Professional Documents
Culture Documents
137
138
^ Vgl.: K.Leonhard: Psychiatrie auf dem klinischen Boden Wernickes. In: Psych., Neur.
u. med. Psychol. Heft 5/1966
^ R. Löther: Gesundheit, Krankheit und Philosophie. Dissertation. Berlin 1962 (unver-
öffentlicht)
139
140
Stand der Psychiatrie. In den letzten Jahren hat der Einfluß spekulativer idealistischer
Ideen auf die Psychiatrie zugenommen. Die durch Kleist, Vogt, Nonne u. a. weiter-
geführte naturwissenschaftliche Richtung bestimmt die gegenwärtige psychiatrische
Theorienbildung in den kapitalistischen Ländern kaum noch. In Westdeutschland ist
besonders die anthropologische Strömung vorherrschend, die in den dreißiger Jahren
von E. Strauss und v. Gebsattel begründet wurde und von Anfang an die Erkenntnisse
Pawlows und seiner Schüler ablehnte. Sie ist eng mit dem Existentialismus und
Neothomismus verbunden und hat auch ihren Niederschlag in der «psycho-
somatischen Medizin" gefunden.'
' Auf die Entwicklung der Psychiatrie in der DDR wird in diesem Artikel nicht einge-
gangen. Vgl. dazu: A. Thom: Philosophisches Denken in der modernen Psychiatrie. In:
Medizin und Philosophie - Arzt und Gesellschaft. Wissenschaftliche Zeitschrift der
Karl-Marx-Universität. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe. Sonderband V.
Leipzig 1965
® E. Sternberg: Zur Kritik der existentialistischen und anderen antinosologischen Rich-
tungen in der modernen westlichen Psychiatrie. In: Psych., Neur. und med. Psychol.
Heft 11/1964
141
9 Ebenda
Vgl.: Stern: 50 Jahre Neurologie. In: Schw. Med. Wschr. Heft 30/1955
142
halb als Störungen der Emotionalität und Verzerrung der Bewußtseinsinhalte aus,
die bis zu Wahnideen gehen können. In der Anerkennung des Somatischen erschöpft
sich aber der Materialismus in der Psychiatrie bei weitem nicht. Man bleibt dadurch
in der biologischen Ebene stehen. Es mu§ hervorgehoben werden, daß das Gehirn
bzw. das ZNS nicht die Quelle des Bewußtseins, sondern nur das Organ ist, das die
Widerspiegelung der objektiven Realität ermöglicht. Bewußtsein wird im wesent-
lichen durch die Außenwelt determiniert. Dabei darf Außenwelt nicht mit der
biologischen Umwelt identifiziert werden. Der biologische Umweltbegriff ist nicht
ohne weiteres auf den Menschen anwendbar. Es gibt keine bestimmte natürliche
Umwelt, an die der Mensch speziell angepaßt und auf die er unbedingt angewiesen
ist. Die Außenwelt ist vor allen Dingen die menschliche Gesellschaft und die von der
menschlichen Gesellschaft umgestaltete Natur. Jeder Mensch eignet sich diese Um-
welt in unterschiedlicher Weise an, d. h., er gewinnt ein unterschiedliches Bewußt-
sein von seiner Umwelt. »Der Mensch - so sehr er . . . ein besonderes Individuum
ist, und gerade seine Besonderheit macht ihn zu einem Individuum und zum wirk-
lichen individuellen Gemeinwesen, - ebensosehr ist er die Totalität, das subjektive
Dasein der gedachten und empfundenen Gesellschaft für sich, wie er auch in der
Wirklichkeit sowohl als Anschauung und wirklicher Genuß des gesellschaftlichen
Daseins wie als eine Totalität menschlicher Lebensäußerungen da ist.*
Zwischen den Einwirkungen der materiellen Außenwelt und den Ergebnissen
dieser Einwirkungen in der ideellen Widerspiegelung und anderen psychischen
Äußerungen besteht keine direkte und unvermittelte Abhängigkeit. Es sei hier auf
Rubinsteins These verwiesen, daß bei psychischen Abläufen die äußeren Einwir-
kungen durch die inneren Bedingungen gebrochen und modifiziert werden. Diese
inneren Bedingungen erscheinen in der Aktivität des Subjekts. Für das Gewinnen
von Bewußtseinsinhalten genügt es nicht, daß Objekte der materiellen Welt auf das
ZNS einwirken. Von dem Grad an Aufmerksamkeit, der ihnen entgegengebracht
wird, hängt es ab, ob und wie der Widerspiegelungsprozeß erfolgt. Durch den
Mechanismus der Aufmerksamkeit erhalten bestimmte Reizeinwirkungen größere
Bedeutung, während andere zurückgedrängt oder völlig ausgeschaltet werden. Die
subjektive Bereitschaft, sich bestimmten Seiten der objektiven Realität verstärkt
zuzuwenden, wird einerseits durch das kritische Denken, durch das Wissen über
wesentliche objektive Zusammenhänge, andererseits aber auch durch die gefühls-
mäßigen Bindungen, Interessen, Abneigungen, die gesamte individuelle emotionale
Einstellung des betreffenden Menschen gegenüber dem Objekt der Widerspiegelung
bedingt. Intensive generalisierte Gefühle können der rationalen Erkenntnis be-
stimmter Zusammenhänge direkt entgegenwirken.
