dann, wenn ich es am wenigsten verdiente. Das fehlte noch, daß ich Sie ver gäße. Sehen Sie doch ein: wie kann
etwas vergessen werden, was der Seele so tief eingeprägt ist, wie Sie es sind. Weil Sie sich in Finsternissen, in der
Wüste geistiger Armut befinden, so wähnen Sie, daß Sie von allen verlassen sind und von allem. Das ist kein
Wunder; scheint es Ihnen in solchem Zustand doch sogar, daß Gott Sie verlassen hat. Allein Ihnen fehlt nichts.
Sie brauchen nichts zu betreiben. Sie haben keinen Grund zu solcher Klage, Sie wissen keinen und werden keinen
finden. Alles ist unbegründeter Argwohn. Wenn Sie nichts als Gott verlangen, dann verbleiben Sie nicht in Fin
sternissen, so umdunkelt und arm Sie sich auch finden. Und wer sich nicht anmaßend verhält, nicht seine eigene
Befrie digung bei Gott und bei den Geschöpfen sucht und nicht seinem Eigenwillen bei ihm und bei jenen frönen
möchte, der kann nicht straucheln, der braucht nicht Rat zu suchen. Sie sind auf rechtem Weg. Gehen Sie gelassen
und freudig. Wer sind Sie, daß Sie um sich selber bangen? Lassen Sie das sein.

Niemals stand es mit Ihnen besser als jetzt; denn niemals waren Sie so demütig, so ergeben, niemals von solcher
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Ge ringschätzung für sich und für zeitliche Güter. Niemals haben Sie sich für so schlecht gehalten und Gott für
so gut, niemals dienten Sie Gott mit so reiner Selbstlosigkeit wie jetzt; nicht folgen Sie den Unvollkommenheiten
Ihres Wil lens und Starrsinns, wie Sie vielleicht es zu tun pflegten. Was wünschen Sie noch? Was für ein Leben,
was für ein Verhalten malen Sie sich für dieses Dasein aus? Was halten Sie für gottdienlich, wenn nicht dieses:
Schlechtes meiden, seine Gebote erfüllen und nach unserm Vermögen für ihn wirken? Wenn dies vorhanden ist,
was braucht es dann noch anderer Sorgen, anderer Erleuchtungen und Köstlichkeiten von diesseits und jenseits,
bei denen der Seele zumeist keine Verirrungen und Gefahren erspart bleiben, da sie sich mit ihren Ansichten und
Trieben selbst betrügt und befriedigt, zumal wenn ihre eigenen Vermögen sie irreleiten! So ge währt Gott eine
große Gunst, wenn er diese Vermögen ver dunkelt und die Seele dadurch so verarmen läßt, daß sie von ihnen
nicht irregeleitet werden kann. Und wenn sie nicht irregeht, was ist da noch zu grübeln? Nur zu auf dem geeb-
neten Weg der göttüchen Satzung und der Kirche, hinein in ein Leben ausschließlich erfüllt vom dunkeln und
wahren Glauben, von gewisser Hoffnung und ungeteilter Liebe in Hoffnung auf die Heilsgüter drüben, hier aber
lebend als Pilger, als Arme, als Verbannte, Waise, Ungestillte, ohne

Halt, ohne irgend etwas, alles von drüben erhoffend.

Freuen Sie sich im Vertrauen auf Gott. Hat er Ihnen doch Beweise dafür gegeben, daß Sie ihm sehr vertrauen kön-
nen, ja vertrauen müssen. Andernfalls könnte er Ihnen zürnen, daß Sie vorantaumeln wollen, wo er Sie doch zu
Ihrem Heile führt und Ihnen so sicheren Ort anwies. Streben Sie nach nichts anderem als nach dieser Weise, denn
es steht gut mit Ihnen; und kommunizieren Sie wie gewohnt. Beichten Sie, wenn ein klarer Anlaß vorliegt; und
halten Sie sich zurück. Liegt etwas vor, dann werden Sie es mir schreiben; und schreiben Sie schnell und mehr als
einmal durch Vermittlung von Dona Ana können Sie es tun,

wenn nicht durch Vermittlung der Nonnen.

Etwas krank bin ich gewesen, doch nun bin ich gesund. Hingegen ist Juan Evangelista krank. Beten Sie für ihn und
auch für mich, meine Tochter im Herren.

Segovia, 12. Oktober 1589.

Eray Juan de la Cruz

19. BRIEF

An M. Maria de Jesus, Priorin der Unbeschuhten in Cordoba

Es ist der letzte erhaltene Brief an die Priorin zu Cordoba. Er mahnt dringlich, die Verwaltungssorgen des Amtes
hinter dem Streben nach Heiligkeit zurückzustellen.

Jesus sei in Ihrer Seele, meine Tochter in Christus. Wenn ich Ihnen nicht schrieb, so lange nicht, wie Sie sagen,
so liegt das eher an meinem abgelegenen Aufenthalt in Segovia als mangelnder Bereitwilligkeit. Denn diese war
immer die gleiche und wird es so hoffe ich in Gott auch bleiben.

Ihre Nöte fühle ich mit.


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Die zeitlichen Nöte dieses Hauses sollten Ihnen nicht soviel Sorge bereiten. Sonst könnte Gott Ihrer vergessen;
und es würden Sie viele zeitliche aber auch geistliche Nöte überkommen. Sind es doch unsere Besorgnisse, die
uns bedürftig machen. Tochter, werfen Sie Ihre Sorgen auf Gott, und er wird Sie versorgen. Er, der beschenkt und
das Größte hinschenken will, kann im Geringeren nicht versagen. Haben Sie darauf acht, daß Ihnen nicht der
Wunsch mangelt, in Mangel und Armut zu sein; denn zu gleicher Stunde wird Ihnen der Geist mangeln, und Sie
werden in den Tugenden nachlassen. Und wenn Sie zuvor Armut begehrten, jetzt, wo Sie Oberin sind, müssen
Sie die Armut sehr viel kraftvoller begehren und Heben. Denn Sie müssen das Haus sehr viel mehr mit Tugenden
verwalten und mit lebendigen Wünschen nach dem Himmlischen be reichern, als es mit Sorgen und Plänen über
Zeitliches und Erdhaftes leiten. Befiehlt der Herr uns doch, uns weder um Speise noch um Kleidung des künfti-
gen Tages zu sorgen.

Was Ihnen obliegt, ist dieses: danach zu streben, Ihre Seele und die Seelen Ihrer Nonnen in aller Vollkommenheit
und Ordenstreue mit Gott zu einigen und darüber alle Geschöpfe und alle Rücksichten auf Geschaffenes zu
vergessen. Sind Sie alle in Gott versenkt und voll Jubel mit ihm, dann wird es, glauben Sie mir, am Übrigen nicht
fehlen. Jetzt schon anzunehmen, daß die Häuser etwas ab werfen, weil sie an so gutem Ort liegen und weil darin
so gute Nonnen aufgenommen werden, das scheint mir ge wagt. Immerhin, wenn ich eine Möglichkeit sehe,
dann will ich tun, was ich kann.

Der M. Subpriorin wünsche ich reichen Trost. Ich hoffe in Gott, daß sie ihn empfangen wird, wenn sie nur tapfer
ihre Pilgerschaft und Verbannung in Liebe zu ihm auf sich nimmt. Meinen Töchtern Magdalena, San Gabriel und
Maria de San Pablo, Maria de la Visitacion, San Francisco und allen wünsche ich Wohlergehen in unserm Heil, in
ihm, der immer in Ihrem Geiste weile, meine Tochter. Amen.

Madrid, 20. Juni 1590.

Fray Juan de la Cruz

Bald werde ich vermutlich nach Segovia zurückkehren.

20. BRIEF

An eine Karmelitin, die unter Skrupeln litt

Jesus Maria. Erwecken Sie in diesen Tagen ihr Verlangen nach dem Kommen des Heiligen Geistes und seinem
Pfingsten; und nach seinem Fest halten Sie ihn sich immer gegenwärtig, mit solchem Eifer und solcher Hingabe,
daß Ihnen nichts anderes wichtig und beachtlich scheint, seien es nun Qualen oder andere Ihnen gegenwärtige
Beschwerden. Und all diese Tage erheben Sie sich in der Liebe des Heiligen Geistes über die Mängel, die es im
Hause geben mag. Das sind Sie dem Frieden und der Stille der Seele schuldig, da rin er in seiner Herablassung
weilt.

Es wäre wohl besser für Ihre Ruhe, für die Überwindung Ihrer Gewissensnöte, wenn Sie in diesen Tagen nicht
beich ten würden. Doch wenn Sie beichten sollten, dann tun Sie es auf diese Weise: Beichten Sie nicht Vorstel-
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lungen und Gedanken, die Urteilen oder Gegenständen oder ungeord neten Phantasien gelten, sofern diese Re-
gungen ungewollt und unbejaht und ohne bewußtes Verweilen in der Seele vorgehen. Geben Sie ihnen keine
Bedeutung; am besten ist es, sie zu vergessen, wieviel Qual sie auch der Seele bereiten mögen. Falls es Sie sehr
bedrückt, dann beichten Sie im allgemeinen die Unterlassungen und Nachlässigkeiten, die mangelnde Läuterung
und Vervollkommnung der innern Kräfte, der Gedächtniskraft, Erkenntniskraft und Willenskraft. Bei den Wor-
ten wäre zu beichten ein Über maß an Reden und geringer Bedacht auf Wahrhaftigkeit und Rechtlichkeit, auf
Notwendigkeit des Redens und auf lautere Absicht. Bei den Werken vielleicht die mangelnde Einstellung auf das
einzige Ziel, unabgelenkt allein auf Gott.

Wenn Sie so beichten, werden Sie Befriedigung finden, ohne im besonderen das Erwähnte zu beichten, mag es Sie
noch so sehr anfechten. Sie werden nicht nur an den gewohnten Tagen, sondern auch am Pfingstfest die heilige
Kommunion nehmen.

Widerfährt Ihnen etwas Mißliches und Bitteres, dann schweigen Sie im Gedenken an den Gekreuzigten.

Leben Sie im Glauben, in der Hoffnung, wenngleich im Dunkeln. Gott schützt in solchen Finsternissen die Seele.
Werfen Sie Ihre Sorge auf Gott, er läßt Sie nicht fallen; auch wird er Sie nicht vergessen. Meinen Sie nicht, daß er
Sie im Stich läßt; solches hieße ihn geringschätzen.

Lesen und beten Sie. Freuen Sie sich in Gott, Ihrem Wohl, Ihrem Heil. Er möge Sie bewahren und begnaden bis
zum Tage der Ewigkeit. Amen. Amen.

Fray Juan de la Cruz

21. BRIEF

An M. Ana de Jesus in Segovia

Es ist dies der einzige erhaltene Brief des Heiligen an seine Lieblingstochter, die hochherzige und wagemutige
Ana de Jesus, die nicht nur als Mystikerin und Gründerin ausgezeichnet war, sondern auch durch Schönheit und
Geist. Schon bei der Karmelgründung in Segovia hatte sie der Ordensmutter zur Seite gestanden, der

großen Teresa unter all ihren geistlichen Töchtern zweifellos am ebenbürtigsten. Sie war Priorin zu Beas, als der
Heilige nach seiner Flucht aus dem Kerker von Toledo der Seelenführer in ihrem Kloster wurde. Auch sie wurde
sein Beichtkind, nach einigem Wider streben gegen einen so jungen «Vater». Ihr als einer in Gott und Gotteslie-
be Erfahrenen widmete er seinen Cantico. Die Weis seines Hohenliedes schwingt in der Schlußwendung seines
Briefes«santa amada suya» «seine heilige Geliebte». Er war Helfer bei ihrer Karmelgründung in Granada und
geleitete sie ein Stück des Weges bei ihrer Gründung in Madrid. Starkmütiger als die anderen treuen Töchter
der Mutter Teresa verteidigte sie deren heiliges Erbe gegen die Eigenmächtigkeit des Generalvikars Doria, alle
Folgen und selbst den Kerker auf sich nehmend Ebenso starkmütig trat Johannes dem Ordensobern entgegen,
um Teresas Reform zugunsten ihrer geistlichen Töchter aufrechtzuerhalten. Das führte zu seiner Entkleidung von
allen Ämtern und zu dem einer Verbannung gleichkommenden Auftrag, in Mexiko zu missionieren, ein Auf trag,
dessen Durchführung von seinem Tod verhindert wurde. Ana de Jesus, die von ihm die geistliche Führung aller
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Karmelitinnen er hoffte, schrieb ihm, offenbar in Bestürmung, sogleich nach diesen Ent scheidungen. Der Heilige
antwortet:

Jesus sei in Ihrer Seele. Daß Sie mir geschrieben haben, da für weiß ich Ihnen von Herzen Dank, dafür fühle ich
mich noch tiefer in Ihrer Schuld. Wenn die Dinge nicht so verlau fen sind wie Sie es wünschten, sollte Ihnen das
eher Trost sein und ein Anlaß, Gott Dank und wieder Dank zu sagen. In seiner Majestät hat er es so gefügt; und so
wird es für alle das Beste sein. Es bleibt nur noch unser Wille seinem Rat schluß anzugleichen, damit dieser wahre
uns auch wahr er scheine. Denn was uns nicht gefällt, erscheint uns schlecht und widrig, so gut und heilsam es
auch sein mag. Und in diesem Fall liegt es klar zutage, daß die Ereignisse nicht widrig sind, weder für mich noch
für irgend jemanden. Für mich bringen sie sogar großes Gedeihen. Denn mit der Frei heit und Entlastung von
Seelenführung kann ich gewiß, mit Hilfe göttlicher Gunst, den Frieden und die Einsamkeit genießen und die
erquickende Frucht einer Vergessenheit sei selbst und aller Dinge. Und auch den anderen kommt es zugute wenn
ich von ihnen abgesondert bin; so sind sie auch frei von den Fehlern, die sie in Befolgung meiner unzu länglichen
Ratschläge begehen könnten.

Um eines bitte ich Sie, Tochter: beten Sie zu Gott, daß er solche Gnade auf jede Weise fortsetze. Denn noch
immer fürchte ich, sie könnten mich wieder nach Segovia schicken und mich nicht derart frei von allem lassen,
selbst wenn ich mit allen Kräften suchen werde, mich auch davon zu befreien. Doch wenn das nicht sein soll,
dann ist auch Mutter Ana de Jesus nicht von meiner Leitung freigekommen, entgegen ihrer Annahme; und dann
brauchen Sie nicht vor Ihrem Tode darüber zu klagen, daß Ihnen zugleich mit meiner Füh rung auch die ver-
meintliche Gelegenheit zu hoher Heiligkeit genommen worden sei. Allein ob ich gehe, ob ich bleibe, ich werde
Sie nicht vergessen,nicht, wie Sie schreiben, aus meiner Betreuung fallen lassen. Wünsche ich doch von Herzen
Ihr Heil für immer.

Inzwischen aber, bevor Gott uns das Heil des Himmels ge währt, verbringen Sie die Zeit mit der Ausübung von
Tu genden und von Geduld, und in dem Verlangen, durch Leiden unserem großen Gott ähnlicher zu werden,
ihm, dem gedemütigten und gekreuzigten. Ist doch dieses Leben, wenn es nicht seiner Nachfolge dient, zu nichts
nutze. Gott in seiner Allmacht bewahre und entfalte Sie in seiner Liebe, Amen, als seine heilige Geliebte.

Madrid, 6. Juli 1591.

Fraj Juan de la Cruz

22. BRIEF

An M. Maria de la Encarnacion in Segovia

Dieser Brief, nur als Fragment erhalten, wurde am gleichen Tag und zum gleichen Anlaß wie der vorhergehende
geschrieben. Die Empfängerin war damals Priorin des Karmelitinnenklosters ? Segovia.

Was mich selber angeht, Tochter, das darf Ihnen nicht Kummer bereiten, macht es doch mir selber nicht den
geringsten Was mir hingegen großen Schmerz bereitet, ist die Befürch tung, es möchten Unschuldige mit Schuld
belastet werden Solches Geschehen wirken nicht die Menschen, sondern Gott, der weiß, was uns zukommt und
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alles zu unserm Heil anordnet. Halten Sie es für nichts als für Anordnungen Gottes. Und wo keine Liebe ist, da
legen Sie Liebe hinein; und Sie werden Liebe herausholen ...

23. BRIEF

An P. Juan de Santa Ana in Segovia

Jesus. Wenn irgendwann, mein Bruder, irgend jemand, sei er Vorgesetzter oder ein anderer, Sie mit seiner Lehre
zu größeren Erleichterungen und Freiheiten überreden will, dann nehmen Sie solche Lehre nicht an und leben
ihr nicht nach, selbst dann nicht, wenn sie durch Wunder bekräftigt würde. Sondern Buße, und mehr Buße und
Loslösung von allem. Und niemals, wenn Sie Christus gewinnen wollen, suchen Sie ihn ohne das Kreuz.

24. BRIEF

An M. Ana de San Alberto, Priorin zu Caravaca

In diesem letzten erhaltenen Schreiben an die Empfängerin von Brief 2,3,4, weist der Ordensvater auf weiterge-
hende Verfolgungen hin. s wurde in dieser Zeit versucht, seine heilige Seelenliebe in den Schmutz zu ziehen und
ihm sogar, wie der letzte erhaltene Brief an deutet, aus dem von ihn gegründeten Orden auszustoßen.

Meine Tochter: Bereits werden Sie die vielen Drangsale wisen die wir erdulden. Gott läßt es zu, um seine Erwähl-
ten zu Verherrlichen. In Stille und Hoffnung soll sich unser Starkmut bewähren. Gedenken Sie meiner vor Gott,
der Sie heilig mache.

LaPefiuela, 1591.

25. BRIEF (FRAGMENT)

An ein unbekanntes Beichtkind

Gott gebe uns in allem rechtliche Gesinnung und Abwei sung bewußter Sünde. Wo das gegeben ist, da werden
Sie selbst im Beschuß von vielerlei Anfechtungen sicher gehen; und alles wird sich Ihnen zur Siegeskrone fügen.
Und sagen Sie Ihrer Schwester meine Wünsche für ihr Wohl, und für Isabel de Soria mein starkes Gedenken im
Herrn und die verwunderte Frage, warum sie nicht in Jaén ist, wo sie ihr Kloster hat.

Der Herr sei in Ihrer Seele, Tochter in Christus.

Aus La Penuela, 22. August 1591.

Fray Juan de la Cruz


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26. BRIEF

An Dona Ana Del Mercado y Pe´nalosa in Segovia

Wie Dona Juana de Pedraza, der Empfängerin des neunten Brief war Dona Ana in Granada Beichttochter des
Heiligen. Bei der' Gründung des Nonnenkarmels in Granada durch Ana de Jesus gewährte sie mit ihrem im Brief
erwähnten Bruder bis zur Vollendung des Klosters den Karmelitinnen großzügige Gastfreundschaft. Vielleicht
ist Dona Ana in ihre Geburtsstadt Segovia zurückgekehrt um ihrem Seelenführer nahe zu sein. Der Brief Zeugnis
freund schaftlicher Vertrautheit, ist darin jenem an M. Catalina (Nr. /) vergleichbar, daß er tiefen Einblick in die
Seele des Meisters gibt.

Jesus sei in Ihrer Seele, Tochter. Ich empfing hier in La Penuela ein Päckchen Briefe, die mir der Diener brachte.
Die sorgliche Aufnahme hier verpflichtet mich zu Dank. Morgen breche ich nach Ubeda auf, um leichte Fieber-
anfälle zu kurieren. Da sie mich seit acht Tagen ohne auszusetzen befallen, scheint es mir nötig, ärztliche Hilfe zu
suchen. Allein ich scheide in der Absicht, sobald wie möglich hierher zurück zukehren. Wirklich, in dieser heiligen
Einsamkeit fühle ich mich recht wohl. Und wenn Sie mich davor warnen, mich dem Pater Fray Antonio anzu-
schließen, so seien Sie versichert: ich werde in allem, wo Sie mir Vorsicht anraten, auch achtsam sein.

Es hat mich tief erfreut, daß der Herr Don Luis Priester des Herrn geworden ist; möchte er es viele Jahre sein, und
möchten ihm seine innersten Wünsche erfüllt werden. O wie gut ist dieser Stand für die Befreiung von Sorgen
und für die Bereicherung der Seele. Sagen Sie ihm meine Glück wünsche. Ich wage nicht, ihn zu bitten, er möge
einmal bei der Darbringung des Opfers meiner gedenken. Ich selber, als sein Schuldner, will es immer tun. Mag
ich auch vergeßlich sein, er ist viel zu eng mit seiner Schwester verbunden, die mir immer gegenwärtig ist, als daß
ich ihn vergessen könnte.

Meiner Tochter Dona Ines sagen Sie viele gute Wünsche im Herrn. Und flehen Sie doch beide zu ihm, er möge
mich beitmachen und mit sich empornehmen. Jetzt weiß ich nicht mehr, was noch zu schreiben wäre. Und auch
des Fiebers wegen höre ich auf, so gern ich auch noch fortfahren möchte.

La Penuela, 21. September 1591.

Fray Juan de la CruzSie schreiben mir nichts von dem Prozeß, wie er voran geht.

27. BRIEF (FRAGMENT)

An P.Juan de Santa Ana Ubeda, 1591.

Jesus ... Sohn, das bereite Ihnen keinen Schmerz. Denn das Ordenskleid können sie mir nicht nehmen, es sei
denn,
23
ich wäre unverbesserlich und ungehorsam. Und ich bin sehr bereit, mich in allem zu bessern,
worin ich geirrt haben sollte, und im Gehorsam jede mir verhängte Buße auf mich zu nehmen ...

WEISUNGEN

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WEISUNGEN

WEISUNGEN AN EINEN ORDENSGEISTLICHEN


ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT

1. Euer Hochwürden baten mich um vieles in wenigen Worten. Dafür wäre viel Zeit und Papier vonnöten. Da mir
beides fehlt, will ich eine Zusammenfassung darbieten und nur einige Weisungen vorlegen, die im Ganzen viel
enthalten und dem, der sie befolgt, viel Vollkommenheit vermitteln können. Wer ein wahrhafter Gottesdiener
sein will, wer den Vorsatz hat, seine heiligen Gelübde zu erfüllen und in den Tugenden sich zu vervollkommnen
und die holden Tröstungen des Heiligen Geistes zu genießen, der kann nicht anders, als mit größter Gewissen-
haftigkeit folgende vier Weisungen befolgen: Ergebung, Demütigung, Ausübung von Tugenden und leibliche
wie geistige Einsamkeit.

2. Um das erste, Ergebung, zu bewahren, muß einer so im Kloster leben, als wäre er der Einzige, der darin weilt. So
möge er sich niemals in Worten oder Gedanken in die Angelegenheiten der Gemeinschaft oder der Einzelnen ein
mischen; er möge ihr Gutes und ihr Schlechtes nicht vermerken wollen, noch ihre Eigenarten, nein, nichts davon
vermerken, nicht sich einmischen, ginge auch die Welt unter. So wird der Friede der Seele bewahrt, im Gedenken
an Lots Weib, das den Kopf nach dem Geschrei der Untergehenden wandte und deshalb zu hartem Stein wurde.
Das müssen Sie mit großer Kraft durchführen; so werden Sie sich von vielen Sünden und Unvollkommenheiten
freihalten und die friedvolle Stille Ihrer Seele bewahren, zu Ihrer großen Förderung vor Gott und den Menschen.
Achten Sie genau darauf; denn viele Ordensleute, die dies vernachlässigten, konnten sich nicht durch andere Tu-
gendwerke und Ordensleistungen auszeichnen, sie fielen zurück, vom Schlechten zum Schlimmeren.

3. Um das zweite, Demütigung, zu üben und dadurch zu wachsen, müssen Sie folgende Wahrheit beherzigen: in
das Kloster sind Sie nur eingetreten, damit dort die Tugend aus Ihnen herausgemeißelt wird, nicht anders wie ein
Stein behauen und geglättet werden muß, bevor er in das Gebäude eingefügt werden kann. Und so müssen Sie alle
im Kloster so ansehen, als wären sie von Gott eingesetzte Werkleute, dazu bestimmt, Sie durch Demütigungen zu
formen und zu glätten. Und die einen haben Sie durch das Wort auszumeißeln, durch mißliebige Ausstellungen;
andere durch das Werk, indem sie Ihnen in schwer erträglicher Weise entgegenarbeiten; andere durch ihr Wesen,
das Ihnen an sich lästig und beschwerlich ist, ebenso wie durch ihr Verhalten, andere durch ihre Gedanken, in
denen Sie ein Fehlen von Schätzung und Liebe für Ihre Person zu erkennen glauben. Und all solche Demütigun-
gen und Beschwerden müssen Sie mit innerer Geduld erleiden, in Schweigen aus Liebe zu Gott, in der Einsicht,
daß Sie nur für dieses Zurechtmeißeln in den Orden gekommen sind, um auf diese Weise des Himmels wür dig
zu werden. Wäre nicht dies das Ziel, dann bliebe man bes ser, statt ein Ordenskleid zu nehmen, in der Welt und
suchte dort seinen Trost, Ehre und Ansehen und Zwanglosigkeit.

4. Und diese zweite Weisung ist unabweislich für den im Orden Lebenden, will er anders seinem Stande genügen
und wahre Demut, Gelassenheit und Freude im Heiligen Geiste finden. Und wenn er sich in solchem nicht be-
tätigt, dann versteht er es nicht, ein Ordensglied zu sein, und weiß nicht einmal, warum er in den Orden eintrat;
weiß vielmehr nur sich selber zu suchen, nicht Christus. Weder wird er in seiner Seele Frieden finden, noch wird
er aufhören, zu sündigen und sich wieder und wieder zu verwirren. Denn niemals fehlen im Orden Gelegenheiten
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zum Sündigen, auch ist es nicht Gottes Wille, daß sie fehlen. Er beruft die Seelen da hin, damit sie sich erproben
und läutern, wie Gold bei Feuer und Hammer; und so dürfen Prüfungen und Versuchungen durch Menschen
und Dämonen, durch Feuer der Angst und Trostlosigkeit ihnen nicht fehlen. In solchen Anfechtungen soll der
Mönch sich erproben und danach streben, sie mit Geduld und in Angleichung an Gottes Willen zu bestehen, statt
sich in der Prüfung so zu verhalten, daß er statt Gottes Billigung seinen Tadel erfährt, weil er Christi Kreuz nicht
in Geduld tragen wollte. Da viele Ordensleute den Sinn ihrer Berufung nicht richtig erfassen, ertragen sie die Mit-
brüder schlecht und werden zur Zeit der Rechenschaft beschämt in ihrem Selbstbetrug dastehen.

5. Um das dritte ins Werk zu setzen, die Ausübung der Tugenden, muß man Beständigkeit in den Aufgaben seines
Ordens und im Gehorsam bezeigen, ohne Rücksicht auf die Welt, einzig Gott zuliebe. Und um das rückhaltlos
durchzuführen, legen Sie nie Gewicht auf das Angenehme oder Unangenehme Ihrer Arbeit, nicht auf die Nei-
gung, sie durchzuführen oder zu lassen; verweilen Sie bei dem guten Grunde, sie für Gott zu vollenden. So müs-
sen Sie alles, das Wohlgefällige wie das Abstoßende, nur in der Absicht tun, Gott damit zu dienen.

6. Und um mit starkmütiger Beständigkeit sich zu betätigen und die Tugenden bald ans Licht zu fördern, seien
Sie immer darauf bedacht, sich mehr dem Schwierigen als dem Leichten zuzuneigen, mehr dem Rauhen als dem
Sanften, mehr dem Peinvollen und Widrigen einer Arbeit als dem Lustvollen und Angenehmen. Und erwählen
Sie nicht das geringere Kreuz, weil es Ihnen als leichtere Last erscheint; vielmehr: je schwerer es drückt, um so
leichter ist es, sofern es für Gott getragen wird. Streben Sie auch danach, den Mitbrüdern bei allen Erleichterun-
gen den Vorrang vor sich selber zu geben. Suchen Sie sich immer den niedrigsten Platz, und das aus aufrichtigem
Herzen; denn das ist die Weise im Geiste der Höhere zu sein. So sagt es Gott im Evangelium: «Wer sich ernied-
rigt, soll erhöht werden» (Lk 14, 11).

7. Um das vierte, die Einsamkeit zu erringen, müssen Sie alle Dinge der Welt als abgetan ansehen; und wenn es
unvermeidlich ist, sich mit ihnen zu befassen, dann so unbeteiligt, als wären sie nicht,

8. Und um die Dinge draußen kümmern Sie sich nicht; hat Gott Ihnen doch die Sorge um diese abgenommen.
Das Geschäft, das eine dritte Person für Sie erledigen kann, betreiben Sie nicht selber; denn es ist gut für Sie,
niemanden sehen zu wollen und von niemandem gesehen zu werden. Und halten Sie es sich gegenwärtig: wenn
Gott von jedem seiner Getreuen für ein müßiges Wort genaue Rechenschaft verlangt, wie erst von einem ihm
Geweihten, der ihm sein ganzes Leben und Wirken dargebracht hat, wie erst wird er von ihm für alle Worte Re-
chenschaft fordern!

9. Ich will damit nicht sagen, Sie sollten Ihr Amt und irgend ein anderes, das Ihnen der Gehorsam auferlegt, nicht
mit aller erforderlichen Gewissenhaftigkeit ausüben. Nur, Sie sollen es derart verwalten, daß sich Ihnen nichts
Schuldhaftes anheftet; so weit zu gehen verlangt weder Gott noch der Gehorsam. Darum bemühen Sie sich,
ständig im Gebet zu verweilen; und auch inmitten von körperlichen Betätigungen lassen Sie nicht davon ab. Ob
Sie essen oder trinken, ob Sie mit Weltleuten oder mit irgend etwas anderem zu tun haben, bewahren Sie in Ihrem
Herzen immer dabei ein Verlangen nach Gott, eine Hinneigung zu ihm in Ihrem Herzen. Das ist höchst notwen-
dig für die inwendige Einsamkeit, darin die Seele keinen Gedanken hegen darf, der nicht Gott gälte, und alles ver-
gessen soll, was in diesem elenden und kurzen Leben besteht und vergeht. Begehren Sie auf keine Weise anderes
Wissen als wie Sie Gott mehr dienen und die Aufgaben Ihrer Gemeinschaft besser durchführen können.

10. Befolgen Euer Hochwürden diese vier Dinge mit Sorgfalt, dann ist das Ziel der Vollkommenheit bald erreicht.
Die vier Weisungen stützen sich wechselseitig; fällt eine von ihnen aus, dann geht auch die Förderung, die durch
die an deren Weisungen gewonnen werden könnte, mit verloren.
26
VORSICHTSREGELN
Den Karmelitinnen zu Beas gegeben.

1. Folgende Belehrungen müssen von Gottesfreunden beherzigt werden, wenn sie in kurzer Zeit heilige Samm-
lung, Stille und geistliche Armut, erlangen wollen, um damit die friedvolle Erquickung des Heiligen Geistes zu
gewinnen, die Einigung mit Gott, die Befreiung von all den hinderlichen Geschöpfen dieser Welt, die Abwehr
teuflischer Arglist und die Loslösung von sich selbst.

2. Wer diese Regeln mit der gewohnten Sorgfalt befolgt, wird ohne andere Anstrengung und ohne dabei eine
Pflicht seines Standes zu vernachlässigen, mit großer Schnelle zu hoher Vollkommenheit voranschreiten, die Ge-
samtheit der Tugenden gewinnen und zum heiligen Frieden gelangen.

3. Als erstes ist darauf hinzuweisen, daß die Schädigungen, die von der Seele erlitten werden, durch die drei schon
genannten Widersacher entstehen: durch die Welt, den Dämon und das Fleisch. Die Welt ist ein minder schwie-
riger Gegner. Der Dämon ist schwerer zu durchschauen. Das Fleisch ist zäher als alles, und seine Anfechtungen
enden erst mit dem alten Menschen.

4. Soll irgendeiner dieser drei Feinde besiegt werden, dann müssen alle drei besiegt werden. Wird einer von ihnen
geschwächt, dann werden es auch die anderen beiden. Und sind diese drei einmal besiegt, dann ist die Seele frei
vom Krieg.

GEGEN DIE WELT


Um dich vollkommen von dem Schaden zu befreien,
den dir die Welt zufügen kann, mußt du drei Regeln befolgen.

ERSTE REGEL

6.Gegenüber allen Personen verhalte dich mit gleicher Liebe, gleichem Vergessen, sie mögen dir verwandt sein
oder nicht; löse dein Herz von den einen wie von den andern. Und von den Verwandten löse dich in etwa mehr
noch als von den andern, aus Furcht, daß Fleisch und Blut bei der natürlichen Liebe, wie sie zwischen Verwand-
ten herrscht, stärker auflebe; und diese Liebe zu dämpfen, verlangt die geistige Vollkommenheit. Verhalte dich
zu ihnen wie zu Fremden. Auf solche Weise wirst du ihnen eher gerecht werden als wenn du die Zuneigung, die
Gott gebührt, auf sie überträgst. Liebe nicht den einen mehr als den anderen, dann kannst du nicht irren; denn
nur der ist größerer Liebe würdig, den Gott mehr liebt, und du weißt nicht, wen Gott mehr Hebt. Wenn du sie
alle gleichermaßen vergißt, wie es für die Sammlung auf Gott notwendig ist, dann bist du da vor behütet, durch
ein Zuviel oder Zuwenig zu irren. Denke nichts über sie, weder Gutes noch Schlechtes; meide sie, so weit du es im
Guten tun kannst. Wenn du das nicht beach test, dann verstehst du es nicht ein Gottesfreund zu sein, noch kannst
du zur heiligen Sammlung gelangen, noch dich von den Unvollkommenheiten der Zerstreuung befreien. Und
willst du dir darin einige Freiheiten einräumen, dann wird dich der Dämon bei dem einen oder anderen täuschen,
27
oder du selber wirst dich durch irgendeine Verfälschung zum Guten oder Bösen betrügen. In der Befolgung des
Gesagten liegt die Sicherheit; denn anders kannst du dich von den Unvollkommenheiten und Schädigungen
nicht befreien, die aus dem Umgang mit Geschöpfen sich ergeben.

ZWEITE REGEL

7. Die zweite Maßnahme gegen die Welt richtet sich gegen die zeitlichen Güter: willst du dich in Wahrheit von
ihren Schädigungen befreien und das Übermaß des Begehrens dämpfen, dann mußt du jede Art von Besitz ver-
abscheuen und dich um nichts derartiges bekümmern, nicht um Speise, nicht um Kleidung, nicht um Geschaf-
fenes, nicht um den kommenden Tag. Auf Anderes, Höheres muß deine Sorge sich richten, auf das Gottesreich,
auf das Bestehen vor Gott; und alles übrige, so verheißt es der höchste Herrscher, wird uns hinzugegeben werden.
Nicht wirst du von Dem vergessen werden, der sich selbst der Tiere annimmt. Damit wirst du Beschwichtigung
und Frieden im Sinnenbereich erlangen.

DRITTE REGEL

8. Die dritte Mahnung ist sehr notwendig, damit du im Kloster vor jedem durch die Gemeinschaft bedingten
Schaden bewahrt bleibst. Da viele sich nicht davor hüteten, verloren sie nicht nur den heilvollen Frieden ihrer
Seele, sie gerieten überdies zumeist in viele Übel und Sünden. Du mußt dich mit aller Achtsamkeit davor hüten,
Gedanken oder gar Worte auf die Vorgänge im Kloster zu richten, handle es sich nun um solche der Gemein-
schaft oder um frühere oder jetzige bei einem Einzelnen: nicht über seinen Charakter, nicht über sein Verhalten,
nicht über irgend etwas von ihm, wie schwerwiegend es auch sein mag, sage irgend etwas; sage nichts unter dem
Antrieb des Eiferns oder Abhelfens, es sei denn zur gegebenen Zeit dem hierfür Zuständigen. Und niemals em-
pöre oder verwundere dich über etwas, das du sehen oder hören solltest, sondern strebe danach, all das deiner
Seele fernzuhalten.

9. Wenn du auf Beobachtungen ausgehst, werden dir, selbst wenn du unter Engeln lebtest, viele Dinge ungut
erscheinen, weil du sie verkennst. Darum nimm Lots Weib zur Warnung: weil sie sich über den Untergang der
Sodomiter erregte und sich nach dem, was sich ereignete, umwandte, hat Gottes Gericht sie zur Salzsäule verwan-
delt. Daraus kannst du Gottes Willen ersehen. Selbst unter Dämonen müßtest du so leben, daß du den Kopf nicht
zu ihrem Treiben hinwendetest, sondern sie sich selber überließest. Rein und vollständig wende deine Seele zu
Gott hin, unabgelenkt durch zerstreuende Gedanken. Und darum stehe es für dich fest: niemals fehlt in Klöstern
und Gemeinschaften etwas, woran Anstoß genommen werden kann; denn niemals fehlen Dämonen, die es auf
den Sturz von Heiligen absehen, was Gott zu deren Läuterung und Prüfung zuläßt. Und wenn du dich nicht so
zurückhältst, als ob du im Hause nicht anwesend wärest, dann kannst du trotz allen Bemühens kein echtes Or-
densmitglied sein, noch kannst du die heilige Ledigkeit und Sammlung erreichen, noch den Gefahren solchen
Verhaltens entgehen. Befolgst du diese Mahnung nicht, dann wirst du trotz bester Absicht und reinen Eifers in
dem einen oder anderen vom Dämon gefangen werden; und schon hast du dich verfangen, wenn du deiner Seele
solcherlei Zerstreuung erlaubst. Erinnere dich an die Worte des Apostels Jakobus: «Wenn jemand sich für fromm
hält und seine Zunge nicht zügelt, dann ist seine Frömmigkeit eitel» (Jk i, 26). Das gilt ebenso für das innere
Sprechen wie für das äußere.

GEGEN DEN DÄMON


28
10. Folgende Mahungen muß der zur Vollkommenheit Strebende beherzigen, will er sich anders vom Dämon,
seinem zweiten Feind befreien. Dafür ist zu beachten: Unter den vielen Ränken des Dämons, mit denen er geistli-
che Menschen betrügen will, ist das häufigste eine Vortäuschung von etwas Gutem, nicht von etwas Bösem; denn
er weiß bereits, daß sie zu etwas Schlechtem, das sie als solches erkennen, nicht zu verleiten sind. Und so mußt du
immer das, was gut erscheint, beargwöhnen, zumal, wenn es nicht durch Gehorsam gefordert wird. Sicher und
richtig wirst du gehen, wenn du dem dir zugewiesenen Ratgeber folgst.

ERSTE REGEL

11. In Befolgung der ersten Regel befasse dich mit keiner Sache, es sei denn im Gehorsam; steh ab von Hand-
lungen, sie mögen dir noch so gut und wohltätig für dich oder andere innerhalb und außerhalb des Hauses er-
scheinen, wenn diese Handlungen nicht im Gehorsam vollzogen werden. Damit gewinnst du Verdienste und
Sicherheit. Lehne Besitz ab und du entgehst dem Dämon und unerkannten Schäden, für die du dich einst vor
Gott verantworten mußt. Und wenn du diese Mahnung nicht im Großen wie im Kleinen beachtest, dann magst
du dich noch so sehr auf dem richtigen Wege wähnen, der Dämon wird dich im Großen oder im Kleinen mit
Sicherheit irreführen. Und wäre es nur dies, daß du dich nicht in allem vom Gehorsam leiten läßt, dann irrst du
bereits schuldhaft. Stellt Gott doch Gehorsam höher als Opfer. Und die Handlungen des Gottgeweihten gehören
nicht ihm, sondern dem Gehorsam; und wenn du sie dem Gehorsam entwendest, werden sie als Veruntreuun-
gen von dir zurückgefordert werden.

ZWEITE REGEL

12. Die zweite Regel ist, daß dir dein geistlicher Vorgesetzter an Gottes Stelle gelten soll, nicht weniger, mag er
sein, wie er will. Und wisse, hier hat der Dämon als Feind der Demut häufig seine Hand im Spiel. Stellst du deinen
Vorgesetzten so hoch, wie ich sagte, dann ist der Gewinn und die Förderung groß; andernfalls ist es der Schaden,
der groß ist, und der Verlust. Und darum beachte mit viel Wachsamkeit, daß du nicht auf seine Eigenart und sein
Benehmen, nicht auf sein Äußeres schaust, nicht auf andere Weisen seines Vorgehens. Sonst hast du zu deinem
großen Schaden den göttlichen Gehorsam zu einem menschlichen erniedrigt. Hast du dich doch durch das am
Vorgesetzten Sichtbare zu Tun oder Nichttun bewegen lassen, und nicht durch den unsichtbaren Gott, dem du
in jenem dienst. Und eitel wird dein Gehorsam sein und um so unfruchtbarer, je mehr du durch die rauhe Art des
Vorgesetzten gekränkt oder durch seine wohlwollende Weise erfreut bist. Wegen des Haftens an solchen Dingen
sind sehr viele Ordensleute durch den Dämon um die Vollkommenheit gebracht worden. Und ihr Gehorsam
ist vor Gott von geringem Wert, da sie ihn von äußeren Umständen abhängen lassen. Wenn du dich nicht dahin
bringen kannst, daß dir der eine Vorgesetzte soviel gilt wie der andere, soweit es dein persönliches Gefühl angeht,
dann bist du kein geistlicher Mensch und kannst deine Gelübde nicht richtig halten.

DRITTE REGEL

13. Gemäß der dritten Regel trittst du dem Dämon geradewegs entgegen, wenn du in Wort und Werk dich von
Herzensgrund demütigen lernst, wenn du dich über des Nächsten Wohl wie über dein eigenes freust, und wenn
du in aller Aufrichtigkeit wünschest, daß er von allen dir vorgezogen wird. Und dies wende vor allem bei jenen an,
die bei dir am wenigsten Gefallen finden. Und sei gewiß: wahre Nächstenliebe wird dich ohne solche Überwin-
dung nicht beseelen, und nicht wirst du in dieser Liebe wachsen. Und stets sei es dir lieber, daß alle dich belehren,
als daß du den Geringsten unter ihnen belehrst.

29
GEGEN DAS FLEISCH

14. Weitere drei Regeln muß befolgen, wer sich selbst und seine Sinnlichkeit, seinen dritten Feind, besiegen will.

ERSTE REGEL

15. Als erstes überzeuge dich, daß du nur deshalb in das Kloster eingetreten bist, damit alle dich prüfen und ab-
schleifen Und um dich von den Unvollkommenheiten und Störungen zu befreien, die aus dem Charakter und
der Umgangsweise anderer Ordensleute erwachsen können, und um aus jedem Vorkommnis Gutes zu gewin-
nen, mußt du dir vorstellen, daß alle im Kloster dazu angestellt sind, an dir zu arbeiten wie es auch in Wahrheit ist.
Die Einen sollen dich mit Worten herausbilden, andere durch Werke, wieder andere durch dir ungünstige Ge-
danken. Du aber mußt stillhalten, wie ein Standbild dem stillhält, der es formt, und dem, der es bemalt und dem,
der ihm Gold auflegt. Und wenn du das nicht beachtest, dann wirst du deine Sinnlichkeit und dein Selbstgefühl
nicht zu besiegen wissen, noch wirst du dich mit den Einzelnen der Gemeinschaft gut vertragen, noch wirst du
den heiligen Frieden, noch die Freiheit von manchem Anstoß und Übel erlangen.

ZWEITE REGEL

16. Als zweites: Unterlaß keine Werke, die dir unangenehm und lästig sind, wenn ihre Durchführung dem Dienst
unseres Herrn gemäß ist. Auch unternimm sie nicht ausschließlich, weil du Geschmack daran findest; vielmehr
mußt du dich ihnen nicht anders unterziehen, als wie du es bei den dir unwillkommenen tatest. Ohne solches
Verhalten ist es unmöglich für dich, Beständigkeit zu gewinnen und deine Schwäche zu besiegen.

DRITTE REGEL

17. Die dritte Regel lautet: Niemals darf der geistliche Mensch bei seinen Übungen die Aufmerksamkeit auf das
Angenehme in ihnen richten und daran haften bleiben und es zum Beweggrund seines Handelns machen. Eben-
sowenig soll er das Herbe in seinen Übungen fliehen; vielmehr suche er das Beschwerliche und ihm Widerste-
hende. Damit zügelt er seine Sinnlichkeit. Auf keine andere Weise wirst du deine Eigenliebe ablegen und die
Gottesliebe gewinnen und empfangen.

GUTACHTEN DES HEILIGEN ÜBER EINE ORDENSTOCHTER


UND DIE BEGLEITERSCHEINUNGEN IHRES GEBETES

Verfaßt auf Wunsch des damaligen Generalvikars P. Doria, in der letzten Lebenszeit des Begutachters

Die gefühlsbetonte Weise dieser Seele zeigt fünf Mängel, die ihren Geist nicht als echt erscheinen lassen. Als
erster Mangel zeigt sich eine Begier zur Aneignung; der echte Geist aber zeigt sich immer ledig von Begier. Als
zweiten Mangel hat sie eine übergroße Selbstsicherheit und allzu wenig Furcht vor Selbsttäuschung; und Gottes
Geist geht immer mit solcher Furcht zusammen, um die Seele wie der Weise sagt vor Schaden zu bewahren. Als
30
Drittes: es scheint diese Seele darauf bedacht zu sein, ihre inneren Erfahrungen als gut, ja, als sehr gut glaubhaft
zu machen. So ist es nicht bei einem echten Geist: dieser strebt im Gegenteil danach, geringgeschätzt zu werden,
und er selber trägt dazu bei. Das Vierte und Wesentliche: ihre Gebetsweise bringt keine Demut zum Vorschein.
Wären aber ihre Begnadungen göttlichen Ursprungs, wie sie es behauptet, dann würde die Seele als erstes bei
solcher Gotterfahrung in tiefster Demut zunichte werden. Wäre diese Gnadenwirkung hier eingetreten, so hätte
diese Seele es nicht unterlassen, auch darüber etwas und sogar sehr viel niederzuschreiben. Denn das erste, was
der Seele hier bewußt wird und was zum Ausdruck drängt, ist die Folgeerscheinung der Demut, einer so wirksa-
men Demut, daß sie nicht verleugnet werden kann. Mögen auch die Gotterfahrungen nicht immer von gleicher
Eindringlichkeit sein, diese hier, die von ihr als Gotteinigung bezeichnet wird, vollzieht sich niemals, ohne tiefste
Demut zu bewirken. «Wird doch die Seele, bevor sie erhöht wird, erniedrigt» (Spr 18, 12). Und: «es ist gut für
mich, daß du mich gedemütigt hast» (Ps 118, 71). Als Fünftes: Ihre Ausdrucksweise entspricht nicht dem Geist,
der diese Seele nach ihren Angaben erfüllt. Eben dieser Geist lehrt einen schüchteren Stil, ohne Geziertheiten
und Beteuerungen, wie sie von ihr vorgebracht werden. Und alles, wovon sie behauptet, sie habe es Gott gesagt
und Gott angeblich ihr, erscheint unsinnig.

Ich möchte vorschlagen: es soll ihr weder befohlen noch auch erlaubt werden, weiteres dieser Art aufzuschreiben.
Auch soll ihr Beichtvater sich nicht so verhalten, als höre er solches gutgläubig an; vielmehr soll er nur zuhören,
um das Vorgebrachte auf sein Nichts zurückzuführen. Man prüfe sie scharf was die Übung der Tugenden angeht,
zumal Selbstverleugnung, Demut und Gehorsam; und am Klang des Metalls wird sich die Weichlichkeit der See-
le zeigen, in der angeblich so große Gnaden hervorgebracht wurden. Und die Prüfung muß durchgreifend sein;
denn es gibt keinen Dämon, der nicht für seine Ehre etwas auf sich nähme.

AUSSPRÜCHE EINSICHTIGER LIEBE ' GEBET

Auch in diesen Sprüchen lichtvoller Liebe zu dir, mein Gott, meine Beseligung, wollte meine Seele ihre Liebe
zu dir bekunden. Wohl ist mir die Fähigkeit des Ausdrucks verliehen; doch mir fehlt, was du höher stellst als
Sprachgewalt und die ausgedrückte Einsicht, mir fehlt das Vollbringen, die Kraft der Tugend. So mögen andere
unter dem Einfluß dieser Sprüche am Ende dir besser in Liebe dienen und da emporgelangen, wo ich versage.
Und meine Seele kann sich damit trösten, Anlaß gewesen zu sein, daß du in anderen fandest, was sie selber nicht
zu geben vermochte.

Du, Herr, liebst die Einsicht, du liebst das Licht, und die Liebe ist dir über alle anderen Regungen der Seele lieb.
Daum sind diese Aussprüche solche der Einsicht für die Wahl des Weges, solche des Lichtes zur Erhellung des
Weges und solche der Liebe für die Kraft des Wanderns. Fern bleibe hier die Redekunst der Welt, fern die Ausge-
gossenheit und die trockene Beredsamkeit der menschlichen Weisheit, dieser schwächlichen und spitzfindigen.
Solche findet niemals Gefallen vor dir. Zum Herzen wollen wir sprechen, mit Worten, durchtränkt von holder
Liebe, so wie es dir gefällt. So mögen am Ende durch diese Sprüche Widrigkeiten und Hindernisse aus dem Weg
geräumt werden, zum Nutzen vieler Seelen, die aus Unwissenheit straucheln und aus Unwisseneit fehlgehen, in
dem Wahn, deinem huldreichen Sohn, unserm Herrn Jesus Christus auf seinem Wege nachzufolgen und ihm
ähnlich zu werden, so im Leben, Verhalten und in Tugenden wie in der Weise der Ledigkeit und Lauterkeit seines
Geistes. Gib das Vollbringen, Vater der Barmherzigkeit; denn ohne dich, Herr, kann nichts gelingen.

31
I. Gemäß dem Autograph von Andujar

1 Immer enthüllte der Herr die Schätze seiner Weisheit, seines Geistes den Sterblichen; doch jetzt, da das Böse
sein Gesicht unverhüllter zeigt, entdeckt er sie um vieles deutlicher.

2. O Herr, mein Gott! Wer dich mit lauterer, einfältiger Liebe sucht, wie sollte er dich nicht nach seines Herzens
Begehren finden? Brichst du doch zu denen auf, die dich begehren, und kommst ihnen als erster entgegen.

3. Wenn der Weg auch für Menschen guten Willens eben und sanft ist, so wird der nur wenig und nur mühsam
vorankommen, der nicht mit tapferer Beharrlichkeit ausschreitet.

4. Besser ist es, belastet neben einem Starken zu stehen, als entlastet neben einem Schwachen. Bist du belastet, so
stehst du neben Gott, der deine Stärke ist, er, der den Bedrückten beispringt. Bist du erleichtert, so stehst du nur zu
deinem Selbst, das deine Schwäche ist: Denn die Tugendkraft der Seele wächst und festigt sich in den Prüfungen
der Geduld.

5. Wer ohne den Halt eines Meisters bestehen will, der gleicht dem Baum, der einsam und herrenlos auf dem Fel-
de steht: so viele Früchte er auch trägt, die Vorbeigehenden werden sie abreißen, bevor sie ausgereift sind.

6. Der Baum, den ein wohltätiger Herr behütet und pflegt, gibt Frucht zu seiner Zeit.

7. Die meisterlose Seele, die Tugendkraft besitzt, gleicht einer vereinzelten brennenden Kohle; sie wird eher er-
kalten als weiterglühen.

8. Er, der als Einsamer stürzt, liegt einsam am Boden. Und er schätzt seine Seele gering, da er sie nur sich selber
anvertraut.

9. Magst du auch nicht fürchten, als Einsamer zu stürzen, wie maßest du dir an, dich allein vom Sturz zu erheben?
Sieh, zwei zusammen vermögen mehr als einer allein.

10. Wer mit einer Last niederfällt, der wird sich nur schwer mit seiner Last erheben.

11. Gott schätzt an dir mehr eine Gewissensreinheit selbst geringen Grades als alle Werke, die du vollbringen
könntest.

12. Gott schätzt an dir mehr den geringsten Grad von Gehorsam und von Ergebung als all jene Dienste, die du
dir vornimmst.

13. Höher stellt Gott deine Hinneigung zur Trockenheit und zum Leiden aus Liebe zu ihm als alle Meditationen,
die du erdenken kannst, und all deine Tröstungen und Visionen.

14. Verleugne deine Wünsche, und du wirst finden, was dein Herz sich wünscht. Was weißt du, ob dein Begehren
Gott gemäß ist?

15. Holdseligste Liebe Gottes, kaum erkannte! Wer deine Herzader schlagen fühlte, kam zur Ruhe.

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16. Da die Befriedigung deines Willens dir doppelte Bitternis einbringt, befriedige ihn nicht, wenn du auch in
Bitternis verbleibst.

17. Mehr Untauglichkeit für den Aufstieg zu Gott belastet eine Seele, die noch das geringste Begehren nach etwas
Weltlichem hegt, mehr Unlauterkeit beschwert sie, als wenn sie mit sämtlichen häßlichen Versuchungen und
drückenden Finsternissen beladen wäre vorausgesetzt, daß ihr Vernunftwille sie nicht zulassen will; in diesem Fall
mag sie vertrauensvoll vor Gott hintreten, vom Wort des Höchsten ermutigt: « Kommt her zu mir alle, die ihr
mühselig und beladen seid, und ich will euch erquicken.»

