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Fünf Enttäuschungen:
1. Sie bekommen keine Einführung in pädagogische Theorien. Das hatte ich Ihnen ja schon gesagt.
Genauer bedeutet dies: keine Geschichte der pädagogischen Theorien; keinen Überblick über das
Spektrum der gegenwärtig vertretenen Positionen in der Pädagogik oder über die
Hauptströmungen der Pädagogik. Es wird immer wieder mal einen Hinweis auf theoretische
Positionen geben, auch auf geschichtliche Zusammenhänge, klassische Texte usw.; aber dies
geschieht unvollständig und punktuell.
2. Sie bekommen keine Systematik pädagogischer Theorie. Die einzelnen Vorlesungen bauen nicht
systematisch aufeinander auf. Eher könnte man sagen, dass es gut ein Dutzend Einführungen in
die Pädagogik geben wird. Jede einzelne Vorlesung soll für sich verständlich sein und in ein
pädagogisches Thema einführen. Querverweise wird es geben. Aber das ist noch keine Systematik.
3. Sie bekommen keine Übersicht über die Gliederung und Struktur der pädagogischen Disziplinen,
also nach der Art: Die wissenschaftliche Disziplin Pädagogik teilt sich auf in: Allgemeine
Pädagogik, Berufspädagogik, Schulpädagogik, Sozialpädagogik, Religionspädagogik,
Erwachsenenbildung, Medienpädagogik usw.
4. Sie bekommen auch keinen Überblick über alle relevanten pädagogischen Praxisfelder, die ja zum
Teil mit der Disziplinstruktur zusammenhängen.
5. Sie bekommen keine Einführung in das Studium der Pädagogik. Wenn Sie also Antworten auf
solche Fragen erwarten: Was heißt studieren? Wie baue ich mein Studium auf? Welche
Besonderheiten bringt das Fach Pädagogik für das Studium mit sich? Wie schreibe ich eine
Hausarbeit? Wie halte ich ein Referat? usw. – muss ich Sie ebenfalls enttäuschen.
Jetzt werden Sie sich vielleicht fragen, was denn dann überhaupt übrigbleibt. In einem Satz
zusammengefasst, möchte ich es so formulieren: Ich werde versuchen, Sie auf einem theoretischen
Wege einzuführen in pädagogische Realität.
Bei diesem Satz möchte ich es aber nicht bewenden lassen. Eine nähere Erläuterung ist nötig,
damit Sie sich etwas darunter vorstellen können. Ich werde genauer klären, was mit dem Satz
gemeint ist.
Gehen wir also davon aus, dass in dieser Vorlesung in pädagogische Realität eingeführt werden
soll. Dann stellen sich einige Fragen, zum Beispiel:
• Woher weiß ich eigentlich, was Realität ist? Aus Erfahrung? Aus eigener oder aus
mitgeteilter Erfahrung? Aus Dokumentarberichten? Aus mit speziellen Methoden
gewonnenen Erfahrungen? Aus quantitativen Messdaten? Aus Statistiken?
• Was ist das Pädagogische an Realität? Ist es die Tatsache, dass es in der Schule oder in der
Familie geschieht? Ist alles, was in diesen Institutionen geschieht, Pädagogik? Sind Prügel
pädagogische Realität? Ist Babysitten Pädagogik? Wodurch ist etwas als pädagogisch
charakterisiert? Wer legt solche Charakteristika fest?
• Ist Pädagogik eine existierende Realität oder eine sein sollende? Ist sie ein Faktum oder
eine Norm? Unterscheiden wir also an der Realität zwischen dem, was die Bezeichnung
„pädagogisch“ verdient und dem, was es – wie vielleicht die Prügel – nicht verdient?
• Ist Pädagogik das, was man von Ihnen in Ihrem künftigen Berufsfeld erwartet, eine
Forderung an Sie, ein Auftrag? Oder ist es das, was Sie selbst tun wollen, eine Forderung,
die Sie an sich selbst haben, eine Aufgabe, die Sie sich selbst stellen?
