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2.

Erziehung I: Antipädagogik
Musik: Pink Floyd – Another Brick In The Wall (1979).
Vom Album „The Wall“ (1980)

2.1 „We don’t need no education!”?


Daddy hat sich davongemacht über den Ozean.
Ließ nur eine Erinnerung zurück,
einen Schnappschuss im Familienalbum.
Daddy, was hast Du mir sonst noch dagelassen?
Daddy, was hast Du für mich zurückgelassen?
Alles in allem nur einen Stein in der Mauer:
Alles in allem nur Steine in der Mauer.…
Wir brauchen keine Erziehung,
wir brauchen keine Gedankenkontrolle,
keine dunkle Bösartigkeit im Klassenzimmer.
Lehrer, lasst die Kinder in Ruhe.
Lehrer, lass uns Kinder in Ruhe.
Alles in allem ist es nur ein weiterer Stein in der Mauer.
Alles in allem seid Ihr nur weitere Steine in der Mauer.
(Pink Floyd, Another Brick In The Wall)
Lehrerinnen und Lehrer, Pädagoginnen und Pädagogen, lasst die Kinder in Ruhe; lasst die Finger
von den Kindern. Das ist die Botschaft des Pink-Floyd-Songs. Eine antipädagogische
Botschaft.Wer wie Sie Pädagogik studiert, für den ist es wohl erstmal eine Selbstverständlichkeit,
dass es Pädagogik geben muss, also dass es zwingende Gründe gibt, die Finger nicht von den Kids
zu lassen. Für eine Vorlesung zur Einführung in die Pädagogik muss man wohl ebenfalls
annehmen, dass sie nicht vorhat, in etwas einzuführen, dessen Existenzberechtigung sie
grundsätzlich infrage stellt.
Wenn also jetzt zu Beginn des ersten Teil einer Vorlesung, die dem Begriff der Erziehung
gewidmet ist, ein Song gespielt wird, dessen Text eine antipädagogische Message zum Ausdruck
bringt, dann ist die Erwartung naheliegend, dass mir die antipädagogische Position lediglich als
negative Folie zur Legitimation der Pädagogik dienen soll.
In der Tat will ich nicht so tun, als ob die Frage für mich noch grundsätzlich offen sei, ob der
Pädagogik überhaupt eine Existenzberechtigung zukommt. Nicht, weil ich eine Vorlesung zu
diesem Thema halte. Das besagt nämlich noch gar nichts. Eine Vorlesung über den Krieg als
Form der Auseinandersetzung unterstellt noch kein Plädoyer für den Krieg. Sie kann auch von
einem Pazifisten gehalten werden. Und von den Antipädagogen wird Pädagogik ja als eine Art
Kriegführung der Erwachsenen gegen die Kinder aufgefasst. Eine theoretische Erörterung der
Pädagogik unterstellt daher noch kein Plädoyer für die Pädagogik.
Etwas anders sieht es natürlich mit der Einbindung der Lehre in die Ausbildung von
Pädagoginnen und Pädagogen aus. Ein Pazifist müsste schon seine Probleme damit haben, seine
Kritik des Kriegs als Beitrag zur Qualifizierung von Offizieren für das Kriegshandwerk
vorzutragen. So gesehen wäre auch die Antipädagogik grundsätzlich sicher schwer als Beitrag zur
Berufsausbildung von Pädagoginnen und Pädagogen zu legitimieren, außer eben in dem negativ
abgrenzenden Sinne, dass es immer gut ist, wenn man die Argumente des Gegners kennt.
Diese Vorlesung ist Teil pädagogischer Berufsausbildung. Und daher können Sie davon ausgehen,
dass ich keine antipädagogische Position vertrete. Es stellt sich also die Frage, wie ernst die
Auseinandersetzung mit der Antipädagogik überhaupt sein kann; ob diese nicht vielleicht als eine
Art Pappkamerad herhalten muss, gegen den man seine eigene Legitimation von Pädagogik stark
macht.
Ich kann Ihnen nur versichern, dass ich die Einwände der Antipädagogik gegen die Pädagogik
sehr ernst nehme, dass ich viele der pädagogischen Argumente gegen die Antipädagogik (und für
die Pädagogik) nicht für richtig halte, dennoch aber nicht zu einer antipädagogischen
Konsequenz gelange. Warum, das will ich Ihnen heute erläutern.

2.2 Über Antipädagogik


Als wir aufwuchsen und zur Schule gingen;
gab es da diese Lehrer, welche die Schüler quälten, wo sie nur konnten,
indem sie ihren Senf dazutaten
zu allem, was wir machten,
und jede Schwäche aufdeckten,
sosehr die Kinder auch versuchten, sie zu verbergen.
Aber in der Stadt wusste man genau:
Wenn sie abends nach Hause kamen, würden ihre fetten
und psychopathischen Frauen sie verprügeln,
Tag für Tag ihr Leben lang.
Wir brauchen keine Erziehung,
wir brauchen keine Gedankenkontrolle,
keine dunkle Bösartigkeit im Klassenzimmer.
Ihr Lehrer, lasst die Kinder in Ruhe.
Du Lehrer, lass uns Kinder in Ruhe.
Alles in allem ist Erziehung nur ein weiterer Stein in der Mauer.
Alles in allem seid Ihr nur weitere Steine in der Mauer.
(Pink Floyd, Another Brick In The Wall)
Ist dies überhaupt eine antipädagogische Botschaft? Klar, es ist von„education” die Rede, und das
übersetzen wir mit Erziehung. Aber die Erzieher, von denen die Rede ist, sind die Lehrer.
Dennoch – der Song wendet sich nicht gegen die Schule. Er wendet sich nicht gegen die
Berufstätigkeit von Lehrern, nicht gegen das Unterrichten, sondern dagegen, dass Lehrer sich als
Erzieher aufspielen. In der Pädagogik gibt es eine Forderung, die lautet: Unterricht möge auch
erziehend sein. Damit ist nicht das gemeint, was im Pink-Floyd-Song angesprochen wird: dass
Lehrer zu allem ihren Senf dazutun müssen, dass sie die Schüler permanent zu kontrollieren und
bloßzustellen versuchen, dass ihr Verhalten von einer dunklen Bösartigkeit ist, dass sie ihren
eigenen Lebensfrust an den Kindern ausleben. Erziehend soll Unterricht vielmehr dadurch sein,
dass er nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch zu einem Verhalten führt, das als „sittlich”
oder moralisch, das meint: als einer menschlichen Existenz angemessen bezeichnet werden kann.
Im Pink-Floyd-Song ist nicht von solchen Idealen der Erziehung die Rede, sondern von der
Erziehungsrealität, wie sie viele erfahren haben. Also – könnte man einwenden – ist die
vermeintlich antipädagogische Botschaft in Wirklichkeit nur gegen eine falsche Erziehung
gerichtet. Nicht „education” überhaupt, sondern eine bestimmte bösartige Form davon wird
nicht gebraucht. Damit soll man die Kinder in Ruhe lassen. Und insofern könnte der Song
indirekt sogar als ein Plädoyer für „richtige”, „gute” Erziehung verstanden werden.
Wir müssen jetzt nicht versuchen, die Frage zu klären, wie genau der Text gemeint ist. Das
können wir offen lassen. Doch gibt es Texte, die in dieser Hinsicht unmissverständlich sind. Aus
einem solchenText möchte ich Ihnen einige Passagen vorlesen. Es handelt sich um einen Entwurf
für ein Kinderprogramm der Grünen aus dem Jahre 1983.
„Kinder gehören sich selbst, nicht den Eltern und nicht dem Staat. Der Lebensraum der Kinder
und Jugendlichen wird in der heutigen Industriegesellschaft von klein an aufs unerträglichste
beschränkt. Die Entwicklung der Technik, zum Beispiel des Straßenverkehrs, der Fabriken, der
Chemie, der Atomindustrie, der Kriegsrüstung usw. hat die tägliche Umwelt besonders der
Kinder lebensbedrohlich verändert. Da heute Arbeit, Freizeit und Lernen immer weiter
auseinanderfallen, leben die Menschen fremdbestimmt, das heißt weitgehend isoliert voneinander
in konkurrierenden Kleinfamilien. Die Eindämmung der Beweglichkeit durch immer mehr
Asphalt und Beton ist nur ein äußeres Zeichen dafür, daß die Erwachsenen den Zugriff auf die
gesamte Zeit und Person von Kindheit und Jugend proben.
Die Zärtlichkeit geht dabei immer mehr verloren. Liebevolle Beziehungen zwischen Jüngeren
und zwischen jüngeren und älteren Menschen werden von kleinauf verhindert und verboten, weil
sie dem Leistungsprinzip im Wege stehen. Das Liebesverbot und die Verunsicherung führen so
weit, daß selbst Eltern nicht wissen, welches Maß an Zärtlichkeit sie den Kindern überhaupt
geben dürfen, ohne dafür bestraft zu werden. Sie schämen sich auch offen zuzugeben, daß jeder
Zärtlichkeitswunsch zu Kindern, auch die sogenannte Mutterliebe, einen sexuellen Aspekt hat.
An die Stelle der Zärtlichkeit treten Statussymbole, Konsumzwang, bewußt gefördertes
Konkurrenzverhalten, Erziehung, sowie die verschiedenen Formen alltäglicher Gewalt. Wer, wie
die Grünen einen gewaltfreien und straffreien Umgang zwischen allen Menschen verwirklichen
möchte, wird unschwer erkennen, daß bereits in dem Anspruch, Kinder ‚führen‘, ‚erziehen‘ und
damit in seinem Sinne gebrauchen zu wollen, Herrschaft und Gewalt verankert sind. Somit ist
schon Erziehung schlechthin Gewalt. Frieden ist nur möglich ohne Erziehung.“
Es folgen weitere Ausführungen zur Lage der Kinder in unserer Gesellschaft. Schließlich werden
sechs Hauptforderungen aufgestellt, deren wesentliche Inhalte ich zusammenfasse:
• Das Grundrecht auf freie Bestimmung des eigenen Aufenthaltsorts für alle Kinder „von
Geburt an”.
• Die Abschaffung aller Einrichtungen, in denen Kinder nicht freiwillig sind (zum Beispiel
Heime und Jugendknaste).
• Abschaffung der Schulpflicht.
• Recht auf selbstbestimmte Sexualität.
• Autonome politische Interessenvertretung einschließlich des aktiven und passiven
Wahlrechts für Kinder.
• Recht auf wirtschaftliche Unabhängigkeit von den Erwachsenen.
Im Jahre 1984 gab es dann einen Bundesparteitag der Grünen, auf dem dieses Entwurfspapier
erfolglos eingebracht wurde.

