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Materialismus und Psychiatrie

Von VERA SCHRÖDTER und GUDRUN FROST (Berlin)

Der enge Zusammenhang von Philosophie und Psychiatrie ist unbestreitbar. Im


Bereich der Psychiatrie als einer weltanschaulich und ethisch bedeutsamen medi-
zinischen Spezialdisziplin treten außerordenlich komplizierte Fragen auf, deren Be-
antwortung von jeher über die Grenzen der eigenen Möglichkeiten hinausreichte.
Eine Diskussion philosophischer Probleme, die unmittelbar mit der psychiatrischen
Forschung und Praxis zusammenhängen, stellt den Philosophen insofern vor eine
schwierige Situation, als man heute von der Psychiatrie nicht als von einer einheit-
lichen Wissenschaft mit einer in sich geschlossenen und allgemein anerkannten
theoretischen Konzeption sprechen kann. Die Psychiatrie befindet sich in einer
Etappe der Diskussion grundlegender Prinzipien der Theorie. Dabei bietet sich
das Bild eines ständigen Wechsels der im Vordergrund stehenden Ansatzpunkte.
Es ist zu berücksichtigen, da§ die psychiatrische Theorienbildung vielfältig von
naturwissenschaftlichen (Neurophysiologie, Biochemie, Histopathologie, Elektrophy-
siologie u. a.), psychologischen und gesellschaftswissenschaftlichen Voraussetzungen
abhängig ist. Eine Reihe neuer Gesichtspunkte, die in der psychiatrischen Forschung
und Praxis an Bedeutung gewonnen haben, zwingen dazu, die in der Psychiatrie
vorhandenen Auffassungen zu grundlegenden Problemen neu zu durchdenken. Es
werden besonders psychologische und soziologische Aspekte mit einbezogen und
die Wirkungsweise der Psychopharmaka, Ergebnisse der Elektroenzephalographie
etc. berücksichtigt und bewertet. Schließlich gibt es eine große Anzahl spezieller
Einzelbefunde im Bereich der Phänomenschilderung psychischer Störungen.
Die unterschiedlichen, oft einander widersprechenden Auffassungen reichen von
Diskussionen über das Wesen des Psychischen und des Psychopathologischen, des
Bewußtseins und seiner Störungen, über das Wesen des Menschen, über Normales
und Anormales bis zu Teilfragen, wie z. B. der Nosologie oder Problemen der Tren-
nung oder Einheit von Psychiatrie und Neurologie in der Klinik. Aussagen zu sol-
chen Fragen stehen in enger Verbindung mit bestimmten vorherrschenden philo-
sophischen Auffassungen. Neue Fragestellungen und Bestimmungen im Hinblick auf
das Erfassen psychopathologischer Prozesse entstehen nicht nur aus der fort-
schreitenden einzelwissenschaftlichen Forschung, sondern auch durch die philo-
sophische Beeinflussung der psychiatrischen Theorie.
Es kann in diesem Rahmen keine vollständige Übersicht über die vorhandenen
theoretischen Konzeptionen, Schulen und Richtungen gegeben werden. Wir wollen
vielmehr einige für die philosophische Erörterung psychischer Störungen wichtige
Fragen diskutieren.

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Zusammenhänge zwischen Psychiatrie und bürgerlicher Philosophie

Wechselbeziehungen zwischen Psychiatrie und materialistischer Philosophie ha-


ben sich seit jeher als fruchtbar und bereichernd für die Psychiatrie erwiesen. Wie
die gesamte Geschichte der Psychiatrie lehrt, waren progressive Perioden der Psych-
iatrie in Deutschland und in anderen Ländern mit der Vorherrschaft materia-
listisch-philosophischen Denkens verbunden. Während bis zur Mitte des 19. Jh. die
Deutung psychopathologischer Phänomene vorwiegend durch die spekulativen Vor-
stellungen der »romantischen Medizin" beherrscht wurden und die Psychiatrie bis
dahin theoretisch eine Grenzzone zwischen der Medizin und der Theologie darstellte,
erfolgte sedt der letzten Hälfte des 19. Jh. eine tiefgreifende Wende; die Psychiatrie
begann sich als selbständige Disziplin herauszubilden. Dieser Umschwung vollzog
sich mit der Überwindung der besonders unter dem Einfluß der Schellingschen
klerikal-romantischen Ideen stehenden Richtung der sog. Psychiker, zu deren wich-
tigsten Vertretern Heinroth, Windischmann, Leupoldt, Ideler, Ringseis u. a. gehörten.
Mittelalterliche Vorstellungen, nach denen Geisteskranke als von Teufeln und
Hexen Besessene angesehen wurden, beherrschten damals das Arbeitsgebiet der
Psychiatrie. Psychische Erkrankungen galten als moralische Erkrankungen, als
Resultat des Zerfalls mit Gott und der Verlust der Willensfreiheit als Strafe dafür
(Heinroth). Nach Ideler, dem Vertreter der sog. ethischen Richtung, war die Geistes-
krankheit Ausdruck mangelnder sittlicher Einsicht, der bis »ins Äußerste gesteigerten
Individualität". Grausame Folterungen und Verhalten wie zu Schwerverbrechern,
Peitschen mit Brennesseln, Infizieren mit Krätze u. ä. Prozeduren, waren gegenüber
den Geisteskranken angewandte »Behandlungs- und Heilverfahren'. Damit sollten
die Kranken zum »Sinn des Lebens' zurückgeführt werden.
Bereits zur Zeit der Französischen Revolution begann sich im praktischen Ver-
halten zu den Geisteskranken in Frankreich eine allgemeine Wende durch Ph. Pinels
Befreiung der Geisteskranken in der Salpetiere von den Ketten in denen sie gefangen-
gehalten wurden, zu vollziehen. Pinels Tat war von den Ideen Rousseaus und der
grundsätzlichen Überzeugung getragen, daß psychische Krankheiten heilbar seien.
Dieses Beispiel wurde mehr und mehr nachgeahmt, schließlich auch in Deutschland.^
Das wissenschaftliche Verständnis psychischer Krankheiten setzte sich in dem
Maße durch, wie die Kenntnis der Zusammenhänge durch die Naturwissenschaft
zunahm. Der allgemeine Aufschwung der Naturwissenschaften im 19. Jh., der Ein-
fluß der materialistischen Naturphilosophie und die ersten Anfänge der experimen-
tellen Psychologie bei J.Müller, Helmholtz und Fechner bildeten die Grundlage
für die naturwissenschaftliche Neuorientierung der Medizin und besonders der
Psychiatrie. Es war vor allem W. Griesinger, der die Bedeutung physischer Ursachen
hervorhob. Mit seinem Grundsatz, daß Geisteskrankheiten Hirnkrankheiten seien,
und der Annahme von Gehirnreflexen als Grundlage der psychischen Vorgänge
begann für die Psychiatrie ihre eigentliche Geschichte als Wissenschaft. Bodamer
bewertet die erste Arbeit Griesingers Ȇber psychische Reflexreaktionen. Mit einem
Blick auf das Wesen psychischer Krankheiten" dahingehend, daß mit dieser das
materialistische Denken in der Psychiatrie angefangen habe. Griesinger lieferte mit
seinen Anschauungen gleichzeitig eine Arbeitshypothese, an der sich viele

