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Der Ex-Papst kartet nach – Welche Rechnung will er begleichen?

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Veröffentlicht am 11. August 2018 von Hermann Häring

Höfische Sitten im Schattenvatikan, die komplizierter nicht sein könnten. Ein Ex-Papst nimmt
„in liebenswürdiger Weise“ die Einladung zur Diskussion eines offiziellen Vatikanischen
Papiers auf, das sich im Dez. 2015 zum Verhältnis von Christentum und Judentum zu
äußern geruhte. Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt. (Röm
11,29)[1] Cardinal[sic!] Koch „durfte“ den geheimnisvollen Herrn besuchen und dessen
schriftliches Diskussionsergebnis in Empfang nehmen, um es „eingehend“ zu studieren und
später um die Veröffentlichung dieses Dokuments zu bitten. Der Herr Cardinal, Präsident der
Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, ist „dankbar“ dafür, dass er den
Ex-Papst „überzeugen konnte, dazu seine Zustimmung zu geben.“ Offensichtlich hat dieser
Aufwand seine Wirkung erzielt, denn trotz gegenteiliger Versprechen kann sich der
schweigende und betende Mönch Ratzinger mal wieder quasi offiziell äußern; das Wort des
ämterlosen Pensionisten wird seine Wirkung gewiss nicht verfehlen.

Wer hinter die kurialen Vorhänge blickt, muss zur Überzeugung kommen: Der Ex-Papst war
mit der letzten Verlautbarung zum Judentum wohl nicht glücklich. Man kann dieses ungute
Gefühl verstehen. Zwar übernimmt das Dokument die seit 1965 (Nostra Aetate, Nr. 4)
bekannten Standards. Jesus war Jude, die Kirche ist aus dem Judentum hervorgegangen,
das seine Berufung durch Gott nie verloren hat. So gibt es heute zwei legitime Weisen, die
Schriften Israels zu lesen. Zugleich wird aus christlicher Sicht keiner der bestehenden
Widersprüche aufgelöst: „Dass die Juden Anteil an Gottes Geheimnis haben, steht
theologisch außer Frage, doch wie dieses ohne explizites Christusbekenntnis möglich sein
kann, ist und bleibt ein abgrundtiefes Geheimnis Gottes.“ (Nr. 36)

Trägt Ratzinger zur Erhellung dieses Geheimnisses bei? Die ersten Reaktionen sind
bemerkenswert: Aus den Worten des auch unter Christen hoch angesehenen Rabbiners W.
Homolka[2] sprechen Entsetzen und Enttäuschung: Mit althergebrachten Argumenten werde
wieder das Gruselkabinett Hochmuts und Überlegenheitsdenkens eröffnet. Der katholische
Theologe G. M. Hoff[3] macht dieses Denken wieder anschlussfähig an den Antisemitismus.
Nur der romtreue, in manchen kirchlichen Kommissionen beheimatete Th. Söding,
Mitherausgeber des hochkonservativen Blattes Communio, versteht die ganze Aufregung
nicht. Ratzinger habe nur der innerkirchlichen Klärung einiger Fragen dienen wollen[4].

Ich verstehe durchaus die Reaktion der Schnelleser, die sich mit der bloßen Lektüre des
Titels begnügen, denn wenn das Titelmotto Gottes Gnade und Berufung ohne Reue (Röm
11,29) gilt, was will man dagegen sagen?[5] Doch wer den Artikel sich Absatz für Absatz zu
Gemüte führt, spürt bald, wie vergiftet diese Zusage ist. Schon eine globale Rekonstruktion
der postpäpstlichen Gedankenführung macht das deutlich. Ich versuche dies in groben
Zügen, zeichne also kurz die Gedankenführung nach. An Hand von fünf für ihn zentralen
Gesichtspunkten zeichne ich nach, wie der Ex-Papst gegenüber dem Judentum seinen
bleibenden, in keiner Weise geläuterten christlichen Universalanspruch durchzusetzen
versucht.