2.2.1 Zwei Kernsätze der Antipädagogik


Dieses Papier ist in seiner antipädagogischen Haltung sicherlich unmissverständlich. Es bezieht in
seine Ablehnung Unterricht und Schule und jede sonstige Form von Fremdbestimmung
gegenüber Kindern und Jugendlichen generell mit ein. Welche Unterstellungen werden in dem
Papier gemacht?
Erstens: Erziehung schlechthin ist Gewalt. Damit ist nicht nur gemeint, dass die Erziehung, wie
wir sie hauptsächlich antreffen, gewaltförmig sei; sondern: Es kann überhaupt keine andere
Erziehung geben.
Zweitens: Erziehungsgewalt ist schädlich, moralisch verwerflich und überflüssig.
Ich meine, dies sind zwei Kernsätze der Antipädagogik. Sie gehören zusammen. Denn jeder Satz
für sich genommen begründet noch nicht die Antipädagogik. Nehme ich nur den ersten Satz, so
könnte immer noch folgen: Bedauerlicherweise aber ist sie unvermeidlich.
Nehme ich nur den zweiten Satz, könnte immer noch folgen: Aber sie muss nicht sein. Eine
gewaltfreie Erziehung ist möglich.
Die antipädagogische Aussage ist also klar. Aber ist sie auch überzeugend?
Zum ersten Satz: Erziehung schlechthin ist Gewalt. Dieser Satz wird mit „Somit …” eingeleitet.
Er soll sich also aus dem Vorhergehenden zwingend ergeben. Ich habe Ihnen das vorhin
vorgelesen. Vor diesem Satz (und auch im weiteren Fortgang der Argumentation) jedoch ist nicht
von Erziehung schlechthin die Rede, sondern von einer vorwiegenden Realität der Erziehung. Es
finden sich keine Gründe, weshalb nichts anderes möglich sein soll, weshalb Erziehung
zwangsläufig Gewalt sein soll. So lässt das Papier in seinen Begründungen Raum für den
Einwand: Was da beschrieben wird, ist schlimm. Aber es ist nicht Erziehung überhaupt, sondern
eine Fehlform von Erziehung. Die gibt es, das muss ja nicht bezweifelt werden. Aber statt daraus
die Forderung nach Abschaffung der Erziehung abzuleiten, wäre ebenso oder sogar eher die
Forderung aufzustellen, für eine bessere oder die „richtige” Erziehung einzutreten.
Zum zweiten Satz: Erziehungsgewalt ist schädlich, moralisch verwerflich und überflüssig. Indem
der Erziehung alles Unglück von Kindheit und Jugend angelastet wird: Drogensucht,
Kriminalität, Freiheitsberaubung, Unterdrückung von Zärtlichkeit und Liebe, Misshandlung,
Ausbeutung usw., einschließlich der negativen gesellschaftlichen Folgen, erscheint sie als
fundamentale Ursache für die Ent-Humanisierung des individuellen wie des gesellschaftlichen
Lebens. Dass sie daher moralisch verwerflich ist, scheint sich von selbst zu verstehen. Allerdings
nur dann, wenn klar ist, dass tatsächlich Erziehung die Ursache für die beschriebenen
Phänomene ist. Und wenn klar ist, dass Erziehung nicht nötig, dass sie überflüssig ist, weil
Kinder von Geburt an zur Selbstbestimmung fähig sind.
Beides wird in dem Papier behauptet, aber nicht wirklich begründet. Für den ersten Teil der
Aussage gilt wiederum, dass nicht die Schädlichkeit von Erziehung schlechthin, sondern die einer
bestimmten Form von Erziehung dargestellt wird. Für den zweiten Teil der Aussage gilt, dass er
lediglich gesetzt wird:
„Das für das heutige Überleben Wichtige besteht darin, daß die Grünen junge Menschen
erstmals als erwachsenen Menschen voll gleichberechtigt anerkennen und ihnen die Fähigkeit
nicht mehr absprechen, von Geburt an in wirklich eigener Regie und Selbstbestimmung ihr
Leben führen zu können. Damit ist gemeint, daß diese generell richtige Erkenntnis nicht durch
zynischen Vorbehalt angeblicher biologischer Abhängigkeit beziehungsweise Gegebenheit bei
kleinen Kindern verspottet werden darf. Selbst kleinste Kinder äußern auf ihre Weise ihre
Bedürfnisse, werden aber oft genug nicht gehört. Kinder haben von Anfang an eine eigene
Identität, die sie nicht erst erwerben müssen. Dies steht in entscheidendem Gegensatz zur
herkömmlichen verhängnisvollen Auffassung – der Mensch weiß von Anfang an nicht (bis 18
Jahre), was für ihn gut ist – also muß er ‚erzogen‘ werden, damit er lernt, was für ihn gut ist.”
Das Papier, aus dem ich zitiert habe, formulierte eine politische Position. Es bezog sich dabei
allerdings auf Argumente, die in diesen Jahren zwischen Pädagogik und Antipädagogik auf
theoretischem Felde ausgetragen wurden. In den 70er Jahren waren die grundlegenden Schriften
der Antipädagogik erschienen (von Schoenebeck; vonBraunmühl). Anfang der 80er Jahre gab es
dann einige Veröffentlichungen namhafter Vertreter der Pädagogik, in denen diese sich mit der
Antipädagogik auseinandersetzten. Und es gab wiederum Repliken der Antipädagogen auf diese
Schriften. Ich selbst habe mich1989 in einer kleinen Broschüre mit dieser Kontroverse befasst
(Sesink 1989).