18. Wohlgefälliger ist vor Gott eine Seele, die in Trockenheit und Mühsal sich dem Vernunftgemäßen unterwirft,
als eine solche, die ohne Ergebung alles in Getrostheit betreibt.

19. Höher stellt Gott ein geringes Werk, das im Verborgenen und fern von Schaustellung vollbracht wird, als
tausend andere, die der Schaustellung vor den Menschen dienen sollen ; denn wer mit lauterster Liebe für Gott
wirkt, dem Hegt nichts an der Beachtung der Menschen; ihn treibt nicht einmal der Wunsch, daß Gott selber da-
rum weiß. Auch wenn Gott niemals darum wüßte, würde er ihm weiterhin die gleichen Dienste mit der gleichen
Heiterkeit und der gleichen Lauterkeit der Liebe darbringen.

20. Das reine, geschlossene Werk für Gott, vollendet in lauterer Seelentiefe, bietet seinem Herren ein festgefügtes
Reich.

21. Zweifach plagt sich der Vogel, der sich auf einer Leimrute niederließ: er muß loskommen und muß sich da-
nach vom Leim reinigen; doppelt also muß der sich mühen, der seinem Trieb frönte: er muß sich freimachen, und
nach der Loslösung muß er sich von dem reinigen, was ihm noch anklebt.

22. Wer sich nicht hinreißen läßt von seinen Begierden, fliegt leicht in dem Wehen des Geistes wie ein Vogel mit
fehllosem Gefieder.

23. Die Fliege, die sich auf den Honig setzt, behindert ihren Flug; und die Seele, die sich an der Süße des Geistes
fest saugen will, behindert ihre Freiheit und ihre Gotterfahrung.

24. Vergegenwärtige dir nicht die Geschöpfe, wenn du Gottes Antlitz klar und ungebrochen in der Seele bewah-
ren willst; befreie und entfremde deinen Geist völlig von ihnen, und dich erfüllen göttliche Erleuchtungen; denn
Gott ähnelt ihnen nicht.

25. Der wohlgeläuterte Geist bemengt sich nicht mit befremdlichen Eindrücken, nicht mit menschlichen Rück-
sichten; einsam und frei von allen Phantasmen tauscht er sich im Innern voll köstlicher Entspannung mit Gott
aus. Denn sei ne Eingebungen gewinnt er in heiliger Stille.

26. Die liebende Seele ist fügsam, sanftmütig, demütig und geduldig.

27. Die Seele, hart in ihrer Eigenliebe, verhärtet sich. Wenn du in deiner Liebe, o gütiger Jesus, die Seele nicht er-
weichest, müßte sie immer in ihrer natürlichen Härte verharren.

28. Wer die Gelegenheit entschlüpfen läßt, gleicht einem, der den Vogel in seiner Hand nicht festhält; er wird ihn
nicht zum zweitenmal fassen.
33
29. Noch habe ich dich, Herr, nicht erkannt; denn noch immer wollte ich Geschaffenes kosten und genießen.

30 Willkommene Wandlung von allem! Sie zwingt uns, Zuflucht zu suchen, Herr unser Gott, bei dir!

31. Ein einziger Gedanke des Menschen ist mehr wert als die ganze Welt; so ist niemand seiner wert als Gott
allein.

32. Für das Übersinnliche das Nicht Spüren, für das Sinnliche die Sinne und für Gottes Geist dein Denken.

33. Beachte: nicht immer erregt dir dein Schutzengel das Verlangen, zu wirken, doch immer erleuchtet er die Ver-
nunft; so warte nicht mit Werken der Tugend, bis du Lust danach verspürst, dir genüge dafür deine erleuchtete
Vernunft.

34. Das Begehren gibt einer Einwirkung des Engels nicht Raum, wenn es anderen Dingen verhaftet ist.

35. Ausgezehrt wurde mein Geist, weil er vergaß, sich an dir zu weiden.

36. Was du erstrebst und am eifrigsten begehrst, das wirst du nicht auf deinem Wege und nicht in erhabener Be-
schauung finden, sondern in tiefer Demut und Herzenshingabe.

37. Ermatte nicht; denn nicht eher wirst du des Geistes Holdheit verkosten, als bis du alles dir Begehrenswerte
hinter dir ließest.

38. Denk, daß die zarteste Blüte am schnellsten Schönheit und Duft verliert; darum hüte dich davor, dem Geist
des Wohlgeschmacks nachzugehen und so die Beständigkeit ein zubüßen. Erwähle dir einen markigen Geist, fern
von Verstrickung, und du wirst holden Frieden im Überfluß finden; denn die schmackhafte, dauernde Frucht
wird im Trockenen und Kühlen gepflückt.

39. Bedenke, dein Fleisch ist schwach, und nichts in der Welt vermag deinem Geist Starkmut und Trost zu geben;
denn was aus der Welt geboren wird, ist Welt, und was aus dem Fleisch entsteht, ist Fleisch, und der gute Geist
wird nur aus dem Geiste Gottes geboren, aus ihm, der nicht durch die Welt und nicht durch das Fleisch mitgeteilt
wird.

40. Überlege mit deiner Vernunft und folge ihrem Rat auf dem Wege zu Gott; das wird dir eher helfen Gott zu
erlangen als alle Werke, die du ohne solche Überlegung vollendest, und als alle geistigen Wohligkeiten, die du
erstrebst.

41. Glückselig, wer frei von Gelüst und Neigung die Dinge nach Gerechtigkeit und Billigkeit betrachtet, um da-
nach zu handeln.

42. Wer vernunftgemäß handelt, gleicht dem, der das Kernige speist; wer seinem Belieben folgt, gleicht dem, der
faulige Frucht verzehrt.

43. Du, Herr, kehrst freudig und liebreich um, den empor zuheben, der dich schmähte. Und ich kehre nicht um,
den aufzuheben und zu ehren, der mir Ärgernis gab.
34
44. O machtvoller Herr, wenn ein Funke aus dem Reich deiner Gerechtigkeit soviel in dem sterblichen Fürsten
ver mag, daß er das Volk beherrscht und leitet was wird deine allmächtige Gerechtigkeit am Gerechten und am
Sünder vollbringen?

45. Wenn du deine Seele von wesensfremdem Besitz und Gelüst läuterst, dann kannst du die Dinge dem Geiste
nach auffassen; und wenn du die Begier nach ihnen verleugnest, dann kannst du ihre Wahrheit genießen und das
Gewisse in ihnen begreifen.

46. Herr mein Gott, fremd bist du nicht für den, der sich nicht selber dir entfremdet. Wie nur sagen sie, du seiest
es, der sich entfremdet?

47. Der hat in Wahrheit alle Dinge überwunden, der von ihrem Angenehmen nicht zur Lust bewegt wird und von
ihrem Widrigen nicht zur Traurigkeit.

48. Willst du zur heiligen Sammlung gelangen, dann gewähre nicht Einlaß, sondern weise ab.

49. Wo ich auch gehe, mein Gott, ich gehe mit dir; fortan sei, wie ich begehre, all mein Gehen für dich.

50. Nicht gelangt zur Vollkommenheit, wer nicht danach trachtet, in nichts Genüge zu finden, derart, daß die na-
türliche und die geistliche Begier gestillt im Leeren verharren, wie es für das Erlangen tiefsten geisthaften Friedens
notwendig ist. Und bei solchem Zustand kommt in der reinen und geschlichteten Seele die Liebe zu Gott oft ins
Wirken.

51. Gott ist unzugänglich; so versuche nicht, ihn mit dem, was deine Vermögen erfassen und deine Sinne empfin-
den können, dir zugänglich zu machen. Sonst gibst du dich mit Geringerem zufrieden und verlierst die Leichtig-
keit der Seele für deinen Aufstieg zu Gott.

52. Gleich einem der seine Karre bergaufwärts zieht, verhält sich auf ihrem Wege zu Gott die Seele, die ihre Sor-
gen nicht abschüttelt und ihre Triebe nicht dämpft.

53. Gottes Wille ist es nicht, daß die Seele verstört sei und Mühsale leide; es stammt aus der Schwäche der Seele,
daß sie unter den Widrigkeiten der Welt leidet; denn die Seele des Vollkommenen jubelt über das, worüber der
Unvollkommene klagt.

54. Der Weg des Lebens braucht gar wenig Betrieb und Geschäftigkeit; er verlangt mehr Demütigung des Wil-
lens als viel Wissen. Wer am wenigsten von den Dingen und Ge nüssen zu sich nimmt, wird ihn am leichtesten
durchmessen.

55. Gott wohlzugefallen erreichst du nicht so sehr durch vieles Werkeln, als durch ein Wirken aus gutem Willen,
frei von Besitztrieb und Rücksichtnahmen.

56. Am Ende werden sie deine Liebeskraft durchprüfen. Lerne es, Gott so zu lieben, wie er geliebt sein will, und
laß ab von deiner Eigenweise.

57. Hüte dich davor, dich in fremde Angelegenheiten ein zumischen, ja, ruf sie dir nicht einmal ins Gedächtnis; es
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möchte dich an der Durchführung deiner Aufgabe hindern.

58. Wenn bei jemandem die Tugenden, die du erwartest, nicht hervorleuchten, so bedenke: vor Gott mag er Tu-
gen den haben, die du nicht vermutest.

59 Nicht weiß der Mensch sich recht zu erfreuen und recht zu beklagen; denn nicht ermißt er den Abstand zwi-
schen Gut und Böse.

60. Betrübe dich nicht jählings über widrige Ereignisse im Weltgeschehen; denn du weißt nicht, welches Heil sie
in sich bergen ein Heil, vorgesehen von Gott für die ewige Seligkeit seiner Erwählten.

61. Freue dich nicht über zeitliches Wohlergehen; denn nicht weißt du, ob es dir das ewige Leben sichert.

62. In Drangsal eile sogleich vertrauensvoll zu Gott; so wirst du gestärkt und erleuchtet werden und wohlbe-
lehrt.

63. In Freude und Genuß eile sogleich zu Gott, mit auf richtiger Furcht; und du wirst nicht getäuscht werden und
nicht in Eitelkeit verstrickt.

64. Nimm Gott zum Freund und Anverlobten, zum steten Geleiter; und du wirst nicht sündigen, wirst zu Heben
wissen, und das Unvermeidliche entwickelt sich dir zum Gedeihen.

65. Mühelos wirst du Völker dir unterwerfen und alle Dinge dir dienstbar machen, wenn du sie und dich selber
vergissest.

66. Entbürde dich, wirf die Sorgen ab, laß nichts dich betreffen, was auch geschieht; und du wirst Gott nach sei-
nem Gefallen dienen und wirst ausruhen in ihm.

67. Bedenke, Gott herrscht nur in einer friedvollen, uneigennützigen Seele.

68. Magst du auch vieles zustande bringen, wenn du nicht lernst, deinen Willen fügsam zu verleugnen, unbesorgt
um dich und das Deine, dann kommst du der Vollkommenheit nicht näher.

69. Was hilft es, daß du Gott eine Sache gibst, wenn er eine andere von dir verlangt? Erwäge, was Gott begehren
mag und tue das; damit wirst du dein Herz besser befriedigen als mit dem, was du nach deiner Neigung tätest.

70. Wie kannst du es wagen, dich ohne jede Furcht gehen zu lassen, wo du vor Gott erscheinen mußt, um für das
geringste Wort und den leisesten Gedanken Rechenschaft zu geben?

71. Bedenke, es sind viele berufen und wenige auserwählt; und wenn du dich selber nicht überwachst, dann ist
dein Untergang gewisser als dein Heil, zumal der Weg zum ewigen Leben so schmal ist.

72. Belustige dich nicht in eitler Weise; denn du weißt, wie viele Sünden du begangen hast, und du weißt nicht,
wie Gott dich einschätzt; so fürchte mit Vertrauen.

73. Weil es doch in der Stunde der Rechenschaft auf dir lasten wird, daß du deine Stunden nicht auf den Dienst
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für Gott verwendet hast, warum willst du deine Lebenszeit nicht schon jetzt so ordnen und verwenden, wie du
sie in der Sterbestunde verwendet haben möchtest?

74. Wenn du willst, daß in deinem Geiste die Gottesfurcht erstehe und die Liebe zu Gott zunehme und mit ihr
das Verlangen nach dem Göttlichen, dann läutere die Seele von je dem Begehren, jeder Aneignung, jeder Anma-
ßung, so daß dir das Nichtige auch das Nichtige ist. Wie der Kranke, sobald er die schlechten Säfte ausgeschieden
hat, das Wohl der Gesundheit empfindet und ein erstes Verlangen nach Speise, so wirst du in Gott genesen, wenn
du dich nach der Anweisung heilst; sonst kommst du trotz aller Anstrengung nicht weiter.

75. Wenn du für deine Seele tröstlichen Frieden finden und Gott wahrhaft dienen willst, dann begnüge dich
nicht mit dem, was du bereits gelassen hast; denn du könntest dir nachher unversehens gleiche oder größere
Behinderungen aufgebürdet haben; laß vielmehr auch alles, was du noch mit dir trägst und beschränke dich auf
das Eine, das alles andere in sich begreift: die heilige Einsamkeit, die von Gebet und göttlicher Lesung begleitet ist,
und mit ihr verharre, im Vergessen aller Dinge; falls dir keine Beschäftigungen auferlegt sind, dann bist du Gott
wohlgefälliger, wenn du dich zurückhältst und dich mit deinem eigenen Vorankommen abgibst, als wenn du alles
zusammen einraffen willst. Denn «was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen, wenn er darüber
seine Seele verliert?» (Mt 16, 26)

WEISUNGEN DER LIEBE

1. Zügle Zunge und Gedanken straff, wende deine Zuneigung stetig hin zu Gott, und dein Geist wird sich göttlich
entzünden.

2. Weide den Geist an nichts anderem als an Gott. Lösch die Eindrücke der Dinge aus und senke friedvolle Samm
lung in dein Herz.

3. Halte dich in geistiger Stille, mit liebevollem Hinmerken auf Gott, und wenn es nötig wird zu sprechen, dann sei
es mit der gleichen friedvollen Gestilltheit.

4. Halte dir stets das ewige Leben gegenwärtig und auch dieses, daß die Seelen, die sich demütig für die niedrigs-
ten halten, die höchste Herrlichkeit in Gott genießen werden.

5. Freue dich stets in Gott deinem Heil; und bedenke: gut ist das Leiden jeglicher Art ihm zuliebe, der gut ist.

6. Erwägen mögen die Schwestern, wie sehr sie ihre eigenen Feindinnen sein müssen, mit heiliger Strenge zur
Vollkommenheit voranschreitend, und wie sie für jedes Wort, das sie nicht im Gehorsam gesprochen haben, vor
Gott Rechenschaft ablegen müssen.

7. Dies sei innigster Wunsch: Gott möge der Seele das ver leihen, was ihr für ihn und seine Ehre noch fehlt.

8. Schwester, die Seele, die im Innern wie im Äußern mit Christus gekreuzigt ist, findet schon in diesem Leben
Befriedigung und Stillung, dank ihrer Geduld.

9. Hege ein liebreiches Hinmerken zu Gott, ohne Gelüst, etwas Vereinzeltes zu gewahren oder zu begreifen.

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10 Ein Wandel im Vertrauen auf Gott, bei sich und bei den Mitschwestern jenes am höchsten schätzend, was Gott
am höchsten schätzt: die geistigen Heilsgüter.

11. Versenke dich in die Tiefe deines Gemütes, und wirke in der Gegenwart des Bräutigams, der immer in Zunei-
gung anwesend ist.

12. Laß in deiner Seele nichts dem Geiste Unwesentliches zu, auch wenn es nicht Sammlung und Gottinnigkeit
vertreibt.

13. Suche Christus, den Gekreuzigten, und mit ihm leide, mit ihm ruhe; und um solchen Zieles willen vernichtige
dich gegenüber allem Innerlichen und Äußerlichen.

14. Erstrebe immer, daß die Dinge nichts für dich sind und du nichts für die Dinge; allem enthoben verweile in
deiner Entrücktheit mit dem Bräutigam.

15. Liebe die Mühsal und achte sie gering; so wirst du dem Bräutigam gefallen, der ohne Zögern für dich starb.

16. Bleibe fest in deinem Herzen gegen alle Dinge, die dich zu dem bewegen wollen, was nicht Gott ist; und sei
die Freundin der göttlichen Passion.

17. Sei innerlich von allem losgelöst; und suche keinen Wohlgeschmack am Zeitlichen; so versenkt sich deine
Seele in ewige, nieverkostete Güter.

18. Die Hebehegende Seele ermüdet niemanden und wird selber nicht müde.

19. Der Arme, der entblößt ist, wird bekleidet; und die Seele, die sich von ihren Trieben, Zuneigungen und Abnei-
gungen entblößt, wird von Gott bekleidet, mit seiner Reinheit, seinem Willen, seiner Wonne.

20. Es gibt Seelen, die sich gleich gewissen Tieren im Schlamm wälzen; andere fliegen gleich den Vögeln, die sich
in der Luft säubern und reinigen.

21. Ein einziges Wort formte der Vater: seinen Sohn; und dieses Wort spricht er immer in ewigem Schweigen,
und schweigend soll es von der Seele aufgenommen werden.

22. Die Arbeiten sind nach uns zu bemessen und nicht wir nach den Arbeiten.

23. Wer nicht das Kreuz Christi sucht, der sucht nicht die Herrlichkeit Christi.

24. Sucht Gott das Liebenswerte in einer Seele, dann schaut er nicht auf ihre Größe, sondern auf die Größe ihrer
Demut.

25. Wer es scheut, vor den Menschen sich zu mir zu be kennen, zu dem werde auch ich mich vor meinem Vater
nicht bekennen, sagt der Herr (Mt 10, 22).

26. Das oft gestrählte Haar ist glänzend und glättet sich leicht bei jedem wiederholten Kämmen; und die Seele, die
ihre Gedanken, Worte und Werke (die ihren Haaren ver gleichbar sind) häufig prüft und alles aus Liebe zu Gott
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unternimmt, hat schimmerndes Haar, und der Bräutigam wird gebannt auf das Haar an ihrem Halse schauen (Hl
4, 9) und von dem einen ihrer Augen verwundet sein (Hl 4, 9) von der lauteren Gesinnung, darin sie alles wirkt.
Das Haar wird von oben nach unten gestrählt, wenn es glänzen soll; und nicht anders müssen all unsere Werke
bei der höchsten Gottesliebe beginnen, wenn sie lauter und leuchtend sein sollen.

27. Der Himmel ist beständig und nicht dem Wechsel der Geschlechter unterworfen; und auch die Seelen himm-
lischen Wesens sind beständig und nicht dem Erzeugen von Trieben und anderem unterworfen, vielmehr sind sie
in ihrer Weise Gott vergleichbar, da sie ewig nicht wanken.

28. Iß nicht verbotene Früchte, solche aus dem gegenwärti gen Leben. Denn selig sind, die hungern und dürsten
nach der Gerechtigkeit, weil sie gesättigt werden. Was Gott er strebt, ist uns zu Göttern durch Teilhaben zu ma-
chen, wie er Gott von Natur ist so wie das Feuer alles in Feuer ver wandelt.

29. All unser Gutes ist geliehen, es gehört Gott als sein eigenes Werk. Gott und sein Werk sind Gott.

30. Pforte zur Weisheit sind Liebe, Stillschweigen und De mütigung ; große Weisheit ist es, schweigen zu können
und weder Gerede noch Taten noch fremde Lebensführung zu beachten.

31. Alles für mich, und nichts für dich.

32. Alles für dich, und nichts für mich.

33. Laß dich belehren, laß dir befehlen, laß dich unterwerfen und verachten, und du wirst eine Vollkommene
werden.

34. Fünf Schäden bewirkt jeder Trieb in der Seele: er beunruhigt sie, er trübt sie, er beschmutzt sie, er schwächt sie,
und als fünftes verdunkelt er sie.

35. Die ganze Welt ist nicht einen einzigen Gedanken des Menschen wert, da ein jeder Gott geschuldet wird. Und
so berauben wir Gott eines jeden Gedankens, den wir nicht auf ihn verwenden.

36. Seelenkräfte und Sinne sollen niemals ganz auf die Dinge verwandt werden, sondern nur so weit es unver-
meidlich ist; im übrigen sollen sie ungeschäftig für Gott bereit sein.

37. Nicht auf fremde Unvollkommenheiten achten, Schweigen und ständigen Umgang mit Gott bewahren, das
wird große Unvollkommenheiten entwurzeln und die Seele zur Herrin hoher Tugenden machen.

38. Der Kennzeichen innerer Sammlung sind drei: das erste, daß die Seele sich nicht mehr am Vorübergehenden
erfreut; das zweite, daß sie Einsamkeit und Schweigen liebt und zu allem, was vollkommener ist, hindrängt; das
dritte, daß eben das was ihr zuvor weiterhalf, jetzt zur Störung wird, so Betrachtungen und Erwägungen und Akte.
Die Seele hat jetzt einen anderen Halt gefunden, ausschließlich im Glauben und in der Hoffnung und in der Lie-
be.

39. Wenn die Seele mehr Geduld im Leiden und zunehmende Langmut bei der Entbehrung von Genüssen auf
weist, so ist das ein Zeichen, daß sie in der Tugend voran schreitet.

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40. Der Eigenschaften des einsamen Singvogels sind fünf. Die erste: er sucht sich die höchste Stelle; die zweite:
er duldet keinen Gefährten, auch nicht einen seiner Art; die dritte: er dreht den Schnabel gegen den Wind; die
vierte: er hat keine einheitliche Farbe; die fünfte: er singt zart. Das müssen auch die Eigenschaften der gottbereiten
Seele sein: sie hat sich über alles Vergängliche zu erheben, so als ob es nicht wäre. Sie muß so sehr Freundin der
stillen Einsamkeit sein, daß sie die Gesellschaft keines Geschöpfes duldet. Sie muß sich zum Wehen des Heiligen
Geistes hinwenden und seinen Eingebungen entsprechen, um eines solchen Gefährten würdiger zu werden. Sie
darf keine bestimmte Farbe haben, sich auf nichts festlegen außer auf Gottes Willen. Sie muß aufs zarteste singen,
beim Innewerden göttlicher Liebe.

41. Willentliche unvollkommene Gewohnheiten, die immer wieder bekämpft werden müssen, behindern nicht
nur die Vereinigung mit Gott sondern, auch das Erlangen der Vollkommenheit. Solche sind: viel Reden, unüber-
wundene Anhänglichkeiten etwa an eine Person, an Kleidung, Zelle Buch, bestimmte Speisen und sonstige Un-
terhaltungen und Gelüstlein nach Dingen, nach Wissen, Erlauschen und anderem.

42. Wenn du dich einer Sache rühmen willst, ohne dabei töricht zu erscheinen, dann entferne alles von dir, was
nicht dein ist; und dessen, was dir danach verbleibt, magst du dich rühmen. Aber sei gewiß: wenn du alles von
dir getan hast, was nicht dein ist, dann bist du zu einem Nichts geworden; hast du doch nichts, dessen du dich
rühmen kannst, ohne in Eitelkeit zu verfallen. Was aber im besondern die Gnaden gaben betrifft, die den Men-
schen vor Gott angenehm machen, so kannst du dich ihrer ganz gewiß nicht rühmen, da du nicht weißt, ob sie
dir verliehen wurden.

43. O wie beseligend wird deine Gegenwart für mich sein, der du das höchste Gut bist! Schweigend muß ich dir
nahen mit entblößten Füßen; so mag es dir gefallen, mich dir anzuvermählen. Nicht eher werde ich frohlocken als
bis dein Umfangen mich erquickt. Und jetzt bitte ich dich, Herr, daß du mich zu keiner Zeit in meiner Sammlung
allein lassest; denn ich verstehe bloß, meine Seele zu zerstreuen.

44. Losgelöst vom Äußeren, enteignet dem Innern, un eigennützig im Göttlichen, so versäumt sich die Seele nicht
beim Günstigen, noch wird sie vom Widrigen gehemmt.

45. Der Dämon fürchtet die mit Gott geeinte Seele nicht anders als er Gott fürchtet.

46. Das lauterste Leiden bewirkt das lauterste Wissen.

47. Die Seele, die sich Gottes volle Hingabe wünscht, sie muß sich ihm ohne Rückhalt hingeben.

48 Die Seele, die in die Liebeseinigung eingegangen ist, hat nicht einmal mehr unwillkürliche Regungen.

49. Gottes bewährte Freunde vergehen sich schwerlich gegen Gott; zu hoch sind sie entrückt über alles, was ver-
geht.

50. Mein Geliebter, alles Herbe und Mühselige begehre ich für mich; und alles köstlich Holde für dich.

51. Das Nötigste für unser Fortkommen ist, vor unserm großen Gott mit unsern Trieben und unserer Zunge still
zusein. Die Sprache, der er am meisten lauscht, ist allein verschwiegene Liebe.

52. Mit gelöschtem Licht mußt du Gott suchen. Das Licht, das im äußeren Raum vor dem Sturz bewahrt, verhält
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sich umgekehrt im Bereich des Göttlichen, derart, daß die Seele sicherer geht, wenn sie nicht sieht.

53. In einer Stunde wird an göttlichen Gütern mehr eingebracht als an unsern Gütern in einem ganzen Leben.

54. Liebe es, weder von dir noch von andern anerkannt zu sein. Und niemals vermerke fremdes Wohl, fremdes
Übel.

55. Geh ungesellt mit Gott. Wirke inzwischen. Verbirg die Wohltaten Gottes.

56. Bereitsein, zu verlieren und sich von allen anderen über treffen zu lassen, das ist die Weise des tapferen Ge-
mütes, der großmütigen Brust, des freigebigen Herzens; sie wollen lieber geben als empfangen, geben bis zur
Hingabe ihrer selbst.

Halten sie es doch für eine große Bürde, sich selbst zu besitzen; und lieber wollen sie andern zueigen und sich
selbe entfremdet sein. Wir sind ja doch jenem unendlichen Gut mehr übereignet als uns selber.

57. Ein großes Übel ist es, mehr auf die Wohltaten Gottes zu schauen als auf Gott selber, auf Gebet und Entsa-
gung.

58. Sieh hin auf dies unendliche Wissen, dies verborgene Geheimnis: welcher Friede, welche Liebe, welches
Schweigen ist in diesem göttlichen Herzen beschlossen! Welch erhabene Wissenschaft ist es, die Gott in solcher
Stille lehrt die inbrünstige Erhebung des Herzens zu Gott!

59. Das Geheimnis des Gewissens wird sehr herabgesetzt und entwertet, sooft sein Geheimnis den Menschen
preisgegeben wird; dann ist die belohnende Frucht nur der vergängliche Ruhm, 1. Sprich wenig, und mische dich
nicht ein, wo du nicht gefragt bist. 2. Suche stets dir Gott zu vergegenwärtigen und bewahre in dir die Reinheit, die
Gott dich lehrt. 3. Entschuldige dich nicht und lehne es nicht ab, von allen zurechtgewiesen zu werden; höre mit
heiterer Miene auf jeden Tadel; denke, daß es Gott ist, der ihn dir erteilt. 4. Lebe, als gäbe es in dieser Welt nur Gott
und dich, damit dein Herz nicht von Menschlichem gefesselt wird. 5. Halte es für ein Erbarmen Gottes, wenn dir
mitunter ein gutes Wort gesagt wird; denn du verdienst keines. 6. Vergeude niemals dein Herz, auch nicht für die
Dauer eines Credo. 7. Lausche niemals auf fremde Schwachheiten; und wenn sich jemand bei dir über andere
beklagt, dann gib ihm in aller Demut zu verstehen, er möge dir nichts sagen. 8. Beklage dich über niemanden und
frage nach nichts; und wenn du fragen mußt, tu es in Kürze. 9. Verweigere keine Arbeit, auch wenn sie dir nicht
durchführbar scheint. Sei du gegen alle nachsichtig. 10. Widersprich nicht; in keinem Fall äußere Worte, die nicht
lauter sind. 11. Wenn du sprichst, dann so, daß keiner dadurch beleidigt wird, und über Dinge, deren Verbreitung
du nicht bereuen mußt. 12. Verweigere nichts von dem, was dein ist, auch wenn du dessen bedürfen soll test. 13.
Verschweige, was Gott dir spenden mag, und halte dir das Wort der Braut gegenwärtig: «Mein Geheimnis für
mich» (Is 24, 16). 14. Suche dein Herz in Frieden zu halten; kein Geschehnis dieser Welt darf dich beunruhigen;
denk, Wie alles sein Ende findet. 15. Versäume dich weder lange noch kurze Zeit mit der Frage, wer gegen dich,
wer für dich sei, mühe dich immer darum, daß Gott für dich sei. Bitte ihn, daß in dir sein Wille sich vollende. Liebe
ihn innig, wie er es verdient.

60. Zwölf Sterne, die zur höchsten Vollkommenheit hin weisen: Liebe zu Gott, Liebe zum Nächsten, Gehorsam,
Keuschheit, Armut, eifriges Chorgebet, Buße, Demut, Selbstverleugnung, Gebet, Schweigen, Friede.

61. Niemals nimm dir als Vorbild für dein Handeln einen Menschen, so heilig er ist, der Dämon könnte dir als Vor
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bild dessen Unvollkommenheiten vorspiegeln. Als Vorbild nimm dir Christus, den makellos vollkommenen, den
makellos heiligen, so wirst du niemals irren.

62. Sucht durch Lesung, und betrachtend werdet ihr finden. Ruft betend empor; und ihr werdet in der Beschau-
ung Einlass finden.

63. Der verehrungswürdige selige Pater Fray Juan de la Cruz wurde eines Tages gefragt, wodurch jemand zur
Verzückung gelangen könne. Er antwortete: Er muß seinen Willen verleugnen und Gottes Willen tun. Denn Ek-
stase ist nichts anderes als der Aufschwung der Seele über sich hinaus und hinein in Gott. Das aber tut jeder, der
heiligen Gehorsam übt. Denn dieser ist Aufschwung aus sich selber und dem eigenen Belieben und schwereloses
Untergehen in Gott.

WEISUNGEN DES HEILIGEN

aufbewahrt von Mutter Magdalena Del Espiritu Santo

1. Wer in lauterer Liebe für Gott wirkt, sieht es nicht darauf ab, daß die Menschen es wissen, ja, er zielt bei seinem
Wir ken nicht einmal darauf, daß Gott es weiß. Auch wenn Gott niemals davon wüßte, würde er nicht davon ab-
stehen, ihm die gleichen Dienste in froher Liebe zu erstatten.

2. Ein Rat, um die Triebe zu überwinden: Stetes Verlangen hegen, Jesus Christus nachzuahmen in all seinen Wer-
ken. Sein Leben muß man betrachten, um sich ihm angleichen zu können und sich in allen Lagen so zu verhalten,
wie er es getan haben würde.

3. Um sich so anzugleichen, ist folgendes nötig: jeder An trieb, jedes Verlangen, das nicht ausschließlich auf Gottes
Ehre und Verherrlichung zielt, muß aufgegeben werden. Im Leeren muß die Seele verbleiben, ihm zuliebe, der in
diesem Leben nichts begehrte als den Willen seines Vaters zu erfüllen, diesen Willen, den er seine Speise nannte.

4. Zur Überwindung der vier natürlichen Leidenschaften, Lust, Traurigkeit, Furcht und Hoffnung, hilft folgendes:
Suche nach Kräften nicht das Leichteste sondern das Schwierigste; nicht das Wohligste, sondern das Herbste;
nicht das Lusterregende, sondern das Unlustbringende; nicht Entspannung, sondern das Mühseligste; nicht den
Trost, sondern das Trostlose; nicht das Mehr, sondern das Minder; nicht das Trachten nach irgend Etwas, son-
dern das Trachten nach der Vernichtigung; nicht das Angenehmere der Dinge, sondern das Ärgste; Ledigkeit und
Leere und Armut für Jesus Christus, Ledigkeit von allem in der Welt.

Gegen die Sinnengier:

5. In Entblößtheit wirken und für andere das Gleiche wünschen.

6. Sich in seinen Worten erniedrigen und von anderen er niedrigt werden wollen.

7. Von sich gering denken und wünschen, daß auch andere so tun.

Der ehrwürdige Vater schrieb unter anderem einmal für jede der Nonnen [in Beas] einen Spruch für ihre geistige
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Vervollkommnung. Wohl habe ich alle genau abgeschrieben; doch hat man mir davon nur die zwei folgenden
gelassen:

8. Sei starken Herzens allem gegenüber, was dich zu Din gen hinzieht, die nicht Gott sind. Und sei Freundin
Christi und seiner Leiden.

9. Bereitschaft zum Gehorsam, Freude am Leiden, Kastei ung des Blickes, Unterdrückung der Neugier, Schwei-
gen und Hoffen.

10. Halte Zunge und Gedanken straff im Zaum, hege stetig Inbrunst zu Gott, und der göttliche Geist wird dich
durch glühen. Lies das viele Male.

ANDERE WEISUNGEN

1. Je mehr du dich vom Irdischen abscheidest, um so näher kommst du dem Himmlischen, und um so mehreres
entdeckst du in Gott.

2. Wer allem zu ersterben weiß, der lebt auf in allem.

3. Entferne dich vom Übel, wirke das Gute, und suche den Frieden.

4. Wer sich beschwert oder murrt, ist kein Vollkommener und nicht einmal ein guter Christ.

5. Demütig ist, wer sich in seinem eigenen Nichts verbirgt und sich Gott überläßt.

6. Sanftmütig ist, wer den Nächsten und sich selber zu er tragen weiß.

7. Wenn du vollkommen sein willst, dann verkaufe deinen Willen an die Armen im Geiste und geh zu Christus
mit der Bitte um Sanftmut und Demut; und folge ihm bis nach Golgatha und zum Grab.

8. Wer sein Zutrauen auf sich selber setzt, ist ärger als der Dämon.

9. Wer seinen Nächsten nicht liebt, der verabscheut Gott. 10 Wer in seinem Wirken lau ist, der ist dem Sturz
nahe.

11. Wer das Gebet meidet, der meidet das Heil.

12. Besser ist es, seine Zunge zu bändigen, als bei Wasser und Brot zu fasten.

13. Besser ist es, für Gott zu leiden, als Wunder zu tun.

14. O welche Seligkeiten werden wir genießen bei der Schauung der Heiligsten Dreifaltigkeit!

GEBET HEILIGER LIEBE

Herrscher, Gott, mein Geliebter! Willst du immer noch meiner Sünden gedenken und deshalb meine Gebete
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nicht erhören, so geschehe, mein Gott, auch hierin dein Wille, wie ich es vor allem wünsche. Tu nach deiner Güte
und Barm herzigkeit, worin du dich offenbarst. Wartest du aber auf meine Werke, um mein Flehen dank ihrer
zu erhören, dann gib du mir die Werke und vollende sie in mir; und gib mir dazu die Leiden, die dir als Opfer
gefallen, ja so geschehe es. Und wenn du auf meine Werke nicht wartest, worauf wartest du, allermildester Herr?!
Warum säumst du? Da es Gnade und Barmherzigkeit ist, was ich in deinem Sohn von dir er flehe, so nimm aus
Liebe zu ihm mein geringes Opfer an, und gib mir dieses Heil, das zu gewähren du selber begehrst.

Wer kann sich von niedrigen Weisen und Zielen befreien, wer nicht von dir, mein Gott, in reiner Liebe erhoben
wird?

Wie könnte sich der Mensch, in Niedrigkeit gezeugt und aufgezogen, erheben, wenn du, Herr, ihn nicht aufhebst,
mit der Hand, die ihn schuf ?

Du, mein Gott, wirst nicht von mir wegnehmen, was du mir einmal in deinem eingeborenen Sohn Jesus Christus
gewährtest. In ihm gabst du mir alles, was ich begehre. Froh locken will ich, denn du wirst nicht säumen, wenn ich
dich hoffend erwarte. Doch, Herz, worauf wartest du? Kannst du Gott nicht sogleich Heben?

Mein sind die Himmel und mein ist die Erde. Mein sind die Völker, die Gerechten sind mein, und mein sind die
Sünder. Die Engel sind mein und Gottes Mutter und alle Dinge sind mein, und Gott selber ist mein und für mich,
denn Christus ist mein und für mich. Was begehrst und suchst du noch, meine Seele? Dein ist all dies, und alles
ist für dich.

Nicht begnüge dich mit Geringerem; hasche nicht nach den Brosamen, die von deines Vaters Tische fallen. Auf,
und frohlocke über deine Herrlichkeit, verbirg dich darin und frohlocke; und erlangen wirst du, was dein Herz
erfleht.

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GEDICHTE

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GED ICHTE

VORWORT

Einiges Widerstreben habe ich empfunden, hochedle, gottesfürchtige Frau, diese vier Kanzonen auszulegen, wie
Euer Gnaden mich gebeten haben. Gelten sie doch so Innerlichem und Geisthaftem, daß die Sprache zurückblei-
ben muß. Denn das Geisthafte überschwingt das Sinnenhafte; und schwer läßt sich etwas vom Wesentlichen des
Geistes aussagen, es sei denn aus inbrünstigem Gemüt. Und weil diese Inbrunst in mir nur schwach war, habe ich
es hinausgeschoben, bis zu dieser Stunde, da der Herr mir offenbar einigen Einblick und einige Inbrunst vergönnt
hat.

Es mag wohl sein, daß Euer heiliges Begehren ihn dazu bewogen hat; und wenn es so ist, dann will gewiß die
göttliche Majestät, daß die Kanzonen für Euch erklärt werden. So habe ich mich zur Ausführung ermutigt, in
dem Bewußtsein, niemals aus eigener Kraft etwas hervorzubringen, am wenigsten bei so erhabenem und we-
sentlichem Gegenstand. Demnach kann nur das Schlechte und Irrige, das sich etwa darin finden sollte, auf mich
zurückgeführt werden; und so muß alles der höheren Einsicht und dem Urteil unserer heiligen Mutter, der rö-
mischkatholischen Kirche anheimgegeben werden, ihr, deren Anordnungen vor Irregehen bewahren. Unter die-
ser Voraussetzung, mit dem Halt der Heiligen Schrift und mit dem zu beachtenden Hinweis, daß alles Ausgesagte
so weit hinter dem Wirklichen zurückbleibt wie etwas Gemaltes hinter dem Urbild, wage ich mich daran, das
auszusagen, was mir gegeben ist.

Und es darf nicht verwundern, daß Gott so erhabene und aussondernde Gnaden denen hinschenkt, welchen er
schon Gunst zuwendete. Wenn wir nur bedenken, wer Gott ist und wie er als Gott wirkt, mit grenzenloser Liebe
und Güte, dann kann dies Geschehen nicht unbegreiflich erscheinen; hat er doch gesagt, wenn einer ihn liebe,
würden der Vater und der Sohn und der Heilige Geist in ihm Wohnung nehmen (Joh 14, 23). Und das vollzieht
sich so, daß ihm im Vater und im Sohn und im Heiligen Geiste zu leben und zu weilen gewährt wird, in gottgemä-
ßem Leben, wie es die Seele in diesen Gesängen anschaulich macht.

Wohl sprachen wir in den früher ausgedeuteten Kanzonen bereits vom höchsten Grad der Vollendung, der in
diesem Leben erreicht werden kann, von der Umwandlung in Gott. Allein diese Kanzonen besingen eine noch
vollkommenere, kernhaftere Liebe innerhalb dieses Zustandes der Überformung. Gewiß ist es wahr, daß die frü-
heren und auch diese von der gleichen Höhe der Überformung künden, von einer Höhe, die als solche nicht über-
schritten werden kann. Die Seele vermag sich jedoch innerhalb dieser Grenze mit der Zeit und mit der Einübung
noch viel wesentlicher und lauterer in die Liebe einzulassen. So mag das Feuer bereits das Holz ergriffen und sich
einverleibt haben, dennoch kann das Ergriffene mit zunehmender Glut sich immer stürmischer entflammen, bis
zu funkensprühendem Lodern.

Und in solch lodernder Entflammtheit, muß man wissen, äußert sich die Seele hier, derart in verherrlichendes
Liebesfeuer umgewandelt, daß sie ihm nicht nur geeinigt ist, sondern mit lebendigen Flammen in ihm empor-
sprüht. So empfindet sie es, so singt sie es in diesen Kanzonen, mit innigster Sänftigung der Liebe. In Flammen
stehend bekundet sie in diesen Kanzonen einige Wirkungen solcher Brunst. In der selben Anordnung wie meine
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früheren Kanzonen will ich auch sie darlegen: zuerst bringe ich sie allesamt, dann mit kurzer Ausdeutung jede
Kanzone für sich, und schließlich werde ich jeden Vers einzeln erklären.

LEBENDIGE LIEBESLOHE
GESÄNGE DER SEELE IN DER INNIGSTEN GOTTEINIGUNG

O regste Liebeslohe,
die zärtlich mich verwundet
bis in der Seele Kern und tiefstes Leben!
Gesänftigte, du hohe
tilg, daß mein Herz gesundet,
dem süßen Treffen tilg die Trennungsweben.

O Flamme, mild umleckend!


O Wunde, lind zu dulden!
O holde Hand! O liebliches Durchdringen,
nach ewigem Leben schmeckend,
vergütend alle Schulden!
Todbringend willst du höchstes Leben bringen.

O Leuchten voll von Brünsten,


dank deren Widerscheine
des Sinns abgründige Höhlen ohne Enden
nicht länger blind von Dünsten
in fremder Himmelsreine
dem Liebsten beides, Licht und Wärme spenden!

Wie liebreich und verstohlen


erwachst du in Gehegen,
tief im Gemüt mir, wo du sieghaft gründest:
mit würzigem Atemholen
voll sonnenholdem Segen
wie unberührbar zart du mich entzündest!

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Erste Strophe

O regste Liebeslohe,
die zärtlich mich verwundet
bis in der Seele Kern und tiefstes Leben!
Gesänftigte, du hohe
tilg, daß mein Herz gesundet,
dem süßen Treffen tilg die Trennungsweben.

ERLÄUTERUNG

1. Nun, da sich die Seele schon ganz in der Gotteinigung entflammt fühlt, nun, da sie nach Herzverlangen von
Seligkeit und Liebe überspült ist und aus der tiefsten Brunnenstube ihres Wesens ganze Ströme von Herrlichkeit
hervorbrechen wie sie nach Jesu Worten solchen Seelen entquellen sollen (Joh 7, 38) da will es ihr angesichts ih-
rer Umwandlung in Gott und angesichts seiner erhabenen Aneignung ihres Seins wie des überreichen Schmuckes
ihrer Gaben und Tugenden erscheinen, daß sie schon ganz nahe der ewigen Seligkeit ist, so nahe, daß nur noch
ein leichtes und zartes Gewebe sie von jenem Leben trennt. Und da sie erfährt, wie die zarte Liebesglut in ihr bei
jedem lebhafteren Aufflammen sie schon mit milder und starker Verklärung zu verklären scheint, so vermeint sie
bei jedem neuen umfangenden Flammenstoß, nun würde er ihr die Seligkeit des ewigen Lebens gewähren, würde
er das Gewebe des sterblichen Lebens zerreißen dies dünne Gewebe, das bei aller Durchsichtigkeit doch noch die
wesenhafte Verklärung verhindert. Und so beschwört sie die Flamme, den Heiligen Geist, er möge endlich das
sterbliche Leben zerreißen und sie freimachen für die holde Begegnung, darin er ihr in Wahrheit hinschenkt, was
er bei jedem Treffen darzubieten scheint: ihre ganze vollendete Verklärung. Und so sagt sie:

O regste Liebeslohe

2. Um die Inbrunst, mit der die Seele in diesen vier Kanzonen spricht, aufs unmittelbarste herauszustellen, bringt
sie in allen die Ausrufe « O!» und « Wie!», die ein liebevolles Beteuern hinaushauchen und bei jedem Aufklin-
gen mehr vom Inneren offenbaren, als Worte es vermögen. Und im «O» verlautet leidenschaftliches Wünschen
und beschwörendes Erflehen; und in jedem dieser beiden Sinne wird es von der Seele in dieser Kanzone verwen-
det. Denn hier bedrängt sie die Liebe mit Wünschen und Beschwören, sie loszulösen.

3. Diese Liebesflamme ist der Geist ihres mystischen Gatten, ist der Heilige Geist, den die Seele nunmehr in sich
erfühlt, und zwar nicht nur als ein Feuer, das sie in sanfter Liebe aufzehrt und umgestaltet, sondern darüber hinaus
als eine Glut, die in ihr brünstig emporlodert. Und jedes Hochflammen badet die Seele in selige Verklärung und
erquickt sie mit der Labsal des ewigen Lebens. Derart wirkt der Heilige Geist in der zur Liebe umgewandelten
Seele: sein inneres Tun ist Auflodern, in Stößen der Liebesglut, darin die Seele mit ihrer Willenshingabe aufgeht,
aufs erhabenste mitliebend. Und solche Liebesakte der Seele sind überaus kostbar; ein einziger von ihnen ist ver-
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dienstvoller und bedeutsamer als alle früheren aus ihrem ganzen Leben vor dieser Umwandlung, wie beschaffen
sie auch gewesen seien. Es waltet der Unterschied, der zwischen Habitus und Akt besteht, auch zwischen der Lie-
besumwandlung und der Liebesflamme entsprechend dem Unterschied zwischen dem entzündeten Holz und
der von diesem Feuer bewirkten hochschlagenden Flamme.

4. So ist der Zustand der Seele in dieser Liebesumwandlung, worin sie sich zuständlich befindet, wohl dem Holz
vergleichbar, das dauernd von Feuer angefallen ist; und die Akte dieser Seele gleichen der Flamme aus der Liebes-
glut einer Flamme, die um so stürmischer lodert, je durchdringender das verschmelzende Feuer ist. Bei solcher
Glut werden die Willensregungen in eines mit der Flamme des Heiligen Geistes emporgezückt vergleichbar dem
Engel, der in der Opferflamme des Manue (Ri i 2, 20) emporgehoben wurde. Es kann die Seele in solcher Um-
gestaltung nicht von sich aus handeln; der Heilige Geist wirkt in ihr und bewegt sie in ihren Handlungen. So sind
all ihre Betätigungen göttlich, denn Gott ist der Bewegende und Wirkende. Daher scheint es der Seele bei jedem
Emporlodern dieser Flamme, durch die sie auf göttliche Art mit göttlichem Auskosten liebt, sie werde jetzt von ihr
mit dem ewigen Leben beschenkt, von ihr, deren Schwung sie emporhebt, zu Handlungen Gottes in Gott.

5. Das ist die Sprache, mit der sich Gott in den ausgeläuterten Seelen kündet, in den ganz entflammten. «Deine
Worte zünden gewaltig», sagt David (Ps 118, 114); und der Prophet: «Sind meine Worte nicht gleich Feuer?»
(Jer 23, 29). Er selber nennt solche Worte, durch Johannes' Mund, Geist und Leben (Joh 6, 64). Sie werden von
den Seelen, die Ohren zu hören haben, beherzigt, von den lauter Liebenden. Solche aber, deren kranker Gau-
men nur an anderen Dingen Geschmack findet, können den lebendigen Geist dieser Worte nicht verkosten, ja er
schmeckt ihnen widrig. Je erhabener die Worte des Gottessohnes waren, desto heftiger waren sie diesen Unreinen
zuwider. So war es, als er die so köstliche und liebreiche heilige Eucharistie erklärte; viele der ihm Lauschenden
fielen von ihm ab.

6. Wenn aber die innerliche Sprache Gottes einigen mißfällt, so dürfen sie darum nicht wähnen, daß sie anderen
nicht wohlgefällt, wie hier gesagt wurde. So nahm Petrus sie freudig auf: «Herr, wohin sollen wir gehen?» sagte er.
«Du hast Worte des ewigen Lebens!» (Joh 6, 69) Und die Samariterin vergaß Brunnen und Krug über der Süße
des von Gott ihr Gesagten. Da nun die so erhobene Seele Gott so nahe ist, daß sie in Liebesflammen aufgeht, im
Empfangen des Vaters und Sohnes und Heiligen Geistes, wie soll es unglaubhaft erscheinen, daß sie ein Weniges
von der ewigen Seligkeit vorausverspürt, wenn auch unter den Bedingungen dieses Lebens noch unvollkommen.
Allein die Wonnen bei den inneren Flammenstößen des Heiligen Geistes sind so verklärend, daß sie der Süße
des ewigen Lebens dabei innewird; und deshalb nennt sie die Flamme lebendig. Wohl ist diese Flamme immer
lebendig. Aber hier wird von der Seele ihr Lebensprühendes erfahren; lebt sie doch dank ihrer Kraft geisthaftes
Leben in Gott und fühlt göttliches Leben. Es ist, wie David aussagt: «Mein Herz und mein Fleisch erquickten sich
am lebendigen Gott» (Ps 83, 3). Zwar tut es nicht not, ihn, den Immerlebendigen eigens so zu nennen; doch soll
damit gesagt werden, daß Geist und Sinne, hingebildet zu Gott, ihn aufs Lebendigste verkosten; und das ist Leben
in Gott, ewiges Leben. Nicht hätte David ihn so genannt, wenn er ihn nicht bis ins Mark verkostet hätte zwar nicht
vollkommen, sondern wie in einem Hindurchschimmern des Ewigen. Und dergestalt, in solcher Flamme, wird
die Seele so lebhaft Gottes inne, erfühlt sie ihn so lieblich, daß sie ausruft:

O regste Liebeslohe.»die zärtlich mich verwundet

7. Das meint: Du, die mich zärtlich mit deiner Glut antastet! Als Flamme göttlichen Lebens verwundet sie die
Seele mit Gottes Zartheit. So stark bis ins Innerste trifft und rührt sie die Seele, daß diese sich in Liebe verströmt.
Es vollzieht sich an ihr, was die Braut im Hohenlied erfuhr: so aufgewühlt war sie, daß sie sich verströmt. Und so
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sagt sie hier: «Da der Bräutigam sprach, alsbald verströmte sich meine Seele» (Hl 5,6). Denn Gottes Sprechen ist
nichts anderes als sein Wirken in der Seele.

8. Allein wie kann gesagt werden, daß die Seele von der Lohe verwundet wird, wo es in ihr doch nichts mehr
zu verwunden gibt, da sie doch schon ganz vom Liebesfeuer ausgebeizt ist? Wunderbar ist es: immer wirft die
Flamme bald hier, bald dort ihre Garben empor; und so ist die Liebe niemals müßig, sondern in beständiger Be-
wegung. Und da die Liebe zu treffen pflegt, um die Wonne der Liebe zu erregen, so trifft sie eine solche Seele, in
der sie lebendig lodert, mit

dem kosenden Sprühfeuer zärtlicher Liebe, fröhlich und festlich in Liebes-Künsten und Spielen ausschwingend.
So zeigte im hochzeitlichen Palast der König seiner Braut Esther

huldvolle Neigung: all seine Schätze und die Herrlichkeiten seiner Macht, damit in ihrer Seele sich ereigne, was in
den Sprüchen ausgesagt wird: « Freudenreich war ich durch alle

Tage; spielte vor ihm durch alle Zeiten, spielte hin über das Erdenrund. Und meine Wonne ist es, mit den Men-
schenkindern zu weilen» (Spr 8, 30-31). Das meint: es ist seine Freude, sie zu erfreuen. So sind seine tieftreffen-
den Spiele Flammengarben zärtlicher Durchdringungen, ein immerreger Liebesbrand, der mitunter die letzte
Tiefe der Seele erfaßt und versehrt:

bis in der Seele Kern und tiefstes Leben

9. In der Substanz der Seele, wohin weder die Sinne noch der Dämon reichen, feiert der Heilige Geist solches
Fest. Und je innerlicher es ist, umso ungestörter und wonniger ist es auch; und je wonniger und entrückter es ist,
um so reiner. Und je größer die Reinheit ist, um so überströmen der, häufiger und allgemeiner teilt sich Gott mit.
Und umso überschwänglicher ist die Glückseligkeit der Geistseele, weil Gott der Bewirkende von allem ist, ohne
Zutun der Seele. Es kann ja die Seele nur mithilfe der körperlichen Sinne wirken, in einer Bindung, von der sie im
jetzigen Zustand sehr fern und frei ist. So ist ihre Aufgabe nur ein Erleiden Gottes, der nur so, sinnenfern, im See-
lengrund wirken und bewegen kann. Und so sind alle Regungen der Seele göttlich. Doch wenn sie auch von Gott
herrühren, so sind sie zugleich ihr eigen, da Gott sie in ihr mit ihr vollzieht, mit der Zustimmung ihres Willens.
Die Aussage, Gott treffe sie «bis in der Seele Kern und tiefstes Leben», weist darauf hin, daß es andere, minder
tiefe Mittelpunkte der Seele gibt. Wie das sein kann, muß dargetan werden. Zunächst, was den ersten Mittelpunkt
angeht.

10. Die Seele, sofern sie Geist ist, gleicht nicht den ausgedehnten Körpern; ihr eignet weder «hoch» noch «nied-
rig», weder «tiefer» noch «flacher». Denn in ihr sind keine Teile, in ihr besteht kein Unterschied zwischen innen
und außen; alles in ihr hat die gleiche Weise. Nicht in quantitativem Sinne somit hat sie ein tiefes und ein minder
tiefes Zentrum. Nicht kann die Geistseele in einem Teile erleuchteter sein als in einem andern; im Gegensatz zu
den materiellen Körpern ist sie gleichmäßig heller oder minder hell, ähnlich der Luft, die gleichmäßig aufgehellter
oder minder aufgehellt ist.