Fünf für Ratzinger zentrale Aspekte

Zunächst verweist Ratzinger auf die offene Dialektik zwischen Kulttreue und Kultkritik [1], die
zumal die prophetischen Schriften Israels durchzieht. „Schlachtopfer willst du nicht, … an

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Brandopfern hast du kein Gefallen. Das Opfer, das dir gefällt, ist ein zerknirschter Geist.“ (Ps
51,18f). Doch einen Vers später heißt es: „Bau die Mauern Jerusalems wieder auf! Dann
hast du Freude an rechten Opfern.“ (51,20f). Man weiß, dass diese Spannung eine jede
reformwillige Religionspraxis durchzieht und selbst in der Rechtfertigungslehre noch
nachklingt. Doch für Ratzinger ist diese Parallele überholt; für ihn ist sie in der Ganzhingabe
Jesu im Opfer des Kreuzes ein für allemal gelöst.

Dann erwähnt Ratzinger die Beobachtung der Kultgesetze [2], etwa des Sabbatgebots, der
Beschneidung, der Speisegebote und Reinheitsvorschriften. Bis heute mögen sie für die
Identität des Judentums wichtig sein, so Ratzingers Urteil, doch für ein universal gültiges
Christentum war die Aufhebung dieser Gesetze unerlässlich.

Vergleichbares gilt für Recht und Moral [3], die im Doppelgebot der Nächstenliebe ihre Mitte
finden und in jeder Epoche einer neuen Auslegung bedürfen. Das Christentum hat sie nicht
abgeschafft, aber in Jesus - dem neuen Moses, der unsere Schuld getragen hat - vertieft und
ebenfalls universalisiert. Auch dieser Aspekt erfährt im Christentum eine qualitative
Erneuerung, zumal die Frage nach der Schuld und seiner Überwindung in neuer Weise
beantwortet wird: „Der alles Leid und alle Schuld der Welt in sich aufnehmende
menschgewordene Sohn Gottes ist nun diese Überwindung. Mit seinem Tod in der Taufe
verbunden zu sein, bedeutet für die Christen, das Geborgensein in der verzeihenden Liebe
Gottes.“ (391)

Damit laufen die weiteren Vergleiche zu auf die Frage nach der Messianität Jesu [4]. Kein
Wunder, meint Ratzinger, dass sich der Messias in den Schriften Israels (noch) nicht zeigen
kann, denn sie sind durch und durch auf Hoffnung angelegt. Beispielhaft ist für Ratzinger der
Weg der beiden Jünger nach Emmaus, denen Jesus die Schriften Israels neu auslegt (Lk 24,
13-33). Jetzt wird der Schatten (umbra), der die Zeit Israels begleitet hat, gelichtet. Die
Christen treten in die Zeit des Bildes (imago) ein, in ihr erscheint uns Gott durch die
gekreuzigte Liebe Christi. Ratzingers Folgerung, in weniger gewählten Worten
wiedergegeben: Nur Christen können im Lichte Christi den inneren Sinn der messianischen
Geschichte verstehen, die mit dem Judentum faktisch, aber unerkannt begonnen hat. Die
ganze Macht und der Reichtum von Israels messianischen Erwartungen, das ganze, in
Jahrtausenden gestählte Potential von Hoffnung, Enttäuschung und immer neuer Hoffnung
versinkt angesichts des messianischen Jesus ins Nichts.

Bleibt noch der Aspekt der Landverheißung [5], die von Anfang an zu Israels großen
Bundesverheißungen, Hoffnungen und Enttäuschungen gehört und die nach der
existenzbedrohenden Katastrophe der Schoah eine letzte existentielle Virulenz erhielt. Auch
darüber sieht Ratzinger großräumig hinweg, denn die Zeit der „Zerstreuung“ bedeutet das
große Angebot an die Welt, den Gedanken des Monotheismus zu verbreiten. „In dieser
Situation erschien der jüdische Gott, der eben die Urmacht alles Seins darstellte, wie sie die
Philosophie gefunden hatte, zugleich als religiöse Kraft, die diesen Menschen anredet und in
der der Mensch dem Göttlichen begegnen kann.“ So ist die „Diaspora nicht bloß und nicht
primär ein Zustand der Strafe, sondern bedeutet eine der Sendung“.