Mit der Rolle, die die emotionalen Faktoren innerhalb des Widerspiegelungs-
prozesses spielen, hat sich H. Bober beschäftigt. Er führt dazu u.a. aus: „In dem
Maße, wie die gefühlmäßigen Beziehungen und Stellungnahmen des Menschen als
psychische widerspiegelungs- und verhaltenssteuernde Komponenten wirksam
werden, unterliegen die Objekte, die der Mensch in seinem Bewußtsein wider-
spiegelt, einer gefühlsmäßigen Auswahl." Und weiter: .Da die emotionale Generali-
sierung die objektiven Wirklichkeitsbedingungen durch emotionale Bewertung in
den emotionalen Zustand des Individuums umsetzt, der immer innerer Zustand
eines Subjekts ist, nicht aber die der Wirklichkeit eigenen Wesenheiten und Zu-
143
144
ableitbar oder einfühlbar gelten, könnten die genannten Störungen eine Rolle spielen.
Rennert stellt dazu fest: ,Im Gegensatz zu der doch angeblich so kontaktoffenen
Situation bei den Depressiven mit ihren als einfühlbar und umweltbezogen gelten-
den Verhaltensweisen bietet das schizophrene Denken und Erleben trotz der autisti-
schen Kommunikationsstörung eine ganz erstaunliche Verzahnung mit all den In-
halten, die von der jeweiligen Umwelt des Kranken, seiner sozialen Situation, ja
seiner ganzen kulturgeschichtlichen und technischen Zeitepoche bestimmt werden
(siehe Wahnideen und Sinnestäuschungen)."
Verwandte Überlegungen lassen sich auch im Hinblick auf die Problematik des
induzierten Wahns anstellen. Unter induziertem Wahn versteht man eine psycho-
pathologische Erscheinung, bei ^der Menschen, die mit Wahnkranken zusammen-
leben, von deren geistiger Gesundheit überzeugt sind, deren unreale Vorstellungen
übernehmen und unter Umständen sogar weiter ausbauen, so daß sie schließlich
selbst paranoide Syndrome bieten. Solche Erscheinungen sind vorwiegend bei geistig
abhängigen Personen, deren Kritikfähigkeit ihrer Umgebung gegenüber einge-
schränkt war (durch Epilepsie, Debilität u. ä.), beobachtet und beschrieben worden.
Doch es ist auch schon vorgekommen, daß aktive, selbstbewußte Personen Wahn-
ideen übernommen haben, um der Feststellung, in ihrer Familie befinde sich ein
Geisteskranker, entgegenwirken zu können.!'
Auf Grund der hier angedeuteten Erfahrungen meinen wir, daß die Aufgabe der
Psychiatrie darin besteht, die Gesetzmäßigkeiten aller materiellen Bewegungsformen
zu berücksichtigen, die beim Vorgang der gestörten Widerspiegelung der objektiv-
realen Welt zwischen inneren und äußeren Systembedingungen auftreten oder als
Resultat dieses Vorganges (klinisches Zustandsbild) angetroffen werden können.
Dabei handelt es sich um dialektische Wechselbeziehungen in und zwischen ver-
schiedenen Ebenen: der materiell-organismischen Ebene, der relativ selbständigen
Existenz des Psychischen in seiner spezifischen Qualität als ideeller Widerspiegelung
der Objekte der materiellen Welt und des bewußten Verhaltens des Menschen zu
ihnen, der Einflüsse aus der gesellschaftlichen Umwelt, wie sie sich insgesamt in der
persönlichen Lebensgeschichte des Menschen manifestiert haben. Diese verschie-
denen Ebenen können in ihrer räumlichen und zeitlichen (funktionellen) Struktur
mit spezifischen Forschungsmethoden in ihrer Eigengesetzlichkeit erkannt werden.
Kybernetisch ausgedrückt, sind diese Ebenen auch als vermaschtes Netz von
Regelkreisen vorstellbar. Dabei zieht jede Störung innerhalb der ineinander ver-
flochtenen Regelkreise Störungen im Gesamtsystem nach sich, die je nach der Art
der Noxe innerhalb der verschiedenen Systeme ausgeglichen werden können oder
zu sichtbaren pathologischen Veränderungen führen. Der Mensch hat sein inneres
Modell von der Außenwelt und seiner Stellung in ihr. Dieses Modell entspricht
einer bestimmten Programmierung oder auch Speicherung von .Erinnerungen',
deren neurophysiologischer, biochemischer oder elektrochemischer Anteil selbst
noch Gegenstand der Forschung ist. Störungen eines widerspiegelnden Systems
können sich nun materiell als Umcodierungen von Verarbeitungsmustern äußern, als
veränderte Kombinationen, die sich psychisch als pathologische Verbindungen von
H. Rennert: Die Universalgenese der endogenen Psychosen. In: Fortschritte der Psych.,
Neur. u. ihrer Grenzgebiete. Heft 5/1965
" Vgl.: Frank: Induzierter Wahn bei der psychisch stärkeren Persönlichkeit auf Grund
paranoischer Entwicklung. In: Psych., Neur. u. med. Psychol. Heft 4/1964
145
146
147
148
149
E b e n d a : S. 68