1 Vgl.: W.Griesinger: Zur Kenntnis der heutigen Psychiatrie in Deutschland. Leipzig


1868 i

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hervorragende Wissenschaftler, wie z. B. Meynert, Wernicke, Kraepelin, E. Bleuler,


Bumke, Vogt u. a., orientierten.
Die Verbindung der Psychiatrie mit einer streng naturwissenschaftlichen Sicht der
psychischen und psychopathologischen Erscheinungen ermöglichte um die Jahr-
hundertwende groi§e Erfolge in der Erforschung und Heilung von Krankheiten.
So brachte Wernicke neue methodische Ansätze in die Psychiatrie, denen sich u. a.
Liepmann, Heilbronner i n d Kleist anschlössen. Diesen methodischen Ansätzen ist
vor allem eine bessere Erkenntnis der organischen Psychosen (progressive Paralyse,
Alters- und Intoxikations-, Stoffwechsel- und endokrine Psychosen) zu verdanken."
Die Betonung der materiellen Bedingtheit psychischer Krankheiten durch Ver-
änderungen im organischen Substrat, dem Gehirn, und die Überzeugung von der
prinzipiellen Erkennbarkeit dieser materiellen Vorgänge ist das wesentliche Merk-
mal dieser Etappe in der Entwicklung der Psychiatrie. Die spontan materialistischen
naturwissenschaftlichen Auffassungen enthielten aber in sich metaphysische Be-
schränktheiten. Die gesamte Ausrichtung der Forschung war historisch bedingt
einseitig analytisch, das Verständnis der psychischen Erkrankungen lokalistisch, ihre
Kausalerklärung mechanistisch, soziale und psychische Aspekte blieben zum größten
Teil außerhalb des wissenschaftlichen Blickfeldes. Das zeigte sich hauptsächlich in
der Auffassung, das Psychische sei in seinen Zusammenhängen und Elementen
identisch mit Elementen und Strukturen des Gehirns, so daß psychische Störungen
aus Vorgängen oder als Vorgänge im Gehirn restlos zu begreifen wären.
Die weitere Entwicklung nach der Jahrhundertwende zeigte, daß die ausschließlich
naturwissenschaftliche Ausrichtung der Psychiatrie das Bedürfnis, einen allseitigen
Zugang zum rationalen und emotionalen Verhalten des Patienten zu erreichen, nicht
vollständig befriedigen konnte. Hildebrand schrieb zu der sich anbahnenden neuen
Etappe in der Entwicklung der Psychiatrie 1923 in »Medizin und Philosophie', daß
die Psychiatrie schon immer in Krisen bei der Philosophie Rat gesucht habe
(Kraepelin bei Wundt, Wernicke beim Materialismus), und nun würden Husserls
Ideen ihren Einfluß geltend machen (Psychiatrie als reine Wesensschau). „Die Be-
schränktheiten des spontanen materialistischen Herangehens der naturwissenschaft-
lich orientierten Medizin, die so in letzter Instanz Beschränktheiten des bürger-
lichen Denkens sind, werden von den imperialistischen Ideologen ausgenutzt, um
das naturwissenschaftliche und medizinische Denken von seiner bewußten dialek-
tischen Erneuerung abzuhalten, wobei idealistische Inkonsequenzen und Fehl-
deutungen neuartiger und ungenügend geklärter Probleme aufgebauscht und popu-
larisiert werden." ^ Das gilt auch für die Psychiatrie. Die vor allem von Ziehen und
Jaspers begonnene Linie der allgemeinen „geisteswissenschaftlichen" Umorientierung
der Psychopathologie bedeutete ebenso wie Binswangers Ansichten eine deutliche
Abkehr vom bis dahin in der Psychiatrie vorherrschenden naturwissenschaftlich
orientierten Denken und Forschen und ein Verlassen des materialistischen Stand-
punktes überhaupt.
Den auf die Erforschung der objektiven Natur eingestellten Forschern wird der
Vorwurf gemacht, daß sie das Wesen psychischen Geschehens nicht erfaßten; dem
wird aber nur ein einseitiger subjektivistischer und unhistorischer, z. T. auch agnosti-

^ Vgl.: K.Leonhard: Psychiatrie auf dem klinischen Boden Wernickes. In: Psych., Neur.
u. med. Psychol. Heft 5/1966
^ R. Löther: Gesundheit, Krankheit und Philosophie. Dissertation. Berlin 1962 (unver-
öffentlicht)

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zistischer Standpunkt entgegengesetzt. Für Jaspers, der philosophisch von Dilthey


herkommt, gibt es in der Psychopathologie keine echte Theorie wie in der Natur-
wissenschaft. Die Vorgänge im Gehirn sind für ihn prinzipiell Augerbewußtes, und
deshalb, so meint er, sitze auch ,in den Erkenntnisleistungen dieser Männer von
Anfang an der Wurm, der das Gebäude zerfrißt, etwas Zerstörendes und Lähmendes,
ein Geist von Absurdität und Inhumanität*. Das .erklärende" (naturwissenschaftliche)
Denken erfährt bei ihm als »hypothetische Hilfskonstruktion des Denkens" eine
theoretische Geringschätzung.^ Binswanger als Vertreter der durch Husserl und
Heidegger beeinflußten daseinsanalytischen Richtung in der Psychiatrie spricht vom
»materialistischen Dogma" und räumt der Erforschung physiologischer Prozesse
und Funktionen ebenfalls nur den Platz einer »psychiatrischen Hilfswissenschaft"
ein. Zum Objekt der Forschung müssen nach seiner Ansicht die selbstgeschaffenen
»intellektuellen Symbole* werden, die Psychiatrie sollte sich wie die Psychologie
„rein an den Tatsachen des Bewußtseins' orientieren, von der Subjektivität allein aus
sei die Objektivität zu verstehen.^
Binswangers theoretische Auffassungen, die auf die von der Existenzphilosophie
angegebenen allgemeinen Daseins- und Erlebnisstrukturen des Menschen zurück-
greifen, beinhalten ebenso wie Jaspers' Anschauungen und die sich später heraus-
bildende bürgerliche medizinisch-anthropologische Richtung (z.B. Zutt, Kuhlen-
kampff) die Vorstellung vom Menschen als einem abstrakten, unhistorischen Wesen.
Die Erlebnisstrukturen des Menschen befinden sich damit außerhalb jeglichen
einzelwissenschaftlichen Zugriffs, sind nur in phänomenologischer Wesensschau
begreifbar. Diese hier genannten Richtimgen beschreiten allerdings bei aller Einheit-
lichkeit der subjektiv-idealistischen Ausgangsposition verschiedene Wege in der
inhaltlichen Analyse psychopathologischer Abläufe. Die anthropologische Richtung
z. B. beachtet mehr als die anderen die biologischen Daten.
Indem der individuellen Erlebmssphäre, der biographischen, besonderen Lebens-
welt des einzelnen Bedeutung beigemessen wird, greifen diese Schulen wichtige
Fragen auf. Charakteristisch für sie aber ist, daß sie diese Aspekte verabsolutieren
und vereinseitigen, weil sie die Determination des Individuellen durch das Gesell-
schaftliche nicht anerkennen. Das Bewußtsein des Individuums erscheint als eine
in sich abgeschlossene Welt, als nur subjektives Erleben, das Psychische als aus-
schließlich von innen her determiniert. H. Witter beurteilt diese Betrachtungsweise
psychopathologischer Erscheinungen folgendermaßen: »Methodisch bedeutet dies in
der Regel die Erforschung, Auslegung und deutende Rekonstruktion der inneren
Lebensgeschichte. Notwendigenveise wird damit dem subjektiven Deutimgs-
vermögen des jeweiligen Untersuchers nahezu grenzenloser Spielraum gegeben, und
Conrad hat einmal gesagt, daß die anthropologische Psychiatrie den Psychiater
zwinge, zum Dichter zu werden. Das verstehende Ableiten des Einzelnen aus einem
Entwurf des Ganzen kann bis zur Beliebigkeit gehen, ohne daß eine Möglichkeit
zur Verifikation oder Widerlegung besteht, und schon allein dadurch wird ein
allgemein gültiger Erkenntnisgewinn entscheidend in Frage gestellt.*®
Der seit den dreißiger Jahren oft gebrauchte Begriff der Krise in der Medizin wider-
spiegelt in gewisser Weise die Zerrissenheit und den unbefriedigenden theoretischen