11. Bei den Dingen nennen wir das tiefste Zentrum das, was Ziel und Grenze ihres Seins und Vermögens ist, für
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die Kraft ihres Wirkens und ihrer Bewegung. So hat das Feuer, so der Stein natürliche Kraft und Bewegung, die
Mitte ihrer Sphäre zu erreichen, ohne darüber hinaus zu gelangen, ohne aufzuhören, dahin zu streben oder dort
zu verharren, falls nicht ein unüberwindliches Hindernis den Weg verlegt. Danach ließe sich vom Stein sagen, er
sei in seinem Zentrum, wenn er irgendwie in der Erde ist; denn er befindet sich in der Sphäre seines Zentrums,
seiner Bewegungskraft. Dennoch läßt sich nicht von ihm sagen, er sei in der tiefsten Mitte, nämlich im Mittel-
punkt der Erde. Und so bleibt in ihm die latente Kraft, sich bis zur letzten und tiefsten Mitte zu senken, wenn die
behindernde Masse beseitigt würde. Wäre er jedoch dort angelangt, und wäre ihm damit die Kraft der Eigenbe-
wegung genommen, so ließe sich von ihm sagen, er sei nun in seinem allertiefsten Mittelpunkt.

12. Die Mitte der Seele ist Gott. Ist sie bis dahin gelangt, gemäß der ganzen Fassungskraft ihres Seins und ihres
Strebens und Wirkens, dann ist sie hingelangt bis zu ihrem letzten und tiefsten Zentrum in Gott; und solches
begibt sich, wenn sie mit all ihren Kräften Gott auffaßt, liebt und genießt. Hat sie solches noch nicht erreichen
können - wie es in diesem Leben der Fall ist, in dieser Beschränkung, darin sie wohl in Gott als ihrer Mitte dank
seiner Huld und Hingabe verweilen, aber nicht bis zur letzten Tiefe gelangen kann - dann bleibt ihr noch immer
Spannkraft und Neigung zu weiterer Bewegung und sie ist selbst in solcher Mitte nicht vollends befriedet, ehe sie
nicht bis zur letzten Tiefe, zum Abgrund Gottes gelangt ist.

13. Die Liebe ist die Neigung der Seele, ist das Gewicht und die Kraft, die sie zu Gott hinziehen. Mithilfe der Liebe
einigt sich die Seele mit Gott. Und je mehr Grade der Liebe sie besitzt, um so tiefer dringt sie in Gott ein, um so
konzentrischer umringt sie sein Zentrum. So können wir sagen: so viele Grade der Gottesliebe von der Seele um-
spannt werden können, soviel lebendige Mitten vermag sie in Gott zu haben, eine tiefer im Innern als die andere.
Dabei ist die stärkste Liebe auch die einigendste. Und von hier aus lassen sich die vielen Wohnungen verstehen,
die nach den Worten des Gottessohnes im Hause seines Vaters sind (Joh 14, 2). Damit die Seele so, wie wir es
darlegten, in ihrer Mitte, in Gott sei, genügt bereits ein Grad der Liebe. Denn schon durch diesen einen kann sie
sich dank der Gnade mit ihm vereinigen. Zwei Grade: und die Seele hat sich nunmehr in einem tieferen Zentrum
auf Gott konzentriert, in einer größeren Tiefe mit ihm vereinigt. Und bei dreien ballt sich ein noch tieferer Kern
ihrer Seele mit Gott zusammen. Und wenn sie bis zum letzten Grad gelangte, dann wird Gottes Liebe
bis in den tiefsten Kraftkern der Seele treffen und sie so verwandeln und erleuchten nach ihrem ganzen Sein, nach
ihrer ganzen Kraft des Empfangens und Wirkens, mit solcher Wucht, daß sie wie Gott erscheint. Vergleichbar ist
sie einem durch und durch lauteren Kristall: je mehr Grade des Lichtes dieser empfängt, desto mehr Licht faßt
er in sich zusammen, desto strahlender wird er. Und bis zu solcher Überfülle kann das empfangene Licht sich
steigern, daß der Kristall wie eitel Licht ist, unscheidbar vom Lichte. Ist er doch nach seiner ganzen Fassungskraft
von Licht durchleuchtet, und erscheint wie lauter Licht.

14. Bezeugt die Seele demnach hier, daß die Liebesflamme sie bis zum tiefsten Lebenskern verwundet, so sagt sie
damit, daß es der Heilige Geist selber ist, der sie in ihrer Substanz, in ihren Fähigkeiten und Kräften überwältigt
und verwundet. Sie will damit nicht sagen, daß solche Gotteinigung so wesentlich und vollständig sei wie im
anderen Leben, im beseligenden Erschauen Gottes. Mag die Seele auch in diesem sterblichen Leben so hohe
Vollkommenheit erreichen, wie sie hier aussagt, dennoch kann sie nicht bis zu dem vollkommenen Zustand ewi-
ger Herrlichkeit gelangen. Nur vorübergehend könnte sich wohl das Heilvolle begeben, daß Gott ihr eine Gnade
solcher Art gewährte. Hier aber will die Seele mit ihren Worten die Überfülle seliger Wonne kennzeichnen, die
sie bei solchem Sichmitteilen des Heiligen Geistes erfährt. Die Beseligung ist um so größer und zarter, je kraft-
voller und wesentlicher die Seele in Gott hinübergebildet und in ihm zusammengeeint ist. Und weil dies das
Hehrste ist, was sie in diesem Leben erlangen kann wenn auch nicht mit der gleichen Vollkommenheit wie im
jenseitigen so nennt sie es den tiefsten Kern. Freilich mag ihr der Habitus der Liebe wohl schon in diesem Leben
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so vollkommen eingewurzelt sein wie im jenseitigen, doch nicht so vollkommen ist ihr Akt und ihre Frucht. Und
dennoch wachsen Wirkkraft und Frucht der Liebe in dieser Vereinigung bis zu einem Grade, der sich der ewigen
Verklärung schon sehr annähert. Und weil die Seele es so erlebt, wagt sie zu sagen, was eigentlich nur vom ande-
ren Leben gesagt werden kann: «bis in der Seele Kern und tiefstes Leben».

15. Weil Geschehnisse wie die hier von der Seele und ihrem Zustand ausgesagten außergewöhnlich sind und
nur selten erfahren werden und deshalb Staunen und Unglauben erregen, so zweifle ich nicht, daß einige, nicht
Unterrichtete und in so Hohem Unerfahrene es nicht glauben können oder es für Übertreibung halten oder es
nach seiner vollen Bedeutung nicht ermessen können. Jedoch all diesen entgegne ich: Der Vater der Lichter sein
Arm ist nicht verkürzt ergießt sich ohne Ansehen der Person dahin, wo ihm Raum gegeben wird, gleich dem
Sonnenstrahl; heiter bietet er sich allen auf ihren Wegen und Pfaden; über die Erde hin sucht er Gemeinschaft
mit den Menschenkindern, zu seiner Freude. Und es ist nicht für unglaubhaft zu halten, daß eine Seele geprüft
und bewährt und geläutert und durch alle Prüfungen, Mühsale und mannigfache Versuchungen als treu in ihrer
Liebe befunden das alles in diesem Leben von ihm erhält, was der Sohn verhieß: in den, der ihn liebt, würde die
Heiligste Dreifaltigkeit eingehen und ihm innewohnen (Joh 14, 23). Das bedeutet: ein solcher wird in seinem
Geiste göttlich erleuchtet von der Weisheit des Gottessohnes; sein Wille wird im Heiligen Geiste entzückt und
machtvoll vom Vater hineingezogen in den umfangenden Abgrund seiner Huld.

16. Und wenn er einigen Seelen solches vergönnt, wie er es wirklich tut, dann ist es zu glauben, daß auch diese
Seele hier nicht hinter jenen zurücksteht und von Gott mit gleichen Gnaden ausgezeichnet wird. Ist doch das,
was wir hier aufzeigen, dank des Einwirkens des Heiligen Geistes etwas sehr viel Größeres als was sich beim um-
wandelnden Eingießen göttlicher Liebe ereignet. Der Zustand der Umwandlung ist wie eine entflammte Glut; in
dem höheren ist jedoch die Glut so gesteigert, daß aus ihr lebendige Flammen emporschlagen. Und diese beiden
Weisen, die Einigung nur aus Liebe und die Einigung aus auflodernder Liebe, lassen sich wohl mit dem göttlichen
Feuer vergleichen, von denen nach Isaias eines in Sion brennt, das andere in Jerusalem in Weißglut flammt (Is 31,
9). Das eine Feuer bedeutet die kämpfende Kirche, darin das Feuer frommer Liebe noch nicht zu höchster Glut
gesteigert ist. Das andere bedeutet« Schau des Friedens», die triumphierende Kirche, darin dies Feuer in hellsten
Flammen lodert in der Vollkommenheit der Liebe. Hat die Seele auch noch nicht, wie wir sagten, jene triumphie-
rende Vollkommenheit erreicht, so ist ihre Vollkommenheit doch im Vergleich zu der minderen Einigung wie
aufflammende Weißglut, mit einem um so friedlicheren, verklärenderen und ergreifenderen Innewerden, je reiner
und strahlender vergleichbar der Kohlenglut dies Flammen ist.

17. Die Seele fühlt, wie diese lebendige Liebeslohe ihr alle Heilsgüter lebendig mitteilt, denn diese göttliche Liebe
ist der Inbegriff allen Heils. Und so sagt sie: «O regste Liebeslohe, die zärtlich mich verwundet!» Das ist, als sagte
sie: O lohende Liebe, die du mit deinen innigen Regungen mich verklärst, wie es meine Seele nur irgend fassen
und umspannen kann! Die du mir göttliche Einsicht gibst, wie sie mein Geist nur irgend aufnehmen kann, und
Liebe in mich einströmst, so stark, wie mein Wille sie irgend umfangen kann, und mich beseligst im Kern der See-
le mit den Ergüssen deiner Wonne bei deiner göttlichen Berührung und wesentlichen Beigesellung, so lauter, wie
es irgend mein Wesen sein kann, so grenzenlos, wie es irgend mein Gedächtnis umschließt! Derartiges und mehr
als sich aussagen läßt, begibt sich in der Seele, in der Weile, da in ihr solche Liebesbrunst auflodert. Dort wo die
Seele in ihrem Wesen und nach ihren Vermögen, Gedächtniskraft, Willenskraft, Erkenntniskraft ganz geläutert ist,
dort berührt nach den

Worten des Weisen die göttliche Wesenheit die Seele in allen Teilen (Wh 7, 2), dank deren Lauterkeit. Diese
Berührung mit der göttlichen Flamme ist ein ebenso tiefes wie erhabenes Eindringen und Einschließen. Bei sol-
chem Aufheben der Seele in die göttliche Weisheit durchbebt sie der Heilige Geist verklärend mit seinem Flam-
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menspiel. Und so von ihm beseligt, sagt sie: Gesänftigte, nicht länger Grauenvolle!

Gesänftigte, du hohe!

18 Und damit sagt sie: Nun betrübst und bedrängst und verwüstest du mich nicht mehr wie zuvor. Solange die
Seele noch im Zustand geistiger Läuterung war, solange ihre Gotterfahrung erst begann, war ihr diese Gottes-
flamme weniger sanft und freundlich als jetzt in ihrem Zustand der Gotteinigung. Und um solchen Unterschied
begreiflich zu machen, muß ich ein wenig dabei verweilen.

19. Bevor nämlich dies göttliche Liebesfeuer verschmelzend bis in den Kern der Seele (dank deren Läuterung
und vollendeter Lauterkeit) einzudringen vermag, stößt dieses Feuer, der Heilige Geist selber, verletzend in die
Seele vor, zur Austilgung ihrer Unvollkommenheiten und schlechten Gewohnheiten. Mit solchen Eingriffen wird
sie vom Heiligen Geist vorbereitet für die einigende Liebesumwandlung in Gott. Denn wirklich: das gleiche Lie-
besfeuer, das sich später mit der Seele zu ihrer Verherrlichung eint, befällt sie zuvor zu ihrer Läuterung. So wird
das Holz vom selben Feuer angegriffen, ausgetrocknet und von häßlichen Eigenschaften entblößt, solange bis
die Flammen in das zubereitete eindringen und mit ihm verschmelzen können. Und das nennen die geistlichen
Seelen den Läuterungsweg. Bei solchen Eingriffen fühlt die Seele herbe Beeinträchtigung und in ihrem Geiste
heftige Qualen, die zumeist auf die Sinne übergreifen; und so ist ihr diese Flamme sehr herb. Ist doch bei dieser
vorbereitenden Läuterung die Flamme für die Seele nicht hell, sondern dunkel. Und das Licht, das von dieser
Flamme mitunter gewährt wird, dient nur dazu, ihr den eigenen jämmerlichen, mangelvollen Zustand zu be-
leuchten. Auch ist dies Feuer nicht sanft, sondern peinvoll. Ist es auch zuweilen mit der Wärme der Liebe behaftet,
so bringt es doch zugleich qualvolle Bedrängnis. Und es ist dabei nicht wohltuend, sondern trocken. Wohl mag
es mitunter wohlwollend einige Lustempfindungen erregen, zur Stärkung und Ermutigung vor und nach solchen
Einwirkungen; doch hat sie das mit erneuter Mühsal zu bezahlen. Nicht schafft ihr dieses Feuer befriedende Er-
quickung; vielmehr läßt das verzehrende, anfechtende sie hinschwinden in Selbsterkenntnis. Sein geistiges Licht,
das ihr diese Selbsterkenntnis erweckt, macht sie elend und bitter und nicht verklärt. Gottes Feuer fährt in ihre
Knochen, wie Jeremias sagt (Klgl i, 13); er prüft sie nach Davids Worten (Ps 16, 3) in Feuersglut.

20. Und so leidet die Seele während dieser Reifezeit in ihrer Erkenntniskraft dichte Finsternisse, in ihrem Wil-
len große Ausdörrung und Bedrückung, in ihrer Gedächtniskraft wuchtendes Bewußtsein ihrer Jämmerlichkeit,
denn zu dieser Zeit sieht ihr geistiges Auge sehr klar das eigene Selbst. Und im Seelenkern leidet sie durch ihre
Schutzlosigkeit und Armseligkeit. Ausgedörrt und kalt, mitunter aber glühend wie sie ist, findet sie in nichts Er-
leichterung, nicht einmal einen Gedanken, der sie tröstet, nicht einmal einen Aufschwung zu Gott. Die Flamme
scheint so sehr ihr Widersacher, daß sie mit Job in solchem Gotterleiden seufzen kann: «Ein Grausamer bist du
für mich geworden» (Job 30, 21). Denn wenn die Seele all dies zusammen durchmacht, dann scheint es ihr wirk-
lich, als sei Gott ihr abgeneigt und ihr grausam gesinnt.

21. Es läßt sich nicht in Worte fassen, was die Seele zu dieser Zeit leidet; fast ist es gleich dem Fegefeuer. Wie stark
dieses Zuwiderwirken ist, und was die Seele dabei durchmacht, das weiß ich nur mit Jeremias zu sagen: «Der
Mann bin ich, der unter seiner Zuchtrute seine Armseligkeit erfährt. Bedroht hat er mich, hineingezogen in die
Finsternisse und nicht hin zum Licht: so sehr hat er seine Hand gegen mich erhoben. Er ließ meine Haut und
mein Fleisch hinwelken und schrumpfen mein Gebein. Rundum schloß er mich ein und ließ mich nichts finden
als Galle und Pein; in Finsternisse begrub er mich gleich den ewig Toten. Mauern türmte er um mich, zu unent-
rinnbarer Haft; lastender machte er meinen Kerker. Mehr noch: rief ich flehentlich empor, war er verschlossen
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meinem Gebet. Mit Quadersteinen versperrte er meinen Weg, und meine Fußspuren verwischte er» (Klgl 2, 19).
All dieses und mehr noch sagt Jeremias. Denn wenn Gott dergestalt die Seele in ihren vielen Krankheiten zu ihrer
Gesundung behandelt, dann muß sie notwendig entsprechend ihrem Siechtum unter solch läuternder Pflege
leiden. So wird bei Tobias das Herz auf die glühenden Kohlen gelegt, um jede Art von Dämon herauszutreiben
(Tob 6, 8). Und anders nicht soll jene Behandlung alle Krankheiten der Seele zum Vorschein bringen.

22. Die Schwächen und Unzulänglichkeiten der Seele, die in ihr festgesetzt und verborgen von ihr selber nicht
bemerkt, nicht empfunden waren, werden für sie nun, kraft Licht und Glut des göttlichen Feuers, sichtbar und
spürbar. So wird die dem Holz innewohnende Feuchtigkeit nicht bemerkt, bis es vom Feuer befallen wird und
nunmehr das Feuchte herausschwitzt. So verhält sich die unvollkommene Seele in dieser Flamme. Zu dieser Zeit
o wunderbares Geschehen! erheben sich in der Seele zwei gegensätzliche Mächte wider einander: die der Seele
gegen die Gottes, von denen die Seele angegriffen wird. Und die einen heben die anderen scharf hervor, wie die
Philosophen sagen; sie befehden sich im Raum der Seele, wo sie sich gegenseitig verdrängen und Alleinherr-
schaft erringen wollen, hier die Tugenden und Eigenschaften Gottes in höchster Vollendung, dort die höchst
unvollkommenen Gewohnheiten und Eigenschaften im Reich der Seele, so daß diese nun zwei Widersacher
umschließt. Übergewaltig ist das Licht dieser Flamme, das in die Seele einfällt, grell in deren übermäßigen Fins-
ternissen. Nunmehr fühlt die Seele ihre natürlichen und lastervollen Finsternisse und deren Widerstreben gegen
das übernatürliche Licht. Und nicht verspürt sie das übernatürliche Licht, das außerhalb ihres Bereiches weilt
und nicht innerhalb wie ihre Finsternisse, die das Licht nicht begreifen. Die Seele empfindet solche Finsternisse
nur durch den Gegensatz zum einfallenden Licht. Fiele das göttliche Licht nicht auf die inneren Finsternisse, so
würde die Seele ihrer nicht gewahr. Nicht eher ist das geistige Auge rein und stark genug für das göttliche Licht,
als bis das göttliche Licht die Finsternisse ausgetrieben und die Seele mit sich erfüllt hat. Erst dann gewahrt die
Umgewandelte das Licht in sich. Denn übergewaltiges Licht muß im unreinen und schwachen Auge zu eitel Fins-
ternis werden, da der übermächtige Eindruck die Fassungskraft überwältigt. Und so war jene Flamme dem Blick
der Erkenntniskraft grauenvoll.

23. Da diese Flamme in sich selbst überaus lieblich ist, durchdringt sie den Willen zart und liebreich. Da jedoch
der Wille an sich äußerst trocken und hart ist und die Härte nur im Gegensatz zum Zarten und die Trockenheit
nur im Gegensatz zur Liebe empfunden wird, so mußte der Wille seine natürliche Härte und Trockenheit gegen-
über Gott empfinden, sobald ihn die Flamme mild und huldreich ergriff; doch die milde Liebe dieser Flamme
konnte er nicht empfinden, erfüllt wie er ist mit Härte und Trockenheit, die dem Gegensätzlichen, der milden
Huld widerstehen. Erst wenn jene ausgetrieben sind, kann Gottes milde Liebe im Willen herrschen. Darin war
also diese Flamme dem Willen zuwider, daß sie ihm seine Härte und Trockenheit schmerzlich fühlbar machte.
Zudem ist die Flamme allumfassend, und der Wille eng beschränkt, so daß er seine Beengtheit beim Einfallen
der Brunst empfinden muß, solange, bis daß sie ihn ausgedehnt und sich angeglichen hat. Auch ist die Flamme an
sich wohltuend und gelind, der Geschmackssinn des Willens hingegen war verstimmt von ungeregelten Gelüs-
ten, und so schmeckt ihm die köstliche Gottesliebe bitter und abstoßend. Und so empfindet auch der Wille seine
Beengtheit und Stumpfheit der so wohltuenden und unbeschränkten Flamme gegenüber; er empfindet die ihm
noch fremde Köstlichkeit nicht, sondern das ihm Eigene, seine Jämmerlichkeit. Und schließlich: dieser Flamme
eignen ungeheure Schätze, Güte und Beseligung, die Seele aber ist in sich armselig, ohne Gutes, ohne etwas sie
Stillendes; so erfaßt sie deutlich ihr Elend, ihre Armut, ihre Schlechtigkeit in unmittelbarer Nähe so beseligender
Reichtümer und Güter aber diese Eigenschaften der Flamme selber erkennt sie nicht, wie denn die Schlechtig-
keit nicht die Güte, die Armut nicht den Reichtum begreift. Erst wenn das Feuer die Seele vollends geläutert, sie
umwandelnd bereichert, verklärt und beseligt hat, wird es von ihr begriffen. Über alles Sagen hinaus war diese
Flamme gleich einem Widersacher der Seele, in deren Raum Gott, der Inbegriff der Vollkommenheit, gegen ihre
unvollkommenen Gewohnheiten streitet, um sie zu schmeidigen, zu schlichten und zu durchhellen, bis zur Um-
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wandung in sich selber vergleichbar der ins Holz eindringenden Glut.

24. Nur wenige Seelen werden so stark von dieser Läuterung ergriffen, jene nur, die der Herr zum höchsten Grade
der Einigung erheben will. Je nach der Vollkommenheit, zu der er sie erheben will, und auch nach dem Maß ihrer
Unlauterkeit und Unvollkommenheit greift er mehr oder minder stark in die Seele ein. So läßt sich diese Pein mit
der des Fegefeuers vergleichen: denn so wie die Seelen im Jenseits geläutert werden, um Gott im anderen Leben
in klarer Schau zu gewahren, so werden die Seelen hier geläutert, um sich in diesem Leben durch Liebe in ihn
hinüberzubilden.

25. Meine Darlegung übergeht hier die Intensitätsgrade dieser Läuterung samt ihren Abwandlungen: wann sie
die Erkenntniskraft, wann die Willenskraft und wann die Gedächtniskraft betrifft, wann und wie sie die Seelen-
substanz selber ergreift, und wann alles insgesamt, ebenso die Läuterungsweise der Leibseele, die Kennzeichen
für das Ergriffensein des einen Teiles oder des anderen, und zu welcher Zeit, bei welcher Gereiftheit innerhalb des
geistigen Weges solche Läuterung anhebt. Dies alles habe ich schon behandelt in der «Dunkeln Nacht des Auf-
stiegs zum Karmel», und hier gehört es nicht zum eigentlichen Gegenstand. Es genügt hier, dies zu wissen: der
eine und gleiche Gott ist es, der zur einigenden Liebesumwandlung in die Seele eindringen will und der sie zuvor
mit Licht und Glut seiner göttlichen Flamme befällt, um sie vorzubereiten. So hat das Feuer, bevor es das Holz
durchflammt, dieses für solches Aufgehen vorbereitet. Und die gleiche Glut, die nun der Seele wohltuend ist, da
sie im Innersten von ihr ergriffen ist, sie war ihr, als sie von außen auf sie eindrang, grauenvoll.

26. Und das will die Seele zu verstehen geben, wenn sie die Flamme «gesänftigte» nennt nicht mehr grauenvolle.
Es ist, als sagte sie zusammenfassend: Fortan bist du mir nicht mehr dunkel, vielmehr bist du das göttliche Licht
meiner Erkenntniskraft, in dem ich dich anschauen kann. Und nicht länger überwältigst du meine Schwachheit;
vielmehr bist du die Stärke meines Willens, mit der ich dich lieben und genießen kann, selber ganz in göttliche
Liebe verwandelt. Und nicht länger bist du Last und Bedrängnis für meiner Seele Kern; vielmehr bist du ihr selige
Wonne und Grenzenlosigkeit. Denn von mir läßt sich sagen, was im Hohen Lied gesungen wird: «Wer ist sie,
die aus der Wüste hervorgeht, schwelgend in Wonnen, gelehnt auf den Geliebten, Liebe ergießend hierhin und
dorthin?» (Hl 8, 5.) Ja, so ist es.

tilg, daß mein Herz gesundet

27. Sie sagt: Vollende nun und vollziehe vollkommen die mystische Ehe durch die selige Schau deiner Herrlich-
keit. Solches erfleht die Seele. Wohl ist sie in diesem erhabenen Stand um soviel gottergebener und befriedigter, je
tiefer sie in Liebe umgewandelt wurde; wohl ist ihr nichts bewußt, und nichts vermag sie für sich zu erbitten, und
in allem meint sie den Geliebten, wie denn die Liebe nach Pauli Wort nichts für sich erstrebt, sondern nur für den
Geliebten (1 Kör 13,5). Allein immer noch lebt sie in Hoffnung; und so kann sie nicht anders als immer noch
eine Leere empfinden, so stark ist ihr Schmachten selbst in der köstlichen Sänftigung, ebensogroß wie die Unvoll-
kommenheit ihrer Gotteskindschaft, bei deren beseligender Vollkommenheit ihr Verlangen zur Ruhe kommen
wird. So innig sie hier schon mit Gott verbunden sein mag niemals wird sie gesättigt und beschwichtigt sein, als
bis ihre Verherrlichung hereinbricht, zumal sie in ihrer Lage solche Erfüllung lechzend vorausschmeckt. Derart
ist solches Vorauskosten: wenn Gott nicht auch dem Leibe Huld erwiese und der Natur zuhilfekäme, so wie er
im Felsen es Moses gewährte (Ex 33, 22), seine Herrlichkeit ohne zu sterben anzuschauen, so würde bei jedem
dieser Flammenstöße die Natur vergehen, da der untere Teil kein Gefäß ist, das so gewaltiges und erhabenes Ver-
klärungsfeuer aushalten kann.

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28 Und so ist dies Verlangen und das ihm entspringende Flehen ohne Qual eine Empfindung, deren die Seele
in dieser Lage nicht mehr fähig ist. Vielmehr ist es ein sanftes, wohltuendes Begehren nach Übereinstimmung
ihrer Sinne mit ihrem Geiste. Sie bittet, Gott möge das Trennende tilgen, wenn es ihm so gefalle; denn schon sind
Wille und Trieb so einhellig mit Gott, daß ihre Seligkeit im Erfüllen des göttlichen Willens besteht. Doch solcher
Art ist in diesem Gotterleiden das jähe Annahen beseligender Liebe die bei der Enge des irdischen Hauses wohl
hervorbrechen, aber nicht durch die Pforte der Seele eingehen kann, daß es eher einem

Versagen der Liebe gleichkäme, nicht das Eingehen in jene Vollkommenheit und Liebesvollendung zu erflehen.
Und darüber hinaus ersieht die Seele hier, daß es der Heilige Geist ist, der während dieses beglückenden Austau-
sches, des starken Ergriffenseins durch den Gatten jene überwältigende Herrlichkeit vor ihren Augen aufschim-
mern läßt und sie damit anreizt und einlädt. Auf wunderbare Weise, mit sanfter Hinneigung haucht er ihrem Geis-
te die Worte ein, die er im Hohen Liede zur Braut sagt und die von ihr so widergegeben werden: «Hört, was mein
Bräutigam mir sagt: erhebe dich eilend, du Freundin mein, du meine Taube, meine Schöne, und komm! Schon ist
der Winter vorüber und der Regen wich fernhin und die Blumen sproßten zutage auf unserm Gefild. Schon kam
die Zeit zum Baumschnitt, und der Turteltaube Stimme klang auf in unserm Land. Der Feigenbaum hat seine
Früchte gezeitigt, und ihren Duft entsandten die erblühten Reben. Auf, meine Freundin, anmutvolle, und komm,
hinein in die Felsenklüfte, in die Höhlung der Hecke! Weise mir dein sanftes Angesicht, in meinen Ohren erklinge
deine Stimme; denn süß ist deine Stimme, und dein Angesicht ist schön» (Hl 2, 1014). All dies fühlt die Seele
und begreift es aufs deutlichste, im erhabenen Erfahren einer Seligkeit, die ihr der Heilige Geist in seinem sanften
und liebreichen Lodern aufweist, in dem Verlangen, sie in solche Herrlichkeit hineinzuziehen. Und der Aufforde-
rung entspricht sie hier mit den Worten: Tilge endlich, wenn es dir so gefällt. Damit trägt sie dem Gatten zwei der
Bitten vor, die er uns im Evangelium lehrte: «Zu uns komme dein Reich.» Und: «Dein Wille geschehe.» Es ist,
als sagte sie: vollends gewähre mir dieses Reich, wenn es so dein Wille ist. Und damit dies geschehe:

dem süßen Treffen tilg die Trennungsweben!

29. Gemeint ist jenes Gewebe, das so großes Geschehen verhindert; denn leicht ist es, zu Gott zu gelangen, wenn
die Hindernisse beseitigt und die Gewebe, die einer vollen Vereinigung von Gott und Seele im Wege sind, zer-
rissen wurden. Die Trennungsweben, die zerrissen werden müssen, damit die Seele Gott vollkommen gewinnen
kann, sind dreifacher Art: zeitlicher Art, worunter alle Geschöpfe verstanden werden; natürlicher Art, wozu alle
rein natürlichen Betätigungen und Neigungen gehören; sensitiver Art, worunter allein die Vereinigung der Seele
mit dem Leibe verstanden wird, jenes sensitive und animalische Leben, von dem Paulus sagt: «Wir wissen, wenn
dieses irdische Haus zerfällt, dann ist unsere Bleibe bei Gott im Himmel» (2 Kor 5, 1). Notwendig müssen die
ersten beiden Gewebe zerrissen sein, um diese Verbindung mit Gott zu gewinnen, bei der alles Weltliche ver-
leugnet und abgetan sein muß, alle natürlichen Triebe und Neigungen erstorben und die Betätigungen der Seele
vergöttlicht. All dies wurde in der Seele getilgt kraft des herben Einfallens dieser Flamme zu jener Zeit, da sie
noch Versehrte. Endet doch mit der aufgewiesenen Läuterung des Geistes die Tilgung der ersten beiden Tren-
nungsweben, womit die Seele zu dieser Gotteinigung gelangt und nur noch das dritte Gewebe, das des sensitiven
Lebens zerreißen muß. Nur dies Letzte ist noch zu durchdringen; und auch das ist bereits in dieser Gotteinigung
so durchscheinend und vergeistigt geworden, daß die Flamme es nicht heftig wie die andern beiden Gewebe be-
fällt, sondern wohltuend gelind. Und um so sanfter und köstlicher ist der Seele dieses Befallen, je mehr es ihr das
Gewebe des Lebens zu zerreißen scheint.

30. Das natürliche Sterben jener Seelen, die zu solcher Gotteinigung gelangen, mag den äußeren Umständen
nach dem Sterben der andern gleichen. Doch besteht in der Ursache und der Weise des Todes ein großer Unter-
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schied: wenn die andern an Krankheit oder Altersschwäche sterben, so mögen auch diese zwar in einer Krankheit
und in vorgerücktem Alter hinscheiden; allein sie werden dem Leibe entwurzelt nur durch einen Liebessturm
und ein Liebestreffen, weit er

habener als die früheren, weit machtvoller und sieghafter. Nur ein solcher Sturm vermochte das Gewebe zu zerrei-
ßen und das Kleinod, die Seele zu entführen. Und so ist der Hinübergang solcher Seelen ganz sanft und verklärt,
sanfter als ihnen ihr ganzes geisthaftes Leben war. Sterben sie doch in erhabeneren Liebesstürmen und köstliche-
ren Liebestreffen, vergleichbar dem Schwan, der am lieblichsten im Tode singt. Denn kostbar ist vor Gott nach
Davids Worten der Tod seiner hingegebenen Heiligen (Ps 115, 15). Denn hier strömen zur Ganzheit zusammen
alle Schätze der Seele, hier münden ein in das Meer alle Liebesströme der Seele, so breit schon und so ange-
schwollen gleich Meeren. Das Erste und das Letzte seiner Schätze ist hier zusammengehäuft, um den Gerechten
zu begleiten, ihn, der zu seinem Reiche aufbricht und nunmehr die Lobpreisungen von den Grenzen der Erde her
vernimmt, die nach Iesaias den Gerechten verherrlichen (Is 24, 16).

31. Dank dieser verklärenden Liebestreffen fühlt sich die Seele unmittelbar vor dem Aufschwung zur vollkomme-
nen Besitznahme ihres Reiches, angesichts der Überfülle ihrer Schätze. Denn hier erkennt sie ihre Reinheit und
ihre reiche Fülle an Tugenden und damit ihre Eignung; denn hier in diesem Stande läßt Gott sie ihre Schönheit
gewahren und entdeckt ihr vertrauend ihre von ihm verliehenen Gnadengaben und Kräfte. Es wird ihr ja alles
zu Liebe und Lobpreis, ohne Einmischung von Anmaßung und Eitelkeit, ohne Gärstoff, der den Teig verderben
könnte. Und wie sie nun einsieht, daß ihr nur eines noch zu wünschen bleibt, das Zerreißen dieses dünnen Ge-
webes, des natürlichen Lebens, darin ihre Freiheit wie in einem Netz gefangen und behindert ist, da begehrt sie
das Zerreißen der Bande und das Zusammensein mit Christus (Phil 1, 28). Und beeinträchtigt davon, daß ein so
niedriges und schwächliches Leben das andere so hohe und starke Leben verhindern soll, fleht sie zu Gott: «dem
süßen Treffen tilg die Trennungsweben».

32 Aus drei Gründen spricht sie von einem Gewebe: einmal wegen der Verflechtung von Geist und Fleisch; zum
andern wegen der Hülle zwischen Gott und Seele; und zuletzt deshalb, weil ein Gewebe nicht so dicht geschlagen
sein kann, daß nicht die Helligkeit hindurchschimmern könnte, und weil desgleichen bei dieser Verflechtung das
Gewebe bereits so verfeinert, so licht und vergeistigt ist, daß die Gottheit notwendig hindurchschimmern muß.
Und da die Seele nun die Gewalt des jenseitigen Lebens verspürt, drängt sich ihr die Kläglichkeit des diesseitigen
auf und erscheint ihr als überaus schwaches Gewebe, ja sogar als Spinngewebe. So sagt David: « Unsere Jahre
ziehen sich hin wie das Gewebe der Spinne» (Ps 89, 9). Selbst weniger als Spinnweb ist es vor einer so hoch
erhobenen Seele: da sie in die Empfindungen Gottes eingegangen ist, empfindet sie die Dinge wie Gott, vor dem
tausend Jahre wie das vergangene Gestern sind (Ps 89, 4). Und nach Isaias sind alle Völker, als ob sie nicht wären
(Is 11, 17). Kein größeres Gewicht haben sie vor der Seele: alle Dinge sind ihr nichts, und sie selber ist in ihren
Augen nichts; Gott allein ist für sie alles.

33. Hier läßt sich fragen: warum bittet die Seele mehr darum, daß dies Gewebe zerrissen, als daß es zerschnitten
oder aufgelöst werde, wo doch all dies das Gleiche zu besagen scheint? Wir können sagen aus drei Gründen.
Einmal ist es genauer, bei einem solchen Treffen von Zerreißen als von Zerschneiden und Auflösen zu sprechen.
Zum andern ist die Liebe Freund von ungestümem Werben und kraftvollem Zusammentreffen, das eher tilgend
zerreißt als zerschneidet und auflöst. Und schließlich begehrt die Liebe, daß ihr Vollzug von äußerster Kürze sei,
um sich aufs schnellste zu erfüllen. Und er besitzt mehr Wert und Gewalt, je schneller und geistiger er ist; denn
geballte Kraft ist wirksamer als verteilte. Und es findet die Liebe auf die gleiche Weise Eingang wie die Form in die
Materie: in einem Augenblick; und bis dahin gab es keinen Vollzug, sondern nur dessen Vorbereitung. Und so
vollziehen sich die geisthaften Betätigungen der Seele wie in einem Augenblick, als göttliche Eingebungen. Alles
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andere, was die Seele aus sich vollzieht, kann eher als vorbereitende und fortgesetzte Wünsche und Neigungen
bezeichnet werden, die niemals vollkommene Liebesbetätigung und Gotterfahrung werden können, es sei denn
in den Fällen, wo Gott sie formt und in einem Nu in der Geistseele vollendet. Darum sagt der Weise, das Ende des
Gebetes sei besser als der Anfang (Pred 7, 9); und das Sprichwort: das kurze Gebet erschwänge die Himmel. So
vermag die wohlvorbereitete Seele in kurzer Zeit zahlreichere und eindringlichere Bekräftigungen zu vollziehen
als eine unvorbereitete in langer Spanne; diese bereite Seele pflegt sogar lange Zeit im gottgewährten Liebesvoll-
zug zu verharren. Die unvorbereitete Seele gelangt nicht über die Vorbereitung des Geistes hinaus; und auch
danach dringt das Feuer nicht recht in das Holz ein, bald wegen dessen Feuchtigkeit, bald wegen der geringen
vorbereitenden Hitze, bald aus beiden Gründen. Allein in die gottbereite Seele dringt der Liebesakt im Nu; denn
der Funke einer jeden göttlichen Berührung zündet im trockenen Zunder. Und so begehrt die liebende Seele
mehr das kurze tilgende Zerreißen als das hingezogene Zerschneiden und Auflösen. Schließlich ersehnt die Seele
ein schnelles Tilgen ihres Lebensgewebes; denn Abkürzen und Zuendeführen verlangt mehr Überlegung, ein
Abwarten des richtigen Zeitpunktes oder einer anderen Frist, Zerreißen dagegen wartet offenbar weder auf den
günstigen Zeitpunkt noch auf irgendetwas anderes.

34. Das also begehrt die Seele in dem Ungestüm ihrer Liebe: daß sie nicht auf das natürliche Ende ihres Lebens
warten müsse, noch auf dessen Abkürzung zu dieser oder jener Frist. Die Gewalt ihrer Liebe und die Bereitschaft,
die sie in sich fühlt, lassen sie verlangen und erflehen, dies Leben möge alsbald getilgt werden, in einem über-
natürlichen Liebessturm. Sehr wohl kennt sie hier Gottes Neigung, die Seelen, die ihm vor allem lieb sind, mit
sich zu entheben, nachdem er ihnen in kurzer Zeit kraft der Liebe die Vollendung geschenkt hat, die sie in ihrem
gewohnten Fortschreiten nur allmählich hätten gewinnen können. Dies eben sagt der Weise: «Wer Gott wohl-
gefällt, der erfährt seine Liebe. Aus seinem Leben unter den Sündern wurde er hinausgehoben und verzückt,
damit die Bosheit nicht seine Einsicht verzerre, die Gaukelei nicht seine Seele betrüge. In schneller Vollendung
hat er viele Zeiten durchlebt. Fand Gott doch Wohlgefallen an seiner Seele; und so entzog er ihn eilends solcher
Umwelt» (Wh 4, 1014). Aus diesen Worten des Weisen geht hervor, mit wieviel Recht die Seele ein schnelles
Tilgen begehrt. Denn in jenen Schriftworten verwendet der Heilige Geist die beiden Ausdrücke «verzückt» und
«eilends», die alles Zögerns bar sind. Das «eilends» weist auf die Beschleunigung, mit der Gott die Liebe des
Gerechten vollkommen macht; und das «Verzücken» weist auf das Entrücktwerden noch vor dem natürlichen
Lebensende. So ist es für die Seele gar wichtig, sich in diesem Leben im Liebesvollzug zu üben, um sich so in
Schnelle aufzuzehren, und, ohne langes Verweilen hier oder drüben, Gott zu erschauen.

35. Doch warum gibt die Seele solchem Überfall des Heiligen Geistes gerade die Bezeichnung eines Treffens? Der
Grund ist dieser: die Seele fühlt ja in Gott ein unendliches Verlangen, daß sich ihr Leben vollende. Und da dies
erst geschieht, wenn der Zeitpunkt ihrer Vollkommenheit erreicht ist, so gewinnt sie die Einsicht, daß Gott mit
diesen verherrlichenden Angriffen nach Art eines Treffens in sie eindringt, um sie zu vollenden und dem Fleisch
zu entheben. Wahrhaft sind es Treffen mit dem Ziel der Durchklärung und der Enthebung aus dem Leibe. Es sind
Treffen, kraft deren er immer bis zum Kern der Seele vorstößt und diese vergöttlichend über alles Sein hinaus mit
seinem eigenen Sein durchtränkt. Gott traf und durchbohrte gewaltig im Heiligen Geiste, dessen Eingießungen
bei so inbrünstiger Begegnung überwältigend sind. Und die Seele nennt solches Treffen süß, weil sie darin aufs
eindringlichste Gott genießt. Wohl sind auch andere Berührungen und Begegnungen dieser Höhe für sie hold;
allein diese sind ihr süß über alle Maßen. Wir sagten schon, Gott selber wirkt solches, um sie loszulösen und zu
verklären; und darum wird sie zu dem Ausruf beflügelt: Dem süßen Treffen tilg die Trennungsweben!

36 In der Gesamtheit dieser Kanzone scheint sie zu sagen: «O Flamme des Heiligen Geistes, die du mit solch
innigster Zärtlichkeit den Kern meiner Seele durchdringst und sie mit deiner seligen Glut gesundbrennst du
Freundliche, geneigt, sich mir im ewigen Leben hinzuschenken, wenn mein Flehen bis anhin bei dir kein Gehör
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fand, da ich an Leib und Seele wegen meiner großen Schwäche und Unreinheit und matten Liebeskraft Qual und
Not der Liebe erlitt und dich um Loslösung und Aufflug zu dir bestürmte, zu ungestüm liebend, um mich in die
von dir auferlegte Lebensdauer zu schicken : nun denn, in diesem Jetzt, da ich in der Liebe so gestärkt bin, daß
mein Herz und mein Fleisch sich am lebendigen Gott erquicken in voller Übereinstimmung der Teile jetzt, da
ich gefestigt genug bin, um das zu erbitten, worum du gebeten sein willst, gefestigt genug, nicht einmal im ersten
Anflug eines Gedankens zu begehren, was dir widerstrebt jetzt zerreiß das leichte Gewebe dieses Lebens, und laß
es nicht durch natürlichen Ablauf, von Alter und Bejahrtheit abgeschnitten werden zerreiß es, daß ich dich unver-
weilt so ganz und herzhaft Heben kann wie meine Seele begehrt, ohne Schranken und Ende!»

Zweite Strophe

O Flamme, mild umleckend!


O Wunde, lind zu dulden!
O holde Hand! O liebliches Durchdringen,
nach ewigem Leben schmeckend,
vergütend alle Schulden!
Todbringend willst du höchstes Leben bringen.

Erläuterung

1. In dieser Kanzone stellt die Seele heraus, wie die drei Personen der heiligsten Dreifaltigkeit, Vater und Sohn
und Heiliger Geist in ihr dies göttliche Werk der Einigung wirken. Und so sind die Hand, der heilende Brand
und das Durchdringen der Berührung wesentlich ein und dasselbe; und die Seele gibt ihnen diese Benennungen
gemäß ihrer Wirkweise. Der heilende Brand ist der Heilige Geist, die Hand ist der Vater und die durchdringende
Berührung der Sohn. Und so erhebt die Seele hier den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist und verweilt
inbrünstig bei drei großen Wohltaten und Gnaden, die sie in ihr wirken sie, die ihren Tod in Leben wandeln,
durch Uberformung in ihre Gottheit. Das erste ist die «Wunde, Und zu dulden»; und diese schreibt sie dem
Heiligen Geiste zu; und darum nennt sie ihn einen Heilbrand, «mild umleckend». Das zweite ist Verschmecken
des ewigen Lebens; und dies führt sie auf den Sohn zurück; und darum nennt sie es «liebliches Durchdringen».
Das dritte ist die Vergottung, eine Gabe, wodurch sie für alles entschädigt wird; und diese legt sie dem Vater bei,
und nennt sie darum «holde Hand». Und wenn sie hier auch drei nennt, wegen der Sonderart der Wirkungen,
so spricht sie dennoch nur mit Einem: «Todbringend willst du höchstes Leben bringen!» Denn sie Alle wirken
in Einem: und so legt die Seele alles Einem und alles Allen bei. Es folgt der Vers:

0 Flamme, mild umleckend!

2. Diese Flamme als glühendes Messer, als Heilglut ist hier der Heilige Geist. So sagt Moses: «Gott unser Herr
ist verzehrendes Feuer» (Deut 4, 24). Das meint, Feuer der Liebe ein Feuer, dessen grenzenlose Gewalt die von
ihm ergriffene Seele unermeßlich verzehrt und in sich verwandelt. Doch eine jede entflammt und durchdringt es
gemäß ihrer Bereitschaft, die eine mehr die andere weniger; und das, so oft es will, und wie und wann es will. Und
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wenn solcher Liebesbrand die Seele bedrängender anfällt, dann glüht die Seele in so hochgesteigerter Liebe, daß
sie mehr als alle Gluten der Welt zu glühen glaubt. Deshalb nennt sie den Heiligen Geist in solcher Verschmel-
zung Heilglut. So wie bei der Heilglut das Feuer eindringlicher und wirksamer ist als bei anderen Bränden, so ist
der Vollzug dieser Einigung in seiner auflodernden Liebesglut gewaltiger als alle anderen und mag wegen solcher
Überlegenheit wohl Heilglut genannt werden. Und weil dies göttliche Feuer hier die Seele in sich verwandelte,
fühlt diese nicht nur einen durchätzenden Brand sie selber ist gänzlich zu heftiger Heilglut geworden.

3. Und es ist wundersam und rühmenswert, daß dieses Gottesfeuer zwar mit seiner verzehrenden Wucht leichter
tausend Welten austilgen könnte als irdisches Feuer einen Halm, und daß es dennoch nicht die Seele, darin es der-
art lodert, in Nichts zerflammt, ja, ihr nicht einmal irgendeine Beschwerde macht. Vielmehr beseligt und vergottet
es die Seele mit seiner sanften Durchflammung, gemäß seiner Liebesgewalt. Und so ist es dank der Lauterkeit und
Vergeistigung, mit der die Seele im Heiligen Geiste brennt. Das Gleiche begab sich in der Geschichte der Apostel:
als dort das Feuer mit großer Gewalt herniederkam, entflammte es die Jünger, die nun innerlich nach Sankt Gre-
gor in sanfter Liebe entbrannten. Und nichts anderes besagen die kirchlichen Worte: «Feuer kam vom Himmel,
nicht brennend, sondern erstrahlend; nicht verzehrend, sondern erleuchtend.» Da Gott in diesen Mitteilungen
die Seele erheben und nicht niederdrücken will, so erdehnt und erquickt er sie. Nicht verdunkelt er sie, nicht
äschert er sie ein, wie es das Feuer mit der Kohle tut; vielmehr bereichert und verklärt er sie, und darum wird er
von ihr mild umleckende Flamme genannt.

4.Und so weiß die beglückte Seele alles, wenn sie als Auserwählte solche Heilglut erfährt, alles verkostet sie, alles,
was sie erstrebt, vollzieht sie, niemand überwältigt sie, nichts berührt sie. Denn von solcher Seele sagt der Apostel:
«Der Geistmensch urteilt über alles und ist keinem Urteil unterworfen.» Und abermals: «Der Geist erspürt alles,
bis hin zu Gottes Tiefen»

(1 Kor 2, 5.10). Denn solches ist der Liebe eigen, alles Köstliche des Geliebten zu erforschen.

5.O erhabene Herrlichkeit für euch Seelen, die ihr so unvergleichlichen Feuers würdig wurdet, eines Brandes, der
euch mit grenzenloser Wucht austilgen und vernichten könnte, und euch doch gewiß nicht verzehrt, sondern
euch mit unermeßlicher Kraft in die Ewigkeit hinein vollendet. Nicht ist es verwunderlich, daß Gott vereinzel-
te Seelen bis zu solcher Erhabenheit hinaufführt; besondert sich doch die Sonne zu einzelnen staunenswerten
Wirkungen; auf drei Weisen, sagt der Heilige Geist, überflammt sie die Höhen (Sir 43, 4), das meint, die Höhen
der Heiligen. Bei solcher Sanftheit der Heilglut, wie wir sie hier verdeutlichten, wie köstlich muß sie wohl für die
Seele sein, die von ihr berührt wird. So sehr sie es aussagen möchte sie sagt es nicht; sie verharrt mit der »Ehr-
furcht im Herzen und mit einer Inbrunst im Munde, die mit dem Ausruf «O» hinausdrängt: O Flamme, mild
umleckend!

O Wunde, lind zu dulden

6.Hat die Seele zuvor mit der Heilglut gesprochen, so tut

sie es jetzt mit der Wunde, die von jener bewirkt wird. Und da diese Heilglut als mild gekennzeichnet wurde, so
ist das gleiche von der Wunde zu erwarten. So ist die Wunde von der milden Heilglut lind zu dulden. Da Heilglut
wie Wunde aus sanftmütiger Liebe stammen, so ist ihre Lieblichkeit lind zu dulden.

7. Die Wunde, zu der die Seele spricht, ist so zu verstehen: wo das materielle Feuer hintrifft, erzeugt es immer eine
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Wunde; und wenn es auf eine andersartige Wunde auftrifft, so macht es diese zur Brandwunde. Und diese Eigen-
schaft hat der Heilbrand der Liebe: mag die von ihm betroffene Seele die Wunden des Elends und der Sünden
aufweisen oder mag sie heil sein unverweilt hinterläßt er sie liebewund. Und welcher Art zuvor auch die Wunden
gewesen sein mögen, sie wurden zu Wunden der Liebe. Jedoch kann die Wunde, die vom natürlichen Feuer ver-
ursacht wird, nicht wiederum durch dieses Feuer, sondern nur durch andere Arzneien geheilt werden, während
die Wunde aus dem Liebesbrand durch nichts Fremdes geheilt wird, vielmehr durch den Schlagenden gesundet
und wiederum im Gesunden von ihm geschlagen wird. Denn jedesmal, wenn der Liebesbrand in die Liebeswun-
de trifft, vergrößert er die Liebeswunde und pflegt und heilt sie um so mehr, je gewaltiger er verwundet. Je tiefer
die Liebeswunde, um so heiler ist der Liebende. Das Pflegen der Liebe ist Verwunden und das Verwundete so-
lange Verletzen, bis die ganze Seele zu einer einzigen Liebeswunde geworden ist. Und so vom Heilbrand zu einer
Liebeswunde geglüht, ist sie in Liebe vollkommen heil; ist sie doch in Liebe umgewandelt. Von solcher Wunde
spricht hier die Seele, gänzlich wund und gänzlich heil. Und obschon sie so verharrt, ganz wund und ganz heil,
läßt der Liebesbrand in seiner Wirksamkeit nicht nach, nicht in seiner verwundenden Liebesberührung. Und in
solchem Zustande köstlicher Gesundung ist seine Aufgabe die des Arztes : Wartung der Wunde. So mag die Seele
hier wohl ausrufen : « O hebkosende Wunde! Du Wunde, um so köstlicher, je erhabener der Liebesbrand ist, der
dich bewirkt! Ist er doch vom Heiligen Geiste entfacht; und da sein Wunsch und Willen, die Seele zu beglücken,
gewaltig ist, so muß die Wunde wohl groß sein, um groß betreut zu werden!»

8.O wohltuende Wunde, von ihm geschlagen, der nur zu heilen weiß! O glückbringende, hochwillkommene
Wunde, die nur zur Liebkosung gewirkt wurde, du, deren Siechtum es eigen ist, der siechenden Seele ein won-
niges Geschenk zu sein! Groß bist du, Beglückende; ist doch groß, der dich schlug; und groß ist dein Wohl, ent-
stammend aus unendlichem Liebesbrand, der dich nach seiner Allgewalt liebkost! O beglückende Wunde, um so
überschwenglicher beglükkend, je mehr die beizende Flamme ins innerste Heimliche meines Seelenkernes traf,
alles entzündend, was entzündbar war, um alles hinzuschenken, was geschenkt werden kann! Solcher Heilbrand
und solche Wunde sind das Erhabenste, was die gotteinige Seele gewinnen kann. Wohl gibt es viele andere Weisen,
wie Gott die Seele durchglüht; doch reichen sie nicht an diese heran. Denn diese ist in der Seele eine Berührung
ausschließlich durch die Gottheit, ohne irgendeine Form und Gestalt des Geistes oder der Einbildungskraft.

9.Doch pflegt es eine andere, sehr erhabene Weise zu geben, die Seele geistig mit einer heilvollen Wunde zu
durchglühen. Hat sie dabei auch die hier aufgezeigte Höhe noch nicht erreicht, so muß sie doch sehr entflammt
sein, um das, was ich jetzt aufzeigen will, zu erleben: es kann geschehen, daß sie sich im Innern von einem Seraph
angefallen und von ihm verletzt fühlt mit einem Pfeil oder Dolch, den Liebesfeuer weißglühend machte. Diese
Seele, bereits wie eine Kohlenglut oder richtiger, wie eine Flamme lodernd, ist wie durchbohrt und heftig durch-
sengt. Und während jener Pfeil sie heilvoll durchbohrt, sprüht die Flamme der Seele empor, mit jäher Wucht,
vergleichbar einer Esse, darin die Glut geschürt und die Flamme aufgestört wird. Und alsdann, beim

Zustoßen dieses glühenden Dolches, empfindet die Seele ihre Verwundung in höchster Entzückung: sanft ist sie
von Grund aus aufgewühlt durch die stürmisch aufstörende Hand des Seraphs, der sie in Liebesglut hinschmel-
zen läßt. Zudem fühlt sie die zarte Wunde und die in Kräutern gehärtete Klinge wie eine scharfe Spitze im Kern
des Geistes, gleichsam im durchbohrten Herzen.