2.2.2 Die antipädagogische Grundposition und die pädagogische Gegenposition


Es ist heute nicht der Raum, um alle wichtigen Argumente und Gegenargumente zu erörtern.
Daher möchte ich mich auf das konzentrieren, was Antipädagogen als ihre eigene Grundposition
bezeichnen. Denn hierauf bezogen sich zugleich in der Hauptsache die Gegenpositionen aus dem
Kreise der Pädagogen.
Der erste Kernsatz der Antipädagogik, Erziehung schlechthin sei Gewalt, wird von den
Pädagogen keineswegs rundweg bestritten. So sagt etwa H.J. Heydorn, dessen Kritische
Bildungstheorie für uns hier in Darmstadt eine besondere Rolle spielt:
„Erziehung ist das uralte Geschäft des Menschen, Vorbereitung auf das, was die Gesellschaft für
ihn bestimmt hat, fensterloser Gang! Mit der Erziehung geht derMensch seinen Weg durch das
Zuchthaus der Geschichte. Er kann ihm nicht erlassen werden. Im Begriff der Erziehung ist die
Zucht schon enthalten, sind Einfügung, Unterwerfung, Herrschaft des Menschen über den
Menschen eingeschlossen, bewußtloses Erleiden.” (Heydorn 1970, S. 9)
Die Gewaltsamkeit von Erziehung wird zugestanden. Aber daraus leitet sich keine Antipädagogik
ab. Die pädagogische Position dazu ist vielmehr die: Erziehung schlechthin mag Gewalt sein.
Aber: Sie istnotwendige Gewalt. Es gibt zu ihr keine Alternative. Sie kann, wieHeydorn sagt,
dem Menschen nicht erlassen werden.
Die antipädagogische Grundposition lautet: „Das Kind ist … fähig, von Geburt an das eigene
Beste selbst zu spüren.” (Schoenebeck 1985, S. 19)
Von Pädagogen wird dagegen eingewandt: Man kann „nicht unterstellen, daß alles, was das Kind
äußert, vernünftig ist” (Oelkers 1983, S. 547). Es ist eine problematische „Annahme, jedes Kind
– oder auch jeder Erwachsene – kenne jederzeit seine wahren Interessen. … Das wahre Interesse
… bedarf der Aufklärung, der Reflexion, der Zukunftsperspektive. Und es bedarf des Diskurses
mit den Menschen, die mit diesem Interesse verbunden und von ihm unmittelbar betroffen sind.”
(Flitner 1985, S. 102)
Die Behauptung, dass es zur Erziehungsgewalt keine Alternative gebe, ist also gegründet in einer
Gegenposition zur antipädagogischen Grundposition. Erziehung ist nötig, weil Kinder erst und
nur durchErziehung zu dem werden können, was sie werden müssen: überlebensfähige Mitglieder
einer menschlichen Gemeinschaft. Nötig ist Fremdbestimmung, so die pädagogische Position,
weil Selbstbestimmung nicht von Lebensbeginn an möglich ist.
Mit diesem Problem also, dieser Kontroverse zwischen Antipädagogik und Pädagogik über die
Selbstbestimmungsfähigkeit der Kinder, möchte ich mich jetzt weiter beschäftigen.
Wenn wir uns diese beiden Positionen ansehen, werden wir zweierlei feststellen können:
Sobald an die praktischen Konsequenzen gedacht wird, die sich aus einer kompromisslosen
Befürwortung der antipädagogischen Position ergeben, wird den meisten von uns zumindest
mulmig werden und die pädagogische Position weitaus plausibler erscheinen. Denken wir nur an
die Forderungen, die in dem Entwurf eines Kinderprogramms für die Grünen enthalten waren:
unbeschränkte Freizügigkeit für Kinder, politische Gleichstellung mit den Erwachsenen, Recht
auf sexuelle Selbstbestimmung auch im Umgang mit Erwachsenen usw.
In sich allerdings erscheint die antipädagogische Position widerspruchsfreier. Basierend auf der
Prämisse, dass Selbstbestimmungsfähigkeit sozusagen zur anthropologischen Grundausstattung
gehört, ergibt sich die einfache Forderung, ihr Raum zugeben. Es ist ja alles schon da, was
benötigt wird. Dagegen erscheint die pädagogische Position, so plausibel sie uns für diePraxis
erscheinen mag, mit einem kaum lösbaren logischenWiderspruch behaftet: Wie soll aus
Fremdbestimmung Selbstbestimmung werden können? Wie soll aus Zwang und Unfreiheit
Freiheit erwachsen? Wie es in Kants berühmtem Satz über das Grundproblem der Erziehung
heißt: Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?
Man könnte also sagen: Den Theoretiker würde die antipädagogische Position sehr entlasten.
Woher die vehemente Abwehr der Pädagogen gegen die Antipädagogik? (Denn vehement ist
diese Abwehr wirklich.) Hängen sie denn so sehr an ihrem grundlegendenTheorieproblem, dass
sie die einfache Lösung, die die Antipädagogikihnen anbietet, nicht akzeptieren können? Oder
sind sie nur das Sprachrohr der Erwachsenengeneration, die ihre Macht über die Kinder nicht
aufgeben will?
Wenn ich so manches von Pädagogen gegen die Antipädagogik vorgebrachte Argument lese, sehe
ich mich unversehens auf die Seite der Antipädagogik verschlagen. Eine ganze Reihe dieser
Argumente leuchtet mir nicht nur nicht ein. Ich halte sie auch für grundlegend falsch. Sie
begründen eine Pädagogik, die ich nicht vertreten könnte.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Michael Winkler hat 1982 ein Buch geschrieben mit dem Titel
„Stichworte zur Antipädagogik”. Darin setzt er der antipädagogischen Grundposition die
Behauptung gegenüber, der kindliche Naturzustand, also der Zustand, in dem ein Mensch zur
Welt komme, bestehe lediglich in einem „ungerichteten Drang”, einem „bloß animalischen
Bedürfnis nach Tätigkeit” (Winkler 1982, S. 175). Das Neugeborene verfüge über eine
„individuelle Ausstattung”, die sich in „Temperament”, „Aktivität” äußere, aber der
gesellschaftlichen Realität „in ihrer ursprünglichen Bestimmungs- und Mittellosigkeit”
unvermittelt gegenüberstehe. (Winkler 1982, S. 18) Erst durch die pädagogische Handlung
werde der kindlichen Aktivität Inhalt, nämlich gesellschaftlicher und humaner Inhalt vermittelt.
Subjektivität, das heißt die Fähigkeit, sein Leben und Handeln in dieser Welt selbst zu
bestimmen und zu gestalten, könne sich erst auf diesen pädagogisch vermittelten Inhalt beziehen.
„Die Pädagogik unterstellt Subjektivität als eine Möglichkeit, der das Erziehungshandeln erst
Wirklichkeit verschaffen muß. Darin nimmt sie Erkenntnisse und Einsichten der Psychologie und
Psychoanalyse vorweg, die im menschlichen Entwicklungsprozeß eine Auflösung der Objektrolle
des Kindes und eine zunehmende Fähigkeit zu selbstständigem, absichtsvollem Handeln
entdecken.” (Winkler 1982,S.19) Ich bezweifle, dass dies eine korrekte Wiedergabe der
„Erkenntnisse und Einsichten der Psychoanalyse” ist. Aber das muss hier nicht zurDebatte
stehen. Es geht um Winklers eigene Position, für deren Geltung er sich lediglich auf die Autorität
der genannten Disziplinen beruft.
Die Selbstbestimmungsfähigkeit, für die er den Begriff der Subjektivität gebraucht, hängt bei ihm
ganz entscheidend ab von der Ausbildung der Geistigkeit oder der Vernunft. Diese stellt er dem
Naturzustand des Kindes als „ungerichtetem Drang” und „bloß animalischem Bedürfnis”
gegenüber, dem Naturzustand einer „ursprünglichen Bestimmungs und Mittellosigkeit”. Indem
er so Vernunft und Natur gegenübersetzt, kommt alles, was den Menschen ausmacht, was
nämlich seinem Drang Richtung gibt, was ihn aus der bloßen Animalität heraushebt, was seiner
Existenz Bestimmung verleiht und ihn mit den nötigen Mitteln zu deren Verwirklichung
ausstattet, aus dem Geist; und die menschliche Natur sinkt herab zur bloß animalischen
Grundlage.
Hören wir noch einmal, was er selbst dazu sagt:
„Es bedeutet aber, daß im Begriff der Subjektivität der des Bewußtseins mitgedachtwerden muß.
Subjektivität hängt nämlich von den kognitiven Akten ab, durch welche sich die Menschen
sowohl der gegenständlichen Welt als auch ihrer eigenen Verfasstheit versichern. ... Daher hängt
Subjektivität von Lernprozessen ab, in denen die wesentlichen Voraussetzungen menschlicher
Existenz zum jeweiligen historischen Zeitpunkt angeeignet werden.” (Winkler 1982, S. 19f.)
Gemeint sind die geistigen und daher intellektuellen Voraussetzungen.
Mit dieser gegen die Antipädagogik gerichteten antinaturalistischen Position wird eine Pädagogik
begründet, die im Kinde, wie es auf die Welt kommt, lediglich ein bestimmungsloses Potenzial
zur Menschwerdung sieht. Alle auf das Menschsein gerichtete Aktivität dagegen muss demzufolge
von der Erziehung ausgehen. Die Erziehung ist es, welche Richtung und Bestimmung, das heißt
Sinn in die Entwicklung eines Menschen bringt. Und nur soweit der einzelne Mensch im
Verlaufe seiner Entwicklung das in sich aufnimmt, was ihm durch die Erziehung im wörtlichen
Sinne bei-gebracht wird, wird er auch zur Selbstbestimmung fähig. Diese Selbstbestimmung ist
demzufolge nichts anderes als internalisierte Fremdbestimmung.
Der irgendwann einmal ausgebildete individuelle Geist erscheint als internalisierte Instanz der
Gesellschaft. Erziehung ist das Einpflanzen dieser Instanz. Sicherlich – das ist eine Lesart der
Psychoanalyse, wenn man an die Konstruktion von Es und Über-Ich denkt. Aber doch eher eine
schlichte. Die Weiterentwicklung der Psychoanalyse in diesem Jahrhundert hat gezeigt, dass in
Freuds Theorie doch wesentlich differenziertere Bestimmungen des Verhältnisses von innerer
Natur eines Einzelmenschen und objektivem Geist einer gesellschaftlichen Kultur stecken. Die
von Winkler dargelegte Begründung der Erziehung aus einer antinaturalistischen Anthropologie
gibt der Erziehung eine grundsätzliche Legitimation für Gewalt gegen die kindliche Natur.
Gegenüber einer solchen Pädagogik – das muss ich ganz klar sagen – wäre ich Antipädagoge.
Gegenüber einer solchen Pädagogik wären im übrigen nicht wenige meiner Kolleginnen und
Kollegen Antipädagogen.