Die Antworten auf all diese Fragen verstehen sich keineswegs von selbst. Und damit wird auch
schon klar, dass selbst dann, wenn wir über Realität sprechen wollen, wir nicht an theoretischen
Überlegungen vorbeikommen. Die Realität der Pädagogik kann nicht einfach für sich selbst
sprechen; sie ist uns nicht einfach an sich und durch sich selbst präsent, sondern nur vermittelt
durch Überlegungen über diese Realität, durch begriffliche Bestimmungen. Natürlich gibt es die
unmittelbare, sprachlose Erfahrung mit Pädagogik, die zum Beispiel ein neugeborenes Kind
macht. Aber um diese Erfahrung als pädagogische qualifizieren zu können und das heißt um über
diese Erfahrung als Pädagogik sprechen zu können, bedarf es des Nachdenkens. Es tut mir also
leid für alle Praxis- und Realitäts-Fans: Ohne Theorie ist nichts zu machen!
Wenn Sie sich gleich in der Pause die Titel der einzelnen Vorlesungen ansehen, dann soll mit
ihnen also erstens jeweils ein Stück pädagogischer Realität bezeichnet werden. Zugleich aber
stecken in diesen Begriffen theoretische Überlegungen, durch die Qualitäten von Realität
rekonstruiert werden sollen, die diese Realität als pädagogische ausmachen.
Und was soll nun bei dieser Einführung für Sie nachher herauskommen?
• Dass Sie am Ende hier rausgehen und sich sagen können, aha, so geht also Pädagogik, so
muss ich es machen, wenn ich wahrhaft Pädagoge heißen will?
• Oder: Aha, das ist also Pädagogik. Wie furchtbar! Nichts schrecklicher, als Pädagoge zu
sein. Schleunigst das Berufsziel wechseln!
• Oder dass Sie anschließend einfach so richtig gut bescheid wissen und überall als Experte
auftreten und die Wahrheit über die Pädagogik herumerzählen können?
• Oder eine Prüfung in Pädagogik bestehen können?
• Oder dass Sie hinterher wissen, wie es richtig wäre, wenn …! Und jetzt die Ärmel
aufkrempeln und diese beschissen unpädagogische Realität zu einer wahrhaft
pädagogischen machen?
Das sind alles Möglichkeiten. Ich werde Ihnen nicht sagen, was das, was ich hier vortrage, für Sie
bedeuten soll. Das werden Sie selbst entscheiden müssen. Denn zwischen der Theorie und der
Praxis gibt es – auch wenn die Theorie sich mit der Praxis befasst und keine Nabelschau betreibt
– eine Differenz, die nicht von der Theorie her zu überwinden ist. Anders ausgedrückt: Es
kommen nicht-theoretische Momente ins Spiel. Zum Beispiel Ihr Lebensgefühl: Trauen Sie sich
zu, etwas zu verändern? Haben Sie Erfahrungen gemacht, die Sie eher resignieren lassen? Bestätigt
das, was Sie von mir hören, Ihre pessimistische Weltsicht? Oder fühlen Sie sich dadurch bestärkt
in Ihrer zuversichtlichen Grundeinstellung?
Dass nichttheoretische Momente ins Spiel kommen, sagt nichts gegen die Bedeutung der
Theorie. Ganz und gar nichts. Sie können allein auf einer gefühlsmäßigen Ebene keine
Entscheidungen treffen, keine praktischen Konsequenzen ziehen. Sie können nur Ihren Gefühlen
Ausdruck geben: weinen, lachen; jemanden in den Arm nehmen. Aber das ist keine Praxis, die in
Zusammenhänge eingreift; kein Handeln. Das sind emotionale Reaktionen auf etwas, das
geschieht. Was geschieht, kann nicht durch Ihre Gefühle beeinflusst werden, außer, Sie lassen
ihre Gefühle handlungsleitend werden. Aber dann sind sie mehr als Gefühle. Sie sind dann, wie
Humboldt, der frühe Theoretiker der bürgerlichen Bildung, 1792 formulierte, „ideenreiche
Gefühle”, wie auch die Ideen, die der handelnde Mensch verfolgt, dann „gefühlvolle Ideen” sind.