10.Doch wer fände angemessene Worte für diesen inwendigen verwundenden Stich, der mitten ins Herz des
Geistes zu treffen scheint, dorthin, wo die Seligkeit am seligsten empfunden wird! Denn dort fühlt die Seele etwas
wie ein Senfkorn, winzig, quicklebendig und sehr feurig, etwas, das nach allen Seiten ein reges, glühendes Liebes-
feuer ausstrahlt, durch alle geistigen und wesentlichen Adern der Seele hin. Von den kraftvollen Ausstrahlungen
jenes Kernes spürt sich die Seele durchrieselt. Dabei fühlt sie ihre Inbrunst erstarken und anschwellen; und in
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solcher Glut vervollkommt sich die Liebe so sehr, daß sie in ihr zu Flammenmeeren zu werden scheint, die sich
von einem Ende der Welt bis zum anderen erdehnen, alles mit Liebe ausfüllend. Dabei ist es der Seele, das ganze
Weltall sei ein Liebesmeer und sie in ihm untergetaucht, im Liebesbranden ohne Grenzen, ohne Ende. Dabei
fühlt sie in sich, wir sagten es schon, das Kraftzentrum der Liebe.

11. Von dem, was die Seele hier genießt, sei nur gesagt: sie wird gewahr, wie treffend im Evangelium das Himmel-
reich mit einem Senfkorn verglichen wird, das winzig klein, durch seine Treibkraft sich zu einem großen Baum
entfaltet. Denn die Seele fühlt sich zu einem unübersehbaren Liebesfeuer entfacht, das aus diesem Glutkern im
Herzen des Geistes hervorbricht.

12. Wenige Seelen gelangen zu so Großem; aber einige sind dahin gelangt, zumal die Seelen jener, deren Kraft und
Geist sich in Erben ausbreiten soll. Denn Gott verleiht den Erstlingen des Geistes, den Gründern in dem Maße
Fülle und Kraft, wie sie Jünger für Gott gewinnen sollen, durch ihre Lehre und ihres Geistes Macht.

13. Kehren wir zum Wirken des Seraph zurück, zu den Verletzungen, mit denen er das Innerste des Geistes trifft:
Mitunter läßt Gott es zu, daß eine Auswirkung bis in das Bereich des Körperlichen dringt, entsprechend der in-
neren Verwundung. Alsdann bricht die Wunde und Verletzung nach außen hervor, wie es geschah, als der Seraph
den heiligen Franz verletzte: als er ihn in der Seele mit den fünf Liebeswunden durchbohrte, da strahlte ihre Wir-
kung auf jene Weise bis in den Körper aus und verwundete auch ihn, entsprechend der Einprägung in der Seele,
mit der Durchbohrung der Liebe. Denn Gott erweist für gewöhnlich dem Körper keinerlei Gnade, die er nicht
zuvor und hauptsächlich in der Seele gewirkt hat. Und dann ist der äußere Schmerz in den körperlichen Wunden
um so größer, je größer die Liebeswonne und Liebesgewalt ist, die von der Wunde innen in der Seele erregt wird.
Und mit dem einen wächst das andere. Und solches geschieht, weil bei diesen geläuterten, in Gott starkmütigen
Seelen eben das, was im verweslichen Fleisch Pein und Schmerz verursacht, in dem starken und gesunden Geist
hold und köstlich ist. Und so ergibt sich die seltsame Erfahrung, daß der Schmerz inmitten des Wohlgefühls zu-
nimmt. Dies Seltsame hat Job in seinen Wunden wohl verspürt, als er sich so an Gott wandte: «Wenn du dich
zu mir hinkehrst, dann quälst du mich auf seltsame Weise» (Job 10, 16). Und wirklich ist es ein großes Wunder,
würdig der Überfülle an Sanftmut und Süße, die Gott denen, die ihn fürchten, bereithält, daß um so stärkere Be-
seligung zu spüren ist, je qualvoller der Schmerz peinigt. Doch wenn die Verwundung auf die Seele beschränkt
bleibt, statt sich auch dem Äußeren mitzuteilen, dann kann die Wonne durchdringender und erhabener sein.
Denn da das Fleisch den Geist im Zaum hält, auch wenn es an den geistlichen Gütern Anteil hat, so zügelt es auch
hier das leichte Roß des Geistes und dämpft seinen gewaltigen Schwung. Wollte der Geist seine Gewalt anwen-
den, dann müßte der Zügel reißen. Doch solange er nicht zerrissen ist, wird der Geist durch ihn in seiner Freiheit
eingeengt. «Der verwesliche Leib,» so sagt der Weise, «belastet die Seele; und die irdische Wohnung umzwängt
den Sinn des Geistes, der aus sich vieles begreift» (Wh 9, 15).

14. Dieses wurde zum Verständnis des folgenden gesagt: wer sich auf seinem Wege zu Gott ständig an natürliche
Fähigkeiten und Überlegungen klammert, ist nicht sehr geisthaft. Manche wähnen, mit niedrigen, nur natürlichen
Anspannungen und sinnenhaften Betätigungen zur erhabenen Kraft des übernatürlichen Geistes zu gelangen;
doch dahin gelangt niemand, der nicht die leiblichen Sinne und ihre Betätigung verneint und zurückläßt. Ganz
anders ist es, wenn aus dem Geiste Geisthaftes wirksam in das Sinnenhafte überfließt. Wenn solches geschieht,
zeugt es eher vom Überschwang des Geistes, wie es die Ausführungen über jene Wunden zeigen, die unter in-
nerem Druck nach außen hervorbrechen. So geschah es beim Apostel Paulus: die leidenschaftliche Vertiefung
seiner Seele in Christi Qualen strömte über in seinen Leib, wie er es den Galatern bezeugt: «Ich trage an meinem
Leibe die Wundmale meines Herren Jesus» (Gal 6, 17).

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15. Genug wurde von dem Heilbrand und der Wunde gesagt. Wenn ihre Wirkung so groß ist, wie es hier veran-
schaulicht wurde, wie wird erst die Hand sein, die so heilvoll ätzt, und wie ihre Berührung? Die Seele tut es im
folgenden Vers dar, mehr durch Beteuerung als durch Erklärung.

0 holde Hand! 0 liebliches Durchdringen

16. Diese Hand ist wir sagten es schon der barmherzige und allmächtige Vater. Da seine Hand ebenso großmütig
und freigebig ist wie machtvoll und allumfassend, so wird sie der Seele machtvolle, umfassende Hulderweise ge-
währen, wenn sie sich zu Gnadengaben auftut; und darum wird sie von der Seele «holde Hand» genannt. Damit
will sie sagen: «O Hand, hold für diese meine Seele, auf die du dich liebreich legst umso holder, als ein nur wenig
wuchtigeres Auflegen genügen würde, die ganze Welt zu zerschmettern! Dein Blick allein läßt die Erde erbeben,
die Völker hinsinken, die Berge zusammenfallen» (Ps 103,32).Und abermals, o holde Hand hart und streng wä-
rest du für Job, als du ihn nur ein wenig rauh berührtest, für mich hingegen freundlich und huldreich bei gleich
flüchtiger Berührung; um wieviel freundlicher und huldreicher bist du erst für mich, wenn du deine Hand auf mir
ruhen läßt. Denn du gibst Tod, du gibst Leben; und niemand ist, der dir entrinnt, göttliches Leben! Nie tötest du,
es sei denn, um zu beleben; nie verwundest du, es sei denn um zu heilen. Züchtigst du mit leisem Streifen, so ist es
genug, die Welt zu zerlösen; doch willst du liebkosen, dann verweilst du mit Bedacht; und so ist die Gabe deiner
Huld über alles Sagen. Du hast mich verwundet, göttliche Hand, um mich zu heilen! Du tötetest in mir, was mich
begraben hielt ohne das Leben Gottes, das ich heute in mir erlebe. Und das gewährtest du verschwenderisch mit
deiner großmütigen Gnade. Du gewährtest es mir mit der eindringlichen Berührung durch den Abglanz deiner
Herrlichkeit und das Abbild deines Wesens (Hebr 1,3), durch deinen eingeborenen Sohn, mit ihm, der als deine
Weisheit stark von einem Ende des Weltalls zum anderen reicht (Wh 8, 1). Und dieser, dein eingeborener Sohn,
o barmherzige Hand des Vaters, ist die zarte Berührung, mit der du mich machtvoll durchätztest und verwunde-
test.

17. Du zärtliche Berührung, Sohn und Wort Gottes, der du mit dem Leisen deines göttlichen Seins dich in den
Kern meiner Seele schmiegst und sie innig in dich hinüberziehst, zu göttlichen Wonnen und Wohlgefühlen, nie
vernommen in Kanaan, nie gesehen in Teman! (Bar 3, 22) Du über alles zarte Berührung des Wortes, mir um so
zarter angesichts der Gewalt, mit der du Berge umwälztest und Felsen am Berge Horeb allein mit dem Schatten
der dir vorausgehenden Macht zerschmettertest, um dann mit zarter Kraft dich dem Propheten im Säuseln milder
Luft zu offenbaren! (3 Kön 19,11 ff.) O umschwebende Luft, wie nur bist du so hauchzart, wie nur berührst du so
hauchzart, Wort, Gottessohn, bei deiner bestürzenden Allgewalt? Überselig ist die Seele, die du Allgewaltiger so
umhauchst! Künde solches der Welt! Allein du willst es ihr nicht künden; weiß sie doch nichts von hauchender
Luft und wird dich nicht fühlen; denn sie kann dich nicht aufnehmen, nicht gewahren (Joh 14, 17). Jene werden
dich gewahren, mein Gott, du mein Leben, jene werden dein Umhauchen spüren, die sich der Welt entfremde-
ten und sich dir schmeidigten, leise zu Leisem sich fügend und so befähigt, dich zu gewahren und zu genießen.
Und diese wirst du um so einschmeichelnder berühren, je heimischer du verborgen in ihnen wohnst, je mehr ihr
innerstes Wesen geschliffen und geklärt ist, je mehr entfremdet aller Kreatur, entfremdet ihrer Berührung, ihren
Spuren insgesamt. Und solche verbirgst du in der Berge deines Antlitzes, des ewigen Wortes, vor den Verstörun-
gen der Menschen (Ps 30, 21).

18. O denn abermals und viele Male: du zarte Berührung je zarter, desto stärker und gewaltiger da du mit der Kraft
deiner Zartheit die Seele zerlösest und von allen anderen Berührungen absonderst und sie nur dir selber einigend
zuerkennst ! Und so innige Einprägung hinterläßt du in ihr, daß ihr danach jede andere Berührung von Erhabe-
nem wie von Niedrigem plump und unecht erscheinen, lästig dem Blick und überaus qualvoll beim Anfassen!
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19. Und man muß wissen: eine Sache ist um so ausdehnungs und einwirkungsfähiger, je ungebundener sie in sich
ist und sie ist um so gegenwärtiger und mitteilsamer, je feiner und zarter sie ist. Das Wort, das die Seele treffend
berührt, ist.über die Maßen fein und zart. Die Seele ist das weite und aufnahmefähige Gefäß, wegen der hohen
Entbundenheit und Geläutertheit, die ihr in diesem Stande eignet. O denn zärtliche Berührung, die sich um so
überschwenglicher meiner Seele eingießt, je größer deine Zarte und die Reinheit meiner Seele sind!

20.Auch dies sei beachtet: je anschmiegsamer, je zarter das Antasten ist, desto durchdringenderes Wohlgefallen
bringt die Berührung; ist es minder anschmiegsam, so wirkt es oberflächlicher und bedeutungsloser.

Diese göttliche Berührung hat keine Ausdehnung, kein Gewicht; denn das Wort, von dem sie ausgeht, ist fern von
besonderten Weisen und frei von Form, Gestalt, zufälligen Eigenschaften, von allem, was das Wesen umzirkt und
umgrenzt. Und so ist dieses wesentliche Anrühren, ausgehend vom göttlichen Wesen, unaussagbar. Noch einmal:
Unsäglich zartes Anrühren des Wortes, unsäglich zart, da es sich in der Seele mit nichts Geringerem vollzieht als
mit seinem ureinfachen Wesen, das als unendliches von unendlicher Zartheit ist und somit in seinem Anrühren
unvergleichlich liebreich und lind!

Nach ewigem Leben schmeckend

21. Wenn auch nicht in vollkommenem Grade, so ist hier doch wirklicher Geschmack ewigen Lebens, bei sol-
chem Berührtwerden durch Gott. Unglaublich ist derartiges nicht, wenn das Glaubwürdige nur Glauben findet:
was anrührt, ist Wesenheit Gottes hinein in die Wesenheit der Seele, eine Gnade, von manchen Heiligen in die-
sem Leben gewonnen. So ist die Innigkeit solchen Antastens jenseits der Sprache. Auch möchte ich nicht darüber
auszusagen versuchen, um nicht das Übersteigende als faßlich erscheinen zu lassen, das göttlich Erhabene, das
in solchen Seelen vorgeht. Für dieses ist die richtige Sprache, es für sich zu begreifen, für sich zu empfinden und
das Umfaßte schweigend zu genießen. Denn die Seele wird hier gewahr, daß solche Hulderweise jenem Stein zu
vergleichen sind, der nach Johannes dem Sieger zuteil wird (Offbg 2, 17), dem Stein, darin ein Name eingegraben
ist, kund nur dem, der ihn empfängt. Und so läßt sich nur eines sagen, dies eine aber gemäß der Wahrheit: «Nach
ewigem Leben schmeckend.» Wird solches Anrühren auch nicht voll wie in der Seligkeit verkostet, so schmeckt
es dennoch, als göttlichen Ursprungs, nach ewigem Leben. Und so genießt die Seele hier von allen Schätzen
Gottes: Starkmut geht auf sie über, Weisheit und Liebe, Holdheit und Güte und vieles mehr. Weil Gott all dieses
ist, genießt es die Seele insgesamt in einer einzigen Berührung durch Gott. Und so genießt die Seele mit allen
Vermögen und im Kern ihres Wesens.

22.Etwas von dem Heilsgut der Seele strömt zuweilen auf den Leib über, als Salbung des Heiligen Geistes. Dann
genießt das ganze sinnenhafte Wesen und alle Glieder und Knochen bis ins Mark, und nicht mit der gewöhn-
lichen Schlaffheit; dies ist eine starke Empfindung verklärender Wonne, spürbar bis in die letzten Gelenke von
Händen und Füßen. Und so tief fühlt der Leib die Herrlichkeit der Seele mit, daß er auf seine Weise Gott erhebt.
Er empfindet in seinen Knochen, was David sagt: «All mein Gebein wird künden: Gott, wer wäre dir gleich?» (Ps
34, 10) Und weil alle Aussage unzulänglich ist, so genügt es, vom Leibhaften wie vom Geisthaften zu versichern,
sie kosteten vom ewigen Leben.

Vergütend alle Schulden!

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23. Solches sagt die Seele, weil sie nun, im Verkosten ewigen Lebens, eine Vergütung der Mühsale verspürt jener
Beschwerden, mit denen sie ihren erhabenen Stand errang.
Mit solchem Verkosten fühlt sie sich nicht nur angemessen bezahlt und vergütet, sondern überschwänglich aus-
gezeichnet. Wohl begreift sie nun, wie wahr die Verheißung des Bräutigams im Evangelium ist, er würde hundert
für eines geben (Matth 19, 23). So hat sie bei ihrem Aufstieg keine Drangsal durchlitten, keine Versuchung, keine
Kasteiung, der jetzt nicht ein Hundertfaches an tröstlicher Wonne in solchem Leben entspräche. So kann die
Seele jetzt wohl versichern: «vergütend alle Schulden».

24.Um zu wissen, welcherart die Schulden sind, die der Seele beglichen erscheinen, ist zu beachten, daß keine See-
le auf gewöhnlichem Wege bis zum Throne mystischer Ehe emporgelangen kann; zuvor muß sie viele Drangsale
und Beschwerden überwinden. Nicht anders sagt die Apostelgeschichte, daß der Weg ins Himmelreich durch
viele Drangsale führt. Doch solche Drangsale sind nunmehr überwunden, da die geläuterte Seele nicht mehr
leidet.

25. Die Mühsale derer, die zu solchem Zustand bestimmt wurden, sind dreifacher Art: Mühsale, Betrübnisse,
Bedrükkungen und Anfechtungen durch die Welt, und das auf vielerlei Weisen: Versuchungen, Trockenheit und
andere Beschwerden durch die Sinne; Verstörungen, Finsternisse, Bedrücktheit, Hilflosigkeit, Versuchungen und
andere Beschwerden durch den Geist; es ist solches die Läuterungsweise für den Bereich des Geistes wie für den
der Sinne, was wir beim vierten Vers der ersten Kanzone schon erläuterten. Notwendig sind solche Mühsale für
jenen Stand: wie ein erlesener Weinbrand nur in ein starkes, wohlgereinigtes Gefäß eingefüllt wird, so kann sich
in der Seele jene höchste Einigung nicht vollziehen, sie sei denn zuvor durch Bürden und Versuchungen gestärkt,
durch Plagen, Finsternisse und Drangsale geläutert worden. Das eine läutert und stärkt den Sinnenbereich, das
andere bereitet und verfeinert den Geist. So wie die befleckten Seelen vor ihrer Einigung mit Gott in der ewigen
Seligkeit noch im Jenseits die Qualen des Feuers durchleiden müssen, so müssen sie im Diesseits vor der Gottei-
nigung der Vollkommenheit durch das Feuer dieser Prüfungen hindurchgehen. Diese Läuterungsglut befällt den
einen stärker als den anderen, manche länger als andere, gemäß dem Grad der Einigung, zu dem Gott sie erheben
will, und den Unvollkommenheiten, die auszubrennen sind.

26. Diese gottverhängten Nöte für den Leib wie für die Seele bringen dieser auf herbe Weise Tugendkraft und
Vollkommenheit; vollendet sich die Tugend doch in der Schwachheit (2 Kor 12, 9). Und in der Erprobung durch
die Leidenschaften wird sie geformt, ebenso wie das Eisen nicht in der Phantasie des Meisters durchgeformt und
gehärtet wird, sondern mit Feuer und Hammer. Vom Feuer sagte Jeremias, daß es ihm Einsicht verlieh: «Feuer
sandte er in meine Knochen und verlieh mir Einsicht» (Klgl 1, 13). Und vom Hammer sagt der gleiche: «Du,
Herr, hast mich gezüchtigt, und ich wurde einsichtig» (Jer 31, 18). Deshalb sagt der Prediger: «Wer nicht geprüft
ist, was kann er wissen? Und wer nicht erprobt ist, weiß nicht viel» (Jer 34, 11).

27.Und hier wäre aufzuzeigen, warum so wenige zu der erhabenen Vollkommenheit der Gotteinigung gelangen:
nicht deshalb bleiben es wenige, weil Gott nur wenige aus diesen Geistern so hoch erheben will, vielmehr möchte
er alle vollkommen sehen. Es ist aber so, daß er nur wenig Gefäße findet, die so anfordernde Bearbeitung aushal-
ten. Er findet sie schon bei geringfügiger Erprobung zu schwach, da sie die mindeste Entbehrung und Kasteiung
scheuen. Sie werden von ihm nicht stark, nicht treu erfunden, schon beim ersten geringen Bearbeiten und Vor-
schleifen seiner Gnade; so gewahrt er, daß sie im Großen noch viel weniger bestehen würden; und deshalb läßt
er davon ab, sie zu reinigen und vom Erdenstaub freizumeißeln, durch solche Schläge der Kasteiung, die größere
Beständigkeit und Stärke erfordern.Wohl gibt es viele, die hochzugelangen begehren und die Gott hartnäckig
anflehen, er möge sie zu jener Vollkommenheit hochziehen; doch wenn Gott damit beginnt, sie durch die ers-
ten unerläßlichen Drangsale und Demütigungen voranzutreiben, dann wollen sie solches nicht mitmachen; sie
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entziehen ihm ihren Leib, meiden den engen Weg zum Leben und suchen den breiten ihres Trostes, den ihres
Verderbens. Somit geben sie Gott nicht Raum, wenn er anhebt, das von ihnen Erbetene zu gewähren. Und so blei-
ben sie stehen, als untaugliche Gefäße. Sie begehrten die Höhe der Vollkommenen, doch deren Weg der Mühsale
möchten sie nicht beschreiten; ja, nicht einmal bis zum Zugang des Weges, nicht einmal an die übliche Entsagung
wagen sie sich heran. Solchen kann man mit Jeremias sagen: «Wenn dir zuviel ist, mit Fußgängern mitzuhalten,
wie kannst du mit den Rossen wetteifern? Und wenn du Behagen im Lande des Friedens genössest, wie willst
du in den Herausforderungen des Jordan bestehen?» (Jer 12, 5.) Das will sagen: Wenn dir und deinem kurzen
Schritte schon das beschwerlich ist, was alle Lebenden menschlicherweise auf gewöhnlichen ebenen Strecken
durchmachen, wenn es dir so beschwerlich scheint wie ein Dahinrennen, wie kannst du mit dem jagenden Pferd
wetteifern, was über die gewöhnlichen Kräfte hinaus übermenschliche Leichtigkeit und Kraft verlangt! Und wenn
es dir nicht beliebte, die wohlige Friedlichkeit deiner Erde, nämlich deine Bequemlichkeit aufzugeben und ihr
irgendwie zu widerstreiten, dann weiß ich nicht, wie du in die reißenden Gewässer eintauchen willst, in die Tiefen
geistiger Anfechtungen und Anspannungen.

28. O Seelen, die ihr sicher und getrost den Steilweg des Geistes einschlagen wollt: sähet ihr doch ein, wie not-
wendig es für euch ist, geduldig zu leiden, um wirklich Sicherheit und Trost zu erlangen, und wie die Seele, ohne
dies Herbe das Ersehnte nicht erreicht, vielmehr zurückgleitet, dann würdet ihr auf keine Weise, weder bei Gott
noch bei den Geschöpfen, Trost suchen; lieber euch mit dem Kreuz belasten, lieber euch ans Kreuz schlagen
lassen und eitel Galle und Essig trinken. Ihr würdet das für ein hohes Glück halten, da euer Sterben für die Welt
euch das Leben für Gott mit seinen geisthaften Wonnen schenkt. Wolltet ihr mit Geduld und Treue dies Wenige,
dies Äußerliche erleiden, ihr würdet es wert, daß Gott seine Augen auf euch ruhen ließe und euch inwendiger
läuterte, durch innerlichere, geisthafte Prüfungen, um euch innerlichere Güter zu verleihen. Denn viele Dienst-
leistungen müssen sie für Gott verrichtet, viel für ihn in beharrlicher Geduld ertragen haben, wohlgefällig müssen
sie im Leben und Wirken bereits für ihn sein, bevor er sie mit so innerlichen Versuchungen auszeichnet und ihre
Verdienste und Gnaden mehrt. So tat er mit Tobias, zu dem der Engel Raphael sagte, Gottes Huld habe ihm eine
größere Versuchung auferlegt, um ihn so höher zu erheben (Tob 12, 18). Und so verlief sein ganzes Leben nach
jener Prüfung in Freude, wie die Schrift es bekundet. Nicht anders bei Job: er stimmte zu, daß Gott seine Werke
vor den guten wie den bösen Geistern pries und ihn danach durch große Prüfungen auszeichnete, durch Prüfun-
gen, in deren Gefolge er höher erhoben wurde als je zuvor, überhäuft mit geistigen und zeitlichen Gütern.

29 Gleicherweise verfährt Gott mit denen, die er durch die wesentlichste Auszeichnung hervorheben will: er
versucht sie und läßt sie Versuchung erleiden, um sie danach so hoch zu erheben, wie es nur irgend sein kann,
bis zur Vereinigung mit der göttlichen Weisheit. David nennt sie im Feuer geläutertes Silber, erprobt im irdenen
Ofen (Ps 11, 7), das heißt: in unserem Fleisch in einer siebenfachen Läuterung, der allergründlichsten. Ich will
mich hier nicht damit aufhalten, auseinanderzusetzen, welches die sieben Läuterungen sind, wie weit eine jede
von ihnen die Weisheit gewinnen hilft und wie jeder ein bestimmter Grad der Liebe in jener Weisheit entspricht.
Doch aller Gewinn bleibt für die Seele in diesem Leben dem Silber gleich, von dem David spricht, wie innig die
Gotteinigung auch sei. Erst im anderen Leben wird sie für sie gleich Gold sein.

30. So ist es der Seele überaus dienlich, alle gottverhängten Prüfungen in großer Geduld zu durchleiden, äußere
wie innere, geisthafte wie leibhafte, schwere wie leichtere. Sie muß alle aus Gottes Hand als Heil und Hilfe an-
nehmen und nicht vor so Heilvollem fliehen. Sie muß darin den Rat des Weisen befolgen: «Wenn der Geist des
Allgewaltigen dich überkommen sollte, dann weiche nicht von deiner Stätte (nicht von dem Ort deiner Prüfung,
der dich überkommenden Mühsal); denn so Heilvolles wird große Sünden tilgen.» Das heißt, es wird dir die
Wurzeln deiner Sünden und Unvollkommenheiten ausroden, die schlechten Gewohnheiten. Schlägt doch die
Anfechtung durch Lasten, Drangsale, Prüfungen die schlechten Gewohnheiten und Unvollkommenheiten der
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Seele nieder, sie derart stärkend und läuternd. So muß die Seele es höchlich schätzen, wenn Gott ihr innere und
äußere Nöte schickt; sie muß einsehen, daß nur sehr wenige es wert sind, durch Heimsuchungen ausgeglüht zu
werden, nur solche, die durch ihr Dulden zu solcher Höhe gelangen sollen.

31. Wenden wir uns wieder der Erläuterung zu: hier erkennt die Seele, daß ihr alles zum Heil gereichte, daß nun-
mehr ihr Licht nicht geringer ist als ihre Finsternisse (Ps 13 8, 12), daß sie nun wie zuvor an den Verstörungen an
den Tröstungen, an dem Reiche Anteil hat. Sie erkennt es: Gott hat alle inneren und äußeren Plagen vollkommen
mit göttlichen Gütern für Seele und Leib aufgewogen, so daß jeder Mühsal ein hoher Lohn entspricht. Ihre voll-
kommene Genugtuung äußert sie in den Worten: «Vergütend alle Schulden. » In diesem Vers dankt sie Gott,
wie David ihm für die Erlösung aus Drangsalen dankt: « So viele Prüfungen du mir auch verhängtest, viele und
schlimme, aus allen hast du mich befreit; aus den Abgründen der Erde hast du mich abermals herausgehoben;
du hast deine Hochherzigkeit gesteigert, dich trostreich hinwendend zu mir» (Ps 70, 2021). Es war die Seele vor
solchem Gnadenstande wie ausgeschlossen: wie Mardochäus saß sie vor den Pforten des Königshauses, gleich
ihm, der auf Susas Plätzen die Bedrohung seines Lebens beweint, im Bußkleid, das Prunkkleid aus der Hand der
Königin Esther von sich weisend, unbedankt für seine Königsdienste, für seine Verteidigung von Ehre und Leben
des Herrschers (Esth 4, 1). Eines Tages werden der Seele, wie jenem Mardochäus, alle harten Dienste vergütet: sie
wird nicht nur in den Palast und vor das Angesicht des Königs gerufen, selber im Prunk königlicher Gewänder ihr
wird zudem Krone, Szepter und Thron verliehen und der Königsring angesteckt, damit sie im Reiche ihres Gatten
nach ihrem Gutdünken walten kann. Es erreichen die so hoch Erhobenen ja alles, was sie begehren. Darin werden
sie nicht allein vergütet es sind auch ihre Feinde aus dem Judenvolk getötet, diese unvollkommenen Gelüste, die
ihrem geistigen Leben nachstellen. In solchem Dasein lebt sie schon mitsamt ihren Kräften und Trieben; und so
fügt sie hinzu:

Todbringend willst du wahres Leben bringen

32. Da der Tod nichts anderes ist als Beraubung des Lebens, bleibt kein Schatten des Todes, wenn das Leben
kommt. Im Geistigen gibt es zwei Arten von Leben: das eine ist das selige Leben, das in der Schauung Gottes
besteht; und dieses kann nur durch körperlichen, natürlichen Tod gewonnen werden. So sagt es der Apostel Pau-
lus: «Wir wissen, wenn dieses unser tönernes Haus zerbricht, dann werden wir Wohnstatt bei Gott im Himmel
haben» (2 Kor 5, 1). Das andere ist vollkommenes vergeistigtes Leben, Aneignung Gottes durch Liebeseinigung.
Und dieses wird gewonnen durch das gänzliche Ersterben der Laster und Triebe und der Natur selber. Und solan-
ge dies sich nicht vollzieht, kann die Vollkommenheit des vergeistigten Lebens, die Gotteinigung, nicht Wirklich-
keit werden. Auch dies bekundet der Apostel: «Wenn ihr dem Fleische nachleben wollt, werdet ihr sterben, doch
wollt ihr mit euerm Geiste die Regungen des Fleisches töten, werdet ihr leben» (Rom 8, 13).

33. Was die Seele hier Tod nennt, das meint den alten Menschen die Verwendung der Seelenvermögen, Gedächt-
nis, Erkenntnis, Wille für Weltliches, das Haften von Trieben und Neigungen am Geschöpflichen. All dies ist
Betätigung des alten Lebens, das da Tod ist des neuen, geisthaften. In diesem kann die Seele nicht gänzlich leben,
wenn nicht zuvor der alte Mensch gänzlich stirbt. Dem entspricht die Mahnung des Apostels, den alten Men-
schen abzutun und den neuen anzunehmen, der nach Gottes Bild in Gerechtigkeit und Heiligkeit geschaffen ist
(Eph 4, 22). In diesem neuen Leben, in der hier verdeutlichten Vollkommenheit der Gotteinigung wandeln sich
alle Triebe und Kräfte der Seele in ihren Neigungen und Betätigungen aus Werken des Todes und der Entbeh-
rung des geisthaften Lebens ins Göttliche.

34. Und wenn jedes Lebewesen nach der Aussage der Philosophen durch sein Sichauswirken lebt, so lebt die See-
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le kraft ihres Wirkens in Gott, als gottgeeinte Gottes Leben; und so hat sich ihr animalisches Leben in geisthaftes,
ihr Tod in Leben verwandelt. Denn die Erkenntnis kraft, die vor dieser Einigung auf natürliche Weise begriff, mit
der beweglichen Kraft ihres von den Sinnen gespeisten natürlichen Lichtes, ist nunmehr bewegt und gelenkt von
Höherem, von der Urkraft des göttlichen, übernatürlichen Lichtes; in ihrer Erhobenheit über die Sinne ist sie
göttlich geworden. Dank der Einigung ist ihr Erkennen nicht mehr von dem Göttlichen zu trennen. Und die Wil-
lenskraft, die zuvor auf niedrige, auf tödliche Weise mit ihrem natürlichen Empfinden liebte, ist nun umgewandelt
in das Leben göttlicher Liebe; liebt sie doch erhaben mit göttlichem Empfinden, bewegt vom kraftvollen Hauch
des Heiligen Geistes, in dem sie schon das Leben der Liebe lebt. Sein Wille und der ihre sind durch solche Eini-
gung miteinander verschmolzen. Und die Gedächtniskraft, die aus Eigenem nur Gestalten und Phantasmen von
Geschöpflichem festhielt, vergegenwärtigt nun, dank solcher Einschmelzung, die ewigen Jahre, von denen David
spricht (Ps 76, 6). Und der natürliche Trieb, der nur geeignet war, den todbringenden Geschmack der Kreaturen
zu verkosten, ist nun in göttlichen Geschmack umgewandelt und wird nun vom lebenspendenden Ursprung be-
friedet, von der Wonne dessen, mit dem er vereint ist. Er ist nur mehr Begehren nach Gott. Und schließlich alle
Regungen, Wirkweisen und Neigungen, die aus den Kräften ihres natürlichen Lebens entsprangen, sind zu gött-
lichen Regungen geworden, erstorben ihren eigenen Neigungen und Betätigungen, lebendig in Gott. Als wahre
Tochter Gottes wird die Seele in allem von Gottes Geist bewegt. So lehrt auch Paulus, alle, die vom göttlichen
Geist angetrieben würden, seien Gottes Kinder (Rom 8, 14). Danach ist die Erkenntniskraft solcher Seele Er-
kenntnis kraft Gottes, ihr Wille ist Gottes Wille, ihr Gedächtnis Gottes Gedächtnis, ihre Seligkeit nichts als Gottes
Seligkeit. Und die Substanz solcher Seele wohl ist sie nicht Gottes Substanz, wohl kann sie nicht ihr Wesen in
ihn hinüberwandeln, allein bei ihrem Verschlungenwerden in Gott ist sie Gott durch Teilhabe an Gott. Solches
ereignet sich bei der Vollendung geisthaften Lebens, wenn auch nicht in der Vollkommenheit des Jenseits. Derart
ist die Seele tot für alles, was sie in sich war, und lebendig für das, was Gott in sich ist. Und so kann sie wohl von
sich selber sagen: «Todbringend willst du wahres Leben bringen». Und sie darf die paulinischen Worte auf sich
anwenden: «Ich lebe, doch nicht mehr ich: in mir lebt Christus» (Gal 2, 20). Auf solche Weise ist der Seele Tod
umgewandelt in Gottes Leben. Und auch dieser Ausspruch des Apostels gilt für sie: «Verschlungen ist der Tod
in den Sieg» (1 Kor 15, 54). Und so auch die Gottesworte, die bei Osee stehen: « O Tod! Ich werde dein Tod
ein» (Os 13,14) Das ist, als sagte er: Ich, das Leben, bin Tod deines Todes; und so ist der Tod verschlungen in das
Leben.

35. Derart ist die Seele in göttliches Leben aufgegangen, entfremdet allem Weltlichen und Zeitlichen, allem na-
türlichen Gelüst. In die Gemächer des Königs ist sie aufgenommen wo sie sich an ihrem Geliebten weidet; ein-
gedenk, daß ihre Brüste ihm köstlicher sind als Wein, sagt sie die Worte: «Bin ich auch dunkel, so bin ich doch
schön, Töchter Jerusalems» (Hl 1, 34) Meine natürliche Schwärze verwandelte sich in die Schönheit des Him-
melskönigs.

36 In diesem vollkommenen Lebensstande befindet sich die Seele innerlich wie äußerlich immer in festlicher
Stimmung ; und häufig formt sich in der Kehle ihres Geistes ein machtvoller Gottesjubel, eine neues, immerneues
Lied, erfüllt von frohlockender Liebe im Bewußtsein ihrer verklärenden Hoheit. Mitunter sagt sie, beim Auskos-
ten ihrer Glückseligkeit, im Geiste jene Worte Jobs: «Mein Glanz wird sich immer erneuern; und meine Tage
werden sich dehnen gleich der Palme» (Job 29, 20). Das meint: Gott, selber stets gleichen Wesens, erneuert alle
Dinge, wie auch der Weise sagt. Er, dem ich in Beseligung geeint bin, wird meine Beseligung ständig erneuern, er
wird sie nicht, wie zuvor, hinwelken lassen. Und meine Tage werden sich dehnen gleich der Palme; das meint, es
werden meine Verdienste sich zum Himmel dehnen, gleich den aufstrebenden Wedeln der Palme. Denn die Ver-
dienste der Seele in solcher Gotteinigung sind groß an Zahl und Wert. Und zumeist singt sie in ihrem Geiste zu
Gott empor, wie David es im Psalm anstimmt: «Dich will ich erheben, Herr, da du mich aufnimmst,» und zumal
die letzten Psalmenworte: «Meine Tränen hast du mir in Jubel verwandelt... von mir nähmest du die Trauerklei-
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der und hülltest mich in Glückseligkeit» (Ps 29, 12). Weil du meine Traurigkeit von mir nähmest und mich deine
Herrlichkeit aussingen ließest, Herr, mein Gott, so will ich dich ewig lobpreisen. Und es ist nicht verwunderlich,
daß die Seele so überaus häufig bei solchem Gottesgenuß in Gottesjubel und Gotteslob sich ergeht. Denn sie er-
erkennt nicht nur die empfangenen Gnaden, sie fühlt überdies Gottes Eifer, sie mit kostbaren, sanften und liebrei-
chen Worten zu beschenken, als gäbe es niemanden auf der Welt zu beschenken außer sie, als gälte alles Bemühen
einzig ihr. Und wie sie es fühlt, so bekennt sie es, gleich der Braut im Hohenliede: «Mein ist der Geliebte, und ich
bin sein» (Hl 2, 16).

DRITTE STROPHE

O Leuchten voll von Brünsten,


dank deren Widerscheine
des Sinns abgründige Höhlen ohne Enden
nicht länger blind von Dünsten
in fremder Himmelsreine
dem Liebsten beides, Licht und Wärme, spenden!

Erläuterung

1. Hier möge Gott mir seine Gunst gewähren. Denn ich bedarf ihrer wahrhaftig gar sehr, um die Tiefe dieser Kan-
zone auszudeuten. Und wer diese Deutung lesen wird, bedarf des Aufmerkens. Denn wenn er keine Erfahrung
besitzt, mag sie ihm etwas dunkel und weitläufig scheinen, während sie für den Erfahrenen klar und erquickend
sein wird. In dieser Kanzone dankt die Seele ihrem Gemahl inbrünstig für die erhabenen Gnaden, die ihr aus
der Einigung mit ihm hervorgehen. Und sie spricht ihm von den zahlreichen und tiefen Einsichten in das eigene
Wesen, die allesamt liebreich ihre Kräfte und Sinne erleuchten und durchflammen. Kräfte und Sinne der Seele,
vor dieser Einigung dunkel und blind, sind jetzt erhellt und liebeglühend genug, um dem, der sie erleuchtete und
entzündete, Liebe und Glut zurückzuschenken. Ist doch der wahrhaft Liebende erst dann befriedigt, wenn er al-
les, was er ist und wert ist, alles, was er besitzt und empfängt, dem Geliebten zubringt. Und je mehr er es ist, desto
inniger erfreut ihn das Hingeben. Darüber jubelt die Seele, daß sie mit der empfangenen Erleuchtung und Liebe
den Geliebten anstrahlen und lieben kann.

0 Leuchten voll von Brünsten

2. Zwei Eigenschaften haben die Leuchten: sie erhellen und erwärmen. Zum Verständnis dieser Leuchten, von
denen die Seele erwärmt und erhellt wird, sei gesagt: Gott ist in der Ganzheit seines einfachen Wesens die ganze
erhabene Kraft seiner Eigenschaften. Allmächtig ist er, weise und gut, barmherzig und gerecht, stark und hebreich
und eine Unendlichkeit von Herrlichkeiten, die wir nicht kennen. Da er all dieses in seinem einfachen Wesen ist,
und mit der Seele vereinigt ist, mag er ihr wohl den Sinn öffnen und sie in ihm all diese Kräfte und Herrlichkeiten
gewahren lassen, darunter seine Allmacht, Weisheit, Güte, Barmherzigkeit. Wohl mag er sie einsehen lassen, wie
jede dieser Eigenschaften das Wesen Gottes selber ist, in einer Person verdeutlicht, im Vater oder im Sohne oder
im Geiste, wobei jede Eigenschaft Gott selber ist und Gott unendliche Liebe und unendliche Feuersbrunst. Jede
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dieser unzählbaren Eigenschaften leuchtet und wärmt wie Gott; jede gleicht einer Fackel, die der Seele zugleich
Licht und Liebesglut spendet.

3. Und weil die Seele in einem einzigen Vollzug der Gotteinigung die Einsicht in diese Eigenschaften gesamt-
haft empfängt, so ist ihr der eine Gott zugleich die Vielzahl seiner Eigenschaften, die jede für sich ihr in Weisheit
leuchten und in Liebe glühen. Eine jede nimmt sie als unterschieden wahr; von einer jeden wird sie zur Liebe ent-
flammt. So hebt die Seele, von jeder einzelnen und von allen zusammen entflammt, sie alle einzeln und zugleich
in ihrer Gesamtheit. Wie all diese Eigenschaften ein einziges Wesen sind, so sind all diese Leuchten eine einzige
Leuchte, die mit ihren Eigenschaften und Kräften gleich vielen Leuchten strahlt und glüht. Bei dem Auffassen sol-
cher Leuchten, bei diesem einen Vollzug hebt die Seele dank jeder einzelnen und dank aller zusammen, in einer
Liebe dank jeder einzelnen zu jeder einzelnen, dank ihrer Gesamtheit zu ihrer Gesamtheit. Denn die Strahlung
jener Leuchte aus Gottes Sein, insofern er allmächtig ist, erleuchtet und entflammt ihre Liebe zu Gott dem Allge-
waltigen. Hier ist ihr die Gottheit eine Leuchte der Allmacht, nach dieser seiner Eigenschaft sie erhellend.

Und die Strahlung aus Gott, der Weisheit ist, schenkt ihr erleuchtende und durchglühende Liebe zu Gott dem
Allweisen. Der Glanz jener Leuchte, Glanz des Gottes, der Güte ist erleuchtet und entflammt die Seele in Liebe
zum allgütign Gott; und so ist Gott für sie eine Leuchte der Güte, und auf gleiche Weise eine Leuchte der Gerech-
tigkeit und des Starkmutes, der Barmherzigkeit und aller anderen Eigenschaften, die hier der Seele insgesamt in
Gott gegenwärtig werden. Das Licht, das sie von allen zugleich empfängt, überträgt auf sie Gottes glühende Liebe,
mit der sie wiederum Gott liebt, ihn, der alle diese Dinge ist. Bei solcher Wesenskundgabe, die Gott der Seele
gewährt, wohl der höchsten Gnade in diesem Leben, ist er für sie gleich unzählbaren Leuchten, die Gotteskunde
und Gotteshebe bringen.

4. Diese Leuchten sah Moses auf dem Berg Sinai, als Gott vorüberging und er sich niederwarf und einige dieser
Ausstrahlungen nannte: «Herr, König der Könige, barmherziger, sanftmütiger Gott, geduldiger, mitfühlender,
wahrhaftiger, der du Nachsicht übst gegen Tausende, der du hinwegnimmst die Sünden, Übeltaten und Verbre-
chen; denn niemand ist vor dir unschuldig aus eigenem Vermögen» (Ex 34,67). Wie hieraus hervorgeht, waren
die höchsten Eigenschaften und Kräfte, die Moses in Gott gewahrte, Allmacht, Herrschaft, Göttlichkeit, Barm-
herzigkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Aufrichtigkeit. Das war erhabenste Auffassung Gottes und entsprechende
Zuwendung an Liebe; und nicht minder erlesen war die Liebesbeglückung, die er hierbei empfand.

5. Die Seligkeit, die sich bei solcher Liebes Verzückung in die Seele ergießt und die von der feurigen Helligkeit der
Leuchten ausgeht, ist staunenswert und grenzenlos. Überwältigend strömt ihre Fülle aus vielen Leuchten; und
schon jede einzelne von ihnen entflammt zur Liebe; und die Glut der einen steigert die Glut der anderen, und die
Flamme der einen auch die Flamme der anderen, so wie das Licht der einen auch das Licht der anderen. Denn in
einer der göttlichen Eigenschaften werden die anderen miterkannt, und so sind sie alle zusammen ein Licht und
ein Feuer, und jede von ihnen ein Licht und ein Feuer. Und nun ist die Seele unsäglich übergegangen in lichte
Flammen, in jeder innig durch Liebe versehrt und in ihnen allen noch tiefer verwundet. Und sie lebt in Liebe das
Leben Gottes, sehr wohl innewerdend, daß solche Liebe dem ewigen Leben eignet, ihm, das Zusammenfassung
alles Werten ist. Jetzt, wo die Seele in gewisser Weise solch jenseitige Seligkeit erfährt, erkennt sie tief, wie wahr
der Bräutigam im Hohenliede aussagt, es seien die Leuchten der Liebe Leuchten feuriger Flammen. «Wie schön
schreitest du einher in deinen Prunkschuhen, Tochter des Fürsten» (Hl 7, 1). Wer könnte das Strahlen deiner
Freude wiedergeben und deine nie erschaute Majestät in der Strahlkraft und Liebe deiner Leuchten!

6. Es berichtet die Schrift, daß eine dieser Leuchten einst vor Abraham aufglänzte und in ihm die Finsternis der
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Furcht erregte; denn diese Leuchte war eine solche strenger Gerechtigkeit, die den Kananäern widerfahren sollte
(Gen 15, 1217). Wenn alle diese Leuchten göttlicher Bekundungen dir, o reichbegünstigte Seele, freundschaftlich
und liebreich erstrahlen, wie weit wird die ihnen entstammende Liebeswonne die in Abraham erregte dunkle
Furcht übertreffen I Und wie vielfältig, wie auserlesen wird deine Freude sein, da du aus allen und in allen Liebe
und Liebesgenuß empfängst, und Gott sich deinen Vermögen nach seinen Eigenschaften und Kräften mitteilt!
Denn wenn ein Liebender dem Geliebten wohltun will, dann tut er ihm wohl nach seiner Kraft und Eigenheit.
Und so sind die Hulderweise deines Gatten nicht geringer als sein Wesen. Allmächtig, begünstigt und liebt er dich
mit Allmacht; weise ist er, und du fühlst, daß er voll Weisheit dich liebt und begünstigt; unendlich gut ist er, und
du fühlst, daß er dich voll Güte liebt;

heilig ist er, und du fühlst, daß er dich in Heiligkeit liebt und bgnadet; er ist gerecht, und du fühlst, daß er dich ge-
rechterweise liebt und begnadet; der Barmherzige und Milde läßt dich seine Barmherzigkeit und Sanftmut emp-
finden. Gemäß seinem starken und zarten, seinem hehren Wesen liebt er dich, du fühlst es, in starker und zarter, in
hehrer Weise; und da er makellos lauter ist, so fühlst du, daß er dich in aller Lauterkeit liebt. Da er wahr ist, fühlst
du, daß er dich in Wahrheit Hebt; und da er freigebig ist, erkennst du, daß er dich aus seiner Freigebigkeit liebt
und begnadet, ohne Eigennutz, nur um deines Wohles willen. Und da er die Tugend höchster Demut ist, liebt er
dich mit höchster Demut und höchster Schätzung. Er gleicht dich, Seele, sich selber an; er zeigt sich dir freudig
auf diesem Wege der Selbstbekundung, mit diesem seinem Antlitz voller Huld. Und zu deinem großen Jubel sagt
er dir in seinem Sicheinen: «Dein bin ich und für dich. Und wohl gefällt mir, der zu sein, der ich bin, um mich so
groß dir hinzugeben und dein zu sein.»

7. Wer könnte wiedergeben, was du fühlst, glückliche Seele, in dem Bewußtsein, so geliebt und so erhebend ge-
schätzt zu werden. Dein Leib — das ist, dein Wille — kann wie bei der Braut einem Weizenhaufen, umkränzt
und überdeckt von Lilien, verglichen werden; denn während du diese Körner, das Lebensbrot genießest, erfreust
du dich zugleich an den Lilien der Tugenden, die dich umgeben. Diese sind die Töchter des Königs, die David
nennt, die dich mit Myrrhe und Ambar und anderen aromatischen Gewürzen erquicken; denn was dir der Ge-
liebte von seiner Holdheit und Kraft bekundet, das kommt zu dir gleich seinen Töchtern, das versenkt dich so tief,
überströmt dich so gewaltig, daß du auch der Brunnenstube des lebendigen Wassers gleichst, dem Becken jenes
Quells, der vom Libanon, von der Gottheit herniederbraust (Hl 4, 15). Darin wirst du wunderbar beseligt, in der
harmonischen Gesamtheit deiner Seele und sogar deines Leibes. Unter göttlicher Bewässerung bist du gänzlich
ein Paradies geworden in Erfüllung des Psalmenwortes: «das Ungestüm des Flusses erfreut Gottes Stadt» (Ps 14,
5)

8. Zu dieser Zeit flutet die Seele staunenswert über von göttlichen Wassern. So überflutet ist sie selber zur er-
giebigen Quelle geworden, die allseits von göttlichen Wassern übersprudelt. Gewiß, die hier veranschaulichte
Gotteserfahrung ist Licht und Feuer aus göttlichen Leuchten; allein dies Feuer ist hier so sanft, daß es trotz seiner
Übergewalt dem Wasser des Lebens gleicht, das der Geist erlechzte und woran er sich nun ersättigen kann. So
mögen diese Feuerleuchten auch als des Geistes lebendiges Wasser angesehen werden, vergleichbar der Kraft,
von der die Apostel überkommen wurden: es waren Feuerleuchten, und doch waren es auch lautere Wasser. So
nannte sie Ezechiel, als er dieses Herabkommen des Heiligen Geistes voraussagte, mit Gottes Worten: «Lauteres
Wasser will ich über euch ausgießen, meinen Geist will ich in eure Mitte senden» (Ez 36, 25). So ist dieses Feuer
auch Wasser, wie es vorgebildet ist durch das, Opferfeuer, das Jeremias in der Zisterne barg: Wasser war es in sol-
cher Verborgenheit; und Feuer war es, wenn es zum Opfern herausgehoben wurde. Soweit Gottes Geist in den
Adern der Seele verborgen ist, gleicht er mild erquickendem Wasser, das ihr Dürsten löscht. Soweit sich die Seele
den Opfern der Gottesliebe hingibt, ist Gottes Geist aufloderndes Feuer, ist er gleich Leuchten im Vollzug der
Liebeshingabe, gleich den Flammen, die der Bräutigam im Hohenliede erwähnt. Wohl genießt die Seele solche
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Ausstrahlung gleich stillenden Wassern; allein sie nennt sie Flammen, weil sie sich hier in Gottesliebe hinopfert.
Und weil die Seele in solcher Mitteilung des Geistes zur Ausübung der Liebe entzündet, zum Vollzug der Liebe
entflammt wird, spricht sie lieber von Leuchten als von Wassern: «O Leuchten voll von Brünsten!» Alles, was
in dieser Kanzone ausgesagt werden kann, ist weniger als das Gegebene: unaussagbar ist die Um Wandlung der
Seele in Gott. Alles umfassen diese Worte: Gott hat die Seele vergottet durch Teilhaben an ihm und seinen Eigen-
schaften. Diese werden von der Seele hier als Feuerleuchten gefaßt.

dank deren Widerscheine

9. Zum Verständnis solchen Widerscheines und des Mitscheinens der Seele sei dargelegt: diese hin und wider-
strahlenden Lichter sind die liebreichen Einsichten, die von jenen Leuchten, den Eigenschaften Gottes in die Seele
eingestrahlt werden. Und sie selber, gottgeeint mit allen Kräften, erstrahlt gleich jenen, in liebreichen Gottesschein
umgewandelt. Und dieses strahlende Leuchten, darin die Seele auch Liebesglut hinausstrahlt, ist nicht wie der
Schimmer natürlicher Lampen, die nur ihren Umkreis erhellen, aber nicht das, was in ihrem Kern ist. Die Seele ist
im Kern dieser Strahlen, und so sagt sie: in deren Widerscheine, und sie ist nicht nur in solchem Glanz, mitglän-
zend wird sie in ihn umgewandelt. So können wir sie mit der Luft innerhalb der Flamme vergleichen, die erhitzt
zur Flamme wird; denn die Flamme ist nicht ohne mitbrennende Luft; und die Bewegungen und Strahlen dieser
Flamme werden nicht allein von der Luft und nicht allein vom Feuer verursacht, vielmehr vom Zusammenwir-
ken beider, wobei es das Feuer ist, das sie der Luft in ihrem Innern mitteilt.

10. So mag es begreiflich werden, daß die Seele mit ihren Kräften im Schosse göttlichen Glanzes durchhellt wird.
Und die Bewegungen dieser göttlichen Flamme, ihre lodernden Schwingungen werden nicht von der Seele al-
lein vollzogen, die in die Flammen des Heiligen Geistes gewandelt wurde, und nicht vom Heiligen Geist allein,
sondern von ihm mit der Seele zusammen; er ist der Beweger, wie das Feuer für die durchglühte Luft. Und diese
Bewegungen von Gott und der Seele zusammen sind nicht nur Schein und Widerschein, sondern auch glorien-
gleiche Verklärungen in der Seele. Es sind diese auflodernden Schwingungen heitere Spiele und Feste des Hei-
ligen Geistes in ihr, wie wir in dem zweiten Vers der ersten Kanzone schon dargelegt haben. Immer scheint er
ihr in solchen Spielen das ewige Leben gewähren, sie vollends in seine untrübbare Herrlichkeit hinüberziehen
zu wollen, sie in aller Wirklichkeit in sich hineinnehmend. Denn alle Wohltaten, die ersten wie die letzten, die
größten wie die geringsten, werden der Seele von Gott in der Absicht erwiesen, sie in das ewige Leben zu erhöhen
so wie die Flamme all ihre lodernden Bewegungen mit der erhitzten Luft vollführt, um diese in die Mitte ihrer
eigenen Sphäre mitzuerheben, in einem ständigen Ringen nach engerer Verschmelzung. Doch wie die Flamme
nicht ohne weiteres die erhitzte Luft mit sich reißen kann, da diese in ihrer eigenen Sphäre beharrt, so können die
überaus wirksamen Schwingungen des Heiligen Geistes wohl die Seele mit Himmelsfreuden durchgluten, allein
nicht vollends beseligen bevor ihre Stunde gekommen ist und sie aus der Sphäre der Luft, aus dem Leben im
Fleisch, in die Mitte des Geistes emporgetragen wird, zum vollkommenen Leben in Christus.