Die Überlegungen lassen sich zunächst ohne dramatische Ergebnisse addieren. Der Ton
wird nie unfreundlich oder aggressiv, obwohl manche reaktionäre Attitüde irritiert. So besteht
der Autor z.B. auf dem Begriff des „Alten Testaments“, obwohl er doch die beständige
göttliche Zusage an Israel akzeptiert. Unbeirrt besteht er auf seinen früheren
hochspekulativen Überlegungen zur Christologie, auch wenn sie intensiven exegetischen
und systematischen Widerspruch erfahren haben. Der Theologe im Papstgewand erweckt
noch immer den Eindruck, seine Positionen seien durch Jahrhunderte gewachsen und in

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sich unerschütterlich, obwohl das christlich-jüdische Gespräch gerade nach 1945 zu
nachhaltigen Umschichtungen führte. Schwer verständlich ist auch das Pathos, mit dem er
die Worte von Johannes Paul II. (17.11.1980 in Mainz) hervorhebt, Gottes Bund mit Israel
bleibe bestehen und werde nie ungültig. Diese Überzeugung gehörte doch schon zu den
selbstverständlichen katholischen Lehrüberzeugungen der 1960er Jahre (z. B. Hans Küng,
Die Kirche, 1967), auch wenn sie noch nicht in höhere Ränge durchgedrungen waren oder
aus ihnen verbannt waren.[6]

Destruktive Dynamik

Was also ist in diesen Ausführungen die wirklich neue Botschaft des ehemaligen Papstes?
Man mag antworten: Es gibt sie nicht. Der alte Papst wiederholt seine früheren
Standardthesen und beschwört die alten Diskussionen neu herauf. Er präsentiert eine durch
und durch traditionelle, metaphysisch und augustinisch profilierte Lehre von Jesus Christus.
In seinen drei Jesusbüchern (2006, 2009, 2012) hat er sie detailliert ausgearbeitet und mit
antimodernen Schutzschilden umgeben, präsentiert als Gegengift gegen eine historisch-
kritische Schriftinterpretation und den vermeintlichen Glaubensverfall der Gegenwart, der
auch von einem zu irenischen Religionsdialog befördert wird. Leitlinie seines
Gesprächskonzepts sind eben nicht die kanonischen Schriften, schon gar nicht die Schriften
Israels, sondern die späthellenistischen Dogmen von der einen Person in zwei Naturen, die
ihrerseits als die zweite Person der göttlichen Trinität begriffen wird: „Gott von Gott, Licht
vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt nicht geschaffen, eines Wesens mit dem
Vater ….“ Ratzinger braucht sie hier nicht zu wiederholen, aber sie sind präsent.

Wie er mit diesem rigiden, dem Hellenismus zugewandten Werkzeug ein fruchtbares
Gespräch ausgerechnet mit dem Judentum beginnen will, ist schleierhaft. Die narrativen,
sapientialen und prophetischen Züge von Israels verbindlichen Schriften sind aus diesem
Diskurs ebenso verbannt wie die reichen Erfahrungen der folgenden 2000 jüdischen Jahre,
weitgehend aufgenommen in die Mischna, den umfassenden Talmud und in die
theologischen Werke des 2. Jahrtausends, die qualitative Wende nach der Schoah
eingeschlossen. Es ist die Zeit eines Judentums, das litt, das verleumdet, unterdrückt und
mit Vernichtung bedroht wurde, aber standhaft, glaubenstreu und spirituell ungeheuer
fruchtbar geblieben ist. Ausgerechnet diese Zeit, in der das Judentum zu einem achtbaren
Gegenüber des Christentums heranwuchs, spielt bei Ratzinger keine Rolle.

Ratzingers monologisches, über alle Geschichte erhabenes Christusbild bildet den


Hintergrund seiner vorgetragenen Differenzierungen. Gewiss, er tritt vorbehaltlos für Gottes
Treue im Israelbund ein, doch für einen jüdisch-christlichen Dialog kann er daraus keine
sinnvollen Folgerungen ziehen. Genau besehen entwickelt sein Text eine destruktive
Dynamik, die seine eigene positive Grundthese Zug um Zug unterminiert.

