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In diesem Kapitel werden wir die Leitfragen dieses Bandes – Warum soll
eigentlich überhaupt philosophiert werden? Aus welchen Gründen, mit
welchen Zielen und Absichten wird Philosophie denn überhaupt betrieben?
– anhand des Verhältnisses zwischen der Philosophie und den Einzelwis-
senschaften erörtern. Ein solches Unternehmen sieht sich zunächst mit drei
Problemen konfrontiert, die wir im ersten Abschnitt besprechen. In den
darauf folgenden Abschnitten stellen wir dann einige neuere Ansätze dazu
vor, wie die Philosophie ihr Verhältnis zu den anderen Wissenschaften
auffassen kann und was dieses Verhältnis für die Gründe und Ziele des
Philosophierens bedeuten kann. Schließlich werden wir im letzten Ab-
schnitt unsere eigene Auffassung davon darlegen, wie sich die Philosophie
zu den Einzelwissenschaften verhalten sollte.
Während die Einzelwissenschaften positives Wissen über die Beschaf-
fenheit der Welt hervorbringen wollen, hat die Philosophie unserer Auffas-
sung nach u. a. die Aufgabe, das von den Einzelwissenschaften hervorge-
brachte Wissen kritisch zu reflektieren. Eine solche Tätigkeit kann für die
Einzelwissenschaften zwei verschiedene Arten von Ergebnissen haben.
Zum einen kann die kritische Reflexion von positivem wissenschaftlichem
Wissen zur Klärung der darin gebrauchten Begriffe oder der darin be-
schriebenen Sachverhalten führen, so dass man ein tieferes Verständnis
dieser Begriffe oder Sachverhalte gewinnt. In diesem Modus kann die
Philosophie als eine Fortführung der Arbeit der Einzelwissenschaften ver-
standen werden, indem sie zur Vertiefung und Interpretation des einzelwis-
senschaftlichen Wissens beitragen kann. Zum anderen kann eine solche
Tätigkeit auch zu einer Destruktion der involvierten Begriffe oder Sach-
verhalte führen, weil sich bei der genaueren Nachfrage die entsprechende
Sache als unhaltbar herausstellt. Hier kann die Philosophie als Kritik der
Wissenschaften verstanden werden, indem sie Probleme im einzelwissen-
schaftlichen Wissen aufzeigt und damit die Wissenschaften herausfordert,
bestimmte Fragestellungen erneut zu untersuchen.
altem, überholtem Gedankengut – und damit lediglich darin, dass die Philo-
sophie die Sachen entsorgt, die sie selbst in die Welt gesetzt hatte.
Wir möchten in diesem Beitrag jedoch keine Rechtfertigung der Philo-
sophie gegenüber Herausforderungen wie den oben angedeuteten liefern,
da wir der Meinung sind, dass die Philosophie eine solche Rechtfertigung
gar nicht benötigt. Die Philosophie ist, obwohl sie keine empirische For-
schung betreibt, dennoch eine eigenständige Disziplin, die ihren eigenen
Fragestellungen nachgeht, ihre eigenen Phänomene untersucht und ihre
eigenen Theorien entwirft, so wie die Physik, die Biologie, die Soziologie,
die Geschichtswissenschaft usw. es auch tun. Die Ziele der Philosophie
leiten sich nicht primär aus dem Verhältnis von Philosophie und den ande-
ren Wissenschaften ab; sie werden in den anderen Beiträgen dieses Bandes
erörtert. In diesem Beitrag werden wir lediglich einen kleinen Teil dieser
Thematik ansprechen und versuchen zu klären, was die Philosophie in
Bezug auf die anderen Wissenschaften leisten kann. Dabei werden wir
nicht voraussetzen, dass diese Leistung für die anderen Wissenschaften
von unmittelbarem Nutzen bezüglich deren Erkenntnisziele ist.