11. Allein diese Bewegungen der Leuchten sind eher Schwingungen der Seele als Bewegungen Gottes; denn
Gott bewegt sich nicht. Und diese Einblicke der Seele in die Glorie sind fest, vollkommen und beständig, erfüllt
von der steten Heiterkeit Gottes, wie sie es dann auch in der Seele sein wird, ohne Anschwellen und Abschwel-
len, ohne unterbrechende Bewegungen. Drüben wird die Seele klar erkennen, daß Gott in sich selber sich nicht
bewegt, so wenig wie sich das Feuer in seiner Sphäre bewegt, wenn es ihr im Diesseits auch schien, daß Gott sich
in ihr bewege. Nur weil die Seele noch nicht vollkommen verklärt ist, erscheint ihre Erfahrung der Seligkeit noch
von jenen Erschütterungen und Flammenzungen durchbebt.

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12. Was ich sagte und was ich noch hinzufügen werde, das wird die unvergleichbare Kraft dieser Leuchten klarer
erkennbar machen. Diese Glanzfülle wird auch Überschattung genannt. überschatten bedeutet soviel wie Schat-
ten werfen und mit seinem Schatten schützen und begünstigen; denn wer jemanden mit seinem Schatten deckt,
ist nahe zu dessen Schutz und dessen Begnadung. Als der Botenengel Gabriel der Jungfrau Maria ihre hohe Be-
gnadung kundgab, ihre Empfängnis des Gottessohnes, da sagte er: «Der Heilige Geist wird auf dich herabkom-
men und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten» (Lk i, 35).

13. Es ist eines, ob ich in meiner Erläuterung von Gottes Überschatten oder von seiner Glanzfülle spreche. Denn
jeder Gegenstand wirft Schatten gemäß seiner Beschaffenheit: ist der Gegenstand dicht und dunkel, dann wirft er
einen dunkeln Schatten, ist er hell und durchscheinend, so ist auch sein Schatten hell und fein; so ist der Schatten
von etwas Dunklem ihm entsprechend ein anderes Dunkles, und der Schatten von etwas Hellem ihm gemäß eine
andere Helle.

14.Da nun diese Kräfte und Eigenschaften Gottes, die von der Seele als feurig hinausstrahlende Leuchten empfun-
den werden, ihr so nahe sind, muß sie notwendig von deren Schatten berührt werden, von Schatten, die entspre-
chend ihrem glühenden, strahlenden Ursprung gleichfalls von feuriger Leuchtkraft sind. So ist der Schatten, den
Gottes leuchtende Schönheit auf die Seele wirft, wiederum Schönheit, beschaffen wie die göttliche Urschönheit.
Der Schatten seiner Stärke ist eine andere Stärke gemäß der Stärke Gottes. Der Schatten aus Gottes Weisheit ist
andere Weisheit Gottes, ihr getreuer Abglanz. Das gleiche gilt für die anderen Leuchten; oder richtiger: es ist Got-
tes Weisheit selber, seine Schönheit, seine Stärke selber als Uberschattung; denn die Seele könnte im Diesseits das
unmittelbare Licht noch nicht begreifen. Da aber diese Überschattung in ihrer Gottgemäßheit Gott selber ist, so
erkennt die Seele sehr wohl Gottes Einzigartigkeit in der Überschattung.

15. Wie wird der Heilige Geist diese Seele mit seinen Kräften und Eigenschaften, den herrlichen, überschatten,
wo er der Seele so nahe ist, daß er sie nicht nur mit Schatten berührt; sie ist vielmehr mit ihm in Glanz und schat-
tendem Abglanz vereint, und sie begreift und genießt in einer jeden der überschattenden Leuchten seine Wesen-
heit und Eigenheit. Sie begreift und genießt die göttliche Macht in der Überschattung der Allmacht, begreift und
genießt, von ihr überschattet, die göttliche Weisheit, und so die unendliche Güte, umschlossen von ihrem Über-
schatten, und so alles weitere. Und endlich: sie genießt Gottes Seligkeit in sich dank der Überschattung mit seiner
Seligkeit, darin sie die besondere Weise seiner Herrlichkeit verkostet. Und all dieses vollzieht sich in den lichten
und feurigen Überschattungen durch jene lichten und feurigen Leuchten. Und sie insgesamt sind eine Leuchte
des einen, einfachen göttlichen Seins, das hier vor der Seele auf all diese Weisen erstrahlt.

16. Was wird die Seele hier empfinden, da ihr jene Schau Ezechiels Erfahrung wird: das Lebewesen mit vier Ge-
sichtern und in einem Gefährt mit vier Rädern, «seine Erscheinung glühend wie Kohlen und wie ein Anblick
von Leuchten» (Ez i, 13); und sein weiteres Gesicht: das Rad, Bild göttlicher Weisheit, «voller Augen innen und
außen», (d.h. voll dieser Mitteilungen Gottes und Ausstrahlungen seiner Kräfte). Und gleich dem Propheten ver-
nimmt die Seele jenes « Gedröhn des göttlichen Schrittes, gleich dem Schreiten von Scharen und von Heeren»,
als Ausdruck vielfacher göttlicher Erhabenheiten, die sie einzeln erkennt in dem einen Gedröhn des Schrittes,
mit dem Gott ihr entgegenkommt. Und schließlich genießt sie «das Brausen seines Flügelschlages», das nach
dem Propheten «brausenden Gewässern glich, Ertönen des höchsten Gottes» (Ez 1, 24). Das deutet auf das
Ungestüm der göttlichen Gewässer, von denen sich die Seele überströmt und beseligt fühlt, auf ein «ungestümes
Schwingenfächeln» des Heiligen Geistes hinein in die Flame der Liebe. Hierin labt sie sich an Gottes Herrlichkeit
in einem Gleichnis und Schatten wie denn auch der Prophet sagte daß jenes Lebewesen und jenes Rad Gleichnis
der Herrlichkeit Gottes seien. Wie hoch erhoben sich nun die beglückte Seele findet, wie klar sie ihre neue Größe
erkennt, wie staunend sie sich in ihrer heiligen Schönheit gewahrt wer könnte das aussagen? Da sich die Seele von
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diesen göttlichen Ausstrahlungen wie von Gewässern überflutet fühlt, wird sie inne, daß der ewige Vater ihr gar
freigebig die Bewässerung von oben und unten zuwendet, wie es die flehende Axa ihrem Vater abgewann (Jos 15,
1819). Denn diese Gewässer durchtränken das Höhere und das Niedrigere, Seele wie Leib.

17. O staunenswerte Erhabenheit Gottes, da doch diese Leuchten der göttlichen Eigenschaften nur ein einfaches
Sein sind und nur als solches genossen werden, und dennoch auch getrennt erblickt werden, die eine gleich ent-
flammt wie die andere, und jede wesenhaft die andere! Du Abgrund der Wonne, der um so verschwenderischer
überquillt, je mehr deine Schätze in der unendlichen Ganzheit und Einfalt deines einzigen Wesens zusammen-
gefaßt sind! Darinnen das eine derart erfaßt und genossen wird, daß es nicht das vollkommene Erfassen und Ge-
nießen des anderen hindert darinnen vielmehr eine beliebige Kraft und Huld von dir das Licht einer beliebigen
anderen aus deinen erhabenen Eigenschaften ist! Wird doch dank deiner Lauterkeit, o göttliche Weisheit, Vieles
in dir gesehen, wo Eines gesehen wird! Bist du doch die bewahrende Schatzkammer des Vaters, Abglanz des ewi-
gen Lichtes, Spiegel ohne Makel, seiner Güte Ebenbild! (Wh 7, 26.) Dank deren Widerscheine

des Sinns abgründige Höhlen ohne Enden

18. Diese Höhlen sind die Seelenkräfte, Gedächtnis, Erkenntnis und Wille. Und diese sind in dem Maße tief, wie
sie für große Güter aufnahmefähig sind. Denn durch nichts werden sie ausgefüllt, es sei denn durch Unendliches.
An dem, was sie leiden, wenn sie leer sind, läßt sich in etwa ermessen, wie beseligt sie sind, wenn ihr Gott sie
ausfüllt. Denn der eine Gegensatz erhellt den anderen. Wenn diese Höhlungen der Seelenkräfte nicht leer und
geläutert sind und nicht frei von aller Hinneigung zu Geschöpfen, dann empfinden sie nicht die gähnende Leere
ihrer tiefen Aufnahmefähigkeit. Denn in diesem Leben genügt jede sich darin einnistende Kleinigkeit, um sie so
zu behindern, so zu betäuben, daß sie ihren Verlust nicht empfinden und ebensowenig die ihnen bestimmten
grenzenlosen Güter vermissen, noch sich ihrer Aufnahmefähigkeit bewußt werden. Und es ist erstaunlich, daß
sie, die unendliche Güter aufnehmen können, schon vom Geringfügigsten versperrt und für solche Güter un-
zugänglich gemacht werden können, solange, bis sie gänzlich ausgeleert werden. Allein wenn jene Höhlungen
leer und ausgeräumt sind, dann wird das Dürsten und Schmachten des geisthaften Sinnes unerträglich; denn die
Aufnahmeorgane dieser Höhlungen sind tief und leiden darum tief, wie auch die Speise, die ihnen mangelt, tief
ist: Gott selber. Und jenes leidenschaftliche Schmachten befällt die Seele zumeist gegen Ende ihrer Erleuchtung
und Läuterung, noch vor der Gotteinigung, darin der verschmachtende Geist gestillt wird. Denn weil das geistige
Verlangen rein und frei ist von jedem Geschöpf und jeder Zuneigung zum Geschöpflichen und sein natürlicher
Trieb verschwunden ist, so ist es schon abgestimmt auf das Göttliche, und die Leere in ihm wartet auf Erfüllung.
Und da ihm zu dieser Zeit das Göttliche noch nicht in der Gotteinigung mitgeteilt wird, so ist das Leiden un-
ter solchem Dürsten und solcher Leere schlimmer als Tod, zumal wenn durch irgendeine Öffnung, irgendeinen
Spalt ein göttlicher Strahl von fernher leuchtet und sich dennoch nicht mitteilt. Und die solches erfahren, sind es,
die an ungeduldiger Liebe kranken, so sehr, daß sie in Bälde empfangen müssen oder sterben.

Die Leere in der ersten dieser Höhlungen, in der Erkenntniskraft, ist das Dürsten nach Gott. Wenn diese Kraft
wohlvorbereitet wurde, dann ist das Dürsten überaus gewaltig David vergleicht solchen Zustand mit dem heftigs-
ten Schmachten, das er finden konnte, mit dem des Hirsches: «Wie der Hirsch nach frischen Quellen schmach-
tet, so schmachtet meine Seele, o Gott, nach dir» (Ps 41, 1). Dies Lechzen sucht die Wasser göttlicher Weisheit,
die Gegenstand der Erkenntnis kraft ist.

20. Die zweite Höhlung ist die Willenskraft; und ihre Leere ist ein so gewaltiges Hungern nach Gott, daß die Seele
hinsiecht. Auch dem gibt David Ausdruck: «Nach des Herren Gezelt vergeht meine Seele» (Ps 83, 3). Und sol-
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ches Hungern gilt der Vervollkommnung der Liebe, die von der Seele erstrebt wird.

21. Die dritte Höhlung ist die Gedächtnis kraft; und ihre Leere ist eine vernichtende Sehnsucht der Seele nach
der Aneignung Gottes. Darüber sagt Jeremias: «Memoria memorero et tabescet in me anima mea» (Klgl 3, 20).
Das besagt: Mit meinem Gedächtnis will ich gedenken viel will ich seiner gedenken; und in mir wird die Seele
hinschmelzen ; solches will ich in meinem Herzen bewegen, und in der Hoffnung auf Gott werde ich leben.

22. Tief sind diese Höhlen in ihrer Aufnahmefähigkeit; ist doch das, was von ihnen aufgenommen werden kann,
Gott selber, tief und unendlich. Und so ist ihre Aufnahmefähigkeit in gewisser Weise unendlich, und auch ihr
Dürsten, ihr Hungern tief, unendlich, ihre auflösende Qual ist unendlicher Tod. Wohl sind die Leiden der Seele
nicht so durchdringend, wie sie im Jenseits sein können; allein sie leidet sehr ähnlich wie unter einem ewigen Got-
tesverlust, in ihrem bereiten Zuwarten auf ein voll ausfüllendes Empfangen. Und doch ist es eine eigene Weise des
Leidens: es wühlt in der Liebe des Willens, in diesen hohlen Buchten; und solche Liebe sänftigt keineswegs den
Schmerz, sie macht ihn um so heftiger, je heftiger sie selber ist, je ungeduldiger nach dem Erfassen ihres Gottes,
den sie in Anfällen leidenschaftlichen Begehrens erhofft.

23.Allein da erhebt sich ein Einwand: wenn die Aussage des heiligen Gregor über Johannes' richtig ist, daß näm-
lich die Seele, die Gott mit wahrer Hingabe begehrt, ihn, den Geliebten, bereits umfängt, wie denn verzehrt sie
sich nach dem, was sie doch schon besitzt? Auch nach Petrus ist das Verlangen der Engel, den Gottessohn zu
erschauen, von keiner quälenden Sehnsucht begleitet, da sie ihn bereits besitzen (1 Petr 1, 12). Danach könnte es
scheinen, daß die Seele Gott um so mehr besitzt, je mehr sie ihn begehrt, und daß sie in solchem Umfassen sich
beseligt erlabt. Die Engel sind selig, weil sie ihr Verlangen nach solchem Besitz stillen können, und weil sie sich
auch an ihrem Verlangen erquicken können; fern vom Überdruß der Sättigung, weil sie keinen Überdruß kennen,
begehren sie immer; und weil sie besitzen, leiden sie nicht. Danach müßte die Seele hier, in ihrem Verlangen, um
so größere Labung finden, je größer dies Verlangen ist, und damit müßte ihre Aneignung Gottes frei sein von
Schmerz und Pein.

24. In diesem Zusammenhang gilt es zu unterscheiden zwischen einem Halten Gottes nur durch Gnade und
einem Halten auch in der Einigung; das eine bedeutet: sich innig lieben, das andere bedeutet überdies: sich aus-
tauschen. Hier waltet ein Unterschied wie zwischen Verlöbnis und Ehe: denn beim Verlöbnis gibt es nur ein
angleichendes «Ja», einen gemeinsamen Willen beider Partner, dazu Geschmeide

und Prunkgewänder für die Angelobte aus den huldreichen Händen des Bräutigams. In der Ehe dagegen gibt es
darüber hinaus den Austausch, die Verschmelzung. Im Verlöbnis besucht der Bräutigam seine Braut zwar mitun-
ter und bringt ihr Gaben; allein die wechselseitige Hingabe, das Ziel des Verlöbnisses, vollzieht sich noch nicht.
Es ist vielmehr so: wenn die Seele in sich und in ihren Vermögen zu solcher Lauterkeit gelangt ist, daß ihr Wille
im höheren wie im tieferen Bereich von unheiligen Gelüsten und abwegigen Trieben völlig frei wurde, wenn sie in
ihrem hingebenden Ja all dieses Gott aufgeopfert hat, und Gottes Wille wie der Seele Wille eins geworden sind in
einer freien, eigenständigen Zustimmung, erst dann hat die Seele Gott durch Gnade und Wille gewonnen, soweit
sie es durch ihren Willen und Gottes Gnade vermag. Und das bedeutet: Gott hat ihr zugleich mit ihrem Ja das
ganze und wahrhafte Ja seiner Gnade gegeben.

25. Und solches ist ein hoher Stand, dies mystische Verlöbnis der Seele mit dem Wort. Und in dieser Zeit empfängt
sie von ihrem Bräutigam große Gnaden und häufig die liebreichsten Heimsuchungen, mit hohen, beglückenden
Gunsterweisen. Doch lassen sie sich nicht vergleichen mit jenen der mystischen Ehe. Sind sie doch allesamt nur
Vorbereitungen für die Einigung in solcher Vermählung. Wohl ist die Seele, die des mystischen Verlöbnisses wür-
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dig wurde und dessen hohe Begnadungen erfährt, gänzlich entleert von jeder Hinneigung zu Geschöpfen. Und
dennoch bedarf sie anderer, positiver Vorbereitung durch Gott in Heimsuchungen und Gaben, die sie derart
läutern, verschönen und veredeln, daß sie solch erhabener Einigung würdig wird. Und das braucht Zeit; bei den
einen mehr als bei den andern, da Gott sich nach der Beschaffenheit der Seele richtet. Und solche Vorbereitung
wird veranschaulicht durch jene Jungfrauen, die für den König Assuerus ausgewählt worden waren: trotzdem
diese bereits aus ihrem Lande und aus dem Haus ihrer Eltern herausgeholt worden waren, wurden

sie nicht sogleich dem Lager des Königs zugeführt, sondern noch ein Jahr im Palast eingeschlossen. Dort berei-
teten sie sich ein halbes Jahr mit Salben aus Myrrhen und anderen Spezereien vor und das zweite halbe Jahr mit
anderen erleseneren Salben; und erst dann kamen sie zum Lager des Königs.

26. Und in dieser Zeit des Verlöbnisses, bei dem Erharren der mystischen Ehe, in den Salbungen des Heiligen
Geistes, da pflegt das Verlangen in den tiefen Aushöhlungen der Seele überaus heftig und gewaltsam zu sein, um
so heftiger, je erlesenere Salben auf die Gotteinigung vorbereiten. Da nun diese Salben schon des näheren die
Einigung mit Gott vorbereiten, ihm bereits angemessener sind, und deshalb der Seele köstlicher duften und sie
inniger nach Gott schmachten lassen, so ist nunmehr ihr Verlangen inniger und tiefer. Solches Verlangen nach
Gott ist Vorbereitung für die Einigung mit ihm.

27. O wie sehr ist es hier am Platz, die Seelen zu warnen, die zu so göttlicher Salbung gelangten! Möchten sie be-
denken, was sie tun und wem sie sich anvertrauen und wer sie wirklich fördert. Allein das führt von unserem Ziele
ab. Und dennoch! Mich überwältigt Erbarmen beim Anblick der Seelen, die zurückgleiten und den Salbungen
Gottes nicht stillhalten und sie dadurch unwirksam machen, anstatt dank ihrer sich dem Ziel zu nähern. Und so
muß ich sie beraten, wie sie solche Schädigung vermeiden können. Ein wenig werde ich mich dabei aufhalten
müssen, wenn auch nicht lange. Doch eigentlich ist dies kein Versäumen, sondern auch dienlich für das Verständ-
nis dieser besonderen Höhlungen, dienlich und sogar sehr notwendig nicht nur diesen Seelen, die so gedeihlich
fortschreiten, sondern allen Seelen, die ihren Gehebten suchen. Und zu ihnen allen will ich sprechen.

28. Vor allem muß man wissen: wenn die Seele Gott sucht viel dringlicher sucht Gott die Seele. Und wenn sie ihm
ihr liebendes Verlangen zusendet ein Verlangen, vor ihm wie A aufsteigende Duft von Myrrhen und Weihrauch
dann sendet er ihr den Duft seiner Salben, der sie anzieht und zu ihm hintreibt, seine Eingebungen und seine
Berührungen. Diese wann immer sie von Gott stammen, nahen sich hingeformt und hingestimmt auf die Voll-
kommenheit des göttlichen Gesetzes und des Glaubens eine Vervollkommnung, die zur stetigen Annäherung an
Gott unerläßlich ist. Und so muß die Seele bei allen Gunsterweisen, bei diesen duftenden Salbungen begreifen,
daß sie dem Wunsche Gottes entspringen, sie für andere, erlesenere und zartere Salben vorzubereiten, für solche,
die Gott mehr entsprechen. Am Ende aber wird nach seinem Willen ihre Bereitschaft so lauter und innig sein, daß
sie der Einigung mit Gott würdig wurde, der wesentlichen Umwandlung in all ihren Vermögen.

29. Dies muß der Seele gegenwärtig bleiben: Gott ist hierbei der eigentlich Handelnde, der Führer dieser Blinden,
der sie durch das Unbekannte an der Hand geleitet, hin zu dem Übernatürlichen, das weder ihr Verstand, noch
ihr Wille, noch ihr Gedächtnis nach seiner Wesenheit ergründen können. So muß es ihre Hauptsorge sein, dem
göttlichen Führer kein Hindernis zu bereiten auf diesem von ihm bestimmten Wege der Vervollkommnung in
seinem Gesetz und im Glauben. Und solches Hindernis erhebt sich, wenn sie sich von einem anderen Bünden
mitnehmen und führen läßt. Die Blinden, von denen sie auf Abwege gebracht werden könnte, sind drei: der See-
lenführer, der Dämon und sie selber. Und damit die Seele begreife, wie solches zugeht, werde ich von jedem dieser
Bünden handeln.

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30. Die Seele, die auf diesem Wege der Sammlung und Vervollkommnung vorangelangen will, muß als erstes
überlegen, in wessen Hände sie sich gibt. Denn wie der Meister, so der Schüler, wie der Vater, so der Sohn. Dabei
sei beachtet: für diesen Weg, zum mindesten für die oberste Strecke, aber auch für die mittlere, wird kaum ein
Führer gefunden, der alle Erfordernisse erfüllt. Umsicht und Unterscheidungsgabe genügen hier nicht, es muß
ein solcher darüber hinaus Erfahrung besitzen. Wohl bedarf es, um den Geist zu führen des Wissens und der
Urteilskraft als Grundlage. Allein fehlt die Erfahrung dessen, was reiner und wahrer Geist ist, so wird es nicht glü-
cken, die Seele in dem von Gott Empfangenen zu prüfen, oder solchen Geist auch nur zu verstehen.

31. Auf solche Weise fügen viele geistliche Meister den Seelen großen Schaden zu. Sie begreifen nicht die Eigen-
wege des Geistes. Und so lassen sie die Seelen jene zarte Salbung verlieren, womit der Heilige Geist sie für sich
selber vorbereitet, und lehren sie mit selbstgebrauchten oder irgendwie angelesenen Weisen auf der Erde zu krie-
chen, wie es vielleicht für Anfänger taugen mag. Mehr wissen sie nicht und wollte Gott, daß sie dieses hinreichend
wüßten! So aber lassen sie die Seelen, die Gott emportragen will, in den Anfängen stecken, weshalb diese niemals
über die Betätigung des Verstandes und der Phantasie hinausgelangen und recht wenig Wertvolles davontragen.

32. Der Zustand und die Betätigung der Anfänger ist, recht verstanden, Meditieren, mit Verstand oder Phanta-
sie einzelne Akte und Übungen durchführen. In dieser Verfassung benötigt die Seele Stoff zum Meditieren und
Erwägen; und sie muß aus Eigenem innere Akte vollziehen und sich den sinnfälligen Geschmack am Geistigen
zunutze machen. Während sich so ihr Gelüst am Geistigen weidet, verliert sie den Geschmack am Sinnenhaften
und wird aus dem Weltlichen entwurzelt. Doch hat sich ihre Begierde in etwa an den Bereich des Geistes ge-
wöhnt und mit einiger Beharrlichkeit und Entschlossenheit in ihm genährt, dann beginnt Gott alsbald die Seele
zu entwöhnen und zu einer Erfahrung des Göttlichen zu erheben. Zu solcher Erhebung gelangen einige in kurzer
Zeit, zumal Ordensleute; diese, die sich schneller von Dingen der Welt abwenden, gewöhnen leichter Sinn und
Trieb an Gott und wenden ihre Bemühungen auf den Geist wobei Gott in ihnen am Werk ist. Das begibt sich,
wenn'die Seele ihre Auseinanderlegungen und Erwägungen, mitsamt ihrem ersten sinnlichen Eifer verliert, wenn
sie nicht mehr wie früher überlegen kann und an ihrer Sinnlichkeit keinen Halt mehr findet, da diese austrocknete
und ihr alles, sie durchströmte, entzogen und auf den sinnenfernen Geist hinübergeleitet wurde. Und da natürli-
cherweise alle Betätigungen, die von der Seele aus Eigenem geleistet werden an das Sinnenhafte gebunden sind,
so ist notwendig Gott selber bei diesem Zustand der Bewegende und die Seele die von ihm Bewegte, Erleidende.
Sie verhält sich lediglich empfangend, gotterleidend, und Gott gibt und durchwaltet sie. In der Gotterfahrung gibt
er ihr geisthafte Güter, ein Merken Gottes und seiner Liebe zusammen, ein liebeweckendes Innewerden, wobei
die Seele nunmehr ihren natürlichen Überlegungen und Betätigungen entfremdet ist.

33. So muß die Seele zu dieser Zeit in gänzlichem Gegensatz zu der früheren Weise geführt werden. Gab man ihr
früher Stoff zum Nachdenken und dachte sie früher nach, so muß ihr jetzt dieser Stoff weggenommen und sie
am Meditieren verhindert werden. Ja sie könnte es nicht einmal, selbst wenn sie wollte; und der vergebliche Ver-
such würde ihr keine Sammlung bringen, sondern Zerstreuung. Und wenn sie zuvor Saft und Liebe und Inbrunst
suchte und fand, so soll sie diese jetzt weder begehren noch suchen. Sie würde mit ihrem Eifer diese nicht gewin-
nen, sondern eher Trockenheit. Dadurch würde sie nur von dem friedvollen, stillen Heil abgezogen, das heimlich
ihrem Geiste eingegeben wird, abgezogen zugunsten einer Betätigung, die sich nach der Anweisung eines sol-
chen Seelenführers durch die Sinne vollzieht. Und derart verlöre sie das eine, ohne das andere zu gewinnen; denn
nicht länger werden ihr die Heilsgüter durch Sinnenhaftes mitgeteilt. Aus solchem Grunde dürfen der Seele bei
diesem Zustande unter keinen Umständen Stoffe zur Meditation und Erweckung von Akten auferlegt werden
nichts, was ihr Wohligkeit und Andacht vermittelt. Das hieße dem eigentlichen Beweger, Gott, selber Hindernisse
in den Weg legen, ihm, der verborgen und still in der Seele vorgeht und ihr Weisheit und Hebevolles Gewahren
eingibt ohne Besonderung zu Akten. Und nur ausnahmsweise geschieht es, daß Gott sie durch längere Zeit sich
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besondern läßt. Und so muß die Seele ihrerseits Gott ein liebevolles Aufmerken entgegenbringen, nur dies, ohne
in Akten sich zu besondern; rein empfangend muß sie sich verhalten, ohne eigene Beflissenheit, mit dem ent-
schlossenen schlichten Aufmerken der Liebe, so wie jemand in Hebreicher Achtsamkeit die Augen öffnet.

34. Wenn nun Gott zu dieser Zeit sich ihr in schlichter, Hebreicher Einprägung faßlich macht, dann muß sie mit
ihrer Empfänglichkeit, mit einfältigem, Hebreichem Aufmerken und Bewußtmachen ihm entsprechen, damit
sich Wahrgeben zu Wahrnehmen, Liebe zu Liebe fügt. Denn wer empfängt, muß sich auch als Empfangender,
nicht anders, verhalten, damit er es in der Weise des Gebenden festhalten kann. Gemäß dem Ausspruch von Phi-
losophen verhält sich das Aufgenommene nach der Weise des Aufnehmenden. Wenn demnach die Seele nicht
von ihrer natürlichen aktiven Art abließe, so könnte sie jene Heilsgüter nur auf natürliche Weise, das heißt gar
nicht aufnehmen; sie würde bei ihrem natürlichen Akt verbleiben, denn das übernatürliche hat im natürlichen
keinen Raum und hat nichts mit ihm zu schaffen. So gilt denn uneingeschränkt: wollte die Seele mehr auf eigene
Weise sich verhalten statt in passiv Hebendem Empfang zu verharren, schlechthin empfänglich und beschwich-
tigt, (es sei denn, Gott selber eine sie in einem Akt mit sich), dann versperrte sie sich dem Heil, das Gott mit seiner
Hebreichen Wahrnehmbarkeit ihr mitteilen will.

Solche Mitteilung dient zu Anfang der inneren Läuterung und ist deshalb quälend danach aber voll Sanftmut der
Liebe. Dies Hebreiche Sichmitteilen wird von der gottleidenden Seele übernatürlich empfangen in aller Wahrheit
verhält es sich so übertürlich auf Gottes Weise, und nicht auf die natürliche Weise der Seele. Deshalb muß die
Empfangende ihren natürlichen Betätigungen erstorben sein, unbeengt, unbeschäftigt friedvoll und heiter nach
Gottes Weise. Es ist wie mit der Luft: je dunstfreier sie ist, je durchsichtiger und windstiller, um so mehr wird sie
von der Sonne durchhellt und durchwärmt. folglich muß die Seele an nichts haften: nicht an der Ausübung von
Meditation und Untersuchung, nicht an irgendeinem Wohlgeschmack für Sinne oder Geist, nicht an irgendet-
was, das in Beschlag nimmt. Dem Geist ist diese Unabhängigkeit und Unberührbarkeit vor allem aus dem Grun-
de not, weil irgendein Gedanke, Einfall oder Genuß, bei denen die Seele zu solcher Stunde sich aufhalten möchte,
sie behindern und beunruhigen würde. Diese Vorgänge würden Lärm schlagen in der tiefen Stille, deren die Seele
an Leib und Geist bedarf, für das Auffangen des Zarten und Tiefen, das Gott in solcher Einsamkeit dem Herzen
einspricht. So sagt es Osee (Os z, 14); so kündet David vom höchsten schweigenden Frieden, darin die Seele
lauscht und vernimmt, was Gott der Herr in ihr spricht. Denn in solcher Einsamkeit spricht er ihr Frieden ein (Ps
84, 9).

35. Wenn es nun geschehen sollte, daß die Seele sich in Stille und in ein Aufhorchen versetzt fühlt, dann hat
sie sogar die Haltung Hebreichen Innewerdens aufzugeben, um frei zu bleiben für das, was der Herr nun für sie
bestimmt. Denn dies Hebreiche Innewerden soll sie nur üben, wenn sie sich nicht in Einsamkeit oder innere
Gelassenheit versetzt fühlt oder in Selbstvergessenheit oder in mystisches Vernehmen. Wann das geschieht, ist
kenntlich an einer ruhigen Friedseligkeit und Hingenommenheit, von denen solche Gotteinwirkung immer be-
gleitet wird.

36. Beginnt also die Seele in jenen einfachen und gelassenen Zustand der Kontemplation einzutreten, und versiegt
ihr damit die Meditation, dann soll sie sich niemals Meditationen vorstellen wollen und niemals an geistlichen
Wohligkeiten festhalten; ohne Halt und Haften soll sie frei auf ihren Füßen stehen und den unverhafteten Geist
über all dies hinausheben. Habakuk hat gesagt, was er tun müsse, um des Herren Worte zu vernehmen: «Acht-
sam werde ich auf meinen Füßen stehen, nicht unbedacht will ich vorgehen, und verharren will ich bei dem, was
er mir kundgibt» (Hab 2, i). Damit sagt er: erheben will ich mein Gemüt über alle Betätigungen und Wahrneh-
mungen im Bereich meiner Sinne und alles, was sie auffassen und festhalten können, will ich überschwingen;
und ich werde meine Vermögen nicht nach ihrer Kraft in Eigenbetätigungen vorgehen lassen; so werde ich in der
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Kontemplation empfangen können, was mir von Gott her zukommen mag. Denn wir sagten es schon die reine
Kontemplation besteht in Empfangen.

37. Unmöglich ist es, daß diese erhabenste Weisheit und Aussage Gottes, die Kontemplation, in minderem emp-
fangen werden könnte als in einem verschwiegenen Geist, in ihm, den keine Wohlgefühle und Sonderwahrneh-
mungen in Fesseln legen. So sagen es auch Worte des Isaias: «Wen wird Gott Weisheit lehren, und wem bringt er
seine Verkündung zu Gehör?» (Is 28, 9.) Und er antwortet: Denen, die von der Milch entwöhnt sind, nämlich
von dem Schmackhaften, denen, die von der Brust abgelöst sind, nämlich von den Sonderwahrnehmungen und
Sonderbildern.

38. Entferne, o geistige Seele, Fasern und Stäubchen, alles Trübende aus deinen Augen und reinige sie; und dir
wird die klare Sonne leuchten, und du wirst klarsehen. Befriede dich, befreie dich machtvoll von der schwächli-
chen Betätigung deiner Fähigkeiten, diesem knechtenden Joch, dieser Gefangenschaft in Ägypten, wo dein Wir-
ken bestenfalls ein Häufen von Strohhalmen ist, um damit irdenen Ton zu brennn. Und du, Führer der geistigen
Seele, geleite sie in das gelobte Land, dem Milch und Honig entfließen; und bedenke, daß es solche Freiheit, solch
heilige Gelassenheit der Gotteskinder ist, derentwegen sie von Gott in die Wüste gerufen wird, in Festkleidern,
geziert mit goldenem und silbernem Schmuck, nach dem Auszug aus Ägypten. Entblößt ist sie bereits von den
Reichtümern jenes Landes, dem sinnenhaften Bereich; und mehr noch: die Verfolger sind in den Fluten der Kon-
templation ertrunken, in diesen Tiefen, darin sie keinerlei Halt finden. So bleibt das Gotteskind frei, der Geist der
die knechtenden Grenzen sinnenhafter Betätigungen überschwungen hat sein geringes Verstehen, sein niedriges
Fühlen, sein armseliges Lieben und Genießen, es ist Überschwüngen damit Gott ihm das milde Manna gebe.
Und diese Speise enthält «jede Art von Köstlichkeit in sich» (Wh 16, 20), die in den dir nötig erscheinenden Be-
schäftigungen von der Seele gewonnen werden könnte; doch ist dies Manna, das so zart im Munde zergeht, nicht
zu verkosten, sobald es mit einem anderen Geschmack, mit einem anderen Ding vermischt wird. Wenn demnach
die Seele bis zu dieser Höhe gelangt ist, dann sei dein Bemühen, ihr alle Sucht nach geistlichen Schwelgereien und
Zergliederungen zu nehmen, dann beunruhige sie nicht mit aufgetragenen Bemühungen um Hohes und noch
weniger um Niedriges, sondern versenke sie so tief wie möglich in Entfremdung und Einsamkeit. Je tiefer und je
schneller sie solche Gelassenheit erlangt, desto überströmender wird sich ihr der Geist der göttlichen Weisheit
eingießen, dieser liebreiche, ruhevolle, einsame, friedfertige, sanfte, verzückende für den Menschengeist, der sich
aufs zarteste von ihm durchbohrt und geraubt fühlt, ohne zu wissen von wem, von woher und wie. Und derart
empfindet es die Seele, weil ihr das ohne ihr Zutun geschah.

39. Und schon Weniges von dem, was Gott in der Seele bei so heiliger Muße und Einsamkeit wirkt, ist unschätz-
bares Heil und mitunter sehr viel gnadenreicher als die Seele und ihr Berater es wähnen. Und wenn solches auch
nicht gleich merklich werden sollte, so wird es doch zu seiner Zeit hervorstrahlen. Das Mindeste, was der Seele
hier zur Erfahrung werden kann, ist eine mehr oder minder starke Entfremdung und Absonderung von allen Din-
gen, Neigung zur Einsamkeit und Überdruß an allen weltlichen Geschöpfen, mit sanftem Verweilen in geistigem
Leben und Lieben. Alles, von dem sie sich nicht absondern kann, wird ihr zur Widrigkeit gemäß dem Spruch, daß
der Leib unlustig ist, wenn der Geist genießt.

40. Allein die Heilsgüter, die solch heimliches Austauschen und Schauen der Seele, ihr noch unbewußt, tief ein-
prägt, sind, wie wir sagten, unschätzbar. Es sind Salbungen des Heiligen Geistes, tiefgeheim und darum von zar-
tester Innigkeit; verschwiegen erfüllen sie die Seele mit Schätzen an geistigen Gaben und Gnaden. Denn da kein
Geringerer als Gott sie wirkt, tragen sie Gottes Gepräge.

41. Diese Salbungen des Heiligen Geistes, diese Abtönungen von feinem und erlesenem Schmelz können in ihrer
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zarten Reinheit weder von der Seele noch von ihrem Berater erfaßt werden, sondern nur von ihm, der sie anwen-
det, um dadurch die Seele zu seinem Wohlgefallen auszugestalten. Äußerst leicht — schon bei der geringsten
Eigenregung der Seele im Bereich des Gedächtnisses, des Erkennens, des Wollens, bei dem leisesten Versuch, die
Sinne heranzuziehen, den Trieb, die Wahrnehmung, die Lust wird dieses Werk gestört, sein Schmelz verwischt.
Und das ist schwerer Schaden, großer Schmerz und Jammer.

42. O ernste Sache, verwunderliche, daß der Schaden nicht sichtbar wird und die Störung dieser heiligen Salbung
fast wie Nichts erscheint! Und doch ist der Schaden größer und beklagenswerter, als wenn viele jener durch-
schnittlichen

Seelen gestört und verdorben würden, die nicht durch so erhabenen Glanz und so erlesenen Schmelz hervorra-
gen. Wenn eine plumpe Hand ein wunderschönes und innig geltes Antlitz mit rohen und gemeinen Farben über-
tünchte, dann wäre der Schaden größer und beklagenswerter, als wenn viele Gesichter gewöhnlichen Gepräges
übermalt würden Denn wurde jene innige Künstlerhand, die des Heiligen Geistes, einmal durch Stümperhand
gestört wer brächte sie dazu, von neuem anzusetzen?

43. Und obwohl dieser Schaden schwerer und größer ist als sich aussagen läßt, ist er doch so verbreitet, daß kaum
ein Seelenführer zu finden ist, der ihn den Seelen nicht zufügt, solchen Seelen, die durch Gott mit dieser Art von
Gotterfahrung gesalbt werden. Wie oft salbt Gott die ihm erschlossene Seele mit dem zarten, liebreichen Ge-
wahrwerden, dem untrübbaren, friedvollen, einsamen, dem sinnenfernen und bildlosen, mit einem Innewerden,
das kein sonderndes Überdenken zuläßt, kein Auskosten von Hohem oder Niedrigem, sondern nur Hingabe an
jene verschwiegene Salbung in gottleidender Abgeschiedenheit: und dann kommt so ein Seelenführer, der nur
draufloszuhämmern versteht und mit den Seelenvermögen wie ein Grobschmied umgeht. Und weil das seine
ganze Weisheit ist und er nichts Höheres als Meditieren kennt, wird er sagen: «Genug! Laßt diese Geruhsamkeit
! Sie ist nur Müßiggang und Zeitverlust! Nehmt euch etwas vor und meditiert! Vollzieht innere Akte! Denn ihr
müßt das betätigen, was in euch ist. Das andere da ist Selbstbetrug und Faulenzerei!»

44. Und so, in ihrer Unkenntnis höherer Gebetsweisen, vergeistigter Wege, sehen sie es nicht ein, daß die Akte
und Erwägungen, die von ihnen der Seele abgefordert werden, einem überwundenen Stadium angehören, da
diese Seele bereits die Tätigkeit der Sinne und des Verstandes zur Ruhe gebracht hat. Von ihr ist der Weg des
Geistes beschritten, die Kontemplation gewonnen worden, worin weder ihre Sinne noch ihre Gedanken wirken.
Gott allein ist nun der Beweger, er ist es, der im Verborgenen zur einsamen, zur schweigenden Seele spricht. Und
wenn die vergeistigte Seele immer noch mit den Sinnen vorgehen soll, dann bringt ihr solches Rückschritt und
Abschweifung. Einen, der das Ziel schon erreicht hat, nochmals zu diesem Ziel aufbrechen zu lassen, ist nicht
nur lächerlich, es bedeutet auch erzwungenes Abgleiten vom Ziel. Ist demnach der Vergeistigte durch Betätigung
seiner Seelenvermögen bis zu seinem Ziel bis zur stillen Sammlung in Beschwichtigung seiner Vermögen vorge-
drungen, dann wäre es töricht, durch Akte dieser Kräfte solche Sammlung erneut zu suchen, und mehr noch es
wäre schädlich, die schon gewonnene Sammlung für rastloses Suchen preiszugeben.

45. Da nun diese Seelenführer nicht begreifen, was Sammlung, was geistige Abgeschiedenheit ist und wie Gott
bei solcher Abgeschiedenheit die Seele mit erhabener Salbung weiht, so überlagern oder verwischen sie diese mit
andern Salben, sie treiben die Seele zu niedrigeren geistlichen Betätigungen an; solche Rührigkeit aber ist von
dem, was die Seele darüber verlor, so weit entfernt wie das Natürliche vom Übernatürlichen, das Menschliche
vom Göttlichen. Denn bei der geforderten Weise betätigt sich die Seele auf natürliche Art, bei der anderen wirkt
Gott übernatürlich in ihr. Und das Schlimmste ist: über solchen natürlichen Übungen verliert sie die innere Abge-
schiedenheit und in der Folge die erhabene Schönheit, die Gott in der Seele bildete. Das heißt mit dem Hammer
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auf ein Meisterwerk einschlagen, hier zerstörend, ohne dort zu fördern.

46. Solche Seelenführer mögen sich bewußt sein, daß der eigentliche Beweger und Führer der Seelen nicht sie
sind, sondern der unablässig um sie bemühte Heilige Geist; daß sie nur Wegweiser sind für den Aufstieg zur
Vollkommen kraft des Glaubens und des göttlichen Gesetzes, zu einer Vollkommenheit gemäß dem Geiste, den
Gott in jede Seele besonders eingießt. Und so sei denn sein ganzes Bestreben, sie nicht eigensinnig seiner eigenen
Weise anzugleichen, sondern sich zu prüfen, ob er den Weg erkennt, den Gott sie führt und wenn er ihn nicht
erkennt, soll er jene Gott über lassen statt sie zu verstören. In Übereinstimmung mit dem von Gott bestimmten
Weg und Geist sei ihr Bemühen, sie immer größerer Einsamkeit und Stille und Freiheit des Geistes hinzulenken.
Es soll ihnen Spielraum gelassen werden damit ihr leiblicher und geistiger Sinn nicht an innere und äußere Ein-
zeldinge gefesselt werde, wenn Gott sie durch solche Abgeschiedenheit führt. Die Seelenführer sollen sich nicht
mit der Einbildung beunruhigen, daß hier nichts geleistet werde: wenn auch die Seele derzeit nichts wirkt Gott
wirkt in ihr. Aufgabe der Seelenführer ist es, die Seele ledig und gelassen zu machen, so daß sie von keinen Son-
derwahrnehmungen, weder niedrigen noch erhabenen, gefesselt wird, nicht abgelenkt durch Gelüste und Einbil-
dungen. Abgewandt von allen Geschöpfen soll sie in geistiger Armut verharren; das ist es, was die Seele von sich
aus bewirken kann, wie es auch der Gottessohn anrät: «Wer nicht alles hingibt, was er hat, der kann nicht mein
Jünger sein» (Lk 14, 33). Das gilt nicht nur für den Verzicht des Willens auf alles Zeitliche, sondern auch für die
Loslösung von geistlichem Besitz, zugunsten jener geistigen Armut, die der Gottessohn als beseligend preist. Tut
die Seele aber, was in ihrer Macht steht, erringt sie Ledigkeit von allen Dingen, dann kann es nicht anders sein:
Gott tut das Seine und teilt sich ihr mit, im Verborgenen und in Stille. Eher könnte der Sonnenstrahl es unterlas-
sen, in eine unverhüllte und freigeräumte Stätte einzufallen. So wie die Sonne sich früh erhebt, um in dein Haus
einzudringen, sobald du nur die Fensterläden öffnest, so wird Gott, der stetig über Israel wacht (Ps 120, 4), flugs
in die unverstellte Seele einfallen und sie mit göttlichen Gaben erfüllen.

47. Gleich der Sonne steht Gott über den Seelen, um sich ihnen einzustrahlen. Jene aber, die sie hier führen, mö-
gen sich damit begnügen, sie auf so Hohes vorzubereiten, ge_ mäß der evangelischen Vollkommenheit in der
Entblößtheit der Sinne und des Geistes. Weiter sollen sie sich nicht um den Aufbau bemühen. Solches gebührt
ausschließlich dem Vater der Lichter, von dem jede gute Gabe und vollkom mene Gunst herniederstrahlt (Jak 1,
17). Denn wenn nicht der Herr das Haus erbaut, dann arbeiten wie David sagt die Baumeister umsonst (Ps 126,
11). Und weil er der übernatürliche Baumeister ist, wird er in übernatürlicher Weise in jeder Seele das Bauwerk
errichten, das er geplant hat. Hingegen wäre es deine vorbereitende Aufgabe, auf die Abtötung ihrer natürlichen
Betätigungen und Neigungen hinzuarbeiten, zumal die Seele weder Geschick noch Kraft besitzt, solch übernatür-
liches Bauwerk zu errichten. Sie würde dieses Werk mehr stören als unterstützen; und deine Aufgabe wäre es, die
Seele auf solche Bescheidung vorzubereiten. Und Gottes ist es, wie der Weise sagt, ihr den Weg zu ebnen den Weg
hin zu den übernatürlichen Gütern, und das auf Weisen, die weder von der Seele noch von dir begriffen werden
(Spr 16, 19). Sag darum nicht: «Oh, die Seele kommt nicht voran, weil sie nichts tut!» Wenn es wahr ist, daß sie
«nichts tut», so will ich dir eben daraus beweisen, daß sie viel tut: wenn sich die Erkenntniskraft von natürlichen
oder geistlichen Sonderinhalten befreit, dann schreitet sie voran; und je mehr sie frei ist von Sonderinhalten und
Vorstellungen, um so mehr schreitet sie voran auf dem Wege zum höchsten, übernatürlichen Heil.

48. O du wirst sagen, daß sie hier nichts deutlich erkennt und darum nicht vorankommen kann. Ich sage dir aber,
daß sie nicht vorwärtskommt, solange sie deutlich erkennt. Und zwar aus dem Grunde, weil Gott, das Ziel der
Erkenntniskraft, diese Kraft übersteigt. So ist er ihr unbegreiflich und unzugänglich; und mit ihrer Erkenntnistä-
tigkeit kommt sie Gott nicht näher. Und so hat sie sich eher von sich selber und ihren Erkenntnissen zu entfernen,
um sich Gott anzunähern. Im Glauben muß sie voranschreiten, glaubend und nicht erkennend. Und solcherart
gelangt die Erkenntniskraft zur Vollkommenheit; denn durch den Glauben und nicht durch andere Mittel ver-
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einigt sie sich mit Gott. Denn die Seele gelangt mehr durch Nicht Begreifen als durch Begreifen zu Gott. Und so
darfst du dir darüber keine Sorgen machen. Denn sofern die Erkenntniskraft auf ihrem Wege nicht umkehrt, das
heißt sich nicht in Einzelwahrnehmungen und Verstandesübungen zersplittert, sondern in gelassener Sammlung
verbleibt, dringt sie voran, frei wie sie ist von allem Vereinzelten, von all dem, was nicht Gott, unfaßbar dem Ver-
stand, ist. Nicht umkehren ist in diesem Fall der Vollkommenheit bereits Vorangelangen; und das Vorangelangen
der Erkenntniskraft bedeutet, sich immer stärker auf den Glauben stützen. Dies aber heißt, durch immer dichteres
Dunkel gehen, denn der Glaube ist Dunkelheit für die Erkenntniskraft. Und da diese Kraft nicht wissen kann, wel-
cherart Gott ist, so muß sie sich in ihr NichtBegreifen ergeben und so ihm entgegengehen. Zu ihrem Heile muß
sie eben das tun, was du verdammst ausschließen muß sie alle deutlichen Inhalte, von denen sie auf dem Wege zu
Gott eher behindert als gefördert wird.

49. O du wirst sagen, daß der Wille müßig bleibt und nicht lieben kann, wenn die Erkenntniskraft nicht deutlich
erkennt ein Zustand, der auf dem Wege des Geistes immer zu meiden ist. Der Wille könne nur das lieben, was von
der Erkenntniskraft erfaßt worden ist. Das gilt freilich für die natürlichen Betätigungen der Seele, bei denen der
Wille nur das liebt, was die Erkenntniskraft deutlich erfaßt. Doch bei der Kontemplation, darin Gott Wesentliches
von sich eingießt, bedarf es keiner deutlichen Bewußtseinsinhalte, keiner Akte des Begreifens. Denn in einem
Nu teilt ihr Gott zugleich Licht und Wärme mit, ein übernatürliches hebevolles Innewerden, durchwärmendem
Licht vergleichbar eine Erleuchtung, die zugleich Liebe erregt, in einer dem Verstande undeutbaren und dun-
keln Weise. Von solcher Gotterfahrung sagt Dionysius, sie sei für die Erkenntniskraft ein dunkler Strahl. Wie das
Begreifen in diesem Vermögen, so ist auch die Liebe in der Willenskraft. So wie dort gottgewirkte Einsicht allge-
mein und dunkel erscheint, ohne unterscheidendes Begreifen, so liebt hier der Wille im Allgemeinen, ohne eine
erkannte Einzelheit zu unterscheiden. Als Licht und Liebe gießt Gott beiden Vermögen, der Erkenntniskraft wie
der Willenskraft, in gleicher Weise seine Mitteilung ein, Verständnis und Liebe. Doch da Gott in diesem Leben
nicht begriffen werden kann, ist das Begreifen dunkel, und dunkel ist die Liebe im Willen. Jedoch mitunter teilt
sich Gott bei diesem zarten Erleben machtvoller mit, oder er dringt stärker in das eine Vermögen als in das andere.
So wird das eine Mal mehr Einsicht als Liebe erfahren, ein anderes Mal mehr Liebe als Einsicht, und mitunter nur
Einsicht ohne Liebe, und wiederum ausschließlich Liebe. Soweit also die Seele natürliche Akte des Verstandes
setzt, kann sie nicht lieben ohne zu erkennen. Doch bei dem, was Gott in der Seele vollzieht, wie er es hier tut,
verhält es sich anders: sehr wohl kann er sich einer einzigen Seelenkraft mitteilen und die anderen ausschließen;
so kann er den Willen durch die inbrünstige Berührung seiner Liebe entflammen, ohne daß die Erkenntniskraft
es begreift so wie jemand vom Feuer erwärmt werden kann, ohne es zu sehen.

5o. So wird sich der Wille oft ergriffen und leidenschaftlich entflammt fühlen, ohne darum irgend etwas sonder-
licher zu verstehen als zuvor. Gott ordnet in der Seele die Liebe, wie es die Braut im Hohenliede sagt: «Er führte
mich in sein Weingelaß und ordnete in mir die Liebe» (Hl 2, 4). So darf die Gelassenheit der Seele hier nicht Be-
sorgnis erregen; unterläßt sie es, in sich Liebeswallungen zu vereinzelten Gegenständen zu erregen, dann erweckt
Gott in ihr die Liebe, berauscht sie insgeheim mit eingegebener Liebe, mithilfe der Gotterfahrung oder auch ohne
bewußten Vorgang. Solch ein Vollzug ist, als ein Akt der Seele, umso köstlicher und verdienstvoller als der Einge-
bende und Erwecker solcher Liebe erhabener ist, der Erwecker Gott.

51. Solche Liebe gießt Gott dem Willen ein, wenn er ihn ledig findet, losgelöst von Sonderneigungen zu Irdischem
oder Überirdischem. Darum sei man darauf bedacht, die Willenskraft von ihren Neigungen losgelöst zu halten.
Wenn sie dann nicht durch irgendein Sondergelüst zur Umkehr verleitet wird, führt Gott sie weiter, auch wenn
sie sich dessen nicht im besonderen bewußt wird; dann erhebt sie sich über alle Dinge hin zu Gott, da sie nach
nichts anderem mehr verlangt. Und ihn, Gott wenn sie ihn auch nicht in deutlicher Sonderheit genießt, wenn sie
ihn auch nicht mit klarer Unterscheidung liebt, so genießt sie ihn dennoch in dieser Eingießung auf allgemeine,
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dunkle, geheime Weise mehr als alle deutlichen Dinge. Denn es ist ihr nunmehr klar bewußt, daß nichts sie so
befrieden kann wie diese stillende Einsamkeit. Und sie liebt ihn über alles Liebenswerte; alles andere Wohltuende
ist ihr fremd geworden und widrig. Nicht versäumt sie sich mehr mit der Freude an vereinzelten Akten. Vorwärts
drängt sie; denn nicht umkehren, um etwas Sinnfälliges zu umfassen, heißt voraneilen zu etwas Unnahbarem, zu
Gott. Und somit ist es kein Wunder, wenn sie sich dessen nicht bewußt wird. So muß die Willenskraft auf ihrem
Wege zu Gott eher losgelöst von allem Reizvollen und Köstlichen vorgehen als daran angeklammert. Und dank
ihrer Ledigkeit von allen Dingen, erfüllt sie dergestalt das Gesetz der Liebe, Gott über alles zu lieben.