'' K.Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. Berlin/Heidelberg 1948. S. 458 ff.


5 L. Binswanger: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze. Bd. II. Bern 1955
® H. Witter: Methodologische Probleme der Psychiatrie. In: Fortschritte der Neur., Psych,
u. ihrer Grenzgebiete. Stuttgart. 9/1963

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Stand der Psychiatrie. In den letzten Jahren hat der Einfluß spekulativer idealistischer
Ideen auf die Psychiatrie zugenommen. Die durch Kleist, Vogt, Nonne u. a. weiter-
geführte naturwissenschaftliche Richtung bestimmt die gegenwärtige psychiatrische
Theorienbildung in den kapitalistischen Ländern kaum noch. In Westdeutschland ist
besonders die anthropologische Strömung vorherrschend, die in den dreißiger Jahren
von E. Strauss und v. Gebsattel begründet wurde und von Anfang an die Erkenntnisse
Pawlows und seiner Schüler ablehnte. Sie ist eng mit dem Existentialismus und
Neothomismus verbunden und hat auch ihren Niederschlag in der «psycho-
somatischen Medizin" gefunden.'

Physische, psychische und soziale Aspekte in der Psychiatrie

Die gegenwärtige Entwicklung der Psychiatrie in den imperialistischen Staaten


Europas und in den USA wird von vielen Klinikern mit wachsender Besorgnis
beobachtet. In einer Auseinandersetzung mit dem ersten Band des westdeutschen
Handbuches .Psychiatrie der Gegenwart", in dem die theoretischen Grundlagen und
Methoden der klinischen Psychiatrie behandelt werden, lehnt der sowjetische Psych-
iater E. Sternberg diese Tendenzen scharf ab und bezeichnet sie als Ausdruck einer
.ernster Krise in der Psychiatrie der kapitalistischen Länder". Seine Kritik richtet
sich vor allem gegen die zunehmenden spekulativen Erwägungen philosophischer
Art ohne Berücksichtigung klinischer Beobachtungen oder durch deren Falsifikation.
»Die Psychiatrie hört auf, eine empirische Wissenschaft zu sein und verwandelt sich
in ein Philosophieren über das Thema .Geisteskrankheit'." 8 Die einseitige und will-
kürliche Interpretation psychopathologischer, vor allem paranoider Phänomene als
.Standverlust", .Verlust der Geborgenheit", mißglücktes .Wir-Sein" oder .Sich-
Begegnen", .Ausgeliefertsein" u. ä. haben nach Sternbergs Meinung in keiner Hin-
sicht zur Bereicherung des Wissens über das paranoide Syndrom beigetragen,
sondern führen zu einer zunehmenden Inhaltslosigkeit der psychiatrischen Begriffe,
Sternberg weist darauf hin, daß der Einbruch des Existentialismus, der anthro-
pologischen und ähnlicher Richtungen in die zeitgenössische Psychiatrie nicht nur
eine radikale Abkehr von der medizinischen (biologischen) Methode bei der Er-
forschung des Wesens der Geisteskrankheiten bedeutet, sondern einen Verzicht auf
ein empirisch-wissenschaftliches Vorgehen in der Psychiatrie überhaupt darstellt.
Dabei hebt er hervor, daß mit der Verbreitung existentialistischer und anthropolo-
gischer Ansichten in der westlichen Psychiatrie eine Aktivierung des Kampfes gegen
Materialismus und Determinismus, eine Abkehr vom Kausalprinzip beim Studium
der psychischen Störungen, eine Verwischung der qualitativen Unterschiede sowie
der Grenzen zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit, die Aufgabe des

' Auf die Entwicklung der Psychiatrie in der DDR wird in diesem Artikel nicht einge-
gangen. Vgl. dazu: A. Thom: Philosophisches Denken in der modernen Psychiatrie. In:
Medizin und Philosophie - Arzt und Gesellschaft. Wissenschaftliche Zeitschrift der
Karl-Marx-Universität. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe. Sonderband V.
Leipzig 1965
® E. Sternberg: Zur Kritik der existentialistischen und anderen antinosologischen Rich-
tungen in der modernen westlichen Psychiatrie. In: Psych., Neur. und med. Psychol.
Heft 11/1964

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nosologischen Prinzips, des Krankheitsbegriffs und darüber hinaus des gesamten


