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Vorwort 5
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Literaturhinweise 301
Vorwort
Der vorliegende Band ist der erste einer Reihe, in der Vorlesungen
abgedruckt werden, die ich an der TU Darmstadt seit 1996 gehalten
habe. Die Texte wurden bewußt in der Fassung für den mündlichen
Vortrag belassen, auch wenn dies gelegentliche Verstöße gegen die
Regeln des Satzbaus mit sich brachte. Natürlich ist die Atmosphäre
einer Vorlesung, die sich an eine anwesende Hörerschaft wendet,
nicht in einem Buch reproduzierbar. Doch habe ich die Hoffnung,
daß sich etwas von der persönlichen Ansprache, mit der ich mich an
die Studierenden wandte, auf die Leserinnen und Leser