52. Ebenso wenig darf es Sorge machen, wenn die Gedächtniskraft ohne das Geleit ihrer Formen und Gestalten
vorgeht. Da Gott weder Form noch Gestalt hat, so gelangt diese Kraft frei von Formen und Gestalten auf siche-
rem Wege näher hin zu Gott. Denn je mehr sie Vorstellungen nachgeht, um so mehr entfernt sie sich von Gott
und um so gefährdeter ist ihr Weg; denn da Gott unausdenkbar ist, kann ihn die Einbildungskraft nicht fassen.

53. Es haben jene geistlichen Führer kein Verständnis für die Seelen, die sich in dieser friedvollen einsamen Kon-
templation befinden. Weil sie selber nicht so weit gelangt sind und selber nicht erfuhren, was es heißt, über die
ruhelosen Meditationen hinauszugelangen, vermeinen sie, die Seelen wären nur müßig. Und so verstören oder
verhindern sie den Frieden gelassener Gotterfahrung, den Gott ihnen hinschenkt, so werden jene auf den Weg
der Meditationen und bildhaften Vorstellungen zurückgenötigt, zum Vollzug innerer Akte. Jene Seelen aber füh-
len dabei in hohem Maße Widerstreben, Trockenheit und Zerstreutheit. Ist es doch ihr Verlangen, in ihrer heili-
gen Muße und friedvollen Sammlung zu verharren. Trotzdem sie in solchem Zustand keine Weide für ihre Sinne
finden, keinen Halt, keinen Antrieb zur Betätigung, reden diese Führer ihnen dennoch zu, auf lustvolle Andachts-
übungen auszugehen, gerade das Gegenteil von dem, was sie anraten sollten. Da aber die derart Geleiteten bereits
über solche Übungen hinausgehoben wurden, beunruhigen sie sich um so mehr, in der Furcht, irrezugehen, und
diese Führer bestärken sie in der Furcht, sie trocknen ihren Geist aus und nehmen ihnen die kostbaren Salbungen,
mit denen Sie von Gott in Einsamkeit und Stille veredelt wurden. Schweren Schaden tun sie damit den Seelen an,
sie in Trauer und Erdenstaub versenkend. Sie verlieren das Eine und leiden fruchtlos durch das Andere.

54. Solche Führer wissen nicht, was Geist ist. Überaus ehrfurchtlos handeln sie gegen Gott, da sie mit ihrer plum-
pen Hand in das Werk seiner Hände hineinpfuschen. Es hat Gott viel gekostet, jene Seelen so weit zu erheben;
und er schätzt es hoch, sie zu jener Einsamkeit, jenem Schweigen ihrer Vermögen und Betätigungen gebracht zu
haben: nun kann er zum Herzen sprechen, wonach es ihn immer verlangt, kann sein Werk vollenden und in der
Seele herrschen mit Überfülle schlichtenden Friedens; hinschwinden läßt er die natürlichen Bewegungen der
Seelenkräfte, die, auch wenn sie die ganze Nacht arbeiten, doch nichts leisten; den Geist weidet er ohne Wirken
und Werk der Sinne; denn der Sinn und sein Gewirk können den Geist nicht fassen.

55. Und wie wert ihm dieses Gestilltsein, diese Einschläferung und Entfremdung der Sinne ist, das zeigt sich in der
eindringlichen, wirksamen Beschwörung, die er im Hohenliede ausspricht: «Ich beschwöre euch, Töchter von
Jerusalem bei den Hinden und Hirschen des Feldes: schreckt meine Geliebte nicht auf, laßt sie schlafen, solange
sie es begehrt» (Hl 5,3). Damit verdeutlicht er, wie hoch er hier Einschläferung und abgeschiedenes Vergessen
schätzt, da er diese so einsamen und zurückgezogenen Tiere anführt. Aber diese Spiritualen wollen es nicht, daß
die Seele zur Ruhe kommt und gestillt wird; immer soll sie nach ihnen arbeiten und immer so wirken, daß sie
Gottes Wirken keinerlei Raum gibt und mit ihren Regungen alles verwischt und austilgt, was er bereits in ihr he-
rausgebildet hat. Den «Füchslein» gleichen jene Führer: sie «zertreten den blühenden Weinberg» der Seele (Hl
2, 15). Und darüber klagt der Herr mit den Worten des Isaias: «Ihr habt meinen Weinberg zertreten» (Is 3, 14).

56 Vielleicht irren sie aus gutem Eifer, da ihr Verständnis nicht so hoch reicht. Allein das nimmt ihnen nicht die
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Verantwortung für die Ratschläge, die sie voreilig erteilen, ohne sich zuvor über den geistigen Weg zu vergewis-
sern, den die Seele geführt wird. Verständnislos fahren sie mit ihrer rohen Hand dazwischen und überlassen sie
nicht dem, der sie versteht; und das ist kein geringfügiges Vergehen, eine Seele mit ihren dreisten Ratschlägen
dahin zu bringen,

unschätzbare Heilsgüter einzubüßen oder gar zerrüttet zu verbleiben. Wer demnach aus Anmaßung irrt, wäh-
rend er wie ein jeder in seinem Beruf zur Einsichtigkeit verpflichtet ist, der wird nach dem Maße der von ihm
verschuldeten Schädigung seine Strafe empfangen. Denn die Sache Gottes kann nur mit offenen Augen und viel
Feingefühl angefaßt werden, zumal wenn es sich um so Erhabenes und Bedeutsames handelt wie die Förderung
dieser Seelen, um ein Wagnis, das beim Gelingen unendlichen Gewinn bringt und beim Mißlingen unendlichen
Verlust.

57. Wolltest du etwas zu deiner Entschuldigung vorbringen wenn ich auch nicht weiß, was , du würdest doch den
nicht entlasten können, der die von ihm betreute Seele niemals aus seiner Gewalt entläßt, aus wer weiß welchen
Rücksichten und Absichten, die nicht ungestraft bleiben werden. Da es gewiß ist, daß eine solche Seele auf dem
Wege des Geistes, (auf dem ihr Gottes Hilfe sicher ist) emporsteigen soll, muß ihre Gebetsweise dem angepaßt
sein; sie bedarf einer anderen, höheren Unterweisung, eines anderen Geistes. Nicht alle wissen Rat bei allen Ge-
schehnissen und Zielsetzungen auf dem Wege des Geistes, nicht alle haben eine so überragende Klugheit, daß sie
in jeder Phase des geistlichen Lebens wüßten, wie eine solche Seele gelenkt werden muß. Zum mindesten darf
solch ein Führer nicht wähnen, daß er selber alles verstünde und daß Gott davon ablassen wolle, selber die betref-
fende Seele heranzubilden. Nicht jeder, der ein Holz zurechthobeln kann, vermag ein Bild daraus zu schnitzen;
und nicht jeder, der es im Groben zu schnitzen weiß, vermag es auszuarbeiten und zu glätten; und nicht jeder, der
es zu bemalen weiß, vermag ihm die letzte Vollendung zu geben. Keiner vermag über seine Kenntnisse hinaus
eine Gestalt auszubilden; überschritten sie diese Grenze, würden sie das Gebild nur zerstören.

58. Und laß uns sehen! du, der du nur abzuhobeln vermagst, das heißt, der du die Seele nur bis zur Weltverach-
tung und bis zur Abtötung ihrer Leidenschaften und Triebe bringst oder bestenfalls im Groben schnitzest und
die Seele bis zur heiligen Meditation und nicht weiter förderst: wie wirst du diese Seele bis zur letzten Vollendung
zarter Bemalung bringen? Solche Vollendung besteht nicht im Abhobeln, nicht im Schnitzen, selbst nicht in der
Umrißgestaltung, sondern in dem Werk, das Gott in der Seele vollbringt. Willst du sie in deiner immer gleichen
Lehre auf die immer gleiche Weise gefesselt halten, dann gleitet sie sicher zurück oder bleibt doch auf der Stelle.
Sag an, ich bitte dich, was kommt dabei heraus, wenn du an diesem Gebild immer nur hobelst und hämmerst,
wenn du immer nur die Seelenvermögen arbeiten lassest? Wann soll dies Abbild vollendet werden? Wann willst
du das Werk der Bildnerhand Gottes überlassen? Ist es möglich, daß du all diese Aufgaben bewältigst, und hältst
du dich für so unvergleichlich, daß die Seele nur deiner bedarf und keines andern?

59. Gesetzt, du genügest für irgendeine Seele, vielleicht für eine solche, die zu höherem Flug nicht befähigt ist.
Aber unmöglich kannst du für all die Seelen genügen, die du nicht aus deinen Händen freigibst. Gott führt eine
jede von ihnen auf anderem Wege; denn es findet sich kaum ein Geist, der in seiner Weise auch nur zur Hälfte mit
der eines anderen übereinstimmt. Wer kann wie Paulus von sich sagen, daß er allen alles sein könne, um alle zu
gewinnen (1 Kor 9, 22)? Du aber vergewaltigst die Seelen auf diese Art, du nimmst ihnen die Freiheit und maßest
dir selber die ganze Weite der evangelischen Lehre an, so sehr, daß du sie nicht nur bei dir festhalten willst, nein,
schlimmer, du ereiferst dich, wenn sie bei einem anderen irgendwelche Klärung gesucht haben. Eine Seele kann
eine Angelegenheit mit einem andern besprechen, weil es vielleicht mißlich wäre, sie mit dir zu beraten oder weil
Gott selber ihr solches eingibt, da jener sie das lehren kann, was du sie nicht lehren konntest. Du aber ich sage es
nicht ohne Scham du machst ihr Auftritte der Eifer sucht, wie sie zwischen Eheleuten vorkommen. Das ist kein
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Eifern für Gottes Ehre oder für das Heil jener Seele denn du wirst nicht so vermessen sein zu behaupten, die Seele,
die dich in dieser Sache verletzte, habe Gott verletzt. Eifern deiner Anmaßung ist das, und deines Hochmutes oder
einer anderen unvollkommenen Regung.

60. Groß ist Gottes Zorn gegen solche. Durch Ezechiel droht er ihnen Strafe an: «Mit der Milch meiner Herde
habt ihr euch genährt und mit ihrer Wolle habt ihr euch bedeckt. Dennoch habt ihr meine Herde nicht geweidet.
Aus euern Händen werde ich meine Herde zurückfordern» (Ez 34, 8).

61.Folglich müssen die Seelenführer den Seelen Freiheit lassen; sie sind verpflichtet, ihnen eine gute Miene zu
zeigen, wenn diese bessere Unterweisung suchen. Denn sie wissen nicht, auf welchem Wege Gott eine Seele för-
dern will, zumal dann, wenn sie mit der bisherigen Unterweisung unzufrieden ist ein Zeichen, daß sie auf solche
Weise nicht mehr gefördert wird. Entweder führt Gott sie nunmehr selber, oder es taugt ihr ein anderer Weg als
der bisher gewiesene, oder der Führer selber ist von seinem Verfahren abgewichen. Das mögen die Seelenführer
beherzigen; eine andere Haltung entspringt törichter Anmaßung und Überheblichkeit oder einem sonstigen An-
spruch.

62. Doch lassen wir dies Verhalten; setzen wir uns mit anderem, mit einem pestgleichen Vorgehen dieser Führer
auseinander, mit einem solchen oder noch schlimmeren Weisen. Es kann geschehen, daß Gott einigen Seelen
heilige Wünsche eingibt, Antriebe, die Welt zu verlassen, die Lebensform zu ändern und ihm zu dienen mit einer
Verachtung der Welt, die Gottes Wunsch und Gottes Führung entspricht. Und da kommen jene mit menschli-
chen Rücksichten und Vernünfteleien, die Christi Lehre und seinem demütigen weitabgewandten Leben zuwi-
derlaufen; sie fußen auf ihrem eigenen Nutzen und Geschmack oder lassen sich von Furcht bewegen, wo nichts
zu fürchten ist. Sie führen jenen Seelen Schwierigkeiten vor Augen, zögern die Entscheidung hinaus; oder noch
schlimmer bemühen sich, ihr Herz eines so heiligen Wunsches zu berauben. Haben sie doch selber nur geringe
Gottesfurcht; ist ihr Geist doch weltlich gewandet und kaum von Christus angerührt. Da sie selber nicht durch
die enge Pforte des Lebens eintreten, lassen sie auch die anderen nicht eintreten. Solchen droht unser Heiland, im
Lukasevangelium: «Wehe euch, ihr habt den Schlüssel zur Erkenntnis euch angeeignet, ihr habt sie euch nicht er-
schlossen, und anderen versperrt ihr den Zugang» (Lk 11, 52). Wahrhaftig, sie verriegeln die Himmelstür, damit
jene, die Rat bei ihnen nachsuchen, nicht hindurchgehen können. Sie wissen wohl, was Gott ihnen geboten hat:
die Einlaßheischenden nicht nur gewähren zu lassen, sondern ihnen zum Eintritt zu verhelfen, ja mehr, sie zum
Eintritt zu nötigen, gemäß den Herrenworten bei Lukas: «Auf, dränge sie, hereinzukommen, damit sich mein
Haus mit Gästen fülle» (Lk 14, 23). Sie aber zwingen sie im Gegenteil, draußen zu bleiben. Wer sich so verhält, ist
ein Blinder, der das Leben der Seele, den Heiligen Geist zu stören vermag. Doch bewirken derartige Seelenführer
noch viele hier nicht genannte Störungen, die einen mit vollem Wissen, die andern aus Unwissenheit. Aber die
einen wie die andern erwartet ihre Strafe. Denn sie sind dazu berufen und verpflichtet, sich über die Tragweite
ihrer Handlungen Klarheit zu verschaffen.

63. Als zweiten Blinden, der die Seele bei dieser Weise der Sammlung verwirren kann, nannten wir den Dämon:
sein Trachten ist, daß die Seele blind sei wie er. Die erhabenen Entrückungen, darin sie die zarten Salbungen
des Heiligen Geistes in sich aufnimmt, erregen bei ihm Ärgernis und Neid; denn er weiß, daß die Seele dadurch
bereichert wird, ja in ihrem Aufschwung ihm ungreifbar wird. Um ihr das zu nehmen, diese Abgeschiedenheit,
die Entfremdung von jedem Geschöpf und von jeder Spur eines Geschöpfes, versucht er, ihre Entrückung mit
einigen verblendenden Wahrnehmungen und umnebelnden Lustgefühlen zu durchsetzen, selbst mit guten. Das
soll die Seele sättigen und zu deutlichen Vorstellungen und sinnenhaften Wirkweisen zurückführen, zurück zu
einem Vergegenwärtigen und Umfangen jener guten Gefühle und Gedanken, damit sie ihr zum Halt dienen auf
ihrem Wege zu Gott. Und auf solche Weise vermag er sie aufs leichteste abzulenken und ihrer Abgeschiedenheit
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zu entreißen, ihrer Sammlung, darin der Heilige Geist ihr geheime Herrlichkeit verleiht. Da nun die Seele von
Natur zum Fühlen und Genießen geneigt ist, und da sie sogar in Unkenntnis ihrer Berufung mitunter auf solche
Gefühle ausgeht, so heftet sie sich unbedenklich an jene lustvollen Eindrücke, die ihr der Dämon erregt, und
gibt so die gottgewährte Einsamkeit preis. Weil sie in jener Abgeschiedenheit und Stille ihrer Vermögen nichts
schaffte, scheint ihr dies andere, bei dem sie etwas schafft, das Bessere. Ein großer Jammer ist es, daß die Seele sich
selber nicht versteht und es deshalb vorzieht, als kleinen Bissen eine Sonderwahrnehmung, eine Andachtslust zu
sich zu nehmen, statt daß Gott selber sie ganz zu sich nimmt. Denn solches tut Gott in der von ihm bewirkten
Abgeschiedenheit: mit jenen Salbungen des Geistes zieht er die Einsame ganz in sich.

64. Auf solche Weise, mit einem Etwas, fast mit einem Nichts, verursacht der Dämon schwersten Schaden. Durch
ihn verliert sie gewaltige Schätze. Mit einem winzigen Köder lockt er sie, gleich einem Fisch, aus den insellosen,
einhelligen Gewässern des Geistes, darin sie in Gott versunken war, ohne Halt für Hände und Füße. Damit zieht
er sie ans Ufer, wo sie fußen und fassen kann, wo sie mühselig über den Boden hinkriecht, anstatt in den lautlosen
Wassern Siloes zu schwimmen, zu baden in göttlichen Salbungen. Und erstaunlich ist es, wie eifrig der Dämon
einer solchen Seele nachstellt; freilich wiegt bei ihr eine geringfügige Schädigung schwerer als größere Schädi-
gungen bei vielen anderen Seelen. Es gibt kaum Seelen auf solchem Aufstieg, denen er nicht erhebliche Schädi-
gungen und Verluste zufügt. Denn dieser Verderber stellt sich arglistig beim Übergang zwischen sinnenhaftem
und geisthaftem Verhalten auf, die Seelen trüglich mit eben diesem Sinnenhaften lockend, mit quer in den Weg
gestellten Empfindungsreizen. Und nicht denkt die Seele, daß solcher Anreiz ihr Verlust bringt; und so unterläßt
sie es, in das Innere des Bräutigams einzugehen und bleibt auf der Schwelle haften, um rückwärtsschauen zu kön-
nen, auf das, was draußen im Gebiet des Sinnenhaften vorsichgeht. «Alles Hohe sieht der Dämon,» sagt Job (Job
41, 25), das heißt, er sieht die geistige Höhe der Seelen, um sie anzufechten. Wenn sich die Seele nun zur Höhe
der Entrückung erheben sollte, so mag es sein, daß er sie nicht mehr auf die bezeichnete Weise zerstreuen kann;
dann bemüht er sich, zum mindesten Entsetzen, Angstzustände oder körperliche Schmerzen zu erregen oder
irgendwelche äußeren Empfindungen, wie Geräusche, um sie so aus der geistigen Vertiefung herauszureißen. Erst
wenn all das versagt, läßt er sie in Ruhe. Doch zumeist glückt es ihm leicht, diese erlesenen Seelen abzulenken
und zu verstören, was ihm lieber ist als viele geringere zugrundezurichten; und so fällt es ihm nicht schwer, immer
wieder seine Künste spielen zu lassen. In diesem Zusammenhang läßt sich verstehen, was Gott zu Job über ihn
sagte (Job 40, 18): «Verschlingen kann er einen Strom, als wäre er nichts; und er zweifelt nicht, daß der Jordan
in seinem Rachen Raum hat»; wobei unter Jordan die höchste Vollendung zu verstehen ist. Und weiter: «Mit
offenen Augen wird er von ihm geangelt werden; und mit Pfriemen wird er ihm die Nasenflügel durchbohren.»
Gemeint sind die befallenden Vorstellungen, mit denen er der Seele zusetzt und ihren Geist ablenkt; denn die
Luft, die von den Nasenflügeln zusammengehalten wird, entweicht bei deren Durchbohrung nach vielen Seiten.
Und weiter sagt er:

«Unter seinen Füßen werden die Sonnenstrahlen sein; und Gold wird er verstreuen, als wäre es Schmutz» (Job
41, 21). Denn wunderbare Strahlen göttlicher Eingebungen nimmt er den erleuchteten Seelen; und köstliches
Gold von göttlicher Prägung entwendet er den reichen Seelen, um es zu vergeuden.

65. O habt acht, Seelen! Zurzeit, wo Gott euch so erhabene Gnaden erweist und euch, die Abgeschiedenen,
Gesammelten, selber emporführt und euch eurem mühseligen Sinnenwesen enthebt, fallt nicht ins Sinnenhafte
zurück! Laßt ab von euren Betätigungen! Wohl haben sie euch zuvor geholfen, als ihr begannet, die Welt und
euch selber zu verleugnen; doch jetzt, wo Gott euch die Huld erweist, selber der Tätige zu sein, sind sie großes
Hemmnis und Hindernis. Habt vielmehr Sorge, mit euern Vermögen auf nichts einzugehen, sondern sie von
allem loszulösen; das ist das Einzige, was ihr in solchem Zustand von eurer Seite tun müßt, in Verbindung mit
jenem liebevollen, einfachen Hinmerken, von dem ich zuvor sprach, mit einem bereitwilligen, ungezwungenen
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Hinmerken. Denn keine andere Gewalt sollt ihr euch antun, als euch loszulösen und von allem freizumachen, um
die Glätte eures Friedens nicht aufzuwühlen; und dann wird euch Gott, unbehindert von euch, mit himmlischer
Erfrischung speisen.

66. Der dritte Blinde ist die Seele selber, die in Selbstverkennung sich verstört und schädigt. Sie weiß nichts als
mit Sinnesempfindungen und Gedankenfolgen zu arbeiten; und wenn Gott sie nun in jene entrückte Einsamkeit
versenken will, darin sie ihre eigenen Kräfte nicht betätigen kann, dann meint sie solche Untätigkeit durch Akte
überwinden zu müssen. Und so wird die Seele zerfahren, unlustig und trokken, während sie zuvor den gelassenen,
stillen Frieden des Geistes genoß, den Gottes Großmut ihr insgeheim verlieh. Und es kann geschehen, daß Gott
darum kämpft, sie in jener verschwiegenen Beschwichtigung festzuhalten, und daß sie ihm hartnäckig mit ihrer
Einbildungskraft und ihrem Verstände widerstreitet, um mit eigenen Kräften sich zu betätigen. Hierin gleicht sie
dem kleinen Kinde, zu dem die Mutter sich beugt, um es auf den Arm zu nehmen: das Kind aber wehrt sich mit
Schreien und Strampeln, um auf eigenen Füßen zu gehen; und so kommt es weder selber zum Gehen, noch läßt
es die Mutter gehen. Oder es ist, als wolle ein Maler ein Bild ausführen, und es rüttle ein anderer daran: so entsteht
entweder nichts, oder das Bild wird verwischt.

67. Es muß sich die Seele bewußt sein: wenn sie auch in solchem Zustand kein Fortschreiten, kein Geschehen
gewahrt, sie schreitet viel weiter fort, als wenn sie sich auf eigenen Füßen bewegte; denn Gott trägt sie in seinen
Armen voran. Und so empfindet sie das Schreiten nicht, obgleich sie im Schrittmaß Gottes hingetragen wird. Und
wenngleich sie ihre Kräfte nicht betätigt, erwirkt sie mehr als wenn sie es täte; denn Gott ist der Wirkende. Und
daß sie solches nicht zu gewahren vermag, ist nicht erstaunlich. Denn was Gott nunmehr in der Seele formt, das
ist den Sinnen unzugänglich. Es vollzieht sich im Schweigen so wie der Weise sagt: «Der Weisheit Worte werden
im Schweigen empfangen» (Prd 9, 17). Es überlasse sich die Seele den Händen Gottes. Nicht liefere sie sich den
eigenen Händen aus und nicht den beiden andern Blinden. Tut sie das nicht und setzt sie nicht ihre Vermögen ins
Spiel, dann geht sie sicher.

68.Doch kehren wir zurück zu den tiefen Höhlen der Seelenkräfte. Das Leiden der Seele ist gewaltig, wenn Gott
sie in diesen Tiefen mit den erlesensten Salbungen des Heiligen Geistes auf die Einigung mit sich vorbereitet.
Und diese Salbungen sind von so zarter Gewalt, daß sie in den innersten Kerngrund der Seele eindringen und
sie mit ihren Würzen vorbereiten, bis ihr Verlangen und Schmachten ebenso riesig wurde, wie es die Leere dieser
Höhlungen ist.

Wenn aber diese Salbungen, als Vorbereitung der Seele bis in ihre Abgründe für ihre mystische Vermählung mit
Gott, bereits so unvergleichlich sind, wie müssen wir uns erst die Erfülltheit mit Einsicht, Liebe und Seligkeit vor-
stellen, die in der Gotteinigung von den Vermögen des Erkennens, des Wollens und Vergegenwärtigens gewon-
nen wird! Sicherlich unermeßlich wie das Dürsten und Schmachten jener Abgründe wird nunmehr ihre Erfüllt-
heit, ihre Stillung und Wonne sein. Und entsprechend der meisterhaften Vorbereitung wird auch die Schönheit
des Gewonnenen sein und die Erlesenheit des Genusses für den Sinn.

69. Als Sinne der Seele wird hier die Kraft und Fähigkeit bezeichnet, mit denen die Substanz der Seele die geist-
haften Gegenstände jener Kräfte empfindet und genießt. Mit diesem Sinn genießt sie Gottes Hingabe, seine
Weisheit und Liebe. Zutreffend nennt darum die Seele ihre Vermögen des Erinnerns, Erkennens und Wollens in
jenem Verse «des Sinns abgründige Höhlen»; denn mit ihrer Hilfe und in ihnen empfindet und genießt sie aufs
tiefste die Erhabenheiten göttlicher Weisheit und Kraft. Wirklich kann die Seele von tiefen Höhlen sprechen. Da
sie fühlt, wie in diese die tiefen Einsichten und Widerscheine der Feuerleuchten eingehen, so erkennt sie auch,
daß sie soviel Aufnahmefähigkeit, soviel schoßgleiche Buchten besitzt, wie sie von Gott unterschiedliche Einsich-
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ten, Genüsse und Freuden empfängt. All dieses wird in dem Sinn der Seele empfangen und zusammengehalten,
alles, was die abgründigen Höhlen für solchen Sinn speichern; in solcher Fassungskraft erlebt, besitzt und genießt
die Seele alles Empfangene in seiner Ganzheit. So wie der innere Sinn der Phantasie angereichert wird von den
Wahrnehmungen der äußeren Sinne, und wie er zu ihrer Schatzkammer wird, so ist der innere Sinn der Seele
Schatzkammer der Herrlichkeiten Gottes; und er ist in dem Maße glanzvoll und reich, wie er von diesem hehren,
strahlenden Besitz in sich bergen kann.

nicht länger blind von Dünsten

70. Blind war dieser Sinn, bevor Gott ihn durchhellte und erleuchtete. Es gibt bei dem Gesichtssinn zwei Ursachen
für den Ausfall des Sehvermögens: Dunkelheit der Umgebung oder Blindheit. Gott ist das Licht und der Gegen-
stand der Seele. Wenn ihr dies Licht nicht leuchtet, dann ist sie im Dunkeln, mag ihre Sehkraft auch ausgezeichnet
sein. Verharrt sie in Sünde, oder sind ihre Triebe von Gott abgewandt, dann ist sie blind. Und in solcher Blindheit
sieht sie nicht ihre eigene Finsternis, nicht ihre Unwissenheit, auch wenn Gottes Licht auf sie eindringt. Bevor
Gott sie in ihrer Umwandlung erneuerte, war sie verdunkelt und unwissend gegenüber den göttlichen Heilsgü-
tern wie es der Weise von seinem Zustand vor seiner Erleuchtung durch die Weisheit bekennt: «Sie erleuchtete
all meine Unwissenheit» (Sir 51, 26).

71. In geisthaftem Sinne besteht ein Unterschied zwischen «im Dunkeln sein» und «in Finsternis sein». Dem-
nach heißt «in Finsternis sein» verblendet, in Sünde sein. Im Dunkeln kann man jedoch ohne Sünde sein, und
das auf zwei Weisen: durch fehlendes Licht für natürliche Gegenstände sowie für einige übernatürliche Dinge.
Und gegenüber dem Natürlichen wie dem Übernatürlichen, so bekennt die Seele, war ihr Sinn noch im Dun-
keln vor jener unschätzbaren Salbung. Bevor der Herr sagte: «Es werde Licht!» lagerten Finsternisse über den
abgründigen Tiefen des Seelensinnes. Und je abgründiger dieser ist, um so abgründiger sind seine Buchtungen,
um so tiefer und dichter sind die Finsternisse vor dem Übernatürlichen, wenn Gott, das Licht dieses Sinnes, ihn
nicht erleuchtet. Und es ist ihm unmöglich, die Augen zum göttlichen Licht zu erheben und die Gedanken darauf
zu richten, da es ungesehen und darum ihm unbekannt blieb. Deshalb kann er dies Licht auch nicht erstreben,
vielmehr erstrebt er die Finsternisse, da er sie kennt. So gleitet er von Finsternis zu Finsternis, von jener Finsternis
geführt. Denn eine Finsternis kann nicht führen, es sei denn, sie führe zu einer anderen Finsternis. So sagt David:
«Der Tag kündet es dem Tag, und die Nacht gibt ihr Wissen an die Nacht» (Ps 18, 3). So ruft ein Abgrund den
andern: ein Abgrund des Lichtes ruft einen andern des Lichtes, ein Abgrund der Finsternis einen solchen, da
Gleiches sich zu Gleichem findet. Nachdem aber das Licht der Gnade auf die Seele niedergestrahlt war und den
Abgrund ihres Geistes damit aufgehellt hatte, nachdem Gott sie seinem Licht erschloß und sie vor sich wohlge-
fällig machte, da rief dieser Abgrund der Gnade einen andern Abgrund der Gnade: die Umwandlung der Seele in
Gott. Mit solcher Umwandlung wird das Auge des Sinnes so aufgehellt und so annehmbar für Gott, daß Gottes
Licht und der Seele Licht eines genannt werden können. In dieser Vereinigung des natürlichen Lichtes der Seele
mit dem übernatürlichen Gottes ist es das übernatürliche allein, das hinausstrahlt so wie das erste Licht, das Gott
schuf sich derart mit dem Sonnenlicht vereinigte, daß nunmehr das Licht der Sonne allein hinausstrahlte, ohne
daß darum das andere erlosch.

72. Auch war dieser Sinn ein blinder wegen seines Geschmacks an anderen Dingen. Denn die Blindheit des hö-
heren, vernünftigen Sinnes besteht in dem Trieb, der sich gleich Dünsten und Wolken quer über das Auge der
Vernunft legt und den Blick auf das Sichtbare ihm benimmt. Und sofern der Trieb jenem Sinn einen Reiz dicht
vor Augen stellte, war er blind für das Große, für Gottes Pracht und Schönheit hinter solchem Gedünst. Es genügt
der kleinste Gegenstand, der auf die Augen gelegt wird, um den Blick für Gewaltiges, unmittelbar vor den Augen
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Ragendes abzudichten; und so genügt ein leichtes Gelüst, ein eitler Vorgang in der Seele, um die göttliche Herr-
lichkeit zu verdekken, die hinter den von der Seele beliebten Gelüsten und Genüssen bereitsteht.

1 Da Gott das Licht am ersten Schöpfungstag, die Sonne aber erst am dritten schuf. Vgl. dazu Thomas, Summa
Theologica I q 67 a 4 ad 2.

73. O wer könnte hier darlegen, wie unmöglich es für die begehrliche Seele ist, das Göttliche nach seinem Wesen
zu beurteilen! Denn für solches Urteil muß Gelüst und Genuß gänzlich ausgetrieben werden. Sonst trüben sie
das Urteil, und die Seele kommt unvermeidlich dahin, das Göttliche für nichtgöttlich und das NichtGöttliche
für göttlich zu halten. Mit diesem Gewölk des Triebes vor der Urteilskraft gewahrt die Seele nichts als Dunst, ein
Gewoge bald von dieser, bald von jener Farbe. Und diesen Dunst hält sie für Gott, weil sie nichts anderes gewahrt
als Dunst, der ihren Sinn überdeckt und ihn für Gott unempfänglich macht. So verhindert Sinnenhaftes, Gelüst
und Genuß, das Gewahren des Erhabenen. Der Weise macht solches wohlverständlich: «Die Eitelkeit verdunkelt
trügerisch die Güter; und die Unbeständigkeit der Begier verkehrt den geraden Sinn» (Wh 4, 12). Gemeint ist
das klare Urteil.

74. So werden jene, deren Triebe und Gelüste nicht hinreichend vergeistigt, sondern noch irgendwie animalisch
sind, das für etwas Großes halten, was dem Geiste niedrig und kläglich ist, was sich aber dem Sinnenhaften, nach
dem sie noch leben, am meisten annähert; umgekehrt werden sie das geringschätzen, was der Geist am höchsten
schätzt, das, was sich am meisten vom Sinnenhaften entfernt. Und mitunter halten sie solches sogar für Wahnsinn,
wie es Paulus bezeugt: «Der Sinnenmensch ist nicht empfänglich für das Geistige Gottes; ihm ist solches Wahn-
sinn; und nicht vermag er es zu begreifen» (1 Kor 2, 14). Als Sinnenmensch ist hier der zu verstehen, der immer
noch nach seinen natürlichen Trieben und Gelüsten lebt. Wohl mögen einige dieser Gelüste vom Geist her auf
den Sinn übergreifen; allein wenn der Mensch sich solcher Regung mit seinen natürlichen Trieben bemächtigt,
werden solche Regungen zu reinnatürlichen. Mag der Gegenstand oder der Beweggrund übernatürlich sein, falls
der Trieb im Natürlichen wurzelt und wächst, bleibt er natürlicher Trieb. Denn er verhält sich seinem Wesen nach
kaum anders, als wäre er aus natürlichem Beweggrund und Gegenstand hervorgegangen.

75. Nun wirst du mir einwenden: danach würde die Seele Gott nicht übernatürlich erstreben; und so wäre ihr
Begehren vor Gott nicht verdienstvoll. Ich antworte: es ist wahr, daß der Seele Begierde nach Gott nicht immer
übernatürlich ist, sondern nur dann, wenn Gott sie eingießt und ihr die Kraft des Anstrebens verleiht; und solches
Verlangen ist sehr verschieden von dem natürlichen Begehren, das gar nicht oder nur sehr wenig verdienstvoll ist,
solange Gott es nicht bekräftigt. Wenn also du, aus Eigenem, Begehren nach Gott hegen willst, so ist und bleibt
das eine natürliche Begierde, solange bis Gott dich übernatürlich erleuchten will. Willst du also von dir aus dein
Begehren an geisthafte Dinge heften, willst du dir aus ihnen Lust aneignen, dann betätigst du deinen natürlichen
Trieb, dann verblendest du deine Augen mit Dunst und bist ein Triebwesen. Und dann hast du kein einsichti-
ges Urteil über das Geisthafte, das alle natürlichen Sinne und Triebe übersteigt. Und wenn du weiterhin Zweifel
hegst, dann weiß ich dir nichts anderes zu sagen, als daß du meine Worte nochmals lesest und sie vielleicht dann
verstehst. Denn bereits ausgesprochen ist die wesentliche Wahrheit. Sich darüber weiter zu verbreiten, ist nicht
angebracht.

76.Dieser Sinn der Seele, der zuvor dunkel war ohne Gottes Licht und blind in seinen Trieben und Neigungen,
ist jetzt bis in seine tiefsten Buchten hinein klar durchleuchtet dank dieser Einigung mit Gott, ja mehr: er ist jetzt
selber ein ausstrahlendes Licht mitsamt allen Höhlungen seiner Vermögen.

in fremder Himmelsreine
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dem Liebsten beides, Licht und Wärme spenden

77Da nun diese Höhlungen der Vermögen schon so wundergleich mit den hehren Strahlen jener Feuerleuchten
verschmolzen sind, mit diesen klaren Brünsten in der Seele, so entsenden sie über ihre Gotthingabe hinaus den
gleichen Strahlglanz, den sie in beseligter Liebe empfangen haben in Gott zu Gott zurück. Hingeneigt in Gott zu
Gott, sind diese Abgründe in der Ausstrahlung der göttlichen Leuchten selber zu Feuerleuchten geworden, die
dem Geliebten das gleiche Licht, die gleiche Liebesglut hinschenken, die sie von ihm empfangen. Auf die gleiche
Weise, wie sie die Lichtbrunst empfingen, geben sie diese an ihn, der sie gab und sie wieder empfängt; und sie tun
es mit dem gleichen Schönheitsglanz, den er ihnen gibt so wie das Fensterglas beim Auftreffen der Sonne blen-
denden Glanz zurückwirft. Nur ist jener andere Widerschein erhabener, da der Wille dabei ins Spiel tritt.

78. In fremder Himmelsreine das heißt, fremd und unzugänglich allem gewöhnlichen Denken, allem Ausdruck,
aller Weise. Denn der Vollkommenheit, womit die Erkenntniskraft, vereint mit Gottes Erkennen, die göttliche
Weisheit empfängt, entspricht die Vollkommenheit, womit die Seele sie gibt. Sie kann dies Vollkommene nur in
der Weise geben, wie es ihr gegeben wurde. Und entsprechend der Vorzüglichkeit, in der der Wille mit der Güte
vereint ist, gibt sie Gott in Gott eben diese Güte zurück, denn sie empfängt ja nur, um zu geben. Und entsprechend
der Vollkommenheit, womit sie Gottes Großheit aufnimmt, und geeint mit dieser, strahlt und lodert sie Liebe aus.
Und der Vorzüglichkeit anderer Eigenschaften Gottes, wie Stärke, Schönheit, Gerechtigkeit, die er hier der Seele
mitteilt, entspricht die Vorzüglichkeit, womit der Sinn in seinem Geliebten freudig an seinen Geliebten gibt die
gleiche feurige Helle, die er von seinem Geliebten empfängt. Mit ihm eines geworden, ist sie in gewisser Weise
Gott durch Teilhabe. Doch ist sie das noch nicht so vollkommen wie im andern Leben; sie ist, wie wir es nannten,
gleich Gottes Schatten. Da sie kraft ihrer wesenhaften Überformung zu Gottes Schatten geworden ist, so wirkt sie
in Gott durch Gott, was er in ihr durch sich selber wirkt; und sie tut es auf seine Weise. Denn der Wille der beiden
ist eins; und so ist Gottes Wirken eins mit ihrem Wirken. Wenn Gott sich demnach mit freiem, gnadenreichem
Willen ihr hingibt, so tut sie das gleiche, kraft ihres Willens, der um so freier und freigebiger ist, je mehr er mit Gott
geeint ist: in Gott schenkt sie Gott an Gott selber. Und es ist eine wahrhafte und vollständige Gabe der Seele an
Gott. Denn hier wird es der Seele bewußt, daß Gott wirklich ihr Eigen ist, und daß sie, angenommen von Gott als
Gottes Kind, ihn mit dem Recht des Erben zueigen hat. Gott in seiner Huld gab sich selber ihr hin. Und so kann
sie ihn als ihr Eigen gemäß ihrem liebenden Willen verschenken und mitteilen : so gibt sie ihn ihrem Geliebten,
gibt ihn an Gott selber, der sich ihr hingab. Nach ihrem Willen gibt sie ihm soviel zurück, wie sie von ihm emp-
fängt; und so zahlt sie Gott zurück, was sie ihm schuldet.

79 Die Seele schenkt ihm als ihr Eigenes den Heiligen Geist, mit willentlicher Hingabe, damit er in diesem Geiste
sich nach seinem Wert liebe. Und damit gewinnt sie unergründliche Wonne und Seligkeit; wird sie doch inne,
daß sie Gott etwas ihr Eigenes schenkt, eine Gabe, die ihm nach seinem unendlichen Sein entspricht. Und wenn
die Seele Gott auch nicht in Wirklichkeit Gott geben kann, weil er in sich selber immer der gleiche ist, so tut sie
es doch von sich aus in aller Vollkommenheit und Wahrhaftigkeit, alles hingebend, was er ihr gab, weil sich die
Liebe nur an solcher Gleichheit von Geben und Nehmen ersättigt. Und Gott ist befriedigt von solcher Gabe der
Seele denn geringeres könnte ihn nicht zufriedenstellen. Er weiß ihr Dank; wie für ein Geschenk aus dem Schatz
der Seele. Und in solcher Freude des Gebens liebt auch die Seele wie mit neu anhebender Liebe. Und so entsteht
zwischen Gott und der Seele wirklich eine wechselseitige Liebe, in Übereinstimmung mit der ehelichen Vereini-
gung und Hingabe, wobei das Gut der beiden, nämlich die göttliche Wesenheit, von jedem auf freie Weise beses-
sen wird, auf Grund der freiwilligen Hingabe des einen an den anderen. Und einer sagt zu dem anderen, was der
Gottessohn bei Johannes zum Vater sagt: «Alles, was mein ist, ist dein; und was dein ist, ist mein; und in solchem
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Austausch bin ich verherrlicht» (Joh 17, 10). Solches vollzieht sich im anderen Leben, im beseligten Genießen,
ohne Unterbrechung; hier jedoch geschieht es, wenn Gott in der Seele das Bewußtsein ihrer Umwandlung er-
weckt, ob wohl der Vollzug noch nicht so vollkommen ist wie im andern Leben. Daß die Seele ein so großes
Geschenk darbringen kann, obgleich es ihr eigenes Sein und Können weit übersteigt, das ist unzweifelhaft. Denn
es kann ja auch einer, der über viele Völker und Reiche herrscht, die viel gewichtiger sind als er, sie dennoch nach
seinem Belieben verschenken.

80. Dies ist die große Befriedigung und Genugtuung der Seele, Gott offensichtlich mehr zu geben, als sie in sich
ist und wert ist Gott als ihr Eigentum mit größter Freigebigkeit an Gott selber zu vergeben, mit der gleichen gött-
lichen Helle und göttlichen Glut, die sie empfängt. Und solches vollzieht sich im anderen Leben kraft des Lichtes
der Glorie und in diesem kraft des ganz aufgehellten Glaubens. Auf solche Weise geben «des Sinns abgründige
Höhlen ohne Enden nicht länger blind von Dünsten in fremder Himmelsreine» dem Liebsten beides, Licht und
Wärme. Beides zusammen denn es teilen sich Vater, Sohn und Heiliger Geist zugleich der Seele mit, als Feuer-
leuchten der Liebe.

81. Die strahlende Vollendung, mit der die Seele solche Hingabe ausführt, sei hier kurz vermerkt. Es kann gesagt
werden, daß die Seele hier einen Widerschein des Himmelsglanzes genießt, dank der Einigung der Erkenntnis-
kraft und des Gefühls mit Gott. Und in dankbarer Entzückung über so große Gunst vollzieht sie diese Hingabe
Gottes und ihrer selbst an Gott wundersam hold. In der Liebe neigt sich die Seele zu Gott in fremder Himmels-
reine, und ebenso bietet sie sich ihm in diesem Widerschein der Glorie, und ebenso in ihrem Gotteslob, ihrer
Danksagung.

82. In der Liebe scheinen bei der Seele vor allem drei Vollkommenheiten hervor: der erste Vorzug ist, daß die See-
le nicht um ihretwillen Gott liebt, sondern um seinetwillen ein staunenswerter Vorzug, denn die Seele liebt kraft
des Heiligen Geistes so, wie der Vater und der Sohn sich lieben. Das bekundet der Sohn durch den Evangelisten
Johannes: « Die Liebe, mit der du mich liebtest, sei in ihnen und ich in ihnen» (Joh 17, 26). Der zweite Vorgang
ist, Gott in Gott zu lieben; denn in dieser Einigung geht die Seele ungestüm in Gottesliebe auf, und Gott gibt sich
mit großer Gewalt an die Seele hin. Der dritte Vorzug bei dieser Liebe ist, Gott als den zu lieben, der er ist. Liebt sie
ihn doch nicht nur, weil er etwa für sie freigebig, gut oder beseligend ist; viel feuriger liebt sie ihn, weil er in seiner
Ganzheit all dieses wesentlich ist.

83. Und bei jenem Widerschein der beseligenden Glorie besitzt sie drei wunderbare wesentliche Vorzüge: die
Seele genießt hier Gott durch Gott selber. Denn da die Seele ihre Erkenntniskraft in die Allmacht, Weisheit, Güte
und andere göttliche Eigenschaften einsenkt, wenn auch nicht so vollständig wie im andern Leben, genießt sie
frohlockend all das Erkannte im Einzelnen. Der zweite Hauptvorzug bei solcher Entzückung ist die Reinheit, mit
der sie ausschließlich Gott aufnimmt, ohne irgendeine Beimischung von Geschöpflichem. Der dritte Vorzug ist
es, ihn nur nach seiner Wesenheit zu genießen, ohne Beimischung einer eigensüchtigen Befriedigung.

84. Auch bei der Lobpreisung, die von der Seele in dieser Einigung Gott dargebracht wird, zeigen sich drei Vorzü-
ge. Die Seele lobpreist Gott in dem Bewußtsein, daß sie dazu

berufen, dafür geschaffen ist. So wie es Isaias verkündet: Dies Volk bildete ich für mich. Lobpreisungen soll es mir
singen» (Is 43, 21). Die zweite Vollkommenheit des Gotteslobes ist es, daß es vom Dank für die empfangenen
Heilsgüter und von der Freude am Gotteslob beschwingt wird, nie dritte Vollkommenheit solchen Lobes ist es,
daß es Gott um seiner selbst willen preist, und daß die Seele auch wenn es ihr keinerlei Freude brächte, Gott loben
würde, weil er ist.
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85. Auch ihre Dankgebete weisen drei Vorzüge auf. Sie sagt Dank für alles Empfangene, für natürliche und geist-
hafte Gaben und für die Segnungen. Der zweite Vorzug ist die große Erquickung, die ihr das Dankgebet bereitet;
denn mit großem Ungestüm wird sie zur Danksagung hingerissen. Die dritte Vollkommenheit ist die Danksa-
gung an Gott für das, was Gott ist eine viel stärkere und köstlichere Weise des Dankes.

vierte Strophe

O Leuchten voll von Brünsten,


dank deren Widerscheine
des Sinns abgründige Höhlen ohne Enden
nicht länger blind von Dünsten
in fremder Himmelsreine
dem Liebsten beides, Licht und Wärme, spenden!

Erläuterung

1. Hier möge Gott mir seine Gunst gewähren. Denn ich bedarf ihrer wahrhaftig gar sehr, um die Tiefe dieser Kan-
zone auszudeuten. Und wer diese Deutung lesen wird, bedarf des Aufmerkens. Denn wenn er keine Erfahrung
besitzt, mag sie ihm etwas dunkel und weitläufig scheinen, während sie für den Erfahrenen klar und erquickend
sein wird. In dieser Kanzone dankt die Seele ihrem Gemahl inbrünstig für die erhabenen Gnaden, die ihr aus
der Einigung mit ihm hervorgehen. Und sie spricht ihm von den zahlreichen und tiefen Einsichten in das eigene
Wesen, die allesamt liebreich ihre Kräfte und Sinne erleuchten und durchflammen. Kräfte und Sinne der Seele,
vor dieser Einigung dunkel und blind, sind jetzt erhellt und liebeglühend genug, um dem, der sie erleuchtete und
entzündete, Liebe und Glut zurückzuschenken. Ist doch der wahrhaft Liebende erst dann befriedigt, wenn er al-
les, was er ist und wert ist, alles, was er besitzt und empfängt, dem Geliebten zubringt. Und je mehr er es ist, desto
inniger erfreut ihn das Hingeben. Darüber jubelt die Seele, daß sie mit der empfangenen Erleuchtung und Liebe
den Geliebten anstrahlen und lieben kann.

0 Leuchten voll von Brünsten

2. Zwei Eigenschaften haben die Leuchten: sie erhellen und erwärmen. Zum Verständnis dieser Leuchten, von
denen die Seele erwärmt und erhellt wird, sei gesagt: Gott ist in der Ganzheit seines einfachen Wesens die ganze
erhabene Kraft seiner Eigenschaften. Allmächtig ist er, weise und gut, barmherzig und gerecht, stark und hebreich
und eine Unendlichkeit von Herrlichkeiten, die wir nicht kennen. Da er all dieses in seinem einfachen Wesen ist,
und mit der Seele vereinigt ist, mag er ihr wohl den Sinn öffnen und sie in ihm all diese Kräfte und Herrlichkeiten
gewahren lassen, darunter seine Allmacht, Weisheit, Güte, Barmherzigkeit. Wohl mag er sie einsehen lassen, wie
jede dieser Eigenschaften das Wesen Gottes selber ist, in einer Person verdeutlicht, im Vater oder im Sohne oder
im Geiste, wobei jede Eigenschaft Gott selber ist und Gott unendliche Liebe und unendliche Feuersbrunst. Jede
dieser unzählbaren Eigenschaften leuchtet und wärmt wie Gott; jede gleicht einer Fackel, die der Seele zugleich
Licht und Liebesglut spendet.
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3. Und weil die Seele in einem einzigen Vollzug der Gotteinigung die Einsicht in diese Eigenschaften gesamt-
haft empfängt, so ist ihr der eine Gott zugleich die Vielzahl seiner Eigenschaften, die jede für sich ihr in Weisheit
leuchten und in Liebe glühen. Eine jede nimmt sie als unterschieden wahr; von einer jeden wird sie zur Liebe ent-
flammt. So hebt die Seele, von jeder einzelnen und von allen zusammen entflammt, sie alle einzeln und zugleich
in ihrer Gesamtheit. Wie all diese Eigenschaften ein einziges Wesen sind, so sind all diese Leuchten eine einzige
Leuchte, die mit ihren Eigenschaften und Kräften gleich vielen Leuchten strahlt und glüht. Bei dem Auffassen sol-
cher Leuchten, bei diesem einen Vollzug hebt die Seele dank jeder einzelnen und dank aller zusammen, in einer
Liebe dank jeder einzelnen zu jeder einzelnen, dank ihrer Gesamtheit zu ihrer Gesamtheit. Denn die Strahlung
jener Leuchte aus Gottes Sein, insofern er allmächtig ist, erleuchtet und entflammt ihre Liebe zu Gott dem Allge-
waltigen. Hier ist ihr die Gottheit eine Leuchte der Allmacht, nach dieser seiner Eigenschaft sie erhellend.

Und die Strahlung aus Gott, der Weisheit ist, schenkt ihr erleuchtende und durchglühende Liebe zu Gott dem
Allweisen. Der Glanz jener Leuchte, Glanz des Gottes, der Güte ist erleuchtet und entflammt die Seele in Liebe
zum allgütign Gott; und so ist Gott für sie eine Leuchte der Güte, und auf gleiche Weise eine Leuchte der Gerech-
tigkeit und des Starkmutes, der Barmherzigkeit und aller anderen Eigenschaften, die hier der Seele insgesamt in
Gott gegenwärtig werden. Das Licht, das sie von allen zugleich empfängt, überträgt auf sie Gottes glühende Liebe,
mit der sie wiederum Gott liebt, ihn, der alle diese Dinge ist. Bei solcher Wesenskundgabe, die Gott der Seele
gewährt, wohl der höchsten Gnade in diesem Leben, ist er für sie gleich unzählbaren Leuchten, die Gotteskunde
und Gotteshebe bringen.

4. Diese Leuchten sah Moses auf dem Berg Sinai, als Gott vorüberging und er sich niederwarf und einige dieser
Ausstrahlungen nannte: «Herr, König der Könige, barmherziger, sanftmütiger Gott, geduldiger, mitfühlender,
wahrhaftiger, der du Nachsicht übst gegen Tausende, der du hinwegnimmst die Sünden, Übeltaten und Verbre-
chen; denn niemand ist vor dir unschuldig aus eigenem Vermögen» (Ex 34,67). Wie hieraus hervorgeht, waren
die höchsten Eigenschaften und Kräfte, die Moses in Gott gewahrte, Allmacht, Herrschaft, Göttlichkeit, Barm-
herzigkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Aufrichtigkeit. Das war erhabenste Auffassung Gottes und entsprechende
Zuwendung an Liebe; und nicht minder erlesen war die Liebesbeglückung, die er hierbei empfand.

5. Die Seligkeit, die sich bei solcher Liebes Verzückung in die Seele ergießt und die von der feurigen Helligkeit der
Leuchten ausgeht, ist staunenswert und grenzenlos. Überwältigend strömt ihre Fülle aus vielen Leuchten; und
schon jede einzelne von ihnen entflammt zur Liebe; und die Glut der einen steigert die Glut der anderen, und die
Flamme der einen auch die Flamme der anderen, so wie das Licht der einen auch das Licht der anderen. Denn in
einer der göttlichen Eigenschaften werden die anderen miterkannt, und so sind sie alle zusammen ein Licht und
ein Feuer, und jede von ihnen ein Licht und ein Feuer. Und nun ist die Seele unsäglich übergegangen in lichte
Flammen, in jeder innig durch Liebe versehrt und in ihnen allen noch tiefer verwundet. Und sie lebt in Liebe das
Leben Gottes, sehr wohl innewerdend, daß solche Liebe dem ewigen Leben eignet, ihm, das Zusammenfassung
alles Werten ist. Jetzt, wo die Seele in gewisser Weise solch jenseitige Seligkeit erfährt, erkennt sie tief, wie wahr
der Bräutigam im Hohenliede aussagt, es seien die Leuchten der Liebe Leuchten feuriger Flammen. «Wie schön
schreitest du einher in deinen Prunkschuhen, Tochter des Fürsten» (Hl 7, 1). Wer könnte das Strahlen deiner
Freude wiedergeben und deine nie erschaute Majestät in der Strahlkraft und Liebe deiner Leuchten!