Systems medizinischer und biologischer Begriffe verbunden ist. , I n ihrer über-
wiegenden Mehrzahl enthalten die Arbeiten existentialistisch oder anthropologisch
ausgerichteter Psychiater willkürliche, äußerst subjektive und individualistische
Deutungen, die den klinischen Grundtatsachen widersprechen und durch nichts als
»Intuition' oder »existentielle Erhellung' bewiesen werden. An die Stelle induktiver
wissenschaftlicher Forschung sind Philosophieren, hermeneutische Deutungen und
allgemeine Deklarationen getreten.'9
Was die Beurteilung des Einflusses des Existentialismus und darüber hinaus der
gesamten spätbürgerlichen idealistischen Philosophie auf die Entwicklung der Psych-
iatrie anbetrifft, so decken sich unsere Ansichten mit der Meinung Stembergs. Man
kann aber aus seiner Darstellung auch den Eindruck gewinnen, daß er die An-
wendung philosophischer Erkenntnisse auf psychopathologische Erscheinungen über-
haupt ablehnt. Für die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Psychiatrie fordert
er eine stärkere Konzentration auf die Untersuchung somatischer Prozesse und genau
differenzierte Analysen der klinischen Erscheinungsformen und Verlaufsgesetzlich-
keiten psychischer Krankheiten. Nur so könnten Einsichten in die diesen Erschei-
nungen zugrunde liegenden pathologischen Veränderungen gewonnen werden.
Eine solche Aufgabenstellung scheint uns angesichts der Erkenntnisse über das
Wesen des Menschen und des Psychischen, über die wir heute bereits verfügen, zu
eng zu sein. Auch die Rolle sozialer Faktoren, der inneren Verarbeitung der Umwelt-
einflüsse und der Persönlichkeitsstruktur muß legitimer Forschungsgegenstand der
Psychiatrie sein. M i t dieser Feststellung soll die Bedeutung krankhafter somatischer
Prozesse für psychopathologische Störungen nicht unterschätzt werden. Ihre Rolle
wird deutlich, wenn man sich beispielsweise die Entwicklung der Erkenntnisse über
Paralyse und Tabes dorsalis vergegenwärtigt. Um die Jahrhundertwende wurden
diese Erkrankungen z. T. als Folge körperlicher und geistiger Anstrengungen ange-
sehen. Die Ansicht von der traumatischen Entstehung der Dementia paralytica war
weit verbreitet. Durch intensive naturwissenschaftliche Forschung, 1913 entdeckte
Noguchi den Syphiliserreger im Paralytikergehirn, konnte der syphilitische Charakter
dieser Krankheiten nachgewiesen werden. Der zu dieser Zeit führende Neurologe
Deutschlands, H. Oppenheim, führte noch 1913 in seinem Lehrbuch über Nerven-
krankheiten unter den Neurosen Paralysis agitans, Tetanie, Chorea minor u. ä. an,
deren organische Verursachung heute feststeht.
Doch derartige Untersuchungen haben bis heute die Ätiologie eines großen Teils
der Geisteskrankheiten, besonders der endogenen Psychosen, nicht klären können.
Die Bezeichnung endogen, d. h. »von innen heraus verursacht", für schizophrene und
manisch-depressive Erkrankungen drückt eigentlich nur aus, daß es sich hier um
Krankheiten handelt, deren materielle Determiniertheit noch nicht bekannt ist.
Pathologische Veränderungen am materiellen Substrat konnten bisher nicht nach-
gewiesen werden. Die wechselseitige Bedingtheit von Struktur und Funktion läßt
erwarten, daß auch hier ein strukturelles Korrelat auf irgendeiner Ebene gefunden
wird.
Normale psychische Tätigkeit des Menschen setzt normales Funktionieren des
Zentralnervensystems (ZNS) voraus. Krankhafte Störungen in ihm wirken sich des-

9 Ebenda
Vgl.: Stern: 50 Jahre Neurologie. In: Schw. Med. Wschr. Heft 30/1955

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halb als Störungen der Emotionalität und Verzerrung der Bewußtseinsinhalte aus,
die bis zu Wahnideen gehen können. In der Anerkennung des Somatischen erschöpft
sich aber der Materialismus in der Psychiatrie bei weitem nicht. Man bleibt dadurch
in der biologischen Ebene stehen. Es mu§ hervorgehoben werden, daß das Gehirn
bzw. das ZNS nicht die Quelle des Bewußtseins, sondern nur das Organ ist, das die
Widerspiegelung der objektiven Realität ermöglicht. Bewußtsein wird im wesent-
lichen durch die Außenwelt determiniert. Dabei darf Außenwelt nicht mit der
biologischen Umwelt identifiziert werden. Der biologische Umweltbegriff ist nicht
ohne weiteres auf den Menschen anwendbar. Es gibt keine bestimmte natürliche
Umwelt, an die der Mensch speziell angepaßt und auf die er unbedingt angewiesen
ist. Die Außenwelt ist vor allen Dingen die menschliche Gesellschaft und die von der
menschlichen Gesellschaft umgestaltete Natur. Jeder Mensch eignet sich diese Um-
welt in unterschiedlicher Weise an, d. h., er gewinnt ein unterschiedliches Bewußt-
sein von seiner Umwelt. »Der Mensch - so sehr er . . . ein besonderes Individuum
ist, und gerade seine Besonderheit macht ihn zu einem Individuum und zum wirk-
lichen individuellen Gemeinwesen, - ebensosehr ist er die Totalität, das subjektive
Dasein der gedachten und empfundenen Gesellschaft für sich, wie er auch in der
Wirklichkeit sowohl als Anschauung und wirklicher Genuß des gesellschaftlichen
Daseins wie als eine Totalität menschlicher Lebensäußerungen da ist.*
Zwischen den Einwirkungen der materiellen Außenwelt und den Ergebnissen
dieser Einwirkungen in der ideellen Widerspiegelung und anderen psychischen
Äußerungen besteht keine direkte und unvermittelte Abhängigkeit. Es sei hier auf
Rubinsteins These verwiesen, daß bei psychischen Abläufen die äußeren Einwir-
kungen durch die inneren Bedingungen gebrochen und modifiziert werden. Diese
inneren Bedingungen erscheinen in der Aktivität des Subjekts. Für das Gewinnen
von Bewußtseinsinhalten genügt es nicht, daß Objekte der materiellen Welt auf das
ZNS einwirken. Von dem Grad an Aufmerksamkeit, der ihnen entgegengebracht
wird, hängt es ab, ob und wie der Widerspiegelungsprozeß erfolgt. Durch den
Mechanismus der Aufmerksamkeit erhalten bestimmte Reizeinwirkungen größere
Bedeutung, während andere zurückgedrängt oder völlig ausgeschaltet werden. Die
subjektive Bereitschaft, sich bestimmten Seiten der objektiven Realität verstärkt
zuzuwenden, wird einerseits durch das kritische Denken, durch das Wissen über
wesentliche objektive Zusammenhänge, andererseits aber auch durch die gefühls-
mäßigen Bindungen, Interessen, Abneigungen, die gesamte individuelle emotionale
Einstellung des betreffenden Menschen gegenüber dem Objekt der Widerspiegelung
bedingt. Intensive generalisierte Gefühle können der rationalen Erkenntnis be-
stimmter Zusammenhänge direkt entgegenwirken.
Mit der Rolle, die die emotionalen Faktoren innerhalb des Widerspiegelungs-
prozesses spielen, hat sich H. Bober beschäftigt. Er führt dazu u.a. aus: „In dem
Maße, wie die gefühlmäßigen Beziehungen und Stellungnahmen des Menschen als
psychische widerspiegelungs- und verhaltenssteuernde Komponenten wirksam
werden, unterliegen die Objekte, die der Mensch in seinem Bewußtsein wider-
spiegelt, einer gefühlsmäßigen Auswahl." Und weiter: .Da die emotionale Generali-
sierung die objektiven Wirklichkeitsbedingungen durch emotionale Bewertung in
den emotionalen Zustand des Individuums umsetzt, der immer innerer Zustand
eines Subjekts ist, nicht aber die der Wirklichkeit eigenen Wesenheiten und Zu-

" K.Marx/F.Engels: Kleine ökonomische Schriften. Berlin 1955. S. 130/131

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sammenhänge herauskristallisiert, können sich die Gefühle sowohl mit ideellen