Ein zweites Problem ist folgendes: Wenn die Philosophie wie oben be-
schrieben eine eigenständige Disziplin ist, weshalb sollte man dann über-
haupt erwarten, dass man mehr Klarheit über die Gründe und Ziele der
Philosophieausübung erlangen kann, indem man das Verhältnis der Philo-
sophie zu anderen Wissenschaften betrachtet? Die Frage Warum sollte
überhaupt Physik betrieben werden? wird ja üblicherweise auch nicht
dadurch beantwortet, dass wir uns ansehen, wie die Physik sich zur Biolo-
gie und zur Soziologie verhält. (Und sie wird schon gar nicht dadurch be-
handelt, dass gefragt wird, auf welcher Weise die Physik für diese Wissen-
schaften von Nutzen sein könnte!)
Unsere Antwort auf diese Frage ist wissenschaftshistorisch. Die Philo-
sophie darf einen Anspruch darauf erheben, die Mutter aller Wissenschaf-
ten genannt zu werden, da viele der heutigen selbständigen Einzelwissen-
schaften im Laufe der Geschichte aus der Philosophie hervorgegangen
sind. So haben sich die Physik und die Chemie zur Zeit der wissenschaftli-
chen Revolution von der (Natur-)Philosophie abgelöst, so ist die Psycholo-
gie im 19. Jh. endgültig ihren eigenen Weg gegangen und so sehen wir
heute, wie sich die Kognitionswissenschaft als eigenständige Wissenschaft
etabliert. Ursprünglich rein philosophische Fragen werden dadurch zu
einzelwissenschaftlichen Fragen, zumindest zum Teil. So wird beispiels-
weise die Frage nach dem freien Willen, eine klassische Frage der Philoso-
phie, heute auch in den Kognitionswissenschaften behandelt. In dieser
Perspektive würde sich die Philosophie als der Restbereich verstehen müs-
sen, die sich mit den Fragen befasst, die übrig geblieben sind, nachdem
sich die Einzelwissenschaften von ihrem Ursprung abgelöst haben. Eine
1
Vgl. auch Hansson 2008, 476–477 und Rosenberg/McShea 2008, 1–3.
2
Für die gegenwärtige Diskussion im deutschsprachigen Raum, vgl. z. B. Singer
2003, Geyer 2004.
Innerhalb des Teilbereichs der Philosophie, der sich explizit mit den ver-
schiedenen Einzelwissenschaften befasst, der Wissenschaftsphilosophie,
können die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik unterschieden
werden. Diese Unterscheidung entspricht natürlich der allgemeineren Un-
terscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie. Jeder dieser
beiden Bereiche hat einen allgemeinen Teil und mehrere spezielle Teile
(die speziellen Wissenschaftstheorien bzw. -ethiken). Die allgemeine Wis-
senschaftstheorie beschäftigt sich mit der Frage, was Wissenschaft eigent-
lich ist und wie sie funktioniert. Die speziellen Wissenschaftstheorien, wie
z. B. die gegenwärtig weltweit etablierten Spezialgebiete Philosophie der
Physik, Philosophie der Biologie, Philosophie der Chemie oder Philoso-
phie der Wirtschaftswissenschaften, untersuchen, wie die Einzelwissen-
schaften in ihrer Spezifizität funktionieren, was ihre zentralen Begriffe
genau bedeuten und wie ihre Theorien genau zu analysieren sind.3 So wird
z. B. untersucht, wie Ökonomen typischerweise argumentieren, welche
Elemente in den Erklärungen der Evolutionsbiologie involviert sind, auf
welcher Grundlage in der Chemie Atome und Substanzen klassifiziert
werden, was der Genbegriff in den verschiedenen Bereichen der Biologie
3
Für einen ausgezeichneten Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung
in der Philosophie der Biologie siehe Krohs/Toepfer 2005. Für die Philosophie der
Physik ist beispielsweise Mittelstaedt 1976 ein Klassiker.