2.2.3 Was heißt Selbstbestimmung?


Sehr viel, wenn nicht das Entscheidende, hängt am Verständnis von Selbstbestimmung.
Selbstbestimmung hat nämlich eine formale, sozusagen technische Seite. Und sie hat eine
inhaltliche Seite, die ihren Sinngehalt betrifft. Die formale, technische Seite von
Selbstbestimmung bezieht sich auf die Frage, was jemand alles können muss, um über seine
Lebensführung unter gegebenen Lebensbedingungen selbst zu bestimmen. Diese Art von
Selbstbestimmungsfähigkeit ist gemeint im Rechtsbegriff der Mündigkeit. Die inhaltliche Seite
bezieht sich auf die Frage, welchen Gehalt denn die Selbstbestimmung habe, also woher die
Bestimmungen kommen, woher das Sich-selbst-Bestimmen seine Gehalte nimmt. Der
pädagogische Begriff der Mündigkeit schließt die Fähigkeit, diese Frage zu reflektieren und auf sie
eine eigene Antwort zu finden, mit ein.
Winkler nimmt eine solche Unterscheidung nicht vor. In seinem Begriff der Subjektivität fällt das
beides in eins. Erstens kann das neugeborene Kind sich schon rein technisch nicht selbst
bestimmen: Es ist völlig hilflos und abhängig. Wenn man es, wie es im Pink-Floyd-Song hieß,
sich selbst überließe („leave the kids alone”), dann könnte es nicht überleben. Im Gegensatz zu
den meisten Erwachsenen verfügt es noch nicht über das Wissen und die Fähigkeiten, die man
unter gegebenen gesellschaftlichen Lebensbedingungen braucht, um durchzukommen. Diese
Feststellung ist banal. Und selbstverständlich wird sie auch von den Antipädagogen überhaupt
nicht bezweifelt. Es ist absurd, sie als Einwand gegen die Antipädagogik vorzubringen.
Zweitens aber verbindet Winkler damit die Behauptung, Kinder kämen „bestimmungs- und
mittellos” auf die Welt. Und das ist der entscheidende Punkt, an dem die Antipädagogik eine
Gegenposition einnimmt. Antipädagogen geht es darum, dass das Kind – im Gegensatz zu
Winklers Auffassung – keineswegs „bestimmungs- und mittellos” auf die Welt komme, dass sein
Drang keineswegs nur„animalisch” und „ungerichtet” sei. Nein, das Kind, sagen sie, „spürt” in
sich, was sein „Bestes” ist; und es habe auch schon die Mittel, dem Ausdruck zu verleihen. Das
Problem sei nur, dass die Erzieher oft, zu oft nicht fähig sind, diese Äußerungen wahrzunehmen,
sie aufzunehmen und die Kinder bei ihrer Verwirklichung zu unterstützen. Denn Unterstützung
brauchen sie. Aus eigener Kraft sind die Kinder selbstverständlich nicht in der Lage, sich im
Leben zu behaupten und das, was sie als ihr „Bestes” in sich „spüren”, zur Geltung zu bringen.
Was damit eingeführt wird, ist die Unterscheidung von Gehalt und Genese der menschlichen
Bestimmung auf der einen sowie Geltung der menschlichen Bestimmung auf der anderen Seite.
Die menschliche Bestimmung – so die antipädagogische Position – bringen die Kinder mit. Sie
tragen sie in sich. Und dies ist kein bloß passives Mitbringen. Sondern sie verleihen dem auch
Ausdruck. Sie setzen es um in Aktivität. Herkunft oder Genese und Gehalt der menschlichen
Bestimmung liegen also im Kinde selbst. Sie brauchen nicht die Erwachsenen, damit diese ihnen
sagen, wozu sie auf der Welt sind. Sondern sie brauchen die Erwachsenen, damit sie ihnen helfen,
das auch in dieser Welt zur Geltung zu bringen, was sie an Sinnbestimmung mitbringen.
Mit der Frage nach den Bedingungen, unter denen ein heranwachsender Mensch die Fähigkeit
entwickeln kann, seinen „eigenen Sinn” in der Welt zur Geltung zu bringen, wird das relevant,
was die pädagogischen Kritiker gegen die antipädagogische Grundposition einwenden: das
Gefälle zwischen Erwachsenem und Kind in Hinsicht der Fähigkeiten, die zur Verwirklichung
ihrer Lebensansprüchein einer gegebenen sozialen und physischen Umwelt benötigt werden. Und
in dieser Hinsicht erkennen die Antipädagogen auch ein solches Gefälle an. Wenn jedoch die
Kritiker der Antipädagogik diese „Asymmetrie”des Erwachsenen-Kind-Verhältnisses als
konstitutiv ansehen für die Fähigkeit, eigenen Sinn wahrzunehmen, so verkennen sie den
Doppelsinn von „Wahrnehmen”, der mit der von mir angesprochenenDifferenz von Sinn-Gehalt
und Sinn-Geltung zu tun hat. Wahrnehmen heißt zum einen: anerkennen, was da ist, was da mit
jeder Geburt in diese Welt kommt. Und es heißt zum andern: sich dafür einsetzen, dass dieser
Sinn, der jeder einzelne Mensch an und für sich ist, in dieser Welt auch tatsächlich Geltung
erlangen kann. Diese zweite Weise der Wahrnehmung ist auf die erste Form als ihr Fundament
angewiesen. Wer ein Kind nicht in seinem Eigensinn wahrnehmen kann, der kann sich auch nicht
für die Wahrnehmung seines Lebenssinns einsetzen. Das Wahrnehmen im zweiten Sinne bedarf
aber darüber hinaus des Sich-Auskennens in den realen Bedingungen des Lebens, die jeweils
gegeben sind; es bedarf des Sich-Auskennens in den noch unerschlossenen Möglichkeiten, welche
in diesen Bedingungen schlummern. Und es bedarf einer Reihe von praktischen Fähigkeiten, um
sich in dieser Welt und unter diesen Bedingungen behaupten und durchsetzen zu können. Das
alles bringen Kinder nicht mit. Und das alles können sie auch nicht ohne Hilfe entwickeln und
ausbilden.
Das bedeutet, dass die Ausbildung der Fähigkeiten, den eigenen Sinn in der Welt zur Geltung zu
bringen, abhängig ist von der Ausbildung der Fähigkeiten, sich praktisch und geistig bewusst zu
seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt zu verhalten. Ob einMensch diese Fähigkeiten
tatsächlich ausbilden wird, ist in seiner natürlichen Ausstattung nicht schon bestimmt. Dies
hängt vielmehr davon ab, wie die Gesellschaft, in die er geboren wird, ihn aufnimmt, und das
heißt auch, ob und wieweit sie es ihm ermöglicht, diese Fähigkeiten auszubilden. Das setzt auf
der Seite der Gesellschaft voraus, dass sie es tatsächlich will, dass dieser Mensch sich aus eigenem
Sinn entwickelt.
Doch ist damit die Bedeutung des Wahrnehmens noch nicht hinreichend bestimmt. Bisher lief
meine Argumentation noch auf eine antipädagogische Position hinaus. Diese besagt, dass das
Wahrnehmen hinsichtlich der Genese und des Gehalts von menschlicher Bestimmung oder von
Sinn ein passiver Akt des Aufnehmens dessen ist, was das Kind aktiv äußert. Das Kind sagt dem
Erwachsenen sozusagen, wo‘s langzugehen hat; und die Aufgabe des Erwachsenen ist dann, ihm
seine Kraft, sein Wissen, seine Fähigkeiten zu leihen und zur Verfügung zu stellen, diesen Weg
auch tatsächlich zu gehen, bis das Kind diese Kraft, dieses Wissen und diese Fähigkeiten selbst in
sich ausgebildet hat.
Die Behauptung, die darin liegt, ist die: Die menschliche Natur spricht sich selbst im Kinde
hinreichend aus. Und zwar nicht nur hinsichtlich dessen, wie sie jeweils ist. Sondern – und das ist
wichtiger – auch hinsichtlich dessen, wozu sie in sich bestimmt sei. In der menschlichen Natur
als Natur, das heißt vor aller geistigen Reflexion, soll demzufolge schon der „Bauplan” einer
menschlichen Welt und Gemeinschaft angelegt sein. (Übrigens eine Formulierung, die so von
Maria Montessori stammt. Sie bezieht sich dabei allerdings auf eine vorgängige göttliche
Bestimmtheit des Kindes. Ihre Position ist eher religiös als naturalistisch.)
Ich werde auf die Bedeutung der „Natur” für Bildung und Erziehung zu einem späteren
Zeitpunkt noch ausführlicher zu sprechen kommen. Hier, in der Befassung mit der Kontroverse
um die Antipädagogik möchte ich es erstmal mit einem Hinweis auf meine Position bewenden
lassen: Der Gehalt menschlicher Bestimmung liegt in jedem einzelnen Menschen. Aber er
verweist auf eine Beziehung; auf eine Beziehung zur äußeren Welt und zu den anderen
Menschen.Und insofern verweist die Bestimmung des einzelnen Menschen auf ein außer ihm
Liegendes, zu dem es die Vermittlung suchen muss.
Diese Vermittlung zu suchen, dies ist wohl der ursprüngliche Lebensdrang eines neugeborenen
Kindes. Es bringt den Bauplan nicht einfach mit sich. Sondern es sucht nach jener Verbindung
zur Welt und zu den anderen Menschen, aus der erst dieser Bauplan entwickelt werden kann.
Erst in der Vermittlung wird die Bestimmung des einzelnen Menschen in ihrem Gehalt jeweils
konkretisiert und aktualisiert. Hier liegt für mein Verständnis der Grund für Erziehung unddaher
für Pädagogik.
Ohne dass ich jetzt auf die Antipädagogik noch weiter eingehe, werde ich anschließend
versuchen, einen vorläufigen Erziehungsbegriff zu formulieren. Die weiteren Vorlesungen werden
diesen Begriff dann immer weiter anreichern. Am Ende wird keine Definition stehen, wohl aber –
so hoffe ich – für Sie ein Umriss erkennbar werden dessen, was Erziehung ist oder als was sie sich
uns zeigt, wenn wir über das nachdenken, was wir als Erziehung zu kennen glauben.