Abbildern, Ideen, Theorien usw. verbinden, die die Wirklichkeit annähernd richtig
widerspiegeln, als auch mit solchen, die ein verzerrtes Wirklichkeitsbild zum Inhalt
haben. Die Ideen werden aber unabhängig davon, ob sie die Wirklichkeit richtig
widerspiegeln oder nicht, wenn sie als etwas persönlich Bedeutsames erlebt werden,
zu Überzeugungen der Persönlichkeit." Die gesetzmäßige Determination durch
materielle Erscheinungen beinhaltet also im konkreten Widerspiegelungsprozeß
keine eindeutigen Beziehungen des Psychischen zu seinen materiellen Grundlagen,
der äußeren Welt einerseits und dem Gehirn andererseits.
Im Gegensatz zu mechanisch-materialistischen Auffassungen, die psychische
Elemente auf materielle Einheiten reduzieren, indem sie eineindeutige Beziehungen
zwischen Psychischem und Physiologischem annehmen (siehe auch moderne Auf-
fassungen über den .Sitz des Bewußtseins" 13), hebt die dialektisch-materialistische
Auffassung gerade die relative Eigenständigkeit des Psychischen hervor. Diese
Eigenständigkeit kommt z. B. darin zum Ausdruck, daß die widergespiegelten Ab-
bilder relativ unabhängig von ihrer Quelle zueinander in Beziehung treten und
synthetisiert werden können. Man kann in dieser Hinsicht auch von der doppelten
Natur des'Bewußtseins sprechen. „Das Bewußtsein des Menschen widerspiegelt nicht
nur die objektive Realität, sondern schafft sie auch.' Das ist die Voraussetzung
für die schöpferische menschliche Tätigkeit. Die Entwicklung des Psychischen voll-
zieht sich durch die aktive Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Um-
gebung, durch die selbständige Verarbeitung der Impulse, die es von dort erhält.
Auf die Bedeutsamkeit der persönlichen Einstellung zur Umwelt wiesen schon Marx
und Engels in der „Deutschen Ideologie" hin: „Wo ein Verhältnis existiert, da
existiert es für mich, das Tier .verhält' sich zu nichts und überhaupt nicht. Für das
Tier existiert sein Verhältnis zu anderen nicht als Verhältnis. Das Bewußtsein ist
also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange
überhaupt Menschen existieren." ^^ Zur Auseinandersetzimg mit der Umgebung
gehört auch, daß das Individuum die Handlungen der mit ihm zusammenlebenden
Menschen kritisch wertet.
Es läßt sich vermuten, daß Störungen in den Kommunikationsbeziehungen zur
gesellschaftlichen Umgebung oder bei der Modifizierung der äußeren Einwirkungen
durch die innere Verarbeitung psychopathologische Entwicklungen nach sich ziehen
oder zumindest in ihrer Pathogenese beeinflussen können. Es handelt sich hier um
eine noch nicht genügend verifizierte Denkmöglichkeit, die aber als Hypothese
durchaus zulässig ist. Es setzt sich immer mehr die Ansicht durch, daß neurotische
Erscheinungen aus unbewältigten Konfliktsituationen resultieren. Eine solche Kon-
fliktsituation ist dann gegeben, wenn ein Mensch sich selbständig für eine von meh-
reren möglichen Verhaltensweisen entscheiden muß, diese Entscheidung aber nicht
sofort oder überhaupt nicht befriedigend für sich oder seine Umwelt treffen kann.
Auch für schizophrene Erkrankungen, bei denen die Wahnideen z. T. als noch nicht

H. Bober: Die Rolle des Affektiv-Emotionalen im Erkenntnisprozeß. In: DZfPh. Heft 8/


1965. S. 954 und 962
" Siehe dazu die Diskussionen in der Zeitschrift Psych., Neur. u. med. Psychol. 1960/1961
über die Auffassungen Weinschenks.
»i W. I. Lenin: Aus dem philosophischen Nachlaß. Berlin 1958. S. 134
« K.Marx/F.Engels: Werke. Bd. 3. Berlin 1959. S. 30/31

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ableitbar oder einfühlbar gelten, könnten die genannten Störungen eine Rolle spielen.
Rennert stellt dazu fest: ,Im Gegensatz zu der doch angeblich so kontaktoffenen
Situation bei den Depressiven mit ihren als einfühlbar und umweltbezogen gelten-
den Verhaltensweisen bietet das schizophrene Denken und Erleben trotz der autisti-
schen Kommunikationsstörung eine ganz erstaunliche Verzahnung mit all den In-
halten, die von der jeweiligen Umwelt des Kranken, seiner sozialen Situation, ja
seiner ganzen kulturgeschichtlichen und technischen Zeitepoche bestimmt werden
(siehe Wahnideen und Sinnestäuschungen)."
Verwandte Überlegungen lassen sich auch im Hinblick auf die Problematik des
induzierten Wahns anstellen. Unter induziertem Wahn versteht man eine psycho-
pathologische Erscheinung, bei ^der Menschen, die mit Wahnkranken zusammen-
leben, von deren geistiger Gesundheit überzeugt sind, deren unreale Vorstellungen
übernehmen und unter Umständen sogar weiter ausbauen, so daß sie schließlich
selbst paranoide Syndrome bieten. Solche Erscheinungen sind vorwiegend bei geistig
abhängigen Personen, deren Kritikfähigkeit ihrer Umgebung gegenüber einge-
schränkt war (durch Epilepsie, Debilität u. ä.), beobachtet und beschrieben worden.
Doch es ist auch schon vorgekommen, daß aktive, selbstbewußte Personen Wahn-
ideen übernommen haben, um der Feststellung, in ihrer Familie befinde sich ein
Geisteskranker, entgegenwirken zu können.!'
Auf Grund der hier angedeuteten Erfahrungen meinen wir, daß die Aufgabe der
Psychiatrie darin besteht, die Gesetzmäßigkeiten aller materiellen Bewegungsformen
zu berücksichtigen, die beim Vorgang der gestörten Widerspiegelung der objektiv-
realen Welt zwischen inneren und äußeren Systembedingungen auftreten oder als
Resultat dieses Vorganges (klinisches Zustandsbild) angetroffen werden können.
Dabei handelt es sich um dialektische Wechselbeziehungen in und zwischen ver-
schiedenen Ebenen: der materiell-organismischen Ebene, der relativ selbständigen
Existenz des Psychischen in seiner spezifischen Qualität als ideeller Widerspiegelung
der Objekte der materiellen Welt und des bewußten Verhaltens des Menschen zu
ihnen, der Einflüsse aus der gesellschaftlichen Umwelt, wie sie sich insgesamt in der
persönlichen Lebensgeschichte des Menschen manifestiert haben. Diese verschie-
denen Ebenen können in ihrer räumlichen und zeitlichen (funktionellen) Struktur
mit spezifischen Forschungsmethoden in ihrer Eigengesetzlichkeit erkannt werden.
Kybernetisch ausgedrückt, sind diese Ebenen auch als vermaschtes Netz von
Regelkreisen vorstellbar. Dabei zieht jede Störung innerhalb der ineinander ver-
flochtenen Regelkreise Störungen im Gesamtsystem nach sich, die je nach der Art
der Noxe innerhalb der verschiedenen Systeme ausgeglichen werden können oder
zu sichtbaren pathologischen Veränderungen führen. Der Mensch hat sein inneres
Modell von der Außenwelt und seiner Stellung in ihr. Dieses Modell entspricht
einer bestimmten Programmierung oder auch Speicherung von .Erinnerungen',
deren neurophysiologischer, biochemischer oder elektrochemischer Anteil selbst
noch Gegenstand der Forschung ist. Störungen eines widerspiegelnden Systems
können sich nun materiell als Umcodierungen von Verarbeitungsmustern äußern, als
veränderte Kombinationen, die sich psychisch als pathologische Verbindungen von