Kommen wir auf die fünf genannten Aspekte zurück:


[1] Die Dialektik von Kultbejahung und Kultkritik löst sich faktisch ins Nichts und in die
Behauptung auf, das Judentum habe sie nicht lösen können. Ratzinger hat wohl kein Gespür
dafür, dass diese Spannung in allen Religionen zu finden ist und in Israels Schriften
paradigmatisch thematisiert wurde. Natürlich durchzieht sie auch das Christentum und hat in
ihm zu Spaltungen geführt. Der Hinweis auf Jesu Opfertod und dessen Feier in der
Eucharistie kann das Problem höchstens vergegenwärtigen und verdichten, aber keinesfalls
lösen. Die Eucharistie entfaltet keinen magischen Zauber, der uns über die Wirklichkeit
unseres religiösen Alltags erhebt. Schon hier zeigt sich, wie sehr Ratzinger sein
Heilsverständnis auf sakramentale Kategorien verengt.

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[2] Die sogen. Kultgesetze findet Ratzinger uninteressant, denn sie spielen für das
Christentum, das sich als Hort universaler Freiheit über das Judentum erhebt, keine Rolle
mehr. Dabei verschweigt er die Probleme, die ausgerechnet die katholische Kirche noch
heute mit der Freiheit des Christenmenschen hat und vergisst die zahllosen
Ersatzbestimmungen, die die Identität des Christentums schützen sollen und massiv
einengen. Das betrifft die Sakramente (zumindest in ihrer aktuell verkirchlichten und massiv
verrechtlichten Form), die Glaubensbekenntnisse und differenzierten Katechismussysteme,
die höchst detaillierten liturgischen Bestimmungen, die zahllosen Formen kirchlicher
Sanktionen, bis hin zu verfügter und selbstwirksamer Exkommunikation. Gegenüber solch
autoritärer Engstirnigkeit wird das Judentum geradezu zum Hort von Freiheit,
niederschwelliger Strukturen, religiöser Selbstbestimmung und unerschöpflicher Kreativität.
Ratzingers Überheblichkeit gegenüber der so offenen und flexiblen Identitätsregelung ist
bemerkenswert.

[3] Auch über Recht und Moral besteht nach Ratzinger kein grundsätzlicher
Diskussionsbedarf. Man könnte dieser Position zustimmen, denn sie gewährt der Thora auch
im Christentum die gebotene grundsätzliche Hochschätzung. Doch Ratzinger hebt auch die
Moral seiner eigenen Religion zugleich in ein qualitativ höheres, heilsgeschichtlich
unvergleichliches Niveau: die christlichen Gebote seien in das Heilsgeschehen Christi
aufgenommen. Dadurch erhalten sie eine unvergleichliche Tiefe und einen unmittelbaren
Gottesbezug, denn sie stehen jetzt schon im Horizont von Gottes Liebe und Vergebung.

In sträflicher Weise übersieht Ratzinger: Auch die Moral der jüdischen Tradition kennt
Vergebung, Barmherzigkeit und die immer neue Suche nach Gerechtigkeit. Auch sie steht im
Horizont göttlicher Verheißungen und einer universalen Heilshoffnung, die letztlich allen
Völkern gilt. Wiederum erkennt Ratzinger dem Christusereignis eine Wirksamkeit höherer
Ordnung zu. Anders als im Judentum gilt für ihn das christliche Heilsgeschehen als objektiv
vollzogen. Ein historischer, psychologischer, narrativer oder soziologischer Diskurs, der
diese Behauptung rechtfertigt oder angemessen differenziert, bleibt erneut aus.