6. Es berichtet die Schrift, daß eine dieser Leuchten einst vor Abraham aufglänzte und in ihm die Finsternis der
Furcht erregte; denn diese Leuchte war eine solche strenger Gerechtigkeit, die den Kananäern widerfahren sollte
(Gen 15, 1217). Wenn alle diese Leuchten göttlicher Bekundungen dir, o reichbegünstigte Seele, freundschaftlich
und liebreich erstrahlen, wie weit wird die ihnen entstammende Liebeswonne die in Abraham erregte dunkle
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Furcht übertreffen I Und wie vielfältig, wie auserlesen wird deine Freude sein, da du aus allen und in allen Liebe
und Liebesgenuß empfängst, und Gott sich deinen Vermögen nach seinen Eigenschaften und Kräften mitteilt!
Denn wenn ein Liebender dem Geliebten wohltun will, dann tut er ihm wohl nach seiner Kraft und Eigenheit.
Und so sind die Hulderweise deines Gatten nicht geringer als sein Wesen. Allmächtig, begünstigt und liebt er dich
mit Allmacht; weise ist er, und du fühlst, daß er voll Weisheit dich liebt und begünstigt; unendlich gut ist er, und
du fühlst, daß er dich voll Güte liebt;

heilig ist er, und du fühlst, daß er dich in Heiligkeit liebt und bgnadet; er ist gerecht, und du fühlst, daß er dich ge-
rechterweise liebt und begnadet; der Barmherzige und Milde läßt dich seine Barmherzigkeit und Sanftmut emp-
finden. Gemäß seinem starken und zarten, seinem hehren Wesen liebt er dich, du fühlst es, in starker und zarter, in
hehrer Weise; und da er makellos lauter ist, so fühlst du, daß er dich in aller Lauterkeit liebt. Da er wahr ist, fühlst
du, daß er dich in Wahrheit Hebt; und da er freigebig ist, erkennst du, daß er dich aus seiner Freigebigkeit liebt
und begnadet, ohne Eigennutz, nur um deines Wohles willen. Und da er die Tugend höchster Demut ist, liebt er
dich mit höchster Demut und höchster Schätzung. Er gleicht dich, Seele, sich selber an; er zeigt sich dir freudig
auf diesem Wege der Selbstbekundung, mit diesem seinem Antlitz voller Huld. Und zu deinem großen Jubel sagt
er dir in seinem Sicheinen: «Dein bin ich und für dich. Und wohl gefällt mir, der zu sein, der ich bin, um mich so
groß dir hinzugeben und dein zu sein.»

7. Wer könnte wiedergeben, was du fühlst, glückliche Seele, in dem Bewußtsein, so geliebt und so erhebend ge-
schätzt zu werden. Dein Leib — das ist, dein Wille — kann wie bei der Braut einem Weizenhaufen, umkränzt
und überdeckt von Lilien, verglichen werden; denn während du diese Körner, das Lebensbrot genießest, erfreust
du dich zugleich an den Lilien der Tugenden, die dich umgeben. Diese sind die Töchter des Königs, die David
nennt, die dich mit Myrrhe und Ambar und anderen aromatischen Gewürzen erquicken; denn was dir der Ge-
liebte von seiner Holdheit und Kraft bekundet, das kommt zu dir gleich seinen Töchtern, das versenkt dich so tief,
überströmt dich so gewaltig, daß du auch der Brunnenstube des lebendigen Wassers gleichst, dem Becken jenes
Quells, der vom Libanon, von der Gottheit herniederbraust (Hl 4, 15). Darin wirst du wunderbar beseligt, in der
harmonischen Gesamtheit deiner Seele und sogar deines Leibes. Unter göttlicher Bewässerung bist du gänzlich
ein Paradies geworden in Erfüllung des Psalmenwortes: «das Ungestüm des Flusses erfreut Gottes Stadt» (Ps 14,
5)

8. Zu dieser Zeit flutet die Seele staunenswert über von göttlichen Wassern. So überflutet ist sie selber zur er-
giebigen Quelle geworden, die allseits von göttlichen Wassern übersprudelt. Gewiß, die hier veranschaulichte
Gotteserfahrung ist Licht und Feuer aus göttlichen Leuchten; allein dies Feuer ist hier so sanft, daß es trotz seiner
Übergewalt dem Wasser des Lebens gleicht, das der Geist erlechzte und woran er sich nun ersättigen kann. So
mögen diese Feuerleuchten auch als des Geistes lebendiges Wasser angesehen werden, vergleichbar der Kraft,
von der die Apostel überkommen wurden: es waren Feuerleuchten, und doch waren es auch lautere Wasser. So
nannte sie Ezechiel, als er dieses Herabkommen des Heiligen Geistes voraussagte, mit Gottes Worten: «Lauteres
Wasser will ich über euch ausgießen, meinen Geist will ich in eure Mitte senden» (Ez 36, 25). So ist dieses Feuer
auch Wasser, wie es vorgebildet ist durch das, Opferfeuer, das Jeremias in der Zisterne barg: Wasser war es in sol-
cher Verborgenheit; und Feuer war es, wenn es zum Opfern herausgehoben wurde. Soweit Gottes Geist in den
Adern der Seele verborgen ist, gleicht er mild erquickendem Wasser, das ihr Dürsten löscht. Soweit sich die Seele
den Opfern der Gottesliebe hingibt, ist Gottes Geist aufloderndes Feuer, ist er gleich Leuchten im Vollzug der
Liebeshingabe, gleich den Flammen, die der Bräutigam im Hohenliede erwähnt. Wohl genießt die Seele solche
Ausstrahlung gleich stillenden Wassern; allein sie nennt sie Flammen, weil sie sich hier in Gottesliebe hinopfert.
Und weil die Seele in solcher Mitteilung des Geistes zur Ausübung der Liebe entzündet, zum Vollzug der Liebe
entflammt wird, spricht sie lieber von Leuchten als von Wassern: «O Leuchten voll von Brünsten!» Alles, was
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in dieser Kanzone ausgesagt werden kann, ist weniger als das Gegebene: unaussagbar ist die Um Wandlung der
Seele in Gott. Alles umfassen diese Worte: Gott hat die Seele vergottet durch Teilhaben an ihm und seinen Eigen-
schaften. Diese werden von der Seele hier als Feuerleuchten gefaßt.

dank deren Widerscheine

9. Zum Verständnis solchen Widerscheines und des Mitscheinens der Seele sei dargelegt: diese hin und wider-
strahlenden Lichter sind die liebreichen Einsichten, die von jenen Leuchten, den Eigenschaften Gottes in die Seele
eingestrahlt werden. Und sie selber, gottgeeint mit allen Kräften, erstrahlt gleich jenen, in liebreichen Gottesschein
umgewandelt. Und dieses strahlende Leuchten, darin die Seele auch Liebesglut hinausstrahlt, ist nicht wie der
Schimmer natürlicher Lampen, die nur ihren Umkreis erhellen, aber nicht das, was in ihrem Kern ist. Die Seele ist
im Kern dieser Strahlen, und so sagt sie: in deren Widerscheine, und sie ist nicht nur in solchem Glanz, mitglän-
zend wird sie in ihn umgewandelt. So können wir sie mit der Luft innerhalb der Flamme vergleichen, die erhitzt
zur Flamme wird; denn die Flamme ist nicht ohne mitbrennende Luft; und die Bewegungen und Strahlen dieser
Flamme werden nicht allein von der Luft und nicht allein vom Feuer verursacht, vielmehr vom Zusammenwir-
ken beider, wobei es das Feuer ist, das sie der Luft in ihrem Innern mitteilt.

10. So mag es begreiflich werden, daß die Seele mit ihren Kräften im Schosse göttlichen Glanzes durchhellt wird.
Und die Bewegungen dieser göttlichen Flamme, ihre lodernden Schwingungen werden nicht von der Seele al-
lein vollzogen, die in die Flammen des Heiligen Geistes gewandelt wurde, und nicht vom Heiligen Geist allein,
sondern von ihm mit der Seele zusammen; er ist der Beweger, wie das Feuer für die durchglühte Luft. Und diese
Bewegungen von Gott und der Seele zusammen sind nicht nur Schein und Widerschein, sondern auch glorien-
gleiche Verklärungen in der Seele. Es sind diese auflodernden Schwingungen heitere Spiele und Feste des Hei-
ligen Geistes in ihr, wie wir in dem zweiten Vers der ersten Kanzone schon dargelegt haben. Immer scheint er
ihr in solchen Spielen das ewige Leben gewähren, sie vollends in seine untrübbare Herrlichkeit hinüberziehen
zu wollen, sie in aller Wirklichkeit in sich hineinnehmend. Denn alle Wohltaten, die ersten wie die letzten, die
größten wie die geringsten, werden der Seele von Gott in der Absicht erwiesen, sie in das ewige Leben zu erhöhen
so wie die Flamme all ihre lodernden Bewegungen mit der erhitzten Luft vollführt, um diese in die Mitte ihrer
eigenen Sphäre mitzuerheben, in einem ständigen Ringen nach engerer Verschmelzung. Doch wie die Flamme
nicht ohne weiteres die erhitzte Luft mit sich reißen kann, da diese in ihrer eigenen Sphäre beharrt, so können die
überaus wirksamen Schwingungen des Heiligen Geistes wohl die Seele mit Himmelsfreuden durchgluten, allein
nicht vollends beseligen bevor ihre Stunde gekommen ist und sie aus der Sphäre der Luft, aus dem Leben im
Fleisch, in die Mitte des Geistes emporgetragen wird, zum vollkommenen Leben in Christus.

11. Allein diese Bewegungen der Leuchten sind eher Schwingungen der Seele als Bewegungen Gottes; denn
Gott bewegt sich nicht. Und diese Einblicke der Seele in die Glorie sind fest, vollkommen und beständig, erfüllt
von der steten Heiterkeit Gottes, wie sie es dann auch in der Seele sein wird, ohne Anschwellen und Abschwel-
len, ohne unterbrechende Bewegungen. Drüben wird die Seele klar erkennen, daß Gott in sich selber sich nicht
bewegt, so wenig wie sich das Feuer in seiner Sphäre bewegt, wenn es ihr im Diesseits auch schien, daß Gott sich
in ihr bewege. Nur weil die Seele noch nicht vollkommen verklärt ist, erscheint ihre Erfahrung der Seligkeit noch
von jenen Erschütterungen und Flammenzungen durchbebt.

12. Was ich sagte und was ich noch hinzufügen werde, das wird die unvergleichbare Kraft dieser Leuchten klarer
erkennbar machen. Diese Glanzfülle wird auch Überschattung genannt. überschatten bedeutet soviel wie Schat-
ten werfen und mit seinem Schatten schützen und begünstigen; denn wer jemanden mit seinem Schatten deckt,
ist nahe zu dessen Schutz und dessen Begnadung. Als der Botenengel Gabriel der Jungfrau Maria ihre hohe Be-
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gnadung kundgab, ihre Empfängnis des Gottessohnes, da sagte er: «Der Heilige Geist wird auf dich herabkom-
men und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten» (Lk i, 35).

13. Es ist eines, ob ich in meiner Erläuterung von Gottes Überschatten oder von seiner Glanzfülle spreche. Denn
jeder Gegenstand wirft Schatten gemäß seiner Beschaffenheit: ist der Gegenstand dicht und dunkel, dann wirft er
einen dunkeln Schatten, ist er hell und durchscheinend, so ist auch sein Schatten hell und fein; so ist der Schatten
von etwas Dunklem ihm entsprechend ein anderes Dunkles, und der Schatten von etwas Hellem ihm gemäß eine
andere Helle.

14.Da nun diese Kräfte und Eigenschaften Gottes, die von der Seele als feurig hinausstrahlende Leuchten empfun-
den werden, ihr so nahe sind, muß sie notwendig von deren Schatten berührt werden, von Schatten, die entspre-
chend ihrem glühenden, strahlenden Ursprung gleichfalls von feuriger Leuchtkraft sind. So ist der Schatten, den
Gottes leuchtende Schönheit auf die Seele wirft, wiederum Schönheit, beschaffen wie die göttliche Urschönheit.
Der Schatten seiner Stärke ist eine andere Stärke gemäß der Stärke Gottes. Der Schatten aus Gottes Weisheit ist
andere Weisheit Gottes, ihr getreuer Abglanz. Das gleiche gilt für die anderen Leuchten; oder richtiger: es ist Got-
tes Weisheit selber, seine Schönheit, seine Stärke selber als Uberschattung; denn die Seele könnte im Diesseits das
unmittelbare Licht noch nicht begreifen. Da aber diese Überschattung in ihrer Gottgemäßheit Gott selber ist, so
erkennt die Seele sehr wohl Gottes Einzigartigkeit in der Überschattung.

15. Wie wird der Heilige Geist diese Seele mit seinen Kräften und Eigenschaften, den herrlichen, überschatten,
wo er der Seele so nahe ist, daß er sie nicht nur mit Schatten berührt; sie ist vielmehr mit ihm in Glanz und schat-
tendem Abglanz vereint, und sie begreift und genießt in einer jeden der überschattenden Leuchten seine Wesen-
heit und Eigenheit. Sie begreift und genießt die göttliche Macht in der Überschattung der Allmacht, begreift und
genießt, von ihr überschattet, die göttliche Weisheit, und so die unendliche Güte, umschlossen von ihrem Über-
schatten, und so alles weitere. Und endlich: sie genießt Gottes Seligkeit in sich dank der Überschattung mit seiner
Seligkeit, darin sie die besondere Weise seiner Herrlichkeit verkostet. Und all dieses vollzieht sich in den lichten
und feurigen Überschattungen durch jene lichten und feurigen Leuchten. Und sie insgesamt sind eine Leuchte
des einen, einfachen göttlichen Seins, das hier vor der Seele auf all diese Weisen erstrahlt.

16. Was wird die Seele hier empfinden, da ihr jene Schau Ezechiels Erfahrung wird: das Lebewesen mit vier Ge-
sichtern und in einem Gefährt mit vier Rädern, «seine Erscheinung glühend wie Kohlen und wie ein Anblick
von Leuchten» (Ez i, 13); und sein weiteres Gesicht: das Rad, Bild göttlicher Weisheit, «voller Augen innen und
außen», (d.h. voll dieser Mitteilungen Gottes und Ausstrahlungen seiner Kräfte). Und gleich dem Propheten ver-
nimmt die Seele jenes « Gedröhn des göttlichen Schrittes, gleich dem Schreiten von Scharen und von Heeren»,
als Ausdruck vielfacher göttlicher Erhabenheiten, die sie einzeln erkennt in dem einen Gedröhn des Schrittes,
mit dem Gott ihr entgegenkommt. Und schließlich genießt sie «das Brausen seines Flügelschlages», das nach
dem Propheten «brausenden Gewässern glich, Ertönen des höchsten Gottes» (Ez 1, 24). Das deutet auf das
Ungestüm der göttlichen Gewässer, von denen sich die Seele überströmt und beseligt fühlt, auf ein «ungestümes
Schwingenfächeln» des Heiligen Geistes hinein in die Flame der Liebe. Hierin labt sie sich an Gottes Herrlichkeit
in einem Gleichnis und Schatten wie denn auch der Prophet sagte daß jenes Lebewesen und jenes Rad Gleichnis
der Herrlichkeit Gottes seien. Wie hoch erhoben sich nun die beglückte Seele findet, wie klar sie ihre neue Größe
erkennt, wie staunend sie sich in ihrer heiligen Schönheit gewahrt wer könnte das aussagen? Da sich die Seele von
diesen göttlichen Ausstrahlungen wie von Gewässern überflutet fühlt, wird sie inne, daß der ewige Vater ihr gar
freigebig die Bewässerung von oben und unten zuwendet, wie es die flehende Axa ihrem Vater abgewann (Jos 15,
1819). Denn diese Gewässer durchtränken das Höhere und das Niedrigere, Seele wie Leib.
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17. O staunenswerte Erhabenheit Gottes, da doch diese Leuchten der göttlichen Eigenschaften nur ein einfaches
Sein sind und nur als solches genossen werden, und dennoch auch getrennt erblickt werden, die eine gleich ent-
flammt wie die andere, und jede wesenhaft die andere! Du Abgrund der Wonne, der um so verschwenderischer
überquillt, je mehr deine Schätze in der unendlichen Ganzheit und Einfalt deines einzigen Wesens zusammen-
gefaßt sind! Darinnen das eine derart erfaßt und genossen wird, daß es nicht das vollkommene Erfassen und Ge-
nießen des anderen hindert darinnen vielmehr eine beliebige Kraft und Huld von dir das Licht einer beliebigen
anderen aus deinen erhabenen Eigenschaften ist! Wird doch dank deiner Lauterkeit, o göttliche Weisheit, Vieles
in dir gesehen, wo Eines gesehen wird! Bist du doch die bewahrende Schatzkammer des Vaters, Abglanz des ewi-
gen Lichtes, Spiegel ohne Makel, seiner Güte Ebenbild! (Wh 7, 26.) Dank deren Widerscheine

des Sinns abgründige Höhlen ohne Enden

18. Diese Höhlen sind die Seelenkräfte, Gedächtnis, Erkenntnis und Wille. Und diese sind in dem Maße tief, wie
sie für große Güter aufnahmefähig sind. Denn durch nichts werden sie ausgefüllt, es sei denn durch Unendliches.
An dem, was sie leiden, wenn sie leer sind, läßt sich in etwa ermessen, wie beseligt sie sind, wenn ihr Gott sie
ausfüllt. Denn der eine Gegensatz erhellt den anderen. Wenn diese Höhlungen der Seelenkräfte nicht leer und
geläutert sind und nicht frei von aller Hinneigung zu Geschöpfen, dann empfinden sie nicht die gähnende Leere
ihrer tiefen Aufnahmefähigkeit. Denn in diesem Leben genügt jede sich darin einnistende Kleinigkeit, um sie so
zu behindern, so zu betäuben, daß sie ihren Verlust nicht empfinden und ebensowenig die ihnen bestimmten
grenzenlosen Güter vermissen, noch sich ihrer Aufnahmefähigkeit bewußt werden. Und es ist erstaunlich, daß
sie, die unendliche Güter aufnehmen können, schon vom Geringfügigsten versperrt und für solche Güter un-
zugänglich gemacht werden können, solange, bis sie gänzlich ausgeleert werden. Allein wenn jene Höhlungen
leer und ausgeräumt sind, dann wird das Dürsten und Schmachten des geisthaften Sinnes unerträglich; denn die
Aufnahmeorgane dieser Höhlungen sind tief und leiden darum tief, wie auch die Speise, die ihnen mangelt, tief
ist: Gott selber. Und jenes leidenschaftliche Schmachten befällt die Seele zumeist gegen Ende ihrer Erleuchtung
und Läuterung, noch vor der Gotteinigung, darin der verschmachtende Geist gestillt wird. Denn weil das geistige
Verlangen rein und frei ist von jedem Geschöpf und jeder Zuneigung zum Geschöpflichen und sein natürlicher
Trieb verschwunden ist, so ist es schon abgestimmt auf das Göttliche, und die Leere in ihm wartet auf Erfüllung.
Und da ihm zu dieser Zeit das Göttliche noch nicht in der Gotteinigung mitgeteilt wird, so ist das Leiden un-
ter solchem Dürsten und solcher Leere schlimmer als Tod, zumal wenn durch irgendeine Öffnung, irgendeinen
Spalt ein göttlicher Strahl von fernher leuchtet und sich dennoch nicht mitteilt. Und die solches erfahren, sind es,
die an ungeduldiger Liebe kranken, so sehr, daß sie in Bälde empfangen müssen oder sterben.

Die Leere in der ersten dieser Höhlungen, in der Erkenntniskraft, ist das Dürsten nach Gott. Wenn diese Kraft
wohlvorbereitet wurde, dann ist das Dürsten überaus gewaltig David vergleicht solchen Zustand mit dem heftigs-
ten Schmachten, das er finden konnte, mit dem des Hirsches: «Wie der Hirsch nach frischen Quellen schmach-
tet, so schmachtet meine Seele, o Gott, nach dir» (Ps 41, 1). Dies Lechzen sucht die Wasser göttlicher Weisheit,
die Gegenstand der Erkenntnis kraft ist.

20. Die zweite Höhlung ist die Willenskraft; und ihre Leere ist ein so gewaltiges Hungern nach Gott, daß die Seele
hinsiecht. Auch dem gibt David Ausdruck: «Nach des Herren Gezelt vergeht meine Seele» (Ps 83, 3). Und sol-
ches Hungern gilt der Vervollkommnung der Liebe, die von der Seele erstrebt wird.

21. Die dritte Höhlung ist die Gedächtnis kraft; und ihre Leere ist eine vernichtende Sehnsucht der Seele nach
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der Aneignung Gottes. Darüber sagt Jeremias: «Memoria memorero et tabescet in me anima mea» (Klgl 3, 20).
Das besagt: Mit meinem Gedächtnis will ich gedenken viel will ich seiner gedenken; und in mir wird die Seele
hinschmelzen ; solches will ich in meinem Herzen bewegen, und in der Hoffnung auf Gott werde ich leben.

22. Tief sind diese Höhlen in ihrer Aufnahmefähigkeit; ist doch das, was von ihnen aufgenommen werden kann,
Gott selber, tief und unendlich. Und so ist ihre Aufnahmefähigkeit in gewisser Weise unendlich, und auch ihr
Dürsten, ihr Hungern tief, unendlich, ihre auflösende Qual ist unendlicher Tod. Wohl sind die Leiden der Seele
nicht so durchdringend, wie sie im Jenseits sein können; allein sie leidet sehr ähnlich wie unter einem ewigen Got-
tesverlust, in ihrem bereiten Zuwarten auf ein voll ausfüllendes Empfangen. Und doch ist es eine eigene Weise des
Leidens: es wühlt in der Liebe des Willens, in diesen hohlen Buchten; und solche Liebe sänftigt keineswegs den
Schmerz, sie macht ihn um so heftiger, je heftiger sie selber ist, je ungeduldiger nach dem Erfassen ihres Gottes,
den sie in Anfällen leidenschaftlichen Begehrens erhofft.

23.Allein da erhebt sich ein Einwand: wenn die Aussage des heiligen Gregor über Johannes' richtig ist, daß näm-
lich die Seele, die Gott mit wahrer Hingabe begehrt, ihn, den Geliebten, bereits umfängt, wie denn verzehrt sie
sich nach dem, was sie doch schon besitzt? Auch nach Petrus ist das Verlangen der Engel, den Gottessohn zu
erschauen, von keiner quälenden Sehnsucht begleitet, da sie ihn bereits besitzen (1 Petr 1, 12). Danach könnte es
scheinen, daß die Seele Gott um so mehr besitzt, je mehr sie ihn begehrt, und daß sie in solchem Umfassen sich
beseligt erlabt. Die Engel sind selig, weil sie ihr Verlangen nach solchem Besitz stillen können, und weil sie sich
auch an ihrem Verlangen erquicken können; fern vom Überdruß der Sättigung, weil sie keinen Überdruß kennen,
begehren sie immer; und weil sie besitzen, leiden sie nicht. Danach müßte die Seele hier, in ihrem Verlangen, um
so größere Labung finden, je größer dies Verlangen ist, und damit müßte ihre Aneignung Gottes frei sein von
Schmerz und Pein.

24. In diesem Zusammenhang gilt es zu unterscheiden zwischen einem Halten Gottes nur durch Gnade und
einem Halten auch in der Einigung; das eine bedeutet: sich innig lieben, das andere bedeutet überdies: sich aus-
tauschen. Hier waltet ein Unterschied wie zwischen Verlöbnis und Ehe: denn beim Verlöbnis gibt es nur ein
angleichendes «Ja», einen gemeinsamen Willen beider Partner, dazu Geschmeide

und Prunkgewänder für die Angelobte aus den huldreichen Händen des Bräutigams. In der Ehe dagegen gibt es
darüber hinaus den Austausch, die Verschmelzung. Im Verlöbnis besucht der Bräutigam seine Braut zwar mitun-
ter und bringt ihr Gaben; allein die wechselseitige Hingabe, das Ziel des Verlöbnisses, vollzieht sich noch nicht.
Es ist vielmehr so: wenn die Seele in sich und in ihren Vermögen zu solcher Lauterkeit gelangt ist, daß ihr Wille
im höheren wie im tieferen Bereich von unheiligen Gelüsten und abwegigen Trieben völlig frei wurde, wenn sie in
ihrem hingebenden Ja all dieses Gott aufgeopfert hat, und Gottes Wille wie der Seele Wille eins geworden sind in
einer freien, eigenständigen Zustimmung, erst dann hat die Seele Gott durch Gnade und Wille gewonnen, soweit
sie es durch ihren Willen und Gottes Gnade vermag. Und das bedeutet: Gott hat ihr zugleich mit ihrem Ja das
ganze und wahrhafte Ja seiner Gnade gegeben.

25. Und solches ist ein hoher Stand, dies mystische Verlöbnis der Seele mit dem Wort. Und in dieser Zeit empfängt
sie von ihrem Bräutigam große Gnaden und häufig die liebreichsten Heimsuchungen, mit hohen, beglückenden
Gunsterweisen. Doch lassen sie sich nicht vergleichen mit jenen der mystischen Ehe. Sind sie doch allesamt nur
Vorbereitungen für die Einigung in solcher Vermählung. Wohl ist die Seele, die des mystischen Verlöbnisses wür-
dig wurde und dessen hohe Begnadungen erfährt, gänzlich entleert von jeder Hinneigung zu Geschöpfen. Und
dennoch bedarf sie anderer, positiver Vorbereitung durch Gott in Heimsuchungen und Gaben, die sie derart
läutern, verschönen und veredeln, daß sie solch erhabener Einigung würdig wird. Und das braucht Zeit; bei den
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einen mehr als bei den andern, da Gott sich nach der Beschaffenheit der Seele richtet. Und solche Vorbereitung
wird veranschaulicht durch jene Jungfrauen, die für den König Assuerus ausgewählt worden waren: trotzdem
diese bereits aus ihrem Lande und aus dem Haus ihrer Eltern herausgeholt worden waren, wurden

sie nicht sogleich dem Lager des Königs zugeführt, sondern noch ein Jahr im Palast eingeschlossen. Dort berei-
teten sie sich ein halbes Jahr mit Salben aus Myrrhen und anderen Spezereien vor und das zweite halbe Jahr mit
anderen erleseneren Salben; und erst dann kamen sie zum Lager des Königs.

26. Und in dieser Zeit des Verlöbnisses, bei dem Erharren der mystischen Ehe, in den Salbungen des Heiligen
Geistes, da pflegt das Verlangen in den tiefen Aushöhlungen der Seele überaus heftig und gewaltsam zu sein, um
so heftiger, je erlesenere Salben auf die Gotteinigung vorbereiten. Da nun diese Salben schon des näheren die
Einigung mit Gott vorbereiten, ihm bereits angemessener sind, und deshalb der Seele köstlicher duften und sie
inniger nach Gott schmachten lassen, so ist nunmehr ihr Verlangen inniger und tiefer. Solches Verlangen nach
Gott ist Vorbereitung für die Einigung mit ihm.

27. O wie sehr ist es hier am Platz, die Seelen zu warnen, die zu so göttlicher Salbung gelangten! Möchten sie be-
denken, was sie tun und wem sie sich anvertrauen und wer sie wirklich fördert. Allein das führt von unserem Ziele
ab. Und dennoch! Mich überwältigt Erbarmen beim Anblick der Seelen, die zurückgleiten und den Salbungen
Gottes nicht stillhalten und sie dadurch unwirksam machen, anstatt dank ihrer sich dem Ziel zu nähern. Und so
muß ich sie beraten, wie sie solche Schädigung vermeiden können. Ein wenig werde ich mich dabei aufhalten
müssen, wenn auch nicht lange. Doch eigentlich ist dies kein Versäumen, sondern auch dienlich für das Verständ-
nis dieser besonderen Höhlungen, dienlich und sogar sehr notwendig nicht nur diesen Seelen, die so gedeihlich
fortschreiten, sondern allen Seelen, die ihren Gehebten suchen. Und zu ihnen allen will ich sprechen.

28. Vor allem muß man wissen: wenn die Seele Gott sucht viel dringlicher sucht Gott die Seele. Und wenn sie ihm
ihr liebendes Verlangen zusendet ein Verlangen, vor ihm wie A aufsteigende Duft von Myrrhen und Weihrauch
dann sendet er ihr den Duft seiner Salben, der sie anzieht und zu ihm hintreibt, seine Eingebungen und seine
Berührungen. Diese wann immer sie von Gott stammen, nahen sich hingeformt und hingestimmt auf die Voll-
kommenheit des göttlichen Gesetzes und des Glaubens eine Vervollkommnung, die zur stetigen Annäherung an
Gott unerläßlich ist. Und so muß die Seele bei allen Gunsterweisen, bei diesen duftenden Salbungen begreifen,
daß sie dem Wunsche Gottes entspringen, sie für andere, erlesenere und zartere Salben vorzubereiten, für solche,
die Gott mehr entsprechen. Am Ende aber wird nach seinem Willen ihre Bereitschaft so lauter und innig sein, daß
sie der Einigung mit Gott würdig wurde, der wesentlichen Umwandlung in all ihren Vermögen.

29. Dies muß der Seele gegenwärtig bleiben: Gott ist hierbei der eigentlich Handelnde, der Führer dieser Blinden,
der sie durch das Unbekannte an der Hand geleitet, hin zu dem Übernatürlichen, das weder ihr Verstand, noch
ihr Wille, noch ihr Gedächtnis nach seiner Wesenheit ergründen können. So muß es ihre Hauptsorge sein, dem
göttlichen Führer kein Hindernis zu bereiten auf diesem von ihm bestimmten Wege der Vervollkommnung in
seinem Gesetz und im Glauben. Und solches Hindernis erhebt sich, wenn sie sich von einem anderen Bünden
mitnehmen und führen läßt. Die Blinden, von denen sie auf Abwege gebracht werden könnte, sind drei: der See-
lenführer, der Dämon und sie selber. Und damit die Seele begreife, wie solches zugeht, werde ich von jedem dieser
Bünden handeln.

30. Die Seele, die auf diesem Wege der Sammlung und Vervollkommnung vorangelangen will, muß als erstes
überlegen, in wessen Hände sie sich gibt. Denn wie der Meister, so der Schüler, wie der Vater, so der Sohn. Dabei
sei beachtet: für diesen Weg, zum mindesten für die oberste Strecke, aber auch für die mittlere, wird kaum ein
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Führer gefunden, der alle Erfordernisse erfüllt. Umsicht und Unterscheidungsgabe genügen hier nicht, es muß
ein solcher darüber hinaus Erfahrung besitzen. Wohl bedarf es, um den Geist zu führen des Wissens und der
Urteilskraft als Grundlage. Allein fehlt die Erfahrung dessen, was reiner und wahrer Geist ist, so wird es nicht glü-
cken, die Seele in dem von Gott Empfangenen zu prüfen, oder solchen Geist auch nur zu verstehen.

31. Auf solche Weise fügen viele geistliche Meister den Seelen großen Schaden zu. Sie begreifen nicht die Eigen-
wege des Geistes. Und so lassen sie die Seelen jene zarte Salbung verlieren, womit der Heilige Geist sie für sich
selber vorbereitet, und lehren sie mit selbstgebrauchten oder irgendwie angelesenen Weisen auf der Erde zu krie-
chen, wie es vielleicht für Anfänger taugen mag. Mehr wissen sie nicht und wollte Gott, daß sie dieses hinreichend
wüßten! So aber lassen sie die Seelen, die Gott emportragen will, in den Anfängen stecken, weshalb diese niemals
über die Betätigung des Verstandes und der Phantasie hinausgelangen und recht wenig Wertvolles davontragen.

32. Der Zustand und die Betätigung der Anfänger ist, recht verstanden, Meditieren, mit Verstand oder Phanta-
sie einzelne Akte und Übungen durchführen. In dieser Verfassung benötigt die Seele Stoff zum Meditieren und
Erwägen; und sie muß aus Eigenem innere Akte vollziehen und sich den sinnfälligen Geschmack am Geistigen
zunutze machen. Während sich so ihr Gelüst am Geistigen weidet, verliert sie den Geschmack am Sinnenhaften
und wird aus dem Weltlichen entwurzelt. Doch hat sich ihre Begierde in etwa an den Bereich des Geistes ge-
wöhnt und mit einiger Beharrlichkeit und Entschlossenheit in ihm genährt, dann beginnt Gott alsbald die Seele
zu entwöhnen und zu einer Erfahrung des Göttlichen zu erheben. Zu solcher Erhebung gelangen einige in kurzer
Zeit, zumal Ordensleute; diese, die sich schneller von Dingen der Welt abwenden, gewöhnen leichter Sinn und
Trieb an Gott und wenden ihre Bemühungen auf den Geist wobei Gott in ihnen am Werk ist. Das begibt sich,
wenn'die Seele ihre Auseinanderlegungen und Erwägungen, mitsamt ihrem ersten sinnlichen Eifer verliert, wenn
sie nicht mehr wie früher überlegen kann und an ihrer Sinnlichkeit keinen Halt mehr findet, da diese austrocknete
und ihr alles, sie durchströmte, entzogen und auf den sinnenfernen Geist hinübergeleitet wurde. Und da natürli-
cherweise alle Betätigungen, die von der Seele aus Eigenem geleistet werden an das Sinnenhafte gebunden sind,
so ist notwendig Gott selber bei diesem Zustand der Bewegende und die Seele die von ihm Bewegte, Erleidende.
Sie verhält sich lediglich empfangend, gotterleidend, und Gott gibt und durchwaltet sie. In der Gotterfahrung gibt
er ihr geisthafte Güter, ein Merken Gottes und seiner Liebe zusammen, ein liebeweckendes Innewerden, wobei
die Seele nunmehr ihren natürlichen Überlegungen und Betätigungen entfremdet ist.

33. So muß die Seele zu dieser Zeit in gänzlichem Gegensatz zu der früheren Weise geführt werden. Gab man ihr
früher Stoff zum Nachdenken und dachte sie früher nach, so muß ihr jetzt dieser Stoff weggenommen und sie
am Meditieren verhindert werden. Ja sie könnte es nicht einmal, selbst wenn sie wollte; und der vergebliche Ver-
such würde ihr keine Sammlung bringen, sondern Zerstreuung. Und wenn sie zuvor Saft und Liebe und Inbrunst
suchte und fand, so soll sie diese jetzt weder begehren noch suchen. Sie würde mit ihrem Eifer diese nicht gewin-
nen, sondern eher Trockenheit. Dadurch würde sie nur von dem friedvollen, stillen Heil abgezogen, das heimlich
ihrem Geiste eingegeben wird, abgezogen zugunsten einer Betätigung, die sich nach der Anweisung eines sol-
chen Seelenführers durch die Sinne vollzieht. Und derart verlöre sie das eine, ohne das andere zu gewinnen; denn
nicht länger werden ihr die Heilsgüter durch Sinnenhaftes mitgeteilt. Aus solchem Grunde dürfen der Seele bei
diesem Zustande unter keinen Umständen Stoffe zur Meditation und Erweckung von Akten auferlegt werden
nichts, was ihr Wohligkeit und Andacht vermittelt. Das hieße dem eigentlichen Beweger, Gott, selber Hindernisse
in den Weg legen, ihm, der verborgen und still in der Seele vorgeht und ihr Weisheit und Hebevolles Gewahren
eingibt ohne Besonderung zu Akten. Und nur ausnahmsweise geschieht es, daß Gott sie durch längere Zeit sich
besondern läßt. Und so muß die Seele ihrerseits Gott ein liebevolles Aufmerken entgegenbringen, nur dies, ohne
in Akten sich zu besondern; rein empfangend muß sie sich verhalten, ohne eigene Beflissenheit, mit dem ent-
schlossenen schlichten Aufmerken der Liebe, so wie jemand in Hebreicher Achtsamkeit die Augen öffnet.
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34. Wenn nun Gott zu dieser Zeit sich ihr in schlichter, Hebreicher Einprägung faßlich macht, dann muß sie mit
ihrer Empfänglichkeit, mit einfältigem, Hebreichem Aufmerken und Bewußtmachen ihm entsprechen, damit
sich Wahrgeben zu Wahrnehmen, Liebe zu Liebe fügt. Denn wer empfängt, muß sich auch als Empfangender,
nicht anders, verhalten, damit er es in der Weise des Gebenden festhalten kann. Gemäß dem Ausspruch von Phi-
losophen verhält sich das Aufgenommene nach der Weise des Aufnehmenden. Wenn demnach die Seele nicht
von ihrer natürlichen aktiven Art abließe, so könnte sie jene Heilsgüter nur auf natürliche Weise, das heißt gar
nicht aufnehmen; sie würde bei ihrem natürlichen Akt verbleiben, denn das übernatürliche hat im natürlichen
keinen Raum und hat nichts mit ihm zu schaffen. So gilt denn uneingeschränkt: wollte die Seele mehr auf eigene
Weise sich verhalten statt in passiv Hebendem Empfang zu verharren, schlechthin empfänglich und beschwich-
tigt, (es sei denn, Gott selber eine sie in einem Akt mit sich), dann versperrte sie sich dem Heil, das Gott mit seiner
Hebreichen Wahrnehmbarkeit ihr mitteilen will.

Solche Mitteilung dient zu Anfang der inneren Läuterung und ist deshalb quälend danach aber voll Sanftmut der
Liebe. Dies Hebreiche Sichmitteilen wird von der gottleidenden Seele übernatürlich empfangen in aller Wahrheit
verhält es sich so übertürlich auf Gottes Weise, und nicht auf die natürliche Weise der Seele. Deshalb muß die
Empfangende ihren natürlichen Betätigungen erstorben sein, unbeengt, unbeschäftigt friedvoll und heiter nach
Gottes Weise. Es ist wie mit der Luft: je dunstfreier sie ist, je durchsichtiger und windstiller, um so mehr wird sie
von der Sonne durchhellt und durchwärmt. folglich muß die Seele an nichts haften: nicht an der Ausübung von
Meditation und Untersuchung, nicht an irgendeinem Wohlgeschmack für Sinne oder Geist, nicht an irgendet-
was, das in Beschlag nimmt. Dem Geist ist diese Unabhängigkeit und Unberührbarkeit vor allem aus dem Grun-
de not, weil irgendein Gedanke, Einfall oder Genuß, bei denen die Seele zu solcher Stunde sich aufhalten möchte,
sie behindern und beunruhigen würde. Diese Vorgänge würden Lärm schlagen in der tiefen Stille, deren die Seele
an Leib und Geist bedarf, für das Auffangen des Zarten und Tiefen, das Gott in solcher Einsamkeit dem Herzen
einspricht. So sagt es Osee (Os z, 14); so kündet David vom höchsten schweigenden Frieden, darin die Seele
lauscht und vernimmt, was Gott der Herr in ihr spricht. Denn in solcher Einsamkeit spricht er ihr Frieden ein (Ps
84, 9).

35. Wenn es nun geschehen sollte, daß die Seele sich in Stille und in ein Aufhorchen versetzt fühlt, dann hat
sie sogar die Haltung Hebreichen Innewerdens aufzugeben, um frei zu bleiben für das, was der Herr nun für sie
bestimmt. Denn dies Hebreiche Innewerden soll sie nur üben, wenn sie sich nicht in Einsamkeit oder innere
Gelassenheit versetzt fühlt oder in Selbstvergessenheit oder in mystisches Vernehmen. Wann das geschieht, ist
kenntlich an einer ruhigen Friedseligkeit und Hingenommenheit, von denen solche Gotteinwirkung immer be-
gleitet wird.

36. Beginnt also die Seele in jenen einfachen und gelassenen Zustand der Kontemplation einzutreten, und versiegt
ihr damit die Meditation, dann soll sie sich niemals Meditationen vorstellen wollen und niemals an geistlichen
Wohligkeiten festhalten; ohne Halt und Haften soll sie frei auf ihren Füßen stehen und den unverhafteten Geist
über all dies hinausheben. Habakuk hat gesagt, was er tun müsse, um des Herren Worte zu vernehmen: «Acht-
sam werde ich auf meinen Füßen stehen, nicht unbedacht will ich vorgehen, und verharren will ich bei dem, was
er mir kundgibt» (Hab 2, i). Damit sagt er: erheben will ich mein Gemüt über alle Betätigungen und Wahrneh-
mungen im Bereich meiner Sinne und alles, was sie auffassen und festhalten können, will ich überschwingen;
und ich werde meine Vermögen nicht nach ihrer Kraft in Eigenbetätigungen vorgehen lassen; so werde ich in der
Kontemplation empfangen können, was mir von Gott her zukommen mag. Denn wir sagten es schon die reine
Kontemplation besteht in Empfangen.

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37. Unmöglich ist es, daß diese erhabenste Weisheit und Aussage Gottes, die Kontemplation, in minderem emp-
fangen werden könnte als in einem verschwiegenen Geist, in ihm, den keine Wohlgefühle und Sonderwahrneh-
mungen in Fesseln legen. So sagen es auch Worte des Isaias: «Wen wird Gott Weisheit lehren, und wem bringt er
seine Verkündung zu Gehör?» (Is 28, 9.) Und er antwortet: Denen, die von der Milch entwöhnt sind, nämlich
von dem Schmackhaften, denen, die von der Brust abgelöst sind, nämlich von den Sonderwahrnehmungen und
Sonderbildern.

38. Entferne, o geistige Seele, Fasern und Stäubchen, alles Trübende aus deinen Augen und reinige sie; und dir
wird die klare Sonne leuchten, und du wirst klarsehen. Befriede dich, befreie dich machtvoll von der schwächli-
chen Betätigung deiner Fähigkeiten, diesem knechtenden Joch, dieser Gefangenschaft in Ägypten, wo dein Wir-
ken bestenfalls ein Häufen von Strohhalmen ist, um damit irdenen Ton zu brennn. Und du, Führer der geistigen
Seele, geleite sie in das gelobte Land, dem Milch und Honig entfließen; und bedenke, daß es solche Freiheit, solch
heilige Gelassenheit der Gotteskinder ist, derentwegen sie von Gott in die Wüste gerufen wird, in Festkleidern,
geziert mit goldenem und silbernem Schmuck, nach dem Auszug aus Ägypten. Entblößt ist sie bereits von den
Reichtümern jenes Landes, dem sinnenhaften Bereich; und mehr noch: die Verfolger sind in den Fluten der Kon-
templation ertrunken, in diesen Tiefen, darin sie keinerlei Halt finden. So bleibt das Gotteskind frei, der Geist der
die knechtenden Grenzen sinnenhafter Betätigungen überschwungen hat sein geringes Verstehen, sein niedriges
Fühlen, sein armseliges Lieben und Genießen, es ist Überschwüngen damit Gott ihm das milde Manna gebe.
Und diese Speise enthält «jede Art von Köstlichkeit in sich» (Wh 16, 20), die in den dir nötig erscheinenden Be-
schäftigungen von der Seele gewonnen werden könnte; doch ist dies Manna, das so zart im Munde zergeht, nicht
zu verkosten, sobald es mit einem anderen Geschmack, mit einem anderen Ding vermischt wird. Wenn demnach
die Seele bis zu dieser Höhe gelangt ist, dann sei dein Bemühen, ihr alle Sucht nach geistlichen Schwelgereien und
Zergliederungen zu nehmen, dann beunruhige sie nicht mit aufgetragenen Bemühungen um Hohes und noch
weniger um Niedriges, sondern versenke sie so tief wie möglich in Entfremdung und Einsamkeit. Je tiefer und je
schneller sie solche Gelassenheit erlangt, desto überströmender wird sich ihr der Geist der göttlichen Weisheit
eingießen, dieser liebreiche, ruhevolle, einsame, friedfertige, sanfte, verzückende für den Menschengeist, der sich
aufs zarteste von ihm durchbohrt und geraubt fühlt, ohne zu wissen von wem, von woher und wie. Und derart
empfindet es die Seele, weil ihr das ohne ihr Zutun geschah.

39. Und schon Weniges von dem, was Gott in der Seele bei so heiliger Muße und Einsamkeit wirkt, ist unschätz-
bares Heil und mitunter sehr viel gnadenreicher als die Seele und ihr Berater es wähnen. Und wenn solches auch
nicht gleich merklich werden sollte, so wird es doch zu seiner Zeit hervorstrahlen. Das Mindeste, was der Seele
hier zur Erfahrung werden kann, ist eine mehr oder minder starke Entfremdung und Absonderung von allen Din-
gen, Neigung zur Einsamkeit und Überdruß an allen weltlichen Geschöpfen, mit sanftem Verweilen in geistigem
Leben und Lieben. Alles, von dem sie sich nicht absondern kann, wird ihr zur Widrigkeit gemäß dem Spruch, daß
der Leib unlustig ist, wenn der Geist genießt.

40. Allein die Heilsgüter, die solch heimliches Austauschen und Schauen der Seele, ihr noch unbewußt, tief ein-
prägt, sind, wie wir sagten, unschätzbar. Es sind Salbungen des Heiligen Geistes, tiefgeheim und darum von zar-
tester Innigkeit; verschwiegen erfüllen sie die Seele mit Schätzen an geistigen Gaben und Gnaden. Denn da kein
Geringerer als Gott sie wirkt, tragen sie Gottes Gepräge.

41. Diese Salbungen des Heiligen Geistes, diese Abtönungen von feinem und erlesenem Schmelz können in ihrer
zarten Reinheit weder von der Seele noch von ihrem Berater erfaßt werden, sondern nur von ihm, der sie anwen-
det, um dadurch die Seele zu seinem Wohlgefallen auszugestalten. Äußerst leicht — schon bei der geringsten
Eigenregung der Seele im Bereich des Gedächtnisses, des Erkennens, des Wollens, bei dem leisesten Versuch, die
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Sinne heranzuziehen, den Trieb, die Wahrnehmung, die Lust wird dieses Werk gestört, sein Schmelz verwischt.
Und das ist schwerer Schaden, großer Schmerz und Jammer.

42. O ernste Sache, verwunderliche, daß der Schaden nicht sichtbar wird und die Störung dieser heiligen Salbung
fast wie Nichts erscheint! Und doch ist der Schaden größer und beklagenswerter, als wenn viele jener durch-
schnittlichen

Seelen gestört und verdorben würden, die nicht durch so erhabenen Glanz und so erlesenen Schmelz hervorra-
gen. Wenn eine plumpe Hand ein wunderschönes und innig geltes Antlitz mit rohen und gemeinen Farben über-
tünchte, dann wäre der Schaden größer und beklagenswerter, als wenn viele Gesichter gewöhnlichen Gepräges
übermalt würden Denn wurde jene innige Künstlerhand, die des Heiligen Geistes, einmal durch Stümperhand
gestört wer brächte sie dazu, von neuem anzusetzen?

43. Und obwohl dieser Schaden schwerer und größer ist als sich aussagen läßt, ist er doch so verbreitet, daß kaum
ein Seelenführer zu finden ist, der ihn den Seelen nicht zufügt, solchen Seelen, die durch Gott mit dieser Art von
Gotterfahrung gesalbt werden. Wie oft salbt Gott die ihm erschlossene Seele mit dem zarten, liebreichen Ge-
wahrwerden, dem untrübbaren, friedvollen, einsamen, dem sinnenfernen und bildlosen, mit einem Innewerden,
das kein sonderndes Überdenken zuläßt, kein Auskosten von Hohem oder Niedrigem, sondern nur Hingabe an
jene verschwiegene Salbung in gottleidender Abgeschiedenheit: und dann kommt so ein Seelenführer, der nur
draufloszuhämmern versteht und mit den Seelenvermögen wie ein Grobschmied umgeht. Und weil das seine
ganze Weisheit ist und er nichts Höheres als Meditieren kennt, wird er sagen: «Genug! Laßt diese Geruhsamkeit
! Sie ist nur Müßiggang und Zeitverlust! Nehmt euch etwas vor und meditiert! Vollzieht innere Akte! Denn ihr
müßt das betätigen, was in euch ist. Das andere da ist Selbstbetrug und Faulenzerei!»

44. Und so, in ihrer Unkenntnis höherer Gebetsweisen, vergeistigter Wege, sehen sie es nicht ein, daß die Akte
und Erwägungen, die von ihnen der Seele abgefordert werden, einem überwundenen Stadium angehören, da
diese Seele bereits die Tätigkeit der Sinne und des Verstandes zur Ruhe gebracht hat. Von ihr ist der Weg des
Geistes beschritten, die Kontemplation gewonnen worden, worin weder ihre Sinne noch ihre Gedanken wirken.
Gott allein ist nun der Beweger, er ist es, der im Verborgenen zur einsamen, zur schweigenden Seele spricht. Und
wenn die vergeistigte Seele immer noch mit den Sinnen vorgehen soll, dann bringt ihr solches Rückschritt und
Abschweifung. Einen, der das Ziel schon erreicht hat, nochmals zu diesem Ziel aufbrechen zu lassen, ist nicht
nur lächerlich, es bedeutet auch erzwungenes Abgleiten vom Ziel. Ist demnach der Vergeistigte durch Betätigung
seiner Seelenvermögen bis zu seinem Ziel bis zur stillen Sammlung in Beschwichtigung seiner Vermögen vorge-
drungen, dann wäre es töricht, durch Akte dieser Kräfte solche Sammlung erneut zu suchen, und mehr noch es
wäre schädlich, die schon gewonnene Sammlung für rastloses Suchen preiszugeben.

45. Da nun diese Seelenführer nicht begreifen, was Sammlung, was geistige Abgeschiedenheit ist und wie Gott
bei solcher Abgeschiedenheit die Seele mit erhabener Salbung weiht, so überlagern oder verwischen sie diese mit
andern Salben, sie treiben die Seele zu niedrigeren geistlichen Betätigungen an; solche Rührigkeit aber ist von
dem, was die Seele darüber verlor, so weit entfernt wie das Natürliche vom Übernatürlichen, das Menschliche
vom Göttlichen. Denn bei der geforderten Weise betätigt sich die Seele auf natürliche Art, bei der anderen wirkt
Gott übernatürlich in ihr. Und das Schlimmste ist: über solchen natürlichen Übungen verliert sie die innere Abge-
schiedenheit und in der Folge die erhabene Schönheit, die Gott in der Seele bildete. Das heißt mit dem Hammer
auf ein Meisterwerk einschlagen, hier zerstörend, ohne dort zu fördern.

46. Solche Seelenführer mögen sich bewußt sein, daß der eigentliche Beweger und Führer der Seelen nicht sie
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sind, sondern der unablässig um sie bemühte Heilige Geist; daß sie nur Wegweiser sind für den Aufstieg zur
Vollkommen kraft des Glaubens und des göttlichen Gesetzes, zu einer Vollkommenheit gemäß dem Geiste, den
Gott in jede Seele besonders eingießt. Und so sei denn sein ganzes Bestreben, sie nicht eigensinnig seiner eigenen
Weise anzugleichen, sondern sich zu prüfen, ob er den Weg erkennt, den Gott sie führt und wenn er ihn nicht
erkennt, soll er jene Gott über lassen statt sie zu verstören. In Übereinstimmung mit dem von Gott bestimmten
Weg und Geist sei ihr Bemühen, sie immer größerer Einsamkeit und Stille und Freiheit des Geistes hinzulenken.
Es soll ihnen Spielraum gelassen werden damit ihr leiblicher und geistiger Sinn nicht an innere und äußere Ein-
zeldinge gefesselt werde, wenn Gott sie durch solche Abgeschiedenheit führt. Die Seelenführer sollen sich nicht
mit der Einbildung beunruhigen, daß hier nichts geleistet werde: wenn auch die Seele derzeit nichts wirkt Gott
wirkt in ihr. Aufgabe der Seelenführer ist es, die Seele ledig und gelassen zu machen, so daß sie von keinen Son-
derwahrnehmungen, weder niedrigen noch erhabenen, gefesselt wird, nicht abgelenkt durch Gelüste und Einbil-
dungen. Abgewandt von allen Geschöpfen soll sie in geistiger Armut verharren; das ist es, was die Seele von sich
aus bewirken kann, wie es auch der Gottessohn anrät: «Wer nicht alles hingibt, was er hat, der kann nicht mein
Jünger sein» (Lk 14, 33). Das gilt nicht nur für den Verzicht des Willens auf alles Zeitliche, sondern auch für die
Loslösung von geistlichem Besitz, zugunsten jener geistigen Armut, die der Gottessohn als beseligend preist. Tut
die Seele aber, was in ihrer Macht steht, erringt sie Ledigkeit von allen Dingen, dann kann es nicht anders sein:
Gott tut das Seine und teilt sich ihr mit, im Verborgenen und in Stille. Eher könnte der Sonnenstrahl es unterlas-
sen, in eine unverhüllte und freigeräumte Stätte einzufallen. So wie die Sonne sich früh erhebt, um in dein Haus
einzudringen, sobald du nur die Fensterläden öffnest, so wird Gott, der stetig über Israel wacht (Ps 120, 4), flugs
in die unverstellte Seele einfallen und sie mit göttlichen Gaben erfüllen.