H. Rennert: Die Universalgenese der endogenen Psychosen. In: Fortschritte der Psych.,
Neur. u. ihrer Grenzgebiete. Heft 5/1965
" Vgl.: Frank: Induzierter Wahn bei der psychisch stärkeren Persönlichkeit auf Grund
paranoischer Entwicklung. In: Psych., Neur. u. med. Psychol. Heft 4/1964

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in Wirklichkeit nicht zusammenhängenden realen Dingen und Prozessen äußern.


Auch die Auswahl neuer Information und ihre entsprechende Verarbeitung werden
gestört. Die Ausgedehntheit dieser Prozesse hängt von der Spezifik der gestörten
Funktion ab, aber auch von den bereits vorhandenen Programmierungen. Ganz
gleich um welches Krankheitsbdld es sich handelt, gehen die veränderten psychischen
Phänomene immer mit materiellen Veränderungen Hand in Hand, wobei sich
„materielle Veränderung' sowohl auf die morphologische Struktur als auch auf die
Informationsverarbeitung von äußeren objektiven Gegebenheiten bezieht.
Es ist möglich, da§ bestimmte Informationen aus der Umwelt der Dynamik des
individualhistorisch gewordenen inneren Modells soweit widersprechen, daß eine
adäquate Anpassung an die Lebensumstände verhindert wird. Die Kompliziertheit
der Prozesse, die sich bei der Entstehung psychischer Störungen abspielen, macht es
notwendig, daß die Forschung auf dem natur\N'issenschaftlichen Sektor der Psych-
iatrie (Neurologie, klinische Neurophysiologie, kortikoviszerale Physiologie und
Pathologie) durch psychologische, soziologische und philosophische Forschung er-
gänzt und diese als gleichwertig anerkannt wird.

Psychosomatische Erklärungen psychischer Störungen

In bezug auf neurotische Erkrankungen gibt es gewisse Überschneidungen im


Gegenstandsbereich der Psychiatrie und der sog. psychosomatischen Medizin. Die
Ende der zwanziger Jahre und heute besonders in Westdeutschland und den USA
verbreitete psychosomatische Medizin versucht eine Übereinstimmung zwischen der
Tiefenpsychologie, die von Freud entwickelt wurde, und den organischen Befunden
der klinischen Medizin herzustellen und auf dieser Grundlage ätiologische Er-
klärungen neurotisch bedingter Organerkrankungen zu geben. Zu den psycho-
somatischen Krankheiten bzw. .Organneurosen" gehören vor allen Dingen Coronar-
erkrankungen, Hypertonie, Asthma bronchiale, Ulcusleiden des Magen-Darm-
Traktes und Dermatosen.
Im Zusammenhang mit den erwähnten Krankheiten und der Neurosenätiologie
überhaupt werden Fragen über das Wesen des Menschen und seine Stellung in der
Welt, über die Freiheit des Individuums, seine Verantwortung sich selbst und
anderen gegenüber, das Phänomen Angst, den Sinn des Lebens u. a. diskutiert. Da sie
sich allein vom medizinischen Standpunkt aus nicht klären lassen, erfolgt eine immer
stärkere Anlehnung an philosophische T h e o r i e n . ^ ^ Ober die psychosomatische
Medizin dringt das herrschende spätbürgerliche Denken auch in das Gebiet der
inneren Medizin ein. In den Veröffentlichungen, in denen klinische Phänomene
theoretisch verallgemeinert und philosophisch gedeutet werden, nehmen existentia-
listische und neothomistische Gedankengänge zu. Die psychosomatischen Krank-
heiten werden z. T. als Auswirkungen der modernen menschlichen Lebens-
bedingungen dargestellt und darum häufig auch als »Zivilisationskrankheiten" be-
zeichnet. Es ist aber deutlich das Bestreben vorhanden, den aus der Klassen-

Vgl.: S. N. Braines/A.W. Napalkow/W. B. Swetschinski: Neurokybernelik. Berlin 1964.


S. 180 ff.
Vgl.: R. Löther: Marxistisches Menschenbild und medizinische Wissenschaft. In: DZfPh.
Heft 4/1964

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Materialismus und Psychiatrie

Herrschaft der imperialistischen Bourgeoisie resultierenden sozialen Konflikten ihre


Allgemeingültigkeit zu nehmen und sie in persönliche Konflikte des Individuums zu
verwandeln. So wird beispielsweise behauptet, daß von diesen Leiden besonders
Menschen mit einem abnorm starken Geltungsbedürfnis befallen werden, die ihre
Leistungsgrenzen bewußt ignorieren und Schuldgefühle entwickeln, wenn sie sich
wegen Überanstrengung Ruhe gönnen müssen.^" Charakteristisch für die psycho-
somatische Medizin Westdeutschlands ist, daß sie den Menschen als autonomes
Individuum betrachtet, das einerseits in seinen Entscheidungen völlig frei sein soll,
andererseits aber wehrlos einem allmächtigen Schicksal (oder Gott) ausgeliefert ist,
das sich nicht aus seiner fehlerhaften Ichverstrickung lösen kann und durch die
Grundphänomene Angst und Schuld gekennzeichnet ist.
Im Mittelpunkt der psychosomatischen Betrachtungsweise steht die Auffassung
vom Sinngehalt der Krankheit (Weizsäcker, Müller-Eckhard, Jores). Diese Autoren,
die besonders vom klerikalen Denken beeinflußt sind, behaupten, die „Zivilisations-
krankheiten" seien Ausdruck der dem sündhaften Menschen von Gott gesandten
Strafen. „Die Krankheit ist der Sünde Sold." Daher seien die Ursachen neurotischer
Störungen auch nicht durch das in der naturwissenschaftlichen Forschung übliche
Kausalprinzip zu finden; Vorgänge im geistig-seelischen Bereich ließen sich, wenn
überhaupt, nur durch Zweck- oder Sinnfragen erfassen, bzw. das kausale Denken
müsse durch das teleologische ergänzt werden. Die weit verbreitete Ansicht, daß
neurotische Entwicklungen aus unbewältigten Konfliktsituationen entstehen, wird
z. B. von Jores so gedeutet, daß der Mensch heute an bewußten oder unbewußten
Gewissenskonflikten leide, weil er aus der Ordnung mit Gott herausgefallen sei.
Zur Ätiologie der Neurosen entwickelt er folgendes Schema: Gewissenskonflikte
entstehen aus sündhaften Verfehlungen - die psychische Krankheit stellt das Symbol
dieses Tatbestandes dar - dauerhafte Heilung ist erst durch Beseitigung der Schuld
gegenüber Gott möglich - Vergebung der Sünde und Heilung sind demnach mit-
einander identisch. Aus solchen Konstruktionen leitet Jores die Aufgaben ab, die
der Arzt heute zu erfüllen habe: .Erst dann dürfen wir die Aufgaben des Arztes als
erfüllt ansehen, wenn er dem Kranken zur Sinnerfüllung seines Leidens verholfen
und damit dazu beigetragen hat, einem Menschen zur Reife zu verhelfen. Wir sehen
hier auch, wie nahe sich wirklich Arzttum . . . und Priestertum berühren . . . Arzt und
Priester sind im Laufe der Entwicklung sehr verschiedene Wege gegangen und
haben lange Zeit hindurch kaum mehr etwas voneinander gewußt. Heute laufen
diese Wege wieder zusammen . . . Wichtig ist, daß der Arzt sich dieser hohen Auf-
gabe bewußt bleibt und sich um ihre Erfüllung ernsthaft bemüht." ^^
Die hier offen geforderte Unterordnung der Medizin unter die Religion, die
Degradierung des Arztes zum Handlanger des Theologen, stellt eine Wiederaufnahme
von Positionen dar, die während der Herausbildung der Psychiatrie als Wissenschaft
im mühevollen und zähen Kampf gegen mittelalterliche Vorstellungen bereits über-
wunden wurden (vgl. Heinroth und Ideler). Es ist daher nicht verwunderlich, daß
von verschiedenen Klinikern, sowohl Psychiatern als auch Internisten,.die Entwick-
lung der Psychosomatik mit Befremden verfolgt wird und diese Anschauungen teil-
weise oder völlig abgelehnt werden.22 Alle gegen die psychosomatische Medizin
20 Vgl.: W. Rudolf: Soziale Cardiologie. In: Med. Klinik. Nr. 42/1960
A. Jores: Vom Sinn der Krankheit. Hamburger Universitätsreden. Bd. 11. 1951. S. 24/25
Martini äußert seine Bedenken gegen die in der Psychosomatik angewandten Methoden
folgendermaßen: .Nachdem es gelimgen ist, einem Medizinstudenten 1954 in der