[4] Ratzingers Antwort auf die Messiasfrage erfährt zunächst eine erstaunliche Wendung:
Natürlich habe sich Jesus nie Messias genannt; das sei ja selbstverständlich, denn das
Judentum hätte diese Aussage nicht verstehen können. Erst dem Christentum, nicht dem
Judentum habe sich die wahre Hoffnungsstruktur des Messiasglaubens enthüllt. Wiederum
folgt eine Begründung, die nur sprachlos machen kann: „Niemand hat Gott jemals gesehen.
Der eingeborene Gott, der am Schoß des Vaters ist, hat uns davon erzählt.“ (Joh 1,18; vgl.
13,25). Hier geschieht Ungeheuerliches. Die ganze messianische Dynamik, die sich im
Judentum entwickelt hat und die vom Christentum übernommen wurde, wird als nicht-
existent vom Tisch gefegt. Mit dem Begriff der Hoffnung spielt Ratzinger ein unlauteres Spiel.
Das Erhoffte, so Ratzingers Unterstellung, sei eben noch nie dagewesen. Doch damit
ignoriert er den entscheidenden Punkt: Gerade das Erhoffte war und ist auch im Akt des
Hoffens immer schon wirksam, anwesend und von religiöser Wirkmacht.

Ratzinger erwartet von den Juden, wie er sich ausdrückt, dass sie sich mit den Jüngern nach
Emmaus begeben; dort könne ihnen die Wahrheit ihres Glaubens aufgehen. Dabei übersieht
er das Entscheidende: Die Emmausjünger können das Geheimnis Jesu erst im Blick auf
Israels Schriften begreifen. Sie gehen in der jüdischen Tradition in die Schule und haben
keinen Grund, das Judentum zu belehren. Ratzinger hingegen tut so, als müssten die Juden
erst Jesus begreifen, um den Sinn ihrer Geschichte zu ergründen. Er verwechselt ein
greifbares Resultat mit dem Prozess, der dazu führte. Bis heute hat sich an diesem
Verhältnis nichts geändert, denn das Christentum bleibt auf die jüdische Botschaft
angewiesen, um seine eigene Botschaft in der Hoffnungsgeschichte der Menschheit zu
verankern. Dass Ratzinger diese hermeneutischen Zusammenhänge verkennt, führt zum

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katastrophalsten seiner Missverständnisse. Er raubt der jüdischen Botschaft ihre
messianische Lebensmitte und damit - ohne darum zu wissen - dem des
Menschgewordenen seine menschliche Lebensgrundlage.

[5] Nach diesem System verläuft auch Ratzingers Analyse der Landverheißung, deren
Scheitern vor über 2600 Jahren (mit der babylonischen Zerstreuung) begann und im Jahr 70
in eine Diaspora mündete, die bis heute andauert und deren Folgen die Gründung des
Staates Israel nur bedingt zurücknehmen konnte. Ratzinger kennt diese Problematik.
Schließlich hat er an einem völkerrechtlich geregelten Verhältnis zwischen Vatikan und dem
Staat Israel seine großen Verdienste, das sei nicht vergessen. Doch letztlich besiegelt diese
Geschichte der Diaspora das faktische Scheitern der Bundeszusagen. Wiederum lässt er die
christliche Antwort auf eine höhere Ebene entschwinden. Die Christen hätten sich von der
Frage nach ihrer „konkreten Abstammung“ gelöst. „Voll Glauben sind diese alle gestorben,
ohne das Verheißene erlangt zu haben; nur von fern haben sie es geschaut und gegrüßt und
haben bekannt, dass sie Fremde und Gäste auf Erden sind.“ (Heb 11,13)

Das eingefleischte Überlegenheitsbewusstsein meldet sich erneut. Wir Christen erscheinen


als die Erhabenen, die sich von dieser Welt und von der Bindung an ein Volk gelöst haben.
Vergessen sind all die Landes- und Besitzansprüche, von denen sich die Kirchen jagen
ließen, von den Kreuzzügen bis zum Dreißigjährigen Krieg, der maßlosen Machtpolitik
Gregors VII. (1073-1085) bis zum abolutistischen Machtanspruch des 1. Vatikanischen
Konzils (1870). Im Jahr 1494 teilte Alexander VI. die Welt in eine spanische und eine
portugiesische Sphäre auf und die weltlichen Geltungsansprüche der Kirche wirkten noch im
Christkönigsfest, dem „Hochfest Christus, König der Welt“ (1925) nach, das den
unverfrorenen und verwegenen Feinden der Kirche Einhalt gebieten sollte. Bis 1964 trugen
die Päpste noch die Tiara als Symbol ihres weltlichen Herrschaftsanspruchs. Für einen
Vertreter der römischen Hierarchie wäre dies Grund genug, um diese Thematik
selbstkritischer und ohne geistliches Selbstgenügen zu verhandeln.