47. Gleich der Sonne steht Gott über den Seelen, um sich ihnen einzustrahlen. Jene aber, die sie hier führen, mö-
gen sich damit begnügen, sie auf so Hohes vorzubereiten, ge_ mäß der evangelischen Vollkommenheit in der
Entblößtheit der Sinne und des Geistes. Weiter sollen sie sich nicht um den Aufbau bemühen. Solches gebührt
ausschließlich dem Vater der Lichter, von dem jede gute Gabe und vollkom mene Gunst herniederstrahlt (Jak 1,
17). Denn wenn nicht der Herr das Haus erbaut, dann arbeiten wie David sagt die Baumeister umsonst (Ps 126,
11). Und weil er der übernatürliche Baumeister ist, wird er in übernatürlicher Weise in jeder Seele das Bauwerk
errichten, das er geplant hat. Hingegen wäre es deine vorbereitende Aufgabe, auf die Abtötung ihrer natürlichen
Betätigungen und Neigungen hinzuarbeiten, zumal die Seele weder Geschick noch Kraft besitzt, solch übernatür-
liches Bauwerk zu errichten. Sie würde dieses Werk mehr stören als unterstützen; und deine Aufgabe wäre es, die
Seele auf solche Bescheidung vorzubereiten. Und Gottes ist es, wie der Weise sagt, ihr den Weg zu ebnen den Weg
hin zu den übernatürlichen Gütern, und das auf Weisen, die weder von der Seele noch von dir begriffen werden
(Spr 16, 19). Sag darum nicht: «Oh, die Seele kommt nicht voran, weil sie nichts tut!» Wenn es wahr ist, daß sie
«nichts tut», so will ich dir eben daraus beweisen, daß sie viel tut: wenn sich die Erkenntniskraft von natürlichen
oder geistlichen Sonderinhalten befreit, dann schreitet sie voran; und je mehr sie frei ist von Sonderinhalten und
Vorstellungen, um so mehr schreitet sie voran auf dem Wege zum höchsten, übernatürlichen Heil.

48. O du wirst sagen, daß sie hier nichts deutlich erkennt und darum nicht vorankommen kann. Ich sage dir aber,
daß sie nicht vorwärtskommt, solange sie deutlich erkennt. Und zwar aus dem Grunde, weil Gott, das Ziel der
Erkenntniskraft, diese Kraft übersteigt. So ist er ihr unbegreiflich und unzugänglich; und mit ihrer Erkenntnistä-
tigkeit kommt sie Gott nicht näher. Und so hat sie sich eher von sich selber und ihren Erkenntnissen zu entfernen,
um sich Gott anzunähern. Im Glauben muß sie voranschreiten, glaubend und nicht erkennend. Und solcherart
gelangt die Erkenntniskraft zur Vollkommenheit; denn durch den Glauben und nicht durch andere Mittel ver-
einigt sie sich mit Gott. Denn die Seele gelangt mehr durch Nicht Begreifen als durch Begreifen zu Gott. Und so
darfst du dir darüber keine Sorgen machen. Denn sofern die Erkenntniskraft auf ihrem Wege nicht umkehrt, das
heißt sich nicht in Einzelwahrnehmungen und Verstandesübungen zersplittert, sondern in gelassener Sammlung
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verbleibt, dringt sie voran, frei wie sie ist von allem Vereinzelten, von all dem, was nicht Gott, unfaßbar dem Ver-
stand, ist. Nicht umkehren ist in diesem Fall der Vollkommenheit bereits Vorangelangen; und das Vorangelangen
der Erkenntniskraft bedeutet, sich immer stärker auf den Glauben stützen. Dies aber heißt, durch immer dichteres
Dunkel gehen, denn der Glaube ist Dunkelheit für die Erkenntniskraft. Und da diese Kraft nicht wissen kann, wel-
cherart Gott ist, so muß sie sich in ihr NichtBegreifen ergeben und so ihm entgegengehen. Zu ihrem Heile muß
sie eben das tun, was du verdammst ausschließen muß sie alle deutlichen Inhalte, von denen sie auf dem Wege zu
Gott eher behindert als gefördert wird.

49. O du wirst sagen, daß der Wille müßig bleibt und nicht lieben kann, wenn die Erkenntniskraft nicht deutlich
erkennt ein Zustand, der auf dem Wege des Geistes immer zu meiden ist. Der Wille könne nur das lieben, was von
der Erkenntniskraft erfaßt worden ist. Das gilt freilich für die natürlichen Betätigungen der Seele, bei denen der
Wille nur das liebt, was die Erkenntniskraft deutlich erfaßt. Doch bei der Kontemplation, darin Gott Wesentliches
von sich eingießt, bedarf es keiner deutlichen Bewußtseinsinhalte, keiner Akte des Begreifens. Denn in einem
Nu teilt ihr Gott zugleich Licht und Wärme mit, ein übernatürliches hebevolles Innewerden, durchwärmendem
Licht vergleichbar eine Erleuchtung, die zugleich Liebe erregt, in einer dem Verstande undeutbaren und dun-
keln Weise. Von solcher Gotterfahrung sagt Dionysius, sie sei für die Erkenntniskraft ein dunkler Strahl. Wie das
Begreifen in diesem Vermögen, so ist auch die Liebe in der Willenskraft. So wie dort gottgewirkte Einsicht allge-
mein und dunkel erscheint, ohne unterscheidendes Begreifen, so liebt hier der Wille im Allgemeinen, ohne eine
erkannte Einzelheit zu unterscheiden. Als Licht und Liebe gießt Gott beiden Vermögen, der Erkenntniskraft wie
der Willenskraft, in gleicher Weise seine Mitteilung ein, Verständnis und Liebe. Doch da Gott in diesem Leben
nicht begriffen werden kann, ist das Begreifen dunkel, und dunkel ist die Liebe im Willen. Jedoch mitunter teilt
sich Gott bei diesem zarten Erleben machtvoller mit, oder er dringt stärker in das eine Vermögen als in das andere.
So wird das eine Mal mehr Einsicht als Liebe erfahren, ein anderes Mal mehr Liebe als Einsicht, und mitunter nur
Einsicht ohne Liebe, und wiederum ausschließlich Liebe. Soweit also die Seele natürliche Akte des Verstandes
setzt, kann sie nicht lieben ohne zu erkennen. Doch bei dem, was Gott in der Seele vollzieht, wie er es hier tut,
verhält es sich anders: sehr wohl kann er sich einer einzigen Seelenkraft mitteilen und die anderen ausschließen;
so kann er den Willen durch die inbrünstige Berührung seiner Liebe entflammen, ohne daß die Erkenntniskraft
es begreift so wie jemand vom Feuer erwärmt werden kann, ohne es zu sehen.

5o. So wird sich der Wille oft ergriffen und leidenschaftlich entflammt fühlen, ohne darum irgend etwas sonder-
licher zu verstehen als zuvor. Gott ordnet in der Seele die Liebe, wie es die Braut im Hohenliede sagt: «Er führte
mich in sein Weingelaß und ordnete in mir die Liebe» (Hl 2, 4). So darf die Gelassenheit der Seele hier nicht Be-
sorgnis erregen; unterläßt sie es, in sich Liebeswallungen zu vereinzelten Gegenständen zu erregen, dann erweckt
Gott in ihr die Liebe, berauscht sie insgeheim mit eingegebener Liebe, mithilfe der Gotterfahrung oder auch ohne
bewußten Vorgang. Solch ein Vollzug ist, als ein Akt der Seele, umso köstlicher und verdienstvoller als der Einge-
bende und Erwecker solcher Liebe erhabener ist, der Erwecker Gott.

51. Solche Liebe gießt Gott dem Willen ein, wenn er ihn ledig findet, losgelöst von Sonderneigungen zu Irdischem
oder Überirdischem. Darum sei man darauf bedacht, die Willenskraft von ihren Neigungen losgelöst zu halten.
Wenn sie dann nicht durch irgendein Sondergelüst zur Umkehr verleitet wird, führt Gott sie weiter, auch wenn
sie sich dessen nicht im besonderen bewußt wird; dann erhebt sie sich über alle Dinge hin zu Gott, da sie nach
nichts anderem mehr verlangt. Und ihn, Gott wenn sie ihn auch nicht in deutlicher Sonderheit genießt, wenn sie
ihn auch nicht mit klarer Unterscheidung liebt, so genießt sie ihn dennoch in dieser Eingießung auf allgemeine,
dunkle, geheime Weise mehr als alle deutlichen Dinge. Denn es ist ihr nunmehr klar bewußt, daß nichts sie so
befrieden kann wie diese stillende Einsamkeit. Und sie liebt ihn über alles Liebenswerte; alles andere Wohltuende
ist ihr fremd geworden und widrig. Nicht versäumt sie sich mehr mit der Freude an vereinzelten Akten. Vorwärts
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drängt sie; denn nicht umkehren, um etwas Sinnfälliges zu umfassen, heißt voraneilen zu etwas Unnahbarem, zu
Gott. Und somit ist es kein Wunder, wenn sie sich dessen nicht bewußt wird. So muß die Willenskraft auf ihrem
Wege zu Gott eher losgelöst von allem Reizvollen und Köstlichen vorgehen als daran angeklammert. Und dank
ihrer Ledigkeit von allen Dingen, erfüllt sie dergestalt das Gesetz der Liebe, Gott über alles zu lieben.

52. Ebenso wenig darf es Sorge machen, wenn die Gedächtniskraft ohne das Geleit ihrer Formen und Gestalten
vorgeht. Da Gott weder Form noch Gestalt hat, so gelangt diese Kraft frei von Formen und Gestalten auf siche-
rem Wege näher hin zu Gott. Denn je mehr sie Vorstellungen nachgeht, um so mehr entfernt sie sich von Gott
und um so gefährdeter ist ihr Weg; denn da Gott unausdenkbar ist, kann ihn die Einbildungskraft nicht fassen.

53. Es haben jene geistlichen Führer kein Verständnis für die Seelen, die sich in dieser friedvollen einsamen Kon-
templation befinden. Weil sie selber nicht so weit gelangt sind und selber nicht erfuhren, was es heißt, über die
ruhelosen Meditationen hinauszugelangen, vermeinen sie, die Seelen wären nur müßig. Und so verstören oder
verhindern sie den Frieden gelassener Gotterfahrung, den Gott ihnen hinschenkt, so werden jene auf den Weg
der Meditationen und bildhaften Vorstellungen zurückgenötigt, zum Vollzug innerer Akte. Jene Seelen aber füh-
len dabei in hohem Maße Widerstreben, Trockenheit und Zerstreutheit. Ist es doch ihr Verlangen, in ihrer heili-
gen Muße und friedvollen Sammlung zu verharren. Trotzdem sie in solchem Zustand keine Weide für ihre Sinne
finden, keinen Halt, keinen Antrieb zur Betätigung, reden diese Führer ihnen dennoch zu, auf lustvolle Andachts-
übungen auszugehen, gerade das Gegenteil von dem, was sie anraten sollten. Da aber die derart Geleiteten bereits
über solche Übungen hinausgehoben wurden, beunruhigen sie sich um so mehr, in der Furcht, irrezugehen, und
diese Führer bestärken sie in der Furcht, sie trocknen ihren Geist aus und nehmen ihnen die kostbaren Salbungen,
mit denen Sie von Gott in Einsamkeit und Stille veredelt wurden. Schweren Schaden tun sie damit den Seelen an,
sie in Trauer und Erdenstaub versenkend. Sie verlieren das Eine und leiden fruchtlos durch das Andere.

54. Solche Führer wissen nicht, was Geist ist. Überaus ehrfurchtlos handeln sie gegen Gott, da sie mit ihrer plum-
pen Hand in das Werk seiner Hände hineinpfuschen. Es hat Gott viel gekostet, jene Seelen so weit zu erheben;
und er schätzt es hoch, sie zu jener Einsamkeit, jenem Schweigen ihrer Vermögen und Betätigungen gebracht zu
haben: nun kann er zum Herzen sprechen, wonach es ihn immer verlangt, kann sein Werk vollenden und in der
Seele herrschen mit Überfülle schlichtenden Friedens; hinschwinden läßt er die natürlichen Bewegungen der
Seelenkräfte, die, auch wenn sie die ganze Nacht arbeiten, doch nichts leisten; den Geist weidet er ohne Wirken
und Werk der Sinne; denn der Sinn und sein Gewirk können den Geist nicht fassen.

55. Und wie wert ihm dieses Gestilltsein, diese Einschläferung und Entfremdung der Sinne ist, das zeigt sich in der
eindringlichen, wirksamen Beschwörung, die er im Hohenliede ausspricht: «Ich beschwöre euch, Töchter von
Jerusalem bei den Hinden und Hirschen des Feldes: schreckt meine Geliebte nicht auf, laßt sie schlafen, solange
sie es begehrt» (Hl 5,3). Damit verdeutlicht er, wie hoch er hier Einschläferung und abgeschiedenes Vergessen
schätzt, da er diese so einsamen und zurückgezogenen Tiere anführt. Aber diese Spiritualen wollen es nicht, daß
die Seele zur Ruhe kommt und gestillt wird; immer soll sie nach ihnen arbeiten und immer so wirken, daß sie
Gottes Wirken keinerlei Raum gibt und mit ihren Regungen alles verwischt und austilgt, was er bereits in ihr he-
rausgebildet hat. Den «Füchslein» gleichen jene Führer: sie «zertreten den blühenden Weinberg» der Seele (Hl
2, 15). Und darüber klagt der Herr mit den Worten des Isaias: «Ihr habt meinen Weinberg zertreten» (Is 3, 14).

56 Vielleicht irren sie aus gutem Eifer, da ihr Verständnis nicht so hoch reicht. Allein das nimmt ihnen nicht die
Verantwortung für die Ratschläge, die sie voreilig erteilen, ohne sich zuvor über den geistigen Weg zu vergewis-
sern, den die Seele geführt wird. Verständnislos fahren sie mit ihrer rohen Hand dazwischen und überlassen sie
nicht dem, der sie versteht; und das ist kein geringfügiges Vergehen, eine Seele mit ihren dreisten Ratschlägen
106
dahin zu bringen,

unschätzbare Heilsgüter einzubüßen oder gar zerrüttet zu verbleiben. Wer demnach aus Anmaßung irrt, wäh-
rend er wie ein jeder in seinem Beruf zur Einsichtigkeit verpflichtet ist, der wird nach dem Maße der von ihm
verschuldeten Schädigung seine Strafe empfangen. Denn die Sache Gottes kann nur mit offenen Augen und viel
Feingefühl angefaßt werden, zumal wenn es sich um so Erhabenes und Bedeutsames handelt wie die Förderung
dieser Seelen, um ein Wagnis, das beim Gelingen unendlichen Gewinn bringt und beim Mißlingen unendlichen
Verlust.

57. Wolltest du etwas zu deiner Entschuldigung vorbringen wenn ich auch nicht weiß, was , du würdest doch den
nicht entlasten können, der die von ihm betreute Seele niemals aus seiner Gewalt entläßt, aus wer weiß welchen
Rücksichten und Absichten, die nicht ungestraft bleiben werden. Da es gewiß ist, daß eine solche Seele auf dem
Wege des Geistes, (auf dem ihr Gottes Hilfe sicher ist) emporsteigen soll, muß ihre Gebetsweise dem angepaßt
sein; sie bedarf einer anderen, höheren Unterweisung, eines anderen Geistes. Nicht alle wissen Rat bei allen Ge-
schehnissen und Zielsetzungen auf dem Wege des Geistes, nicht alle haben eine so überragende Klugheit, daß sie
in jeder Phase des geistlichen Lebens wüßten, wie eine solche Seele gelenkt werden muß. Zum mindesten darf
solch ein Führer nicht wähnen, daß er selber alles verstünde und daß Gott davon ablassen wolle, selber die betref-
fende Seele heranzubilden. Nicht jeder, der ein Holz zurechthobeln kann, vermag ein Bild daraus zu schnitzen;
und nicht jeder, der es im Groben zu schnitzen weiß, vermag es auszuarbeiten und zu glätten; und nicht jeder, der
es zu bemalen weiß, vermag ihm die letzte Vollendung zu geben. Keiner vermag über seine Kenntnisse hinaus
eine Gestalt auszubilden; überschritten sie diese Grenze, würden sie das Gebild nur zerstören.

58. Und laß uns sehen! du, der du nur abzuhobeln vermagst, das heißt, der du die Seele nur bis zur Weltverach-
tung und bis zur Abtötung ihrer Leidenschaften und Triebe bringst oder bestenfalls im Groben schnitzest und
die Seele bis zur heiligen Meditation und nicht weiter förderst: wie wirst du diese Seele bis zur letzten Vollendung
zarter Bemalung bringen? Solche Vollendung besteht nicht im Abhobeln, nicht im Schnitzen, selbst nicht in der
Umrißgestaltung, sondern in dem Werk, das Gott in der Seele vollbringt. Willst du sie in deiner immer gleichen
Lehre auf die immer gleiche Weise gefesselt halten, dann gleitet sie sicher zurück oder bleibt doch auf der Stelle.
Sag an, ich bitte dich, was kommt dabei heraus, wenn du an diesem Gebild immer nur hobelst und hämmerst,
wenn du immer nur die Seelenvermögen arbeiten lassest? Wann soll dies Abbild vollendet werden? Wann willst
du das Werk der Bildnerhand Gottes überlassen? Ist es möglich, daß du all diese Aufgaben bewältigst, und hältst
du dich für so unvergleichlich, daß die Seele nur deiner bedarf und keines andern?

59. Gesetzt, du genügest für irgendeine Seele, vielleicht für eine solche, die zu höherem Flug nicht befähigt ist.
Aber unmöglich kannst du für all die Seelen genügen, die du nicht aus deinen Händen freigibst. Gott führt eine
jede von ihnen auf anderem Wege; denn es findet sich kaum ein Geist, der in seiner Weise auch nur zur Hälfte mit
der eines anderen übereinstimmt. Wer kann wie Paulus von sich sagen, daß er allen alles sein könne, um alle zu
gewinnen (1 Kor 9, 22)? Du aber vergewaltigst die Seelen auf diese Art, du nimmst ihnen die Freiheit und maßest
dir selber die ganze Weite der evangelischen Lehre an, so sehr, daß du sie nicht nur bei dir festhalten willst, nein,
schlimmer, du ereiferst dich, wenn sie bei einem anderen irgendwelche Klärung gesucht haben. Eine Seele kann
eine Angelegenheit mit einem andern besprechen, weil es vielleicht mißlich wäre, sie mit dir zu beraten oder weil
Gott selber ihr solches eingibt, da jener sie das lehren kann, was du sie nicht lehren konntest. Du aber ich sage es
nicht ohne Scham du machst ihr Auftritte der Eifer sucht, wie sie zwischen Eheleuten vorkommen. Das ist kein
Eifern für Gottes Ehre oder für das Heil jener Seele denn du wirst nicht so vermessen sein zu behaupten, die Seele,
die dich in dieser Sache verletzte, habe Gott verletzt. Eifern deiner Anmaßung ist das, und deines Hochmutes oder
einer anderen unvollkommenen Regung.
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60. Groß ist Gottes Zorn gegen solche. Durch Ezechiel droht er ihnen Strafe an: «Mit der Milch meiner Herde
habt ihr euch genährt und mit ihrer Wolle habt ihr euch bedeckt. Dennoch habt ihr meine Herde nicht geweidet.
Aus euern Händen werde ich meine Herde zurückfordern» (Ez 34, 8).

61.Folglich müssen die Seelenführer den Seelen Freiheit lassen; sie sind verpflichtet, ihnen eine gute Miene zu
zeigen, wenn diese bessere Unterweisung suchen. Denn sie wissen nicht, auf welchem Wege Gott eine Seele för-
dern will, zumal dann, wenn sie mit der bisherigen Unterweisung unzufrieden ist ein Zeichen, daß sie auf solche
Weise nicht mehr gefördert wird. Entweder führt Gott sie nunmehr selber, oder es taugt ihr ein anderer Weg als
der bisher gewiesene, oder der Führer selber ist von seinem Verfahren abgewichen. Das mögen die Seelenführer
beherzigen; eine andere Haltung entspringt törichter Anmaßung und Überheblichkeit oder einem sonstigen An-
spruch.

62. Doch lassen wir dies Verhalten; setzen wir uns mit anderem, mit einem pestgleichen Vorgehen dieser Führer
auseinander, mit einem solchen oder noch schlimmeren Weisen. Es kann geschehen, daß Gott einigen Seelen
heilige Wünsche eingibt, Antriebe, die Welt zu verlassen, die Lebensform zu ändern und ihm zu dienen mit einer
Verachtung der Welt, die Gottes Wunsch und Gottes Führung entspricht. Und da kommen jene mit menschli-
chen Rücksichten und Vernünfteleien, die Christi Lehre und seinem demütigen weitabgewandten Leben zuwi-
derlaufen; sie fußen auf ihrem eigenen Nutzen und Geschmack oder lassen sich von Furcht bewegen, wo nichts
zu fürchten ist. Sie führen jenen Seelen Schwierigkeiten vor Augen, zögern die Entscheidung hinaus; oder noch
schlimmer bemühen sich, ihr Herz eines so heiligen Wunsches zu berauben. Haben sie doch selber nur geringe
Gottesfurcht; ist ihr Geist doch weltlich gewandet und kaum von Christus angerührt. Da sie selber nicht durch
die enge Pforte des Lebens eintreten, lassen sie auch die anderen nicht eintreten. Solchen droht unser Heiland, im
Lukasevangelium: «Wehe euch, ihr habt den Schlüssel zur Erkenntnis euch angeeignet, ihr habt sie euch nicht er-
schlossen, und anderen versperrt ihr den Zugang» (Lk 11, 52). Wahrhaftig, sie verriegeln die Himmelstür, damit
jene, die Rat bei ihnen nachsuchen, nicht hindurchgehen können. Sie wissen wohl, was Gott ihnen geboten hat:
die Einlaßheischenden nicht nur gewähren zu lassen, sondern ihnen zum Eintritt zu verhelfen, ja mehr, sie zum
Eintritt zu nötigen, gemäß den Herrenworten bei Lukas: «Auf, dränge sie, hereinzukommen, damit sich mein
Haus mit Gästen fülle» (Lk 14, 23). Sie aber zwingen sie im Gegenteil, draußen zu bleiben. Wer sich so verhält, ist
ein Blinder, der das Leben der Seele, den Heiligen Geist zu stören vermag. Doch bewirken derartige Seelenführer
noch viele hier nicht genannte Störungen, die einen mit vollem Wissen, die andern aus Unwissenheit. Aber die
einen wie die andern erwartet ihre Strafe. Denn sie sind dazu berufen und verpflichtet, sich über die Tragweite
ihrer Handlungen Klarheit zu verschaffen.

63. Als zweiten Blinden, der die Seele bei dieser Weise der Sammlung verwirren kann, nannten wir den Dämon:
sein Trachten ist, daß die Seele blind sei wie er. Die erhabenen Entrückungen, darin sie die zarten Salbungen
des Heiligen Geistes in sich aufnimmt, erregen bei ihm Ärgernis und Neid; denn er weiß, daß die Seele dadurch
bereichert wird, ja in ihrem Aufschwung ihm ungreifbar wird. Um ihr das zu nehmen, diese Abgeschiedenheit,
die Entfremdung von jedem Geschöpf und von jeder Spur eines Geschöpfes, versucht er, ihre Entrückung mit
einigen verblendenden Wahrnehmungen und umnebelnden Lustgefühlen zu durchsetzen, selbst mit guten. Das
soll die Seele sättigen und zu deutlichen Vorstellungen und sinnenhaften Wirkweisen zurückführen, zurück zu
einem Vergegenwärtigen und Umfangen jener guten Gefühle und Gedanken, damit sie ihr zum Halt dienen auf
ihrem Wege zu Gott. Und auf solche Weise vermag er sie aufs leichteste abzulenken und ihrer Abgeschiedenheit
zu entreißen, ihrer Sammlung, darin der Heilige Geist ihr geheime Herrlichkeit verleiht. Da nun die Seele von
Natur zum Fühlen und Genießen geneigt ist, und da sie sogar in Unkenntnis ihrer Berufung mitunter auf solche
Gefühle ausgeht, so heftet sie sich unbedenklich an jene lustvollen Eindrücke, die ihr der Dämon erregt, und
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gibt so die gottgewährte Einsamkeit preis. Weil sie in jener Abgeschiedenheit und Stille ihrer Vermögen nichts
schaffte, scheint ihr dies andere, bei dem sie etwas schafft, das Bessere. Ein großer Jammer ist es, daß die Seele sich
selber nicht versteht und es deshalb vorzieht, als kleinen Bissen eine Sonderwahrnehmung, eine Andachtslust zu
sich zu nehmen, statt daß Gott selber sie ganz zu sich nimmt. Denn solches tut Gott in der von ihm bewirkten
Abgeschiedenheit: mit jenen Salbungen des Geistes zieht er die Einsame ganz in sich.

64. Auf solche Weise, mit einem Etwas, fast mit einem Nichts, verursacht der Dämon schwersten Schaden. Durch
ihn verliert sie gewaltige Schätze. Mit einem winzigen Köder lockt er sie, gleich einem Fisch, aus den insellosen,
einhelligen Gewässern des Geistes, darin sie in Gott versunken war, ohne Halt für Hände und Füße. Damit zieht
er sie ans Ufer, wo sie fußen und fassen kann, wo sie mühselig über den Boden hinkriecht, anstatt in den lautlosen
Wassern Siloes zu schwimmen, zu baden in göttlichen Salbungen. Und erstaunlich ist es, wie eifrig der Dämon
einer solchen Seele nachstellt; freilich wiegt bei ihr eine geringfügige Schädigung schwerer als größere Schädi-
gungen bei vielen anderen Seelen. Es gibt kaum Seelen auf solchem Aufstieg, denen er nicht erhebliche Schädi-
gungen und Verluste zufügt. Denn dieser Verderber stellt sich arglistig beim Übergang zwischen sinnenhaftem
und geisthaftem Verhalten auf, die Seelen trüglich mit eben diesem Sinnenhaften lockend, mit quer in den Weg
gestellten Empfindungsreizen. Und nicht denkt die Seele, daß solcher Anreiz ihr Verlust bringt; und so unterläßt
sie es, in das Innere des Bräutigams einzugehen und bleibt auf der Schwelle haften, um rückwärtsschauen zu kön-
nen, auf das, was draußen im Gebiet des Sinnenhaften vorsichgeht. «Alles Hohe sieht der Dämon,» sagt Job (Job
41, 25), das heißt, er sieht die geistige Höhe der Seelen, um sie anzufechten. Wenn sich die Seele nun zur Höhe
der Entrückung erheben sollte, so mag es sein, daß er sie nicht mehr auf die bezeichnete Weise zerstreuen kann;
dann bemüht er sich, zum mindesten Entsetzen, Angstzustände oder körperliche Schmerzen zu erregen oder
irgendwelche äußeren Empfindungen, wie Geräusche, um sie so aus der geistigen Vertiefung herauszureißen. Erst
wenn all das versagt, läßt er sie in Ruhe. Doch zumeist glückt es ihm leicht, diese erlesenen Seelen abzulenken
und zu verstören, was ihm lieber ist als viele geringere zugrundezurichten; und so fällt es ihm nicht schwer, immer
wieder seine Künste spielen zu lassen. In diesem Zusammenhang läßt sich verstehen, was Gott zu Job über ihn
sagte (Job 40, 18): «Verschlingen kann er einen Strom, als wäre er nichts; und er zweifelt nicht, daß der Jordan
in seinem Rachen Raum hat»; wobei unter Jordan die höchste Vollendung zu verstehen ist. Und weiter: «Mit
offenen Augen wird er von ihm geangelt werden; und mit Pfriemen wird er ihm die Nasenflügel durchbohren.»
Gemeint sind die befallenden Vorstellungen, mit denen er der Seele zusetzt und ihren Geist ablenkt; denn die
Luft, die von den Nasenflügeln zusammengehalten wird, entweicht bei deren Durchbohrung nach vielen Seiten.
Und weiter sagt er:

«Unter seinen Füßen werden die Sonnenstrahlen sein; und Gold wird er verstreuen, als wäre es Schmutz» (Job
41, 21). Denn wunderbare Strahlen göttlicher Eingebungen nimmt er den erleuchteten Seelen; und köstliches
Gold von göttlicher Prägung entwendet er den reichen Seelen, um es zu vergeuden.

65. O habt acht, Seelen! Zurzeit, wo Gott euch so erhabene Gnaden erweist und euch, die Abgeschiedenen,
Gesammelten, selber emporführt und euch eurem mühseligen Sinnenwesen enthebt, fallt nicht ins Sinnenhafte
zurück! Laßt ab von euren Betätigungen! Wohl haben sie euch zuvor geholfen, als ihr begannet, die Welt und
euch selber zu verleugnen; doch jetzt, wo Gott euch die Huld erweist, selber der Tätige zu sein, sind sie großes
Hemmnis und Hindernis. Habt vielmehr Sorge, mit euern Vermögen auf nichts einzugehen, sondern sie von
allem loszulösen; das ist das Einzige, was ihr in solchem Zustand von eurer Seite tun müßt, in Verbindung mit
jenem liebevollen, einfachen Hinmerken, von dem ich zuvor sprach, mit einem bereitwilligen, ungezwungenen
Hinmerken. Denn keine andere Gewalt sollt ihr euch antun, als euch loszulösen und von allem freizumachen, um
die Glätte eures Friedens nicht aufzuwühlen; und dann wird euch Gott, unbehindert von euch, mit himmlischer
Erfrischung speisen.
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66. Der dritte Blinde ist die Seele selber, die in Selbstverkennung sich verstört und schädigt. Sie weiß nichts als
mit Sinnesempfindungen und Gedankenfolgen zu arbeiten; und wenn Gott sie nun in jene entrückte Einsamkeit
versenken will, darin sie ihre eigenen Kräfte nicht betätigen kann, dann meint sie solche Untätigkeit durch Akte
überwinden zu müssen. Und so wird die Seele zerfahren, unlustig und trokken, während sie zuvor den gelassenen,
stillen Frieden des Geistes genoß, den Gottes Großmut ihr insgeheim verlieh. Und es kann geschehen, daß Gott
darum kämpft, sie in jener verschwiegenen Beschwichtigung festzuhalten, und daß sie ihm hartnäckig mit ihrer
Einbildungskraft und ihrem Verstände widerstreitet, um mit eigenen Kräften sich zu betätigen. Hierin gleicht sie
dem kleinen Kinde, zu dem die Mutter sich beugt, um es auf den Arm zu nehmen: das Kind aber wehrt sich mit
Schreien und Strampeln, um auf eigenen Füßen zu gehen; und so kommt es weder selber zum Gehen, noch läßt
es die Mutter gehen. Oder es ist, als wolle ein Maler ein Bild ausführen, und es rüttle ein anderer daran: so entsteht
entweder nichts, oder das Bild wird verwischt.

67. Es muß sich die Seele bewußt sein: wenn sie auch in solchem Zustand kein Fortschreiten, kein Geschehen
gewahrt, sie schreitet viel weiter fort, als wenn sie sich auf eigenen Füßen bewegte; denn Gott trägt sie in seinen
Armen voran. Und so empfindet sie das Schreiten nicht, obgleich sie im Schrittmaß Gottes hingetragen wird. Und
wenngleich sie ihre Kräfte nicht betätigt, erwirkt sie mehr als wenn sie es täte; denn Gott ist der Wirkende. Und
daß sie solches nicht zu gewahren vermag, ist nicht erstaunlich. Denn was Gott nunmehr in der Seele formt, das
ist den Sinnen unzugänglich. Es vollzieht sich im Schweigen so wie der Weise sagt: «Der Weisheit Worte werden
im Schweigen empfangen» (Prd 9, 17). Es überlasse sich die Seele den Händen Gottes. Nicht liefere sie sich den
eigenen Händen aus und nicht den beiden andern Blinden. Tut sie das nicht und setzt sie nicht ihre Vermögen ins
Spiel, dann geht sie sicher.

68.Doch kehren wir zurück zu den tiefen Höhlen der Seelenkräfte. Das Leiden der Seele ist gewaltig, wenn Gott
sie in diesen Tiefen mit den erlesensten Salbungen des Heiligen Geistes auf die Einigung mit sich vorbereitet.
Und diese Salbungen sind von so zarter Gewalt, daß sie in den innersten Kerngrund der Seele eindringen und
sie mit ihren Würzen vorbereiten, bis ihr Verlangen und Schmachten ebenso riesig wurde, wie es die Leere dieser
Höhlungen ist.

Wenn aber diese Salbungen, als Vorbereitung der Seele bis in ihre Abgründe für ihre mystische Vermählung mit
Gott, bereits so unvergleichlich sind, wie müssen wir uns erst die Erfülltheit mit Einsicht, Liebe und Seligkeit vor-
stellen, die in der Gotteinigung von den Vermögen des Erkennens, des Wollens und Vergegenwärtigens gewon-
nen wird! Sicherlich unermeßlich wie das Dürsten und Schmachten jener Abgründe wird nunmehr ihre Erfüllt-
heit, ihre Stillung und Wonne sein. Und entsprechend der meisterhaften Vorbereitung wird auch die Schönheit
des Gewonnenen sein und die Erlesenheit des Genusses für den Sinn.

69. Als Sinne der Seele wird hier die Kraft und Fähigkeit bezeichnet, mit denen die Substanz der Seele die geist-
haften Gegenstände jener Kräfte empfindet und genießt. Mit diesem Sinn genießt sie Gottes Hingabe, seine
Weisheit und Liebe. Zutreffend nennt darum die Seele ihre Vermögen des Erinnerns, Erkennens und Wollens in
jenem Verse «des Sinns abgründige Höhlen»; denn mit ihrer Hilfe und in ihnen empfindet und genießt sie aufs
tiefste die Erhabenheiten göttlicher Weisheit und Kraft. Wirklich kann die Seele von tiefen Höhlen sprechen. Da
sie fühlt, wie in diese die tiefen Einsichten und Widerscheine der Feuerleuchten eingehen, so erkennt sie auch,
daß sie soviel Aufnahmefähigkeit, soviel schoßgleiche Buchten besitzt, wie sie von Gott unterschiedliche Einsich-
ten, Genüsse und Freuden empfängt. All dieses wird in dem Sinn der Seele empfangen und zusammengehalten,
alles, was die abgründigen Höhlen für solchen Sinn speichern; in solcher Fassungskraft erlebt, besitzt und genießt
die Seele alles Empfangene in seiner Ganzheit. So wie der innere Sinn der Phantasie angereichert wird von den
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Wahrnehmungen der äußeren Sinne, und wie er zu ihrer Schatzkammer wird, so ist der innere Sinn der Seele
Schatzkammer der Herrlichkeiten Gottes; und er ist in dem Maße glanzvoll und reich, wie er von diesem hehren,
strahlenden Besitz in sich bergen kann.

nicht länger blind von Dünsten

70. Blind war dieser Sinn, bevor Gott ihn durchhellte und erleuchtete. Es gibt bei dem Gesichtssinn zwei Ursachen
für den Ausfall des Sehvermögens: Dunkelheit der Umgebung oder Blindheit. Gott ist das Licht und der Gegen-
stand der Seele. Wenn ihr dies Licht nicht leuchtet, dann ist sie im Dunkeln, mag ihre Sehkraft auch ausgezeichnet
sein. Verharrt sie in Sünde, oder sind ihre Triebe von Gott abgewandt, dann ist sie blind. Und in solcher Blindheit
sieht sie nicht ihre eigene Finsternis, nicht ihre Unwissenheit, auch wenn Gottes Licht auf sie eindringt. Bevor
Gott sie in ihrer Umwandlung erneuerte, war sie verdunkelt und unwissend gegenüber den göttlichen Heilsgü-
tern wie es der Weise von seinem Zustand vor seiner Erleuchtung durch die Weisheit bekennt: «Sie erleuchtete
all meine Unwissenheit» (Sir 51, 26).

71. In geisthaftem Sinne besteht ein Unterschied zwischen «im Dunkeln sein» und «in Finsternis sein». Dem-
nach heißt «in Finsternis sein» verblendet, in Sünde sein. Im Dunkeln kann man jedoch ohne Sünde sein, und
das auf zwei Weisen: durch fehlendes Licht für natürliche Gegenstände sowie für einige übernatürliche Dinge.
Und gegenüber dem Natürlichen wie dem Übernatürlichen, so bekennt die Seele, war ihr Sinn noch im Dun-
keln vor jener unschätzbaren Salbung. Bevor der Herr sagte: «Es werde Licht!» lagerten Finsternisse über den
abgründigen Tiefen des Seelensinnes. Und je abgründiger dieser ist, um so abgründiger sind seine Buchtungen,
um so tiefer und dichter sind die Finsternisse vor dem Übernatürlichen, wenn Gott, das Licht dieses Sinnes, ihn
nicht erleuchtet. Und es ist ihm unmöglich, die Augen zum göttlichen Licht zu erheben und die Gedanken darauf
zu richten, da es ungesehen und darum ihm unbekannt blieb. Deshalb kann er dies Licht auch nicht erstreben,
vielmehr erstrebt er die Finsternisse, da er sie kennt. So gleitet er von Finsternis zu Finsternis, von jener Finsternis
geführt. Denn eine Finsternis kann nicht führen, es sei denn, sie führe zu einer anderen Finsternis. So sagt David:
«Der Tag kündet es dem Tag, und die Nacht gibt ihr Wissen an die Nacht» (Ps 18, 3). So ruft ein Abgrund den
andern: ein Abgrund des Lichtes ruft einen andern des Lichtes, ein Abgrund der Finsternis einen solchen, da
Gleiches sich zu Gleichem findet. Nachdem aber das Licht der Gnade auf die Seele niedergestrahlt war und den
Abgrund ihres Geistes damit aufgehellt hatte, nachdem Gott sie seinem Licht erschloß und sie vor sich wohlge-
fällig machte, da rief dieser Abgrund der Gnade einen andern Abgrund der Gnade: die Umwandlung der Seele in
Gott. Mit solcher Umwandlung wird das Auge des Sinnes so aufgehellt und so annehmbar für Gott, daß Gottes
Licht und der Seele Licht eines genannt werden können. In dieser Vereinigung des natürlichen Lichtes der Seele
mit dem übernatürlichen Gottes ist es das übernatürliche allein, das hinausstrahlt so wie das erste Licht, das Gott
schuf sich derart mit dem Sonnenlicht vereinigte, daß nunmehr das Licht der Sonne allein hinausstrahlte, ohne
daß darum das andere erlosch.

72. Auch war dieser Sinn ein blinder wegen seines Geschmacks an anderen Dingen. Denn die Blindheit des hö-
heren, vernünftigen Sinnes besteht in dem Trieb, der sich gleich Dünsten und Wolken quer über das Auge der
Vernunft legt und den Blick auf das Sichtbare ihm benimmt. Und sofern der Trieb jenem Sinn einen Reiz dicht
vor Augen stellte, war er blind für das Große, für Gottes Pracht und Schönheit hinter solchem Gedünst. Es genügt
der kleinste Gegenstand, der auf die Augen gelegt wird, um den Blick für Gewaltiges, unmittelbar vor den Augen
Ragendes abzudichten; und so genügt ein leichtes Gelüst, ein eitler Vorgang in der Seele, um die göttliche Herr-
lichkeit zu verdekken, die hinter den von der Seele beliebten Gelüsten und Genüssen bereitsteht.

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1 Da Gott das Licht am ersten Schöpfungstag, die Sonne aber erst am dritten schuf. Vgl. dazu Thomas, Summa
Theologica I q 67 a 4 ad 2.

73. O wer könnte hier darlegen, wie unmöglich es für die begehrliche Seele ist, das Göttliche nach seinem Wesen
zu beurteilen! Denn für solches Urteil muß Gelüst und Genuß gänzlich ausgetrieben werden. Sonst trüben sie
das Urteil, und die Seele kommt unvermeidlich dahin, das Göttliche für nichtgöttlich und das NichtGöttliche
für göttlich zu halten. Mit diesem Gewölk des Triebes vor der Urteilskraft gewahrt die Seele nichts als Dunst, ein
Gewoge bald von dieser, bald von jener Farbe. Und diesen Dunst hält sie für Gott, weil sie nichts anderes gewahrt
als Dunst, der ihren Sinn überdeckt und ihn für Gott unempfänglich macht. So verhindert Sinnenhaftes, Gelüst
und Genuß, das Gewahren des Erhabenen. Der Weise macht solches wohlverständlich: «Die Eitelkeit verdunkelt
trügerisch die Güter; und die Unbeständigkeit der Begier verkehrt den geraden Sinn» (Wh 4, 12). Gemeint ist
das klare Urteil.

74. So werden jene, deren Triebe und Gelüste nicht hinreichend vergeistigt, sondern noch irgendwie animalisch
sind, das für etwas Großes halten, was dem Geiste niedrig und kläglich ist, was sich aber dem Sinnenhaften, nach
dem sie noch leben, am meisten annähert; umgekehrt werden sie das geringschätzen, was der Geist am höchsten
schätzt, das, was sich am meisten vom Sinnenhaften entfernt. Und mitunter halten sie solches sogar für Wahnsinn,
wie es Paulus bezeugt: «Der Sinnenmensch ist nicht empfänglich für das Geistige Gottes; ihm ist solches Wahn-
sinn; und nicht vermag er es zu begreifen» (1 Kor 2, 14). Als Sinnenmensch ist hier der zu verstehen, der immer
noch nach seinen natürlichen Trieben und Gelüsten lebt. Wohl mögen einige dieser Gelüste vom Geist her auf
den Sinn übergreifen; allein wenn der Mensch sich solcher Regung mit seinen natürlichen Trieben bemächtigt,
werden solche Regungen zu reinnatürlichen. Mag der Gegenstand oder der Beweggrund übernatürlich sein, falls
der Trieb im Natürlichen wurzelt und wächst, bleibt er natürlicher Trieb. Denn er verhält sich seinem Wesen nach
kaum anders, als wäre er aus natürlichem Beweggrund und Gegenstand hervorgegangen.

75. Nun wirst du mir einwenden: danach würde die Seele Gott nicht übernatürlich erstreben; und so wäre ihr
Begehren vor Gott nicht verdienstvoll. Ich antworte: es ist wahr, daß der Seele Begierde nach Gott nicht immer
übernatürlich ist, sondern nur dann, wenn Gott sie eingießt und ihr die Kraft des Anstrebens verleiht; und solches
Verlangen ist sehr verschieden von dem natürlichen Begehren, das gar nicht oder nur sehr wenig verdienstvoll ist,
solange Gott es nicht bekräftigt. Wenn also du, aus Eigenem, Begehren nach Gott hegen willst, so ist und bleibt
das eine natürliche Begierde, solange bis Gott dich übernatürlich erleuchten will. Willst du also von dir aus dein
Begehren an geisthafte Dinge heften, willst du dir aus ihnen Lust aneignen, dann betätigst du deinen natürlichen
Trieb, dann verblendest du deine Augen mit Dunst und bist ein Triebwesen. Und dann hast du kein einsichti-
ges Urteil über das Geisthafte, das alle natürlichen Sinne und Triebe übersteigt. Und wenn du weiterhin Zweifel
hegst, dann weiß ich dir nichts anderes zu sagen, als daß du meine Worte nochmals lesest und sie vielleicht dann
verstehst. Denn bereits ausgesprochen ist die wesentliche Wahrheit. Sich darüber weiter zu verbreiten, ist nicht
angebracht.

76.Dieser Sinn der Seele, der zuvor dunkel war ohne Gottes Licht und blind in seinen Trieben und Neigungen,
ist jetzt bis in seine tiefsten Buchten hinein klar durchleuchtet dank dieser Einigung mit Gott, ja mehr: er ist jetzt
selber ein ausstrahlendes Licht mitsamt allen Höhlungen seiner Vermögen.

in fremder Himmelsreine
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dem Liebsten beides, Licht und Wärme spenden

77Da nun diese Höhlungen der Vermögen schon so wundergleich mit den hehren Strahlen jener Feuerleuchten
verschmolzen sind, mit diesen klaren Brünsten in der Seele, so entsenden sie über ihre Gotthingabe hinaus den
gleichen Strahlglanz, den sie in beseligter Liebe empfangen haben in Gott zu Gott zurück. Hingeneigt in Gott zu
Gott, sind diese Abgründe in der Ausstrahlung der göttlichen Leuchten selber zu Feuerleuchten geworden, die
dem Geliebten das gleiche Licht, die gleiche Liebesglut hinschenken, die sie von ihm empfangen. Auf die gleiche
Weise, wie sie die Lichtbrunst empfingen, geben sie diese an ihn, der sie gab und sie wieder empfängt; und sie tun
es mit dem gleichen Schönheitsglanz, den er ihnen gibt so wie das Fensterglas beim Auftreffen der Sonne blen-
denden Glanz zurückwirft. Nur ist jener andere Widerschein erhabener, da der Wille dabei ins Spiel tritt.

78. In fremder Himmelsreine das heißt, fremd und unzugänglich allem gewöhnlichen Denken, allem Ausdruck,
aller Weise. Denn der Vollkommenheit, womit die Erkenntniskraft, vereint mit Gottes Erkennen, die göttliche
Weisheit empfängt, entspricht die Vollkommenheit, womit die Seele sie gibt. Sie kann dies Vollkommene nur in
der Weise geben, wie es ihr gegeben wurde. Und entsprechend der Vorzüglichkeit, in der der Wille mit der Güte
vereint ist, gibt sie Gott in Gott eben diese Güte zurück, denn sie empfängt ja nur, um zu geben. Und entsprechend
der Vollkommenheit, womit sie Gottes Großheit aufnimmt, und geeint mit dieser, strahlt und lodert sie Liebe aus.
Und der Vorzüglichkeit anderer Eigenschaften Gottes, wie Stärke, Schönheit, Gerechtigkeit, die er hier der Seele
mitteilt, entspricht die Vorzüglichkeit, womit der Sinn in seinem Geliebten freudig an seinen Geliebten gibt die
gleiche feurige Helle, die er von seinem Geliebten empfängt. Mit ihm eines geworden, ist sie in gewisser Weise
Gott durch Teilhabe. Doch ist sie das noch nicht so vollkommen wie im andern Leben; sie ist, wie wir es nannten,
gleich Gottes Schatten. Da sie kraft ihrer wesenhaften Überformung zu Gottes Schatten geworden ist, so wirkt sie
in Gott durch Gott, was er in ihr durch sich selber wirkt; und sie tut es auf seine Weise. Denn der Wille der beiden
ist eins; und so ist Gottes Wirken eins mit ihrem Wirken. Wenn Gott sich demnach mit freiem, gnadenreichem
Willen ihr hingibt, so tut sie das gleiche, kraft ihres Willens, der um so freier und freigebiger ist, je mehr er mit Gott
geeint ist: in Gott schenkt sie Gott an Gott selber. Und es ist eine wahrhafte und vollständige Gabe der Seele an
Gott. Denn hier wird es der Seele bewußt, daß Gott wirklich ihr Eigen ist, und daß sie, angenommen von Gott als
Gottes Kind, ihn mit dem Recht des Erben zueigen hat. Gott in seiner Huld gab sich selber ihr hin. Und so kann
sie ihn als ihr Eigen gemäß ihrem liebenden Willen verschenken und mitteilen : so gibt sie ihn ihrem Geliebten,
gibt ihn an Gott selber, der sich ihr hingab. Nach ihrem Willen gibt sie ihm soviel zurück, wie sie von ihm emp-
fängt; und so zahlt sie Gott zurück, was sie ihm schuldet.

79 Die Seele schenkt ihm als ihr Eigenes den Heiligen Geist, mit willentlicher Hingabe, damit er in diesem Geiste
sich nach seinem Wert liebe. Und damit gewinnt sie unergründliche Wonne und Seligkeit; wird sie doch inne,
daß sie Gott etwas ihr Eigenes schenkt, eine Gabe, die ihm nach seinem unendlichen Sein entspricht. Und wenn
die Seele Gott auch nicht in Wirklichkeit Gott geben kann, weil er in sich selber immer der gleiche ist, so tut sie
es doch von sich aus in aller Vollkommenheit und Wahrhaftigkeit, alles hingebend, was er ihr gab, weil sich die
Liebe nur an solcher Gleichheit von Geben und Nehmen ersättigt. Und Gott ist befriedigt von solcher Gabe der
Seele denn geringeres könnte ihn nicht zufriedenstellen. Er weiß ihr Dank; wie für ein Geschenk aus dem Schatz
der Seele. Und in solcher Freude des Gebens liebt auch die Seele wie mit neu anhebender Liebe. Und so entsteht
zwischen Gott und der Seele wirklich eine wechselseitige Liebe, in Übereinstimmung mit der ehelichen Vereini-
gung und Hingabe, wobei das Gut der beiden, nämlich die göttliche Wesenheit, von jedem auf freie Weise beses-
sen wird, auf Grund der freiwilligen Hingabe des einen an den anderen. Und einer sagt zu dem anderen, was der
Gottessohn bei Johannes zum Vater sagt: «Alles, was mein ist, ist dein; und was dein ist, ist mein; und in solchem
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Austausch bin ich verherrlicht» (Joh 17, 10). Solches vollzieht sich im anderen Leben, im beseligten Genießen,
ohne Unterbrechung; hier jedoch geschieht es, wenn Gott in der Seele das Bewußtsein ihrer Umwandlung er-
weckt, ob wohl der Vollzug noch nicht so vollkommen ist wie im andern Leben. Daß die Seele ein so großes
Geschenk darbringen kann, obgleich es ihr eigenes Sein und Können weit übersteigt, das ist unzweifelhaft. Denn
es kann ja auch einer, der über viele Völker und Reiche herrscht, die viel gewichtiger sind als er, sie dennoch nach
seinem Belieben verschenken.

80. Dies ist die große Befriedigung und Genugtuung der Seele, Gott offensichtlich mehr zu geben, als sie in sich
ist und wert ist Gott als ihr Eigentum mit größter Freigebigkeit an Gott selber zu vergeben, mit der gleichen gött-
lichen Helle und göttlichen Glut, die sie empfängt. Und solches vollzieht sich im anderen Leben kraft des Lichtes
der Glorie und in diesem kraft des ganz aufgehellten Glaubens. Auf solche Weise geben «des Sinns abgründige
Höhlen ohne Enden nicht länger blind von Dünsten in fremder Himmelsreine» dem Liebsten beides, Licht und
Wärme. Beides zusammen denn es teilen sich Vater, Sohn und Heiliger Geist zugleich der Seele mit, als Feuer-
leuchten der Liebe.

81. Die strahlende Vollendung, mit der die Seele solche Hingabe ausführt, sei hier kurz vermerkt. Es kann gesagt
werden, daß die Seele hier einen Widerschein des Himmelsglanzes genießt, dank der Einigung der Erkenntnis-
kraft und des Gefühls mit Gott. Und in dankbarer Entzückung über so große Gunst vollzieht sie diese Hingabe
Gottes und ihrer selbst an Gott wundersam hold. In der Liebe neigt sich die Seele zu Gott in fremder Himmels-
reine, und ebenso bietet sie sich ihm in diesem Widerschein der Glorie, und ebenso in ihrem Gotteslob, ihrer
Danksagung.

82. In der Liebe scheinen bei der Seele vor allem drei Vollkommenheiten hervor: der erste Vorzug ist, daß die See-
le nicht um ihretwillen Gott liebt, sondern um seinetwillen ein staunenswerter Vorzug, denn die Seele liebt kraft
des Heiligen Geistes so, wie der Vater und der Sohn sich lieben. Das bekundet der Sohn durch den Evangelisten
Johannes: « Die Liebe, mit der du mich liebtest, sei in ihnen und ich in ihnen» (Joh 17, 26). Der zweite Vorgang
ist, Gott in Gott zu lieben; denn in dieser Einigung geht die Seele ungestüm in Gottesliebe auf, und Gott gibt sich
mit großer Gewalt an die Seele hin. Der dritte Vorzug bei dieser Liebe ist, Gott als den zu lieben, der er ist. Liebt sie
ihn doch nicht nur, weil er etwa für sie freigebig, gut oder beseligend ist; viel feuriger liebt sie ihn, weil er in seiner
Ganzheit all dieses wesentlich ist.

83. Und bei jenem Widerschein der beseligenden Glorie besitzt sie drei wunderbare wesentliche Vorzüge: die
Seele genießt hier Gott durch Gott selber. Denn da die Seele ihre Erkenntniskraft in die Allmacht, Weisheit, Güte
und andere göttliche Eigenschaften einsenkt, wenn auch nicht so vollständig wie im andern Leben, genießt sie
frohlockend all das Erkannte im Einzelnen. Der zweite Hauptvorzug bei solcher Entzückung ist die Reinheit, mit
der sie ausschließlich Gott aufnimmt, ohne irgendeine Beimischung von Geschöpflichem. Der dritte Vorzug ist
es, ihn nur nach seiner Wesenheit zu genießen, ohne Beimischung einer eigensüchtigen Befriedigung.

84. Auch bei der Lobpreisung, die von der Seele in dieser Einigung Gott dargebracht wird, zeigen sich drei Vorzü-
ge. Die Seele lobpreist Gott in dem Bewußtsein, daß sie dazu

berufen, dafür geschaffen ist. So wie es Isaias verkündet: Dies Volk bildete ich für mich. Lobpreisungen soll es mir
singen» (Is 43, 21). Die zweite Vollkommenheit des Gotteslobes ist es, daß es vom Dank für die empfangenen
Heilsgüter und von der Freude am Gotteslob beschwingt wird, nie dritte Vollkommenheit solchen Lobes ist es,
daß es Gott um seiner selbst willen preist, und daß die Seele auch wenn es ihr keinerlei Freude brächte, Gott loben
würde, weil er ist.
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85. Auch ihre Dankgebete weisen drei Vorzüge auf. Sie sagt Dank für alles Empfangene, für natürliche und geist-
hafte Gaben und für die Segnungen. Der zweite Vorzug ist die große Erquickung, die ihr das Dankgebet bereitet;
denn mit großem Ungestüm wird sie zur Danksagung hingerissen. Die dritte Vollkommenheit ist die Danksa-
gung an Gott für das, was Gott ist eine viel stärkere und köstlichere Weise des Dankes.

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