Um Ihre Gefühle handlungsleitend werden zu lassen, müssen Sie Theorie betreiben. Um Theorie
zu betreiben wiederum, muss das Gefühl Sie nicht verlassen. Im Gegenteil: Die Motivation, sich
mit Theorie zu befassen, wurzelt ja in dem Wunsch, was im Gefühl zum Ausdruck kommt, eine
bestimmte Qualität nämlich der Beziehung zur Welt und zum anderen Menschen wie zu sich
selbst, im Handeln so wirksam werden zu lassen, dass diese Welt so werde, wie das Gefühl sie
will: liebenswert und liebevoll. Das mag romantisch klingen, und manche/r wird sich sagen, dass
solche Sentimentalitäten schlecht zur Nüchternheit wissenschaftlicher Theoriebildung passen, da
sie möglicherweise doch das Hirn eher vernebeln, als dass sie zur Aufklärung beitragen.
Diese Bedenken gegen Gefühlsduselei in der Wissenschaft sind – gerade in der Pädagogik, die
dazu besonders neigt – ernst zu nehmen. Aber ebenso ernst zu nehmen ist die Gefahr, die von
einer Wissenschaft ausgehen kann, welche menschliche Gefühle übergeht. Nehmen wir uns also
vor, achtsam zu sein und beide Gefahren nicht aus dem Auge zu verlieren.
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Nicholas Lens: Eia Eia! Fetus in Vulva (vom Album Terra Terra 1999)
„Von wo wir beginnen …“ Das ist eine mehrdeutige Formulierung. Sie kann meinen „Von wo
wir in dieser Vorlesung beginnen“. Und so ist sie auch gemeint.
Eine zweite Bedeutung kann darin liegen, dass wir danach fragen, von wo wir als Pädagoginnen
und Pädagogen beginnen; wo also die pädagogische Tätigkeit ansetzt. Auch das ist gemeint.
Sie kann schließlich unseren Anfang, den Beginn des Menschseins ansprechen. Von wo beginnen
wir, wenn wir uns als Menschen entwickeln, das heißt in einer sozialen Umwelt empfangen, von
Menschen um- und versorgt, gepflegt, erzogen und gebildet werden und wenn wir so begleitet
unseren Lebensweg beginnen?
Die heutige Vorlesung ist, so sagte ich, eine „Ouvertüre“. Und eine Ouvertüre nimmt oft ein
Leitmotiv vorweg, das danach die musikalische Entwicklung des Hauptstücks prägt. Als ein
solches Leitmotiv, das also in der gesamten Vorlesung immer wieder aufgenommen werden und
anklingen wird, habe ich für diese Vorlesung die Geburt gewählt.
Das Musikstück aus der Operntrilogie von Nicholas Lens, dessen lateinischen Text ich Ihnen in
Übersetzung vorhin gezeigt habe, handelt davon. Das erste Stück gleich zu Anfang der heutigen
Vorlesung sprach von den abertausend Seelen, die darauf warten, einen Körper zu finden, um
wiedergeboren zu werden. Im zweiten Stück wurde die Seele besungen, die nun einen Körper
gefunden hat und mit ihm geboren werden will, voller Erwartung auf das neue Leben, das ihr
bevorsteht. Und die damit alles vergisst, was sie als unsterbliche Seele doch schon einmal wusste,
die wieder ganz von vorne beginnt.
Ich beginne also meine Einführung in die Pädagogik mit dem Thema Geburt.
Und unser aller Leben als getrennte, eigene Personen begann mit unserer Geburt.
Die Geburt ist schließlich der Zeitpunkt und das Ereignis, an dem die soziale Umwelt sich einem
Menschen in seiner eigenen getrennten Existenz aktiv zuwendet. Sie ist also auch das Ereignis, bei
dem die Pädagogik beginnt.
Die Auseinandersetzung mit der Geburt eines Menschen ist von fundamentaler Bedeutung für
die Pädagogik. Ich werde versuchen, diese Bedeutung unter drei Hauptfragestellungen zu
umreißen:
• Woher kommt dieser Mensch?
• Wie wird dieser Mensch aufgenommen?
• Wohin geht dieser Mensch?
Begleitet werden meine Ausführungen durch die Projektion von Portraits bedeutender
Persönlichkeiten. (Der Rest der Vorlesung wird begleitet von der Projektion von Großaufnahmen
von Säuglingen.)