Umstiftung des Bundes?

Die Strategie von Ratzingers Ausführungen ist klar. In allen fünf Punkten führt sie in eine für
das Judentum hoffnungslose Asymmetrie. Die These vom nie gekündigten Bund wird
ausgehöhlt und Ratzingers Folgerungen sind eindeutig: „Zur realen Geschichte Gottes mit
Israel [gehört] der Bundesbruch von Seiten des Menschen.“ Paradigmatisch wird das im
Buch Exodus beschrieben. „Die lange Abwesenheit des Mose wird für das Volk zum Anlass,
sich selbst einen sichtbaren Gott zu geben, den es anbetet: ‚Das Volk setzte sich zum Essen
und Trinken und stand auf, um sich zu vergnügen‘ (Ex 32,6). Der zurückgekehrte ‚Mose sah,
wie verwildert das Volk war‘ (Ex 32,25). Mose schleuderte angesichts des gebrochenen
Bundes die von Gott selbst beschriebenen Tafeln fort und zerbrach sie (Ex 32,19). Gottes
Erbarmen schenkte Israel zwar die Tafeln zurück, aber sie sind immer als Ersatztafeln
zugleich auch Warnzeichen, die an den gebrochenen Bund erinnern.“ (404) Das also ist die
Realität der mehrfachen Bundeschlüsse Jahwes mit Israel. Keinen von ihnen hat Israel
erfüllt.

Umso klarer sticht der neue, in Christus geschlossene Bund von diesen Bundesbrüchen ab,
denn er bezieht das Versagen der Menschen von vornherein mit ein. Für Christen ist es im
Leiden Gottes immer schon aufgehoben, also im Kreuzestod Christi, und das heißt: in der
Eucharistie. Jetzt folgt ein Wort, das dem Titel des Artikels und der Rede vom unkündbaren
Bund geradezu Hohn spricht. Ratzinger, der die wohlbekannte Theorie von der Substitution
(Ersetzung) des Alten Bundes mit hohem Pathos ablehnt, spricht von der „Umstiftung[!] des
Sinai-Bundes in den neuen Bund im Blute Jesu“ und von einer neuen, für immer gültigen

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Gestalt. Die Formel vom nie gekündigten Bund reiche nicht aus, „um die Größe der
Wirklichkeit einigermaßen angemessen auszudrücken“. Stattdessen erklärt Ratzinger jetzt:
„Reuelos (unwiderruflich) sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt (Röm 11.29).“ Und
einigermaßen gnadenlos fügt Ratzinger mit 2 Tim 2,12f hinzu: „Wenn wir standhaft bleiben,
werden wir auch mit ihm herrschen, wenn wir ihn verleugnen, wird auch er uns verleugnen.
Wenn wir untreu sind, bleibt er doch treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen.“