Musik: New Model Army – A Liberal Education (1982).


Vom Album „The independent Story“ (1984)

2.3 „Ihr habt eine ewige Kette zerbrochen …“


Nehmt uns unsere Geschichte, nehmt uns unsere Helden, nehmt uns unsere Werte,
und lasst uns zurück mit nichts.
Wir lebten im Paradies wie herumtollende Kinder.
Wir lehnten uns nur gegen den Baum, und der Apfel kam heruntergefallen.
Ihr habt uns gegeben, wonach wir fragten; aber nie, wonach uns verlangte.
Wir waren nur Kinder.
Wie konntet Ihr so dumm sein?
Wir gingen zu den Mauern aus Stahl, welche die Heilige Stadt schützten.
Wir flüsterten nur zu uns selbst, und die Mauern stürzten ein.
Wir wollten keinen Sieg. Wir wollten nur kämpfen.
Ihr habt bloß aufgegeben. Ihr gingt weg und verdarbt jedes Spiel.
Ihr habt eine ewige Kette zerbrochen. Und niemand achtet Euch für Eure Schwäche.
Nehmt uns unsere Idole; nehmt uns unseren Glauben; nehmt uns unseren Hass
und stoßt uns in diese Leere.
Dann sagt: Seid ihr selbst; macht, was ihr wollt. Verwirklicht Euch etwas mehr.
Es ist Euer Recht, zu tun, was Euch gefällt. Denn wir können uns wirklich nicht dauernd mit
Euch befassen.
Wir wollten keinen Sieg. Wir wollten nur kämpfen.
Aber Ihr würdet nicht kämpfen. Ihr sagtet: Es ist nicht nett zu kämpfen.
Ihr gingt weg und verdarbt jedes Spiel.
Ihr habt eine ewige Kette zerbrochen. Und niemand achtet Euch für Eure Schwäche.
(New Model Army, A Liberal Education)

Dieser Song der Gruppe New Model Army aus dem Jahre 1982 enthält auf den ersten Blick so
etwas wie eine Gegenposition zur Botschaft des Pink-Floyd-Songs (bei näherer Betrachtung zeigt
sich, dass auch im Pink-Floyd-Song gleich zu Anfang eine Situation des Verlassenwerdens
angesprochen wird.): Nicht: Lasst die Kinder in Ruhe; leave the kids alone. Sondern: Ihr habt
euch abgewendet, ihr habt uns in Ruhe gelassen. Ihr wart zu schwach, Euch mit uns
auseinanderzusetzen. Ihr habt uns keine Chance gegeben, uns mit Euch auseinanderzusetzen.
Und für diese Schwäche verachten wir Euch: No one respects you for your weakness.
Wir brauchen das Gegenüber. Wir brauchen den Kampf mit Eurem Widerstand: We wanted to
fight. Nicht um Euch zu besiegen: We didn’t want a victory. Aber um sagen zu können: Was wir
bekommen, ist uns nicht in den Schoß gefallen; das haben wir uns selbst erkämpft. Die Äpfel sind
nicht einfach vom Baum gefallen, nur wenn wir uns angelehnt haben. Die Mauern sind nicht
eingestürzt davon, dass wir mit uns selbst gesprochen haben.
Ihr habt, indem Ihr Euch der Erziehungsaufgabe entzogen habt, eine ewige Kette, eine Kette
zwischen den Generationen zerbrochen: You broke an everlasting chain. Und damit habt ihr uns
nicht in die Freiheit entlassen, sondern ins Leere gestoßen.
Befassen wir uns jetzt mit dieser „ewigen Kette” zwischen den Generationen, genannt Erziehung.