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vorgebrachten Einwände £a§t M. Pflanz zu folgenden Gesichtspunkten zusammen:


1. Die psychosomatische Medizin ist dualistisch, was sich schon in ihrer Bezeichnung
ausdrückt.
2. Es ist überflüssig, Bestrebungen als besondere Richtung hervorzuheben, die jeder
gute Arzt schon immer beherzigt hat und immer noch beachtet.
3. Die psychosomatische Medizin vernachlässigt die somatopsychischen Beziehungen.
4. Die Frage nach dem Sinn einer Krankheit übersteigt die Kompetenzen der
Medizin.
5. Die Vernachlässigung des Kausalprinzips innerhalb der Psychosomatik wird den
tatsächlichen Gegegebenheiten nicht gerecht.
6. Die angeblich spezifischen Situationen, durch die bestimmte Krankheiten ausge-
löst werden sollen, sind allgemeinmenschlich.
7. Der Anspruch mancher Psychosomatiker, eine »neue Medizin' schaffen zu können,
ist unreal und wird zurückgewiesen.^^
Inwiefern die angeführten Einwände im einzelnen berechtigt sind, soll hier nicht
untersucht werden. Von Bedeutung ist aber die Erkenntnis, daß die teilweise oder
völlige Ersetzung des Kausalprinzips durch die Teleologie nicht zur Klärung patho-
logischer Erscheinungen beitragen kann. Auch hier müßte die dialektische Deter-
minismusauffassung als heuristisches Prinzip nutzbar gemacht werden. Es ist be-
kannt, daß auf Grund der universellen Wechselwirkung bei allen Vorgängen und
Prozessen direkte oder lineare Kausalität nur in Ausnahmefällen vorhanden ist.
Bei psychischen Abläufen ist das Auffinden von Kausalbeziehungen noch kompli-
zierter als bei anderen Prozessen, da hier die aktive, bewußte Verarbeitung als
Wirkungsbedingung auftritt. Den Organismus schädigende Ursachen können dadurch
entweder zeitweilig oder vollständig ausgeglichen werden oder im Verhältnis zur
Ursache überraschend starke Auswirkungen haben, wie schon bei der Modifizierung
der äußeren Einwirkungen durch die inneren Bedingungen zu zeigen versucht wurde.
Auf diese Problematik hat schon Hegel aufmerksam gemacht: „Dann hauptsächlich
ist noch die unstatthafte Anwendung des Kausalitätsverhältnisses (gemeint sind
mechanische Vorstellungen - V.Sch./G.F.) auf Verhältnisse des physisch-organischen
und des geistigen Lebens zu bemerken. Hier zeigt sich das, was als Ursache genannt
wird, freilich von anderem Inhalte als die Wirkung, darum aber, weil das, was auf
das Lebendige wirkt, von diesem selbständig bestimmt, verändert und verwandelt
wird, weil das Lebendige die Ursache nicht zu ihrer Wirkung kommen läßt, d. h. sie
als Ursache aufhebt." 24
Neue Anregungen für die Untersuchung dieser Erscheinungen sind durch die
Kybernetik gegeben worden. Psychische Abläufe stellen Abläufe in einem selbst-
Hypnose zu suggerieren, es sei 1963 und er bereits erfahrener Arzt, und er dann erzählt
hat, welchen Befund er gerade bei der (nicht vorhandenen) Patientin erhob und
parallele Fälle aus seiner Praxis von 1958 schilderte, sind für mich alle Erforschungs-
verfahren, bei denen Suggestion mit im Spiele sein kann, verdächtig geworden.' Kolle
mahnte 1953 eindringlich zu einer methodologischen Besinnung innerhalb der Psycho-
somatik, die von überwuchernden Spekulationen bedroht sei. Erwähnenswert ist be-
sonders Weitbrechts 1955 erschienenes Buch „Zur Kritik der Psychosomatik".
Vgl.: Handbuch der Neurosenlehre imd Psychotherapie. Bd. I. München/Berlin 1959
- Gegenwärtiger Stand und Entwicklungstendenzen in den einzelnen Kulturräumen -
M. Pflanz: Mitteleuropa
^ G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweites Buch. Verlag Philipp Reclam jun.
Leipzig 1963. S. 251/252

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Materialismus und Psychiatrie

regulierenden System dar. Mit Hilfe von Rückkopplungsmechanismen sind diese in


der Lage, gegenüber äugeren Einflüssen einen relativen Gleichgewichtszustand auf-
rechtzuerhalten. Sie unterliegen weniger einer gezielten äugeren Steuerung und
Lenkung als vielmehr einer inneren Regelung. Aus den inneren Regelungsmechanis-
men ergibt sich demnach psychische Stabilität oder Labilität des Menschen.25
Psychische Störungen sind also als Regulationsstörungen durchaus objektiv faßbar
und benötigen zu ihrer Erklärung keineswegs ein teleologisches Prinzip. Mit differen-
zierteren Untersuchungen über die im psychischen Bereich vorhandenen Kausal-
beziehungen kann die marxistische Psychologie einen wertvollen Beitrag für die
Genese psychopathologischer Erscheinungen liefern.