Ich begreife diesen Text, der sich als Gesprächsangebot für den christlich-jüdischen Dialog
versteht, als ein Zeichen der Unbelehrbarkeit und Überheblichkeit, zugleich als die
Konsequenz einer bibel- und geschichtsfernen Theologie. Neues sagt Ratzinger in ihm nicht,
denn wer von der Göttlichkeit Jesu (im Sinne des altkirchlichen Dogmas) ausgeht und wer
dessen Neuinterpretation durch die neu verstandenen Schriftzeugnisse verweigert, kann mit
dem Judentum und mit anderen Religionen keinen Dialog auf Augenhöhe führen.[7] In der
Tat hat Ratzinger bis heute seine Aussage von 2000 in Dokument Dominus Iesus (Nr. 22)
nicht zurückgenommen: „Wenn es auch wahr ist, dass die Nichtchristen die göttliche Gnade
empfangen können, so ist doch gewiss, dass sie sich objektiv in einer schwer defizitären
Situation befinden im Vergleich zu jenen, die in der Kirche die Fülle der Heilsmittel besitzen.“
Dieses Defizit wirkt sich gegenüber dem Judentum umso vernichtender aus, als das
Christentum gegenüber dem Judentum nicht nur Konkurrenz-, sondern auch Erbansprüche
erhebt. Die Aussagen der Verwandtschaft und Nähe schlagen in Aussagen der Feindschaft
und Verneinung um. Dies ist auch der Grund, weshalb das jüdisch-christliche Gespräch seit
dem 2. Vatikanischen Konzil auf offizieller Ebene kaum vorankommen konnte.

Wie soll es weitergehen?

Für den jüdisch-christlichen Dialog hat Ratzinger fünf untaugliche Themen vorgeschlagen,
denn sie entwickeln einen Diskurs der institutionellen Legitimität. In diesem
Legitimationsdruck werden Kultbejahung und Kultkritik [1] sakramentalistisch, wenn nicht gar
magisch auf die Eucharistie verengt, die kirchlichen „Kultgesetze“ [2] kritiklos als Gottes Wille
vorausgesetzt, Recht und Moral [3] in einen übergeschichtlichen, also unmenschlichen
Zusammenhang entrückt, wird die Frage nach dem Messias [4] als spezifisch christliche
Domäne behandelt und die Landverheißung [5] von vornherein als Beweis jüdischen
Scheiterns präsentiert. Von der Katastrophe der Schoah, deren Vorgeschichte und
Geschichte die Legitimität des Christentums in seinen Grundfesten erschüttert, zeigt er sich
in keiner Weise berührt. Aus theologischen wie aus pragmatischen Gründen ist dieser
egozentrische Identitätsdiskurs untauglich. Wer nur das Recht der eigenen Religion im Blick
hat, muss in dieser Weise scheitern.

Denn Religionen sind ganzheitliche Gebilde, nie fertig von Handlungen, Haltungen,
Weltinterpretationen und geschichtlichen Erinnerungen. Wenn die Wahrheit sich im Handeln
erweist, ist auch das Christentum gegen seinen Verfall, gegen Irrtümer und Untreue nicht
geschützt. Wir sollten voneinander lernen, was wir den Menschen, den menschlichen
Gemeinschaften und der Erde bedeuten können. Es geht um Fragen der Humanität und des
Lebensrespekts, der Gerechtigkeit, Glaubwürdigkeit und gegenseitigen Treue.

Schon die Entdeckung, dass Jesus auf Selbstbenennungen und -qualifikationen keinen Wert
legte, hätte den Ex-Papst eines Besseren belehren können. Die Erwartung des Gottesreichs,
also die Zukunft einer in Frieden und Versöhnung versöhnten Menschheit, beginnt mit
vorbehaltloser Menschlichkeit. Was meinen Wille Gottes und die Gegenwart seiner
Herrlichkeit heute? Wie gestaltet sich eine biblisch inspirierte Spiritualität und mit welchen
Impulsen hat sie Jesus bereichert? Welche Maßstäbe legt uns das Gebot der Gottes- und
der Nächstenliebe in einer Epoche auf, die von der Schoah ebenso belehrt wurde wie von

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den Schreckensregimenten des vergangenen Jahrhunderts? Befördern wir Christinnen und
Christen mehr als die imperialen Allüren der Weltherrschaft, die notfalls Hass streut,
Fehlinterpretationen propagiert und Gewalt legitimiert? Ist uns die Bitte von Johannes Paul II.
um Vergebung für das den Juden zugefügte Leid (12.03.2000) zur selbstverständlichen
Haltung geworden? Fragen über Fragen können das jüdisch-christliche Gespräch
bereichern. Auf die direkte oder sublime Bestätigung alter Vorurteile können wir gerne
verzichten.