2.4 Bestimmungen des Erziehungsbegriffs


2.4.1 Über die fehlende Einheit des Erziehungsbegriffs
Vor einigen Jahren war ich auf einer Tagung der Kommission Erziehungs und
Bildungsphilosophie der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Thema war nichts
Geringeres als der Erziehungsbegriff. Zum ersten ist natürlich schon die Tatsache
bemerkenswert, dass der Erziehungsbegriff Thema einer solchen Tagung ist; denn das zeigt, dass
dieser Begriff nicht etwa etwas Klares und Geklärtes in der deutschen Pädagogik ist, sondern
etwas zu Klärendes, ein theoretisches Problem. Zum zweiten wurde aber auch deutlich, dass
zumindest für einige der dort Anwesenden eben diese Tatsache, dass der Erziehungsbegriff ein
ungeklärtes Problem ist, etwas Anrüchiges darstellte. Ihrer Auffassung nach sollte die Pädagogik
über einen klaren Erziehungsbegriff verfügen, an den sich alle in der wissenschaftlichen
Diskussion halten können. Es wurden also Vorschläge gemacht, wie der Erziehungsbegriff gefasst
werden sollte. Und mit diesen Vorschlägen war die Hoffnung verbunden, wir, die
anderenTeilnehmer und Teilnehmerinnen der Tagung, würden dem zustimmen, uns die
vorgeschlagene Begriffsbestimmung zu eigen machen; und das Problem unklarer Begriffsbildung
sei nun gelöst.
Wir – das heißt die anderen Anwesenden – haben diesen Vorschlägen natürlich nicht
zugestimmt, sie uns nicht zu eigen gemacht; und statt dass der Begriffsvielfalt ein Ende gesetzt
wurde, wurde sie nur um einen weiteren Definitionsversuch vergrößert.
Dass wir dem nicht zugestimmt haben, war kein Trotz, das kann ich Ihnen versichern. Es liegt
einfach in der Natur der Sache: Der Erziehungsbegriff ist ebenso wie andere zentrale Begriffe der
Pädagogik nicht ein Begriff, den man von der Theorie her willkürlich irgendwie definieren kann,
nur um eine einheitliche Sprachregelung zu schaffen. Denn indem über Erziehung gesprochen
wird, wird über etwas gesprochen, das erstens eine Wirklichkeit hat, und zwar eine sich ständig
verändernde und in sich sehr differenzierte Wirklichkeit; und das sich zweitens auch bereits einen
sprachlichen Ausdruck gegeben hat, nämlich im Reden der Menschen über Erziehung. Der
Erziehungsbegriff hat seine Bestimmungen bereits erfahren, wenn Theoretiker ihre Versuche
starten, ihn zu bestimmen. Allerdings ebennicht in Gestalt einer wissenschaftlichen oder
theoretischen Definition, sondern in Gestalt des alltäglichen Miteinander-Redens der Menschen
über Erziehung. Die Begriffsvielfalt im allgemeinen Reden über Erziehung, die sich auch noch in
der pädagogischen theoretischen Diskussion abbildet, ist nicht einfach ein Mangel an Klarheit,
dem abzuhelfen ist; sondern zu verstehen als Ausdruck der geschichtlichen Veränderungen und
Differenzierungen der Erziehungswirklichkeit selbst.
Die Realität des Begriffs „Erziehung“ ist also zweierlei:
• erstens die Gesamtheit bestimmter Ereignisse und Handlungen, nämlich derjenigen
Ereignisse und Handlungen, die die Menschen als Erziehung bezeichnen;
• und zweitens der Redezusammenhang über diese Ereignisse und Handlungen.
Wenn wir über Erziehung sprechen wollen, dann muss klar sein: Reden wir über diese zweifache
Wirklichkeit der Erziehung? Oder wollen wir über etwas reden, das als Erziehung von
irgendjemandem – qua welcher Autorität eigentlich – definiert wurde? Entschieden wir uns für
das zweite (wie die Kollegen, von denen ich berichtete, es sich wünschen würden), dann würden
wir folgendes tun: Wir würden der geschichtlichen, gesellschaftlichen, differenzierten
Wirklichkeit von Erziehung einen von irgendeiner Autorität festgesetzten einheitlichen Terminus
„Erziehung” entgegensetzen, mit der Absicht, das Reden über das erste durch das Reden über das
zweite zu ersetzen. Das aber würde bedeuten: der Wirklichkeit ihr Recht auf Geschichte,
Gewordenheit, Veränderlichkeit, Differenziertheit, auch Widersprüchlichkeit abzusprechen. Das
ist nicht nur, wie die Kollegen meinten, eine Frage der Vereinfachung von wissenschaftlicher
Diskussion; es ist der Anspruch, die Wirklichkeit selbst zu vereinfachen und das Reden über sie
zu kanalisieren. Und das heißt: ihr Gewalt anzutun. Sie zu „erziehen” gewissermaßen: dass sie so
werde, wie der Begriff es vorschreibt.

2.4.2 Drei Bestimmungen des Erziehungsbegriffs


Und damit habe ich mich auch schon auf einem Umweg an eine eigene Bestimmung des
Erziehungsbegriffs herangeschlichen. Erziehung nenne ich den fremdbestimmten Anteil an der
Entwicklung eines Menschen aus seinem eigenen Sinn. Auf die einzelnen Teile dieser
Bestimmung möchte ich jetzt nacheinander eingehen.

1. Bei Erziehung geht es um die Entwicklung eines Menschen.


S. Bernfeld hat 1924 geschrieben, Erziehung sei die gesellschaftliche Antwort auf die
Entwicklungstatsache. Was ist „die Entwicklungstatsache”?
„Entwicklungstatsache” meint, dass Menschen nicht einfach das sind, was sie sind; sondern auch
das, was sie werden. Beziehungsweise sie werden erst, was sie sind. Ein Kind als Kind zu sehen,
heißt, in ihm auch den künftigen Menschen zu sehen, der aus ihm wird. Nicht unbedingt: einen
bestimmten Menschen, der aus ihm werden soll (auch so wird Erziehung verstanden), sondern zu
sehen, dass dieser Mensch noch einen langen Entwicklungsweg vor sich hat. Das lädt zu
Hoffnungen ein. Und zu Befürchtungen. Je nachdem.
Allerdings: Auch ein Tierjunges oder eine junge Pflanze haben eine Entwicklung vor sich. Wo ist
der Unterschied? Wer keinen Unterschied sieht, für den ist es kein Problem, den
Erziehungsbegriff auch auf Pflanzen und Tiere zu übertragen. Aber in der Pädagogik wird mit
Erziehung eine Entwicklung angesprochen, wie sie nur ein Menschenkind durchlaufen kann. Aus
zwei Gründen: Erstens: Die Entwicklung ist nicht von der Natur vorgezeichnet in so etwas wie
einem biologischen Bauplan. Das gibt es auch; aber es betrifft nur die Seite des Menschen und
seiner Entwicklung, die wir als (biologische) Reifung bezeichnen. Die Entwicklung, um die es bei
Erziehung geht, ist die Entwicklung zum „wirklichen Menschsein”.
Und da wir, um damit irgendetwas anfangen zu können, wissen müssen, was denn wirkliches
„Menschsein” ist, ist auch klar, dass mit dieser Bestimmung etwas angesprochen wird, worin
unser Selbstverständnis als Menschen berührt ist. Was heißt es für uns: Mensch zu sein? Auf
diese Frage geben wir praktisch eine Antwort in dem, was wir tun, wenn wir erziehen. Aber auf
diese Frage müssen wir auch in irgendeiner Weise schon eine Antwort wissen, wenn wir erziehen.
Diese Antwort ist uns vielleicht nicht so sehr bewusst. Wir könnten keine theoretische
Abhandlung darüber schreiben. Aber wenn wir erziehen, haben wir bereits eineVorstellung
davon, in welche Richtung die Entwicklung dieses Menschen gehen soll. Keine ganz genaue. Aber
es bleibt auch nicht völlig offen. Wir kümmern uns drum. Es ist uns nicht egal. Eben das heißt
Erziehung.
Und weiterhin ist damit schon ein zweites angesprochen: Damit ein Mensch sich als und zum
Menschen entwickeln kann, bedarf es der Mitwirkung anderer Menschen. Diese Entwicklung
geschieht nicht von allein und nicht allein aus eigener Kraft eines Menschen.
Erziehung ist eine soziale Handlung. In ihr teilen Menschen sich gegenseitig mit, was es für sie
heißt, als Mensch in menschlicher Gemeinschaft zu leben. Und was der einzelne Mensch dafür
braucht, an Fähigkeiten, Kenntnissen usw. Und welchen Beitrag seiner Mitmenschen dieser
Mensch für seine Entwicklung erwarten kann: welche Antwort der Gesellschaft auf die
Entwicklungstatsache.
Es geht also um die Entwicklung des einzelnen in seinem Menschsein. Anders ausgedrückt: Wir
können über die Entwicklung eines einzelnen Menschen nichts sagen (und nichts dafür tun),
ohne etwas dazu zu sagen, was sein Menschsein ausmacht.
Zugleich aber ist diese Entwicklung des einzelnen in gesellschaftliche Bezüge eingebettet.
„Tatsache” ist nicht nur die Entwicklung des einzelnen, sondern ebenso die Entwicklung der
Gesellschaft; die sich eben auch vollzieht über die Entwicklung der vielen und jedes einzelnen.
Das gesellschaftliche Zusammenleben gehört zum Menschsein. Und die Art des Zusammenlebens
ist eine Art des Menschseins. Wie Gesellschaften ihr Zusammenleben regeln, drückt daher aus,
was es für sie heißt, als Menschen zusammen zu leben. Erziehung ist selbst ein Bestandteil des
gesellschaftlichen Zusammenlebens, eine Weise des sozialen Umgangs von Menschen
miteinander. Hier insbesondere der älteren mit der jüngeren Generation. Und Erziehung fördert
die Entwicklung des einzelnen Menschen als Moment der gesellschaftlichen Entwicklung. Kinder
haben nicht nur eine Zukunft; sie sind auch die Zukunft der Gesellschaft.
Diese Einsicht kann sich übrigens durchaus vertragen mit mörderischen
Entwicklungsperspektiven, wie die Tatsache zeigt, dass gerade die Nazis sich dieser Bedeutung
von Erziehung in besonders hohem Maße bewusst waren. Hitler selbst sagte: „Wer die Jugend
hat, hat die Zukunft.” Im nationalsozialistischen Erziehungssystem kamen jene gesellschaftlichen
Entwicklungsabsichten der Nazis besonders deutlich zum Ausdruck, die sie als
„nationalsozialistische Revolution” bezeichneten.
Deshalb ist noch etwas wichtig, um den pädagogischen Erziehungsbegriff doch von solchen
Interpretationen, wie er sie im nationalsozialistischen Erziehungsbegriff erfahren hat, abzusetzen:

2. Es geht um eine Entwicklung aus eigenem Sinn.


Die nationalsozialistische Erziehung hat den Satz über die Zukunft, die der hat, der die Jugend
hat, im Sinne einer Instrumentalisierung der Erziehung für die nationalsozialistischen Pläne zum
Umbau der Gesellschaft verstanden. Ihr ging es um eine Erziehung, die eher alsZucht zu
verstehen war.
Wenn wir uns heute von der nationalsozialistischen Erziehungsvorstellung absetzen, dann kann
dies zweierlei bedeuten. Und wir müssen uns darüber klar sein, in welcher Weise wir uns davon
absetzen.
Zum ersten sind es die Erziehungsziele der Nazis, von denen wir uns absetzen, weil sie uns heute
inhuman, barbarisch, menschenverachtend erscheinen. Wir sehen sie in einem anderen Lichte als
die Generation der damaligen Erwachsenen, aus meiner Sicht die Mütter- und Vätergeneration;
aus Ihrer Sicht eher die Generation Ihrer Großeltern. Wir sehen sie anders aufgrund der
historischen Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Grauen. Und wir sehen sie anders, weil
sich unser Menschenbild doch sehr grundlegend geändert hat. Mit anderen Worten: Wir finden
die Ziele schlecht, welche die nationalsozialistische Erziehung der Entwicklung der jungen
Menschen setzte. Damit setzen wir uns aber noch nicht davon ab, dass überhaupt der
Entwicklung der jungen Menschen Ziele von der Erwachsenengeneration gesetzt werden, dass
der Sinn von Erziehung durch die Erwachsenen bestimmt wird. Wir würden nur für bessere,
schönere, humanere Ziele plädieren.
Die Absetzung von der nationalsozialistischen Erziehungsidee kann aber weitergehen. Aus meiner
Sicht muss sie weitergehen. Der Sinn der Entwicklung eines Menschen, so die weitergehende
Position, kann/darf überhaupt nicht, weder in guter noch in schlechten oder böser Absicht, von
außen gesetzt werden. Er muss – und das meine ich mit der Formulierung: aus eigenem Sinn – im
jeweiligen Menschen selbst gefunden werden. Er selbst, jeder einzelne Mensch selbst, ist der
Sinn, um den es in Erziehung geht. Sein eigenes Menschsein ist der Sinn, nicht sein Dasein für
irgendeinen außerhalb von ihm liegenden Sinn: kein geschichtlicher Sinn, kein religiöser Sinn,
kein gesellschaftlicher Sinn, kein völkisch-rassischer Sinn, keine Idee, nichts dergleichen, sofern
es nicht Momente seines eigenen Sinns sind.
Dieser Mensch ist einzelner Mensch. Und daher kann sein Sinn niemals in einem Allgemeinen
ganz aufgehen. Das Allgemeine, sei es geschichtlicher, religiöser, idealer Sinn der menschlichen
Existenz, muss vielmehr immer den einzelnen Menschen in seiner Einzigkeit mit
„berücksichtigen”, und zwar substantiell, nicht bloß als Bedingung, auf die man sich halt wohl
oder übel einlassen muss, wenn man realistisch ist.
Wenn von Entwicklung aus eigenem Sinn die Rede ist, wird also ein zentrales Problem der
Pädagogik angesprochen, das Problem, wie sich die Einzigkeit des Individuums zu seiner
Allgemeinheit als gesellschaftliches Wesen verhält, kurz formuliert: das Verhältnis von Einzelnem
und Allgemeinem als Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Denn die Erziehung ist eine
soziale Handlung und eine soziale Funktion; sie hat eine Aufgabe für die Gesellschaft zu
erfüllen.Und zugleich ist ihr aufgetragen, die Entwicklung des einzelnen in und zu seinem
Menschsein zu fördern, also eine Aufgabe für das Individuum wahrzunehmen. Wir kennen alle
die typisch pädagogische Einstellung, dass Kinder noch nicht wissen können, was für sie gut ist.
Und deshalb wir beziehungsweise die Erwachsenen bestimmen müssten, wo es langgeht. „Es ist
zu ihrem eigenen Besten”, heißt es dann. Und wenn das nicht nur Rhetorik ist, sondern wirklich
ernst und aufrichtig gemeint, dann soll gesagt sein, dass man den Kindern nichts von außen
überstülpen will, was mit ihnen selbst in ihrem Eigenen gar nichts zu tun hätte, sondern dass es
nur eben so ist, dass wir besser zu wissen glauben, was dies ihr Eigenes in seinem Wesen
eigentlich ausmacht, besser, als es die Kinder wissen können. (Eben dagegen richtet sich ja die
Antipädagogik.)
Es ist also noch gar nicht so klar, was es eigentlich genau bedeutet zu sagen, es gehe der
Erziehung um Entwicklung aus eigenem Sinn. Für die Antipädagogik bedeutet es, dass
erzieherische Einmischung zu unterbleiben hat. Für sie kann überhaupt nur das Kind selbst
„wissen” oder spüren, was für es gut ist, wohin seine Entwicklung gehen soll. Erwachsene haben
diese spontan verlaufende Entwicklung lediglich zu begleiten und zu unterstützen. Für die
Pädagogik dagegen gilt genau dies nicht: dass Entwicklung „von selbst” verläuft, und zwar
„richtig” verläuft. Die Entwicklung, um die es der Erziehung geht, ist nach pädagogischer
Auffassung keine spontane Entwicklung allein aus dem eigenen Vermögen und aus eigener
Einsicht, sondern verlangt nach einer Bestimmung des Eigensinns menschlicher Entwicklung, die
nicht ohne Beziehung und Vermittlung auskommt und daher nicht von den Kindern allein
vorgenommen werden kann. Wie immer die Erwachsenen nun beteiligt sind an der Bestimmung
von Sinn, es kommt unausweichlich ihre Macht und Autorität ins Spiel; auch wenn der
Erwachsene sich als Antipädagoge versteht und behauptet, er spreche nur für sich, wenn er dem
Kind zum Beispiel etwas verbietet. In der Pädagogik spricht man daher von einer fundamentalen
Asymmetrie im Erziehungsverhältnis.
Woher wollen nun aber Pädagog/innen vom „eigenen Sinn” eines Kindes wissen; woher nehmen
sie ihn; wie kann er zur Orientierung für Erziehung werden?
Ich möchte hier nur zwei alternative Ansätze angeben:
Erstens die rationalistische Position. Dies war die Position, die wir bei Michael Winkler, dem Anti-
Antipädagogen, gefunden haben. Der Sinn menschlicher Entwicklung erschließt sich demnach
allein der Vernunft. Der Mensch ist ein Vernunftwesen. Dies ist es, was ihn als Menschen
auszeichnet. Seine Bestimmung ist daher die Entwicklung der Vernunft aus ihrem eigenen
Vermögen und hin zur Fähigkeit, die Welt nach vernünftigen Prinzipien zu gestalten.
Menschsein heißt Vernünftigsein. Kein Mensch aber kommt mit bereits ausgebildeter Vernunft
auf die Welt. Am Anfang ist der Mensch nicht schon vernünftig; sein Zustand ist vorvernünftig.
Daher muss er noch geführt, geleitet werden, solange seine Vernunft ihm nicht die
Selbstbestimmung ermöglicht. Erziehung ist ein schrittweises Abgeben der Führung an die
Vernunft selbst. In der ersten Lebensphase bedarf es demnach der stellvertretenden Vernunft
eines andern, des Pädagogen. Erst wenn die eigene Vernunft hinreichend ausgebildet ist, mit dem
Ausgang der Jugend, kann ein Mensch aus der pädagogischen Vormundschaft in die
Selbstständigkeit entlassen werden. Dann ist er „mündig”.
Die Ausbildung der Vernunft wiederum ist ebenfalls kein spontanes Geschehen, sondern vollzieht
sich in der Auseinandersetzung mit der sozialen und kulturellen Welt, in die ein Mensch
hineingeboren wird. Schon der Sprache, des Mediums der Artikulation der Vernunft, kann ein
Mensch nur mächtig werden, indem er sie erlernt von anderen Menschen. Aufgabe der Erziehung
ist es also, das Kind „zur Vernunft zu bringen”.
Diese Position, so plausibel sie erscheinen mag, birgt ihre Probleme. Ein Problem ist das
Verhältnis von Vernunft und Verstand. Wir wissen alle, dass ein scharfer Verstand, das heißt ein
Geist, der in sich logisch und formal schlüssig zu argumentieren weiß, nicht vor Inhumanität
schützt. Wir sehen außerdem, dass heute die reine Verstandestätigkeit in Gestalt der
Computertechnologie in zunehmendem Maße maschinisiert und automatisiert werden kann. Es
mag so etwas wie Künstliche Intelligenz geben. Aber hieße das, dass es auch so etwas wie
künstliche Vernunft geben könne?
Vernunft bringt nämlich einen zusätzlichen Maßstab für die Verstandestätigkeit ins Spiel, und
zwar eben jenen Maßstab, der auch für die Entwicklung eines Menschen im pädagogischen
Erziehungsbegriff angesetzt wird: die Qualität des Menschseins. Nur wer behauptet, das
Menschliche gehe vollständig im Verstandesmäßigen auf, könnte sich, was den Erziehungsauftrag
betrifft, mit der Ausbildung des Verstandes begnügen.
Wenn von Vernunft gesprochen wird, ist aber mehr gemeint als Verstand. Das gilt
alltagssprachlich ebenso wie philosophisch. Vernunft heißt, dass der Verstand in die Pflicht
genommen wird. Vernunft heißt eigene Einsicht in einen Sinnzusammenhang, und zwar nicht in
irgendeinen Sinnzusammenhang, sondern in jenen Sinnzusammenhang, der menschliches
Zusammenleben konstituiert. Dieser Sinn erschöpft sich nicht in Logik und formaler
Schlüssigkeit. Er bezieht sich auf etwas, das der menschlichen Existenz auf eine einsichtige Weise
substantiell, wesentlich zugehört oder innewohnt. Die Vernunftorientierung weist also über den
Verstand hinaus. Aber wohin? Das will ich hier vorläufig noch offenlassen.
Ein zweites Problem, das die Konzentration auf die Vernunft mit sich bringt, ist das Verhältnis
der sich bildenden Vernunft zur Natur eines Menschen. Wenn die Vernunft die Orientierung für
Erziehung abgibt, dann ist das Kind am Anfang seines Lebens im eigentlichenSinne noch kein
Mensch, sondern erst ein potentieller Mensch. Vernunft wäre Überwindung des Naturzustands
eines Menschen, Überwindung des Mangels an Menschsein. Das Kind wäre Noch-nicht-Mensch,
hätte noch kein Eigenrecht, sondern würde es erst in dem Maße erwerben, in dem es zur
Vernunft kommt. Dazu ist Disziplin nötig, Disziplinierung der Natur des Kindes. Wie aber soll
ein Mensch zu geistiger Freiheit finden, dessen Natur dem Zwang der Disziplinierung
unterworfen wurde? Und was ist mit den Menschen, deren intellektuelle Voraussetzungen von
Natur aus eine Entlassung in die Selbstständigkeit nicht zulassen, die weiterhin unter Betreuung
bleiben müssen? Gilt für sie der Erziehungsbegriff nicht? Oder nur eingeschränkt?
Zweitens die naturalistische Position: Diese Position behauptet, der Sinn der Entwicklung eines
Menschen sei ihm in seiner Natur vorgegeben. Deshalb müsse die Erziehung auf die Natur achten
und sich nach ihr richten. Diese Orientierung an der Natur werden Sie vor a-lem in
reformpädagogischen Ansätzen finden, wo eine „Pädagogik vom Kinde aus” und das meint: von
der kindlichen Natur aus, gefordert wird.
Darin liegt ebenfalls ein Problem. Überließe man nämlich dieEntwicklung eines Menschen der
Natur, wäre nicht einmal das bloße Überleben gesichert, geschweige denn eine Entwicklung
gewährleistet, die es dem betreffenden Menschen ermöglicht, zu einem Mitglied der
menschlichen Lebensgemeinschaft zu werden. Wenn aber die Natur den Sinn der Erziehung
vorgibt, weshalb sorgt sie dann nicht selbst dafür, dass sich ihr Sinn erfüllt? Warum sorgt sie dann
nicht wie bei Pflanzen und Tieren dafür, dass die natürliche Entwicklung von selbst ihren Lauf
nimmt? Indem sie die Menschen nicht mit einem entsprechenden biologischen
Entwicklungsprogramm oder mit den nötigen Instinkten ausstattet, überantwortet sie es dem
menschlichen Geist, herauszufinden, was sie – angeblich – will. Damit aber kommt doch wieder
die Vernunft ins Spiel, die sich nun allerdings als Sprecherin der Natur versteht. Nur: So viele
Ansätze sich auf die menschliche Natur berufen, so viele Varianten gibt es in der Interpretation
dessen, was eine naturgemäße Erziehung sei. In der Waldorf-Pädagogik sagt uns die Natur etwas
anderes über die menschliche Entwicklung als bei Rousseau und wieder etwas anderes in der
Montessori-Pädagogik.
Was ist daraus zu folgern?
Erziehung befindet sich in einem Dilemma. Sie versteht sich als etwas anderes denn als Zucht.
Sie hat die Menschwerdung eines Menschen im Sinne, der das, was er ist, aus sich selbst sein soll,
ohne es allein aus sich heraus werden zu können. Es ist der eigene Sinn eines Menschen, der sich
in seiner Entwicklung verwirklichen soll, und doch muss dieser Sinn von anderen Menschen
wahrgenommen und angenommen werden, um die Erziehung orientieren zu können.
Mit anderen Worten:

3. Entwicklung aus eigenem Sinn enthält Fremdbestimmung.


Erziehung wäre überflüssig, wenn die Entwicklung eines Menschen aus seinem eigenen Sinn sich
aus seiner eigenen Kraft und von allein vollzöge. Die Unausweichlichkeit der erzieherischen
Einmischung hat mehrere Gründe:
Da der eigene Sinn erst bestimmt werden muss (und sich nicht von selbst versteht und zur
Geltung bringt), bedarf es der Vernunft, um seiner einsichtig zu werden. Solange die Vernunft
eines Menschen noch nicht ausgebildet ist, kann die Sinnbestimmung der Erziehung nur von den
erziehenden Menschen vorgenommen werden.
Auch wenn sie sich bemühen, dem Heranwachsenden keinen fremden Sinn überzustülpen, liegt
hier grundsätzlich ein Moment derFremdbestimmung vor. Der eigene Sinn ist der Sinn eines in
Gemeinschaft lebenden Menschen. Es gibt keinen menschlichen Lebenssinn jenseits von
Gemeinschaft. Das heißt aber: Individueller Sinn muss sich mit den vielen individuellen
Sinnhorizonten der anderen Menschen und mit dem gemeinsamen Sinnhorizont einer
Gemeinschaft vermitteln. Das kann nicht ohne Auseinandersetzung abgehen: Gegen die alleinige
Geltung des individuellen Sinns eines einzelnen werden andere Sinnhorizonte in Geltung
gebracht. Das Ergebnis ist nicht Friede, Freude, Eierkuchen, sondern bedeutet für jeden
einzelnen auch Verzicht, Zurückstecken. Bestenfalls freiwillig, aber nicht aus freien Stücken.
Auch wenn die Fremdbestimmtheit als notwendig angesehen wird, bleibt sie eine
Fremdbestimmtheit. Und bevor ihre Notwendigkeit eingesehen werden kann, muss sie schon
praktisch akzeptiert worden sein. Das heißt: Vieles von dem, was sich in der Entwicklung eines
Menschen tut, kommt nicht aus ihm, aus seiner Selbstbestimmung, sondern von außen: von der
Gesellschaft, von anderen Menschen. Pädagogische Vermittlung ist immer das Sich-Einlassen auf
die Bestimmung des andern, von der wiederum ich mich bestimmen lassen muss – ohne mich ihr
zu unterwerfen.
Die Notwendigkeit, Fremdbestimmtheit anzuerkennen beziehungsweise bestimmend auf einen
anderen einzuwirken, ist Ausdruck der Tatsache, dass kein Mensch allein auf der Welt ist. Mit
Erziehung antwortet, so hieß es, die Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache. Ohne die
Antwort der Gesellschaft aber wird Entwicklung gar nicht zur Tatsache.

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