4
Zur allgemeinen Wissenschaftstheorie siehe den Beitrag von Rainer Enskat in
diesem Band. Eine Erörterung der Frage, wie sich die Ethik zu den anderen Wis-
senschaften verhält bzw. verhalten sollte, kann hier nicht vorgenommen werden,
weil dies einen eigenen Beitrag erfordern würde. Für allgemeine Einführungen in
das Themenfeld der Wissenschaftsethik siehe u. a. Nida-Rümelin 1996 oder Hoy-
ningen-Huene/Tarkian 2010.
Kraft usw.) und auf welche Weise diese Eigenschaften in der Produktion
wissenschaftlichen Wissens realisiert werden: „Wissenschaftler häufen
Erkenntnis auf Erkenntnis, Wissenschaftsphilosophen legen auseinander,
was die wesentlichen Eigenschaften dessen sind, was dort aufeinander
gehäuft wird“ (ebd., 20). Zum anderen soll die Wissenschaftstheorie dar-
über hinaus auch in epistemischer Hinsicht bewerten, indem „die Verfah-
ren, die in der Wissenschaft zur Einschätzung von Geltungsansprüchen
herangezogen werden […] auf ihren Zusammenhang mit den Erkenntnis-
zielen der Wissenschaft untersucht“ werden (ebd.).
Auch der Wissenschaftsphilosoph John Losee hob in seinem klassi-
schen Lehrbuch A Historical Introduction to the Philosophy of Science die
normative Aufgabe der Wissenschaftstheorie hervor. Nach Losee gibt es
mindestens vier unterschiedliche Auffassungen davon, was das Hauptziel
der Wissenschaftsphilosophie sei (vgl. Losee 1980, 1 f.). Einer Auffassung
nach besteht wissenschaftsphilosophische Arbeit darin, übergreifende
Weltbilder zu entwerfen, die auf dem von den Einzelwissenschaften pro-
duzierten Wissen aufbauen und dieses in ein kohärentes Weltbild syntheti-
sieren. Dies ist eine metaphysische Zielsetzung, die auf die Arbeit der Ein-
zelwissenschaften aufbaut und diese weiterführt. Gegenwärtige Vertreter
dieser Sichtweise sind z. B. der Wissenschaftsphilosoph James Ladyman
und der Ökonom und Philosoph Don Ross (vgl. Ladyman/Ross 2007).
Den drei anderen von Losee unterschiedenen Auffassungen nach ist
die Arbeit, die die Wissenschaftsphilosophie leisten kann, eher epistemo-
logischer als metaphysischer Natur. Der zweiten Auffassung nach ist die
Aufgabe der Wissenschaftsphilosophie, die (oftmals verschwiegenen)
Grundannahmen, die wissenschaftlicher Arbeit unterliegen können, expli-
zit zu machen. Beispielsweise denke man an die Annahme, dass es in der
Natur selbst Regelmäßigkeiten gibt, die die Wissenschaft entdecken und
beschreiben kann. Der dritten Auffassung nach ist Wissenschaftsphiloso-
phie wesentlich Begriffsanalyse, d. h., ihr Ziel ist, die zentralen Begriffe
wissenschaftlicher Theorien auf ihre Bedeutung zu prüfen und ggf. vorlie-
gende Unschärfen und Mehrdeutigkeiten ans Licht zu bringen. Eine vierte
Auffassung der Zielsetzung der Wissenschaftsphilosophie (die Auffassung,
die Losee selbst vertritt) ist die, dass Wissenschaftsphilosophie wesentlich
darin besteht „darüber nachzudenken, wie Wissenschaft betrieben werden
sollte“ (Losee 1980, 2 f.). Zwar beinhaltet die wissenschaftsphilosophische
Arbeit in dieser letzten Auffassung auch die Explikation wissenschaftlicher
Grundannahmen und die Klärung zentraler wissenschaftlicher Begriffe;
jedoch ist dabei primär das normative Ziel der Analyse und Verbesserung
der wissenschaftlichen Methodik im Blick.
Ein Problem für eine sich selbst als normativ verstehende Wissen-
schaftsphilosophie ist jedoch, dass bisher alle Versuche, eine einigermaßen
5
Daher auch Feyerabends Behauptung, dass „es nur einen Grundsatz gibt, der sich
unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertre-
ten lässt. Es ist der Grundsatz: Anything goes“ (ebd., 32). Die Allgemeingültigkeit
dieses Grundsatzes ist durch seine vollkommene Leere erkauft (siehe hierzu Hoy-
ningen-Huene 1997)!
6
Eine Gesamtübersicht der Wimsatt’schen Vision für die Wissenschaftsphilosophie
findet sich in Wimsatt 2007; eine gute Zusammenfassung gibt Griesemer 2010.
7
Wimsatt vergleicht oft sowohl die Natur als auch den Menschen mit einem Bastler
(„a backwoods mechanic and used parts dealer“), der beim Entwerfen von Lösun-
gen für neue Probleme sich etwas Brauchbares aus den in seinem Schuppen herum-
liegenden Einzelteilen zusammenbastelt. Der Vergleich der Natur (oder spezifi-
scher: der Evolution) mit einem Bastler geht auf den Biologen und Nobelpreisträger
François Jacob zurück (vgl. Jacob 1977; 1994, 34).
der Welt mit den Mitteln, die gerade greifbar sind. Dies charakterisiere die
Wissenschaft viel treffender als das traditionelle wissenschaftsphilosophi-
sche Bild eines auf maximale Effizienz hin organisierten, durchrationali-
sierten Unternehmens.8 Wissenschaftler suchen meistens nicht nach der
wirklich optimalen Forschungsmethodik oder der wirklich optimalen He-
rangehensweise, um ein bestimmtes Problem zu lösen – wie in der Wissen-
schaftstheorie verbreitete Idealbilder von Wissenschaft es oft suggerieren.
Vielmehr benutzen sie Methoden und Herangehensweisen, die zufälliger-
weise gerade am Ort vorhanden sind, die ihre Brauchbarkeit in anderen
Forschungskontexten bewiesen haben oder die bestimmte Praxisvorteile
versprechen. Dazu gehört z. B., dass sie weniger umständlich als eigentlich
besser geeignete Methoden sind, aber trotzdem gut genug sind oder einen
schnelleren Erfolg versprechen, dafür aber vielleicht eine etwas höheren
Fehlerquote haben. Dazu kommen ad hoc Anpassungen von Methoden und
Herangehensweisen – je nach Bedarf.
Dementsprechend, so argumentiert Wimsatt, kann eine sinnvolle nor-
mative Wissenschaftstheorie nicht die Form eines Systems von rein rational
begründeten methodologischen Vorgaben für die Wissenschaft annehmen,
sondern muss auf empirische Studien der verschiedenen Vorgehensweisen
in den Einzelwissenschaften beruhen. Wimsatts Vision der Wissenschafts-
philosophie beinhaltet also eine sehr wissenschaftsnahe Weise des Philoso-
phierens über Wissenschaft, die versucht zu verstehen, wie Wissenschaft
tatsächlich funktioniert. Die Wissenschaftsphilosophie sollte nach Wimsatt
herausfinden, welche Methoden, Heuristiken, Strategien, Herangehenswei-
sen usw. in welchen Forschungskontexten ihre Effektivität bewiesen haben.
Statt aus einer Außenperspektive methodologische Vorgaben für die
Wissenschaften zu formulieren, sollten Wissenschaftsphilosophen also
versuchen, die Wissenschaften von innen heraus zu verstehen (vgl. Wim-
satt 2007, 27). Das erlangte Verständnis davon, wie die Wissenschafts-
praxis in ihrer tatsächlichen Vielfältigkeit funktioniert, kann letztendlich
in den Wissenschaftsbetrieb zurückfließen und damit einen Beitrag zu
seiner Verbesserung leisten. Letzteres ist für Wimsatt ein explizites Ziel
der Wissenschaftsphilosophie: „Eine adäquate Wissenschaftsphilosophie
sollte normative Kraft haben. Sie sollte uns helfen, Wissenschaft zu betrei-
ben oder, wahrscheinlicher, uns helfen Fehlerquellen zu finden und zu
vermeiden […]“ (ebd., 26; unsere Übersetzung). Diese Zielsetzung kann
8
In Kontrast zu diesem Bild, das oftmals stark idealisiert ist und auf philosophischen
„Spielzeugbeispielen“ basiert, ist Wimsatt auf der Suche nach einer „realistischen“
Wissenschaftsphilosophie – d. h. einer Wissenschaftsphilosophie, die von realen
Menschen in realen Situationen in realer Zeit betrieben werden kann (vgl. Wimsatt
2007, 5).
„Ich schlage vor, dass wir Wissenschaftsphilosophie als ein Arbeitsgebiet auf-
fassen, worin wir wissenschaftliche Fragen untersuchen, die gegenwärtig nicht
in den Einzelwissenschaften bearbeitet werden. Diese Fragen könnten von den
Wissenschaften angegangen werden, sie werden jedoch von ihnen ignoriert in
Folge der Notwendigkeit zur Spezialisierung.“ (ders. 1999, 415 f.; unsere Über-
setzung, Hervorhebung im Original).
9
Chang stützt seine Ideen hier auf die Arbeit des Wissenschaftshistorikers und -philo-
sophen Thomas Kuhn, der in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revoluti-
onen (Kuhn 1970) schon darauf hingewiesen hatte, dass in einer Einzelwissenschaft
in Perioden der sog. Normalwissenschaft ein Paradigma als der unbezweifelte Hin-
tergrund für die Forschung angenommen wird. Siehe dazu auch Hoyningen-Huene
1993, 175–179.
10
Für Chang ist dies nur eine, aber nicht die einzige Aufgabe von Wissenschaftsge-
schichte und Wissenschaftsphilosophie. Die klassischen Aufgaben der Wissen-
schaftsphilosophie – zu verstehen, wie Wissenschaft funktioniert, und die Methodo-
logie der Wissenschaften zu analysieren und ggf. zu verbessern – bleiben nach wie
vor bestehen. Diese beiden Aufgabenbereiche nennt Chang „deskriptive“ und „par-
tizipative“ Wissenschaftsphilosophie (vgl. Chang 1999) und benutzt den Terminus
„partizipative Wissenschaftsphilosophie“ also in einer anderen Bedeutung, als wir
ihn hier gebrauchen.
„Die wahre philosophische Fakultät der Universität der Zukunft wird […] die
Gruppe von philosophisch denkenden Männern in allen Fachbereichen sein,
die, jeder auf seine Weise, über die ultimativen Fragen nachdenken. […] Das
philosophische Institut sollte für den gesamten Lehrkörper die Sammelstelle
sein für die verschiedenen Theorien und Probleme, die in den verschiedenen
11
Es ist jedoch fraglich, ob die Philosophie positives Wissen über die Welt liefern
kann und es überhaupt ein Ziel der Philosophie sein kann, solches Wissen bereitzu-
stellen. Siehe dazu den letzten Abschnitt unseres Beitrags.
Die gegenwärtige Philosophie der Biologie ist ein gutes Beispiel für inter-
disziplinäre Wissenschaftsphilosophie, wie sie die genannten Autoren an-
visieren. Zwar fassen manche Philosophen der Biologie ihr Fach in der
traditionellen Weise auf als ausgerichtet auf „Fragen, die aus der biologi-
schen Wissenschaft hervorgehen, aber die Biologie selbst (noch) nicht
beantworten kann, sowie auf Fragen, die sich darauf beziehen, weshalb die
Biologie eigentlich nicht in der Lage ist, diese ersteren Fragen zu beant-
worten“ (Rosenberg/McShea 2008, 3; unsere Übersetzung). Jedoch sind
auch viele Philosophen der Biologie der Meinung, dass ihr Fach sich ein
ambitionierteres Ziel setzen sollte. Zum einen könnte die Philosophie der
Biologie z. B. versuchen, Biologen dabei zu helfen, ihre Fragestellungen
schärfer zu formulieren, indem sie die genaue Bedeutung der in diesen
Fragen zentralen Begriffe klärt. Zum anderen könnte neben dem Ziel, zur
Klärung spezifisch biologischer Fragen beizutragen, die Philosophie der
Biologie sich als Ziel setzen, einen Beitrag zur Klärung klassischer Fragen
der Philosophie zu leisten, nämlich indem sie relevante Erkenntnissen aus
der biologischen Wissenschaft aufgreift und auf philosophische Probleme
anwendet (vgl. Pradeu 2011). Die Philosophie der Biologie könnte in die-
ser Weise eine vermittelnde Rolle zwischen der Philosophie und den bio-
logischen Wissenschaften spielen. Sie würde ein Arbeitsbereich sein, in
dem Philosophen und Biologen gemeinsam versuchen, sowohl spezifisch
biologische Fragen als auch klassische Fragen der Philosophie zu klären.
Sie könnte so Ergebnisse erzielen, die Philosophen oder Biologen im Al-
leingang nicht erreichen könnten.
In den vergangenen vier Jahrzehnten hat sich die Philosophie der Bio-
logie genau in dieser Richtung entwickelt. In einem Übersichtsartikel aus
dem Jahre 1969 bemängelte der Philosoph der Biologie David Hull den
damaligen Stand der Forschung in seinem Fachgebiet wie folgt:
„Was die Philosophie der Biologie nicht ist? Es muss zugegeben werden, dass
bis jetzt weder sie besonders relevant für die Biologie, noch die Biologie be-
sonders relevant für sie ist.“ (Hull 1969, 179; unsere Übersetzung).
12
Der Autor des Artikels, William Adams Brown, war Professor für systematische
Theologie am Union Theological Seminary, New York City. Obwohl Brown weder
eine prominente Persönlichkeit in der Philosophiegeschichte ist noch gegenwärtig
diskutiert wird, haben wir dieses Zitat aufgenommen, da es den Gedanken, dass die
Philosophie gewissermaßen eine Fortsetzung der Einzelwissenschaften ist und sich
daher als interdisziplinäres Unternehmen auffassen soll, klar darstellt.
Hull wies darauf hin, dass Philosophen der Biologie bislang ihre Möglich-
keiten, biologisches Wissen in philosophische Diskussionen einzubringen
und umgekehrt durch philosophische Arbeit einen Beitrag zur Lösung
biologischer Probleme zu liefern, kaum wahrgenommen haben und dass
sich diese Situation baldmöglichst ändern sollte (vgl. auch ders. 1998,
77 ff.). In späteren Übersichtsartikeln vermerkt Hull (ders. 1998; 2002)
jedoch eine deutliche Veränderung im Arbeitsmodus der Philosophie der
Biologie: Professionelle Philosophen und professionelle Biologen haben
angefangen, mehr und mehr zusammenzuarbeiten: Kooperation zwischen
den beiden Fachgebieten ist heutzutage keine Seltenheit mehr. Entspre-
chend findet man mittlerweile regelmäßig Veröffentlichungen auf dem
Gebiet der Philosophie der Biologie und der Biologie selbst, die von Philo-
sophen und Biologen gemeinsam verfasst worden sind.13
13
Einige Beispiele sind: Kummer/Dasser/Hoyningen-Huene 1990, Griffiths/Gray
1994, Sober/Wilson 1994; 1998, Ariew/Lewontin 2004, Reydon/Hemerik 2005,
Rosenberg/McShea 2008, Assis/Brigandt 2009.
ein Begriff oder ein Sachverhalt ist, der eigentlich wohlbekannt und ver-
traut ist. So war die analytische Wissenschaftstheorie beispielsweise lange
mit der Frage beschäftigt, was eigentlich eine wissenschaftliche Erklärung
ist. Natürlich gehört das Geben wissenschaftlicher Erklärungen zum Alltag
der Wissenschaften, aber die Frage nach dem, was eine wissenschaftliche
Erklärung eigentlich ist, bricht aus diesem Alltag aus, indem sie etwas in
Frage stellt, was in diesem Alltag als verstanden und geläufig vorausge-
setzt wird. Grob gesprochen sind philosophische Fragen nun um so radika-
ler, je größer und gewichtiger der in Frage gestellte Bereich ist. So ist etwa
die Frage nach der Wissenschaftlichkeit des wissenschaftlichen Wissens
eine radikalere Fragestellung als die nach dem, was eine wissenschaftliche
Erklärung ist, weil die letztere Frage in ersterer enthalten ist. Noch radika-
ler ist beispielsweise die Frage nach der Möglichkeit von Wissen über-
haupt, und vielleicht noch radikaler die kritische Frage nach der Existenz
oder Existenzweise von Gegenständen (die möglicherweise Objekte des
Wissens werden können).
Akzeptiert man die verschiedenen Grade von Radikalität philosophi-
scher Fragen, so ergibt sich eine Konsequenz für die philosophische Aus-
einandersetzung. In einer potentiell fruchtbaren philosophischen Ausei-
nandersetzung müssen sich die Gesprächspartner des angestrebten Niveaus
der philosophischen Radikalität bewusst sein und es explizit machen, weil
sonst die eine Partei möglicherweise etwas stillschweigend als unproble-
matisch voraussetzt, was die andere Partei gerade in Frage stellt. Unter
diesen Umständen müssen die Gesprächspartner aneinander vorbeireden.
(3) Die typisch philosophische Infragestellung etwa eines Begriffs oder
eines (vermeintlichen) Sachverhalts kann grundsätzlich zwei verschiedene
Ergebnisse haben. Sie kann einmal zu einer Klärung des entsprechenden
Begriffs oder Sachverhalts führen, so dass man ein tieferes Verständnis des
Begriffs oder des Sachverhalts gewinnt. Sie kann aber auch zu einer De-
struktion des Begriffs bzw. Sachverhalts führen, weil sich bei der genaue-
ren Nachfrage die entsprechende Sache als unhaltbar herausstellt. So stell-
ten sich beispielsweise für Kant sowohl die rationalistische als auch die
empiristische Tradition als unhaltbar heraus. Als Beispiel einer ziemlich
erfolgreichen philosophischen Klärung kann der Begriff der logischen
Folgerung dienen. Diese Klärung war so erfolgreich, das die daraus entste-
henden Konsense die Bildung der Logik als einer eigenständigen wissen-
schaftlichen (mathematischen) Disziplin ermöglicht haben.
(4) Für die Philosophie ergibt sich eine grundsätzlich andere Konzeption
von Fortschritt als für die Einzelwissenschaften. Für die Einzelwissenschaf-
ten ist der Fortschritt primär an die Zunahme positiven Wissens gebunden.
Wie genau diese Zunahme zu charakterisieren ist, ob man hier in einem
strengen Sinn von Wissen sprechen kann u. ä., dies sind ihrerseits schwierige
Literatur
Ariew, A./Lewontin, R.C., 2004: The confusions of fitness, in: British Journal for the
Philosophy of Science 55, 347–363.
Assis, L.C.S./Brigandt, I., 2009: Homology: homeostatic property cluster kinds in
systematics and evolution, in: Evolutionary Biology 36, 248–255.
Brown, W.A., 1921: The future of philosophy as a university study, in: Journal of Phi-
losophy 18, 673–682.
Carrier, M., 2007: Wege der Wissenschaftsphilosophie im 20. Jahrhundert, in: A. Bar-
tels/M. Stöckler (Hg.), Wissenschaftstheorie: Ein Studienbuch, Paderborn, 15–44.
Chang, H., 1999: History and philosophy of science as a continuation of science by
other means, in: Science & Education 8, 413–425.
—, 2004: Inventing Temperature: Measurement and Scientific Progress, Oxford.
Feyerabend, P.K., 1986: Wider den Methodenzwang, Frankfurt/M.
Geyer, C. (Hg.), 2004: Hirnforschung und Willensfreiheit: Zur Deutung der neuesten
Experimente, Frankfurt/M.
Griesemer, J., 2010: Philosophy and tinkering, in: Biology and Philosophy [im Druck].