Probleme psychischer Gesunderhaltung in der sozialistischen und kommunistischen


Gesellschah
Marx und Engels führten in der »Deutschen Ideologie" aus, dag in der gesamten
bisherigen gesellschaftlichen Entwicklung die Individuen bei ihren Handlungen
immer von sich, von ihren Interessen und Bedürfnissen ausgingen. Sie konnten das
aber nur in dem Umfang tun, wie es die gegebenen historischen Bedingungen und
Verhältnisse gestatteten. In dem Mage, in dem sich innerhalb der Teilung der
Arbeit eine unvermeidliche Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse
entwickelte, bildete sich auch ein Gegensatz im Leben jedes Individuums heraus:
Es war einerseits persönlich und andererseits unpersönlich, insofern, als es unter
irgendeinen Zweig der Arbeit und die dazugehörigen Bedingungen subsumiert war.
Die Persönlichkeit wurde durch versachlichte Mächte geprägt und durch bestimmte
Klassenverhältnisse bestimmt und bedingt. „Es geht aus der ganzen bisherigen
Entwicklung hervor, dag das gemeinschaftliche Verhältnis, in das die Individuen
einer Klasse traten und das durch ihre gemeinschaftlichen Interessen gegenüber
einem Dritten bedingt war, stets eine Gemeinschaft war, der diese Individuen nur
als Durchschnittsindividuen angehörten, nur soweit sie in den Existenzbedingungen
ihrer Klasse lebten, ein Verhältnis, an dem sie nicht als Individuen, sondern als
Klassenmitglieder teilhatten.' 26
Die Entfaltung der individuellen schöpferischen Fähigkeiten des Menschen wird
in den auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln basierenden Gesellschafts-
formationen, besonders im Kapitalismus, erheblich eingeschränkt. Die schöpferische
Tätigkeit ist nicht Bestätigung der Macht des Menschen, sondern bloges Mittel zur
Bedürfnisbefriedigung, zur Existenzerhaltung. Seine Schöpferkraft vergegenständlicht
sich in Produkten, die ihm nicht gehören. Die Entfremdung des Menschen von der
Arbeit und damit von der wesentlichen Bestimmung seines Menschseins überhaupt
und von anderen Menschen in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung kann
sicherlich zu fehlerhaften psychischen Reaktionen oder psychischen Fehlhaltungen
führen. Die ökonomischen Ursachen dieses Vorganges sind in der sozialistischen
und kommunistischen Gesellschaftsordnung vollständig beseitigt. Das bedeutet aber
nicht, dag die aus ihm resultierenden Verhaltensweisen, das spezifische Verhältnis
des Menschen zu seinen Lebensumständen, zur Produktion, die subjektive Isolierung
u. ä., gleichzeitig mit aufgehoben werden. Ihre Überwindung erfordert einen selb-
ständigen, langwierigen Prozeg, der die Gesellschaft vor komplizierte Aufgaben stellt.
25 Vgl.: H. Korch: Das Problem der Kausalität. Berlin 1965. S. 260
28 K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 3. S. 74

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Vera Schzödter und Gudrun Frost

Mit der sozialistischen Umwälzung beginnt die Entwicklung der Menschen zu


»totalen Individuen". Das Verhältnis der Menschen zur Erzeugung der materiellen
Existenzmittel, ihr Verhältnis zueinander und die Rolle des Menschen in der Gesell-
schaft ändern sich grundlegend. »Erst auf dieser Stufe fällt die Selbstbetätigung mit
dem materiellen Leben zusammen, was der Entwicklung der Individuen zu totalen
Individuen und der Abstreifung aller Naturwüchsigkeit entspricht; und dann ent-
spricht sich die Verwandlung der Arbeit in Selbstbetätigung und die Verwandlung
des bisherigen bedingten Verkehrs in den Verkehr der Individuen als solcher",
schreiben Marx und Engels.27
Abschließend möchten wir auf einen Problemkreis hinweisen, der u. E; für die
richtige psychische Entwicklung von Bedeutung ist und sich aus dieser veränderten
Stellung des Individuums ergibt. Mit der Verwandlung des Zwanges zur Arbeit in
die freie Selbstbetätigung entstehen Möglichkeiten für die unbegrenzte Entwicklung
und Vervollkommnung der Persönlichkeit, die der weitere gesellschaftliche Progre§
notwendig macht. Damit vergrößert sich gleichzeitig der Verantwortungsbereich des
einzelnen, was diesen stärker als bisher vor persönliche konfliktvolle Entschei-
dungen stellt. Im Prozeß der technischen Revolution wird die Zunahme der persön-
lichen Verantwortung und die Vergrößerung der individuellen Freiheit bereits deut-
lich. Diese neue Situation erfordert, Spontaneität durch Bewußtheit im Denken und
Handeln zu ersetzen, schnell und richtig auf veränderte Bedingungen zu reagieren,
die Auswirkungen persönlicher Entscheidungen zu übersehen und wenn notwendig
zu korrigieren. Die Fähigkeiten dazu erwirbt der einzelne, wenn er durch die Über-
tragung ihm angemessener gesellschaftlicher Verantwortung zu eigener Aktivität
gezwungen wird und bereit ist, diese Verantwortung zu übernehmen. Sind diese
Voraussetzungen nicht gegeben, entwickelt und vergrößert sich der Konflikt zwischen
dem gesellschaftlich bedingten Sollen und dem subjektiven Verhalten, dem Wollen
oder Können. Natürlich ist das Individuum in diesem Prozeß nicht sich selbst über-
lassen. Es verfügt über die Kommunikation mit der ganzen Gesellschaft, auf deren
Wissen, Erfahrungen und Handlungen es aufbaut. Doch zur Entwicklung und Be-
währung der Persönlichkeit gehören die Fähigkeit und der Mut zu eigener Ent-
scheidung. Die Entwicklung eines gesunden Selbstbewußtseins scheint dabei eine
wichtige Rolle zu spielen. Darunter ist zu verstehen, daß der einzelne Mensch sich
seiner Macht im Zusammenwirken mit anderen Menschen bewußt ist, seine Lei-
stungen und Handlungen richtig einschätzen, unter den vorhandenen Möglichkeiten
sich den ihn am meisten erfüllenden Lebensinhalt auswählen und seine Bedürfnisse
den materiellen Gegebenheiten anpassen kann.
Umfangreiches Wissen über die natürlichen und gesellschaftlichen Prozesse und
die richtige emotionale Formung seiner Überzeugungen sind für die Selbstverwirk-
lichung des Individuums erforderlich. Darüber hinaus muß der Mensch Anerkennung
und Bestätigung durch die Gesellschaft erfahren, er muß das Gefühl haben, daß er
anderen und sich selbst nützlich ist, und sich in der Gemeinschaft geborgen fühlen.
Erziehung durch richtige Menschenführung und individuelle Selbsterziehung können
die Bewältigung dieser Problematik gewährleisten.

E b e n d a : S. 68

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