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Buch
Erschienen
01.01.2002
Autor
Brock, Bazon
Herausgeber
Zika, Anna
Seite im Original: b-g
emergentia praecox
Von zivilisatorischen Minimalstandards liest man öfter,
von Inszenierung des Lebens,
von Arbeitsbiographien,
von Ohnmacht der Macht,
von affirmativer Überhöhung als Strategie des Widerspruchs,
von Fundamentalismus der Künste,
von ästhetischem Terror der Gottsucherbanden,
von der subversiven Macht des Alters,
von den Utopien als Ressourcen der Wahrheitskritik,
oder der Erzwingung von Dauer in der Politik der Unsterblichkeit,
bzw. von Avantgarden als den Repräsentanten des Neuen,
welches uns veranlaßt, das Alte, Überkommene mit neuen Augen zu sehen.
Das, wie gesagt, liest man immer öfter, und da freut man sich über die Bestätigung,
etwas Richtiges erkannt und etwas Wichtiges benannt zu haben, als man derartige
Neologismen kreierte, derartige Konzepte entwarf und derartige Strategien zur
Diskussion stellte. Ist mehr erwartbar, als diese Bestätigung nach Jahren und
Jahrzehnten? Leider doch: die Erfahrung, daß man den rechten Augenblick der
Wirkung der in der eigenen loyalen Kulturbande verpaßt hat, weil man fast immer
zu früh kam mit den Ein-, An-, und Aussichten: Ich leide an Emergentia praecox.
Und weil man sich die Loyalität von niemandem abfragen, gar abpressen ließ, also
alle kulturelle Legitimation seiner Arbeit aufgab, bleibt man ohne Stallgeruch, ohne
Identitätsmarke, ohne Heimat, ohne Partei, ohne kollegialen Kartellverbund, ohne
Marktmacht, ohne irgendeine Mitgliedschaft. Man ist also Künstler.
Künstler ist, wei seine eigenen Aussagenansprüche allein aus sich heraus vertritt
– beispielhafte Individualität; das ist nicht mehr Selbstverwirklichungsbohéme,
sondern Individualisierungszwang, die Zumutung der Bodenlosigkeit für jedermann.
Wie ein Tun als Unterlassen betrieben werden kann und in die
Geschcihtsschreibung auch jene großen Ereignisse eingehen können, die nicht
geschahen, weil man sie verhinderte (wie in der erfolgreichen Bekämpfung des
Terrors), das üben wir in der Praxis der Künste; in der Beschränkung, heißt es dort,
liegt erst die Meisterschaft; less is more, less irritation is more clarity; Vollendung ist
eine Frage des rechtzeitigen Aufhörens und nicht die der Vollständigkeit. Und
herausragende Literatur, Kunst, Dramatik sind Arbeiten, die so perfekt erscheinen,
daß man nicht auf die Idee käme, sie außerhalb von Atelier, Theater und Museum
zu verwirklichen. Sie bleiben im musealen Containment als Archiv auf Dauer
gestellt, als Archiv der Erinnerung an das, was Gottseidank nie geschah.
In der Dekade, aus der die hier versammelten Texte als Bewegungsindikatoren für
Individualisierungszwang stammen, habe ich rund 900 Aktivitäten in Universitäten,
Museen, Galerien, Kunstvereinen, Unternehmen, Theatern, Fernsehstudios,
Redaktionen absolviert. Dieses umfassende Programm zu leisten, ermöglichte mir
Monika Hoffmann, Beauftragte des Volkes für die Bewahrung der Hoffnung, daß
Liebe dennoch gelingt.
Die vorliegende vierte Arbeitsbiographie realisierte Anna Zika, die als Muse des
Müssens zwischen Pflicht und Erschöpfungslust vermittelte.
Bazon Brock,
Wuppertal 2002
Seite im Original: 4
I Biographiepflichtig
Wie man wird, der man nicht ist. Mihilismus für Ich-Schwache
2 Wohin führt der lange Marsch? – Ein Gespräch mit Sabine Hering und Hans-
Georg Lützenkirchen
4 Animierte Animatoren
5 Animation
8 Wer nicht über sich selbst spricht, hat nichts zu sagen. – Ein Gespräch mit
Jörg-Uwe Albig
10 Future Sex. Die Zukunft von Liebe und Erotik – Ein Gespräch mit Jutta
Winkelmann und Gisela Getty
14 Psychopompos