Ratzingers erneut erwiesene Unbeweglichkeit erinnert mich an einen Brief, den er 1986 zum
Fortgang der Ökumene an seine ehemaligen Tübinger Kollegen schickte. Viel sei erreicht,
schrieb er damals, eine weitere Annäherung bleibe Gott selbst vorbehalten.[8] Ähnlich
fatalistisch klangen die enttäuschenden Worte Benedikts XVI. in Erfurt am 24.09.2011. Hier
erneut ein Stillstand, dem Anschein nach gibt er alles in die Hände Gottes und der Heiligen
Schriften. Faktisch aber stäubt er sich dagegen, die These vom defizitären Zustand aller
Nichtchristen aufzugeben. Umso interessanter ist die Frage nach der Bedeutung des hier
besprochenen Textes. Genau besehen ist es die Äußerung eines ehemaligen Amtsträgers,
der sich in ein Leben des Gebets zurückgezogen hat. So ist dem Text keinerlei besondere
Bedeutung zuzumessen. Dass der ehemalige Papst seiner Amtszeit noch eine Botschaft
nachschicken möchte, ist durchaus verständlich. Doch sollte sie bitte nicht in der
Aufforderung kulminieren, an den überholten Vorrangsansprüchen festzuhalten, die Benedikt
XVI. damals bekräftigte. Die Epoche eines christlichen Defizit-Dialogs ist wirklich abgelaufen.
Ratzinger, der große spekulative Theologe der Nachkriegsjahre, hat seine Zeit überlebt. Zu
Recht erklärte sein Nachfolger: „Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee.“

(12.08.2018)

Anmerkungen

[1] Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden, Reflexionen zu theologischen
Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass des 50jährigen
Jubiläums von „Nostra Aetate“ (Nr. 4), 10. Dezember 2015,
http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/relations-jews-docs/rc_pc_
chrstuni_doc_20151210_ebraismo-nostra-aetate_ge.html

[2] Walter Homolka, Wir sind kein unerlöstes Volk!, in: DIE ZEIT 30/2018, S. 50.

[3] Gregor Maria Hoff, Gottes Treue gilt auch Israel, in: DIE ZEIT 30/2018, S. 50.

[4] Thomas Söding, Im Sturmzentrum. Eine Beschädigung des jüdisch-christlichen Dialogs?,


in: Herder Korrespondenz 72 (2018).

[5] Josef Ratzinger/Benedikt XVI., Gnade und Berufung ohne Reue. Anmerkungen zum
Traktat „De Iudaeis“, in: Communio, Internationale Katholische Zeitschrift 47 (2018), S. 387-
406.

[6] Hans Küng, Die Kirche, Freiburg 1967, S. 131-180.

[7] Vgl. dagegen den Gesprächsansatz von: Jehoschua Ahrens, Karl-Hermann Blickle, David
Bollag, Johannes Heil (Hg.), Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen. Die

7
Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum, Berlin 2017; ferner: Rainer Kampling, Ilse
Müllner (Hg.), Gottesrede. Gesammelt Aufsätze von Erich Zenger zum jüdisch-christlichen
Dialog, Stuttgart 2018. Noch nicht überholt ist das Standardwerk von Hans Küng, Das
Judentum. Die religiöse Situation der Zeit, München 1991.
Wichtig sind die Impulse, die Karl-Josef Kuschel mit seinem Trialogprojekt zu Judentum,
Christentum und Islam gesetzt hat: Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime
trennt – und was sie eint, München NA 2001; Juden, Christen, Muslime. Herkunft und
Zukunft, Düsseldorf 2007; Martin Buber – seine Herausforderung an das Christentum,
Gütersloh 2015; Die Aktualität des Projektes Weltethos und die Notwendigkeit einer
abrahamischen Ökumene von Juden, Christen und Muslimen, in: Moral und Weltreligionen,
hrsg. v. Ch. Gestrich, Berlin 2000, S. 13-34.

[8] Joseph Ratzinger, Zum Fortgang der Ökumene. Ein Brief an die Theologische
Quartalschrift, in: ThQ 166 (1986), S. 243-248.

Letzte Änderung: 11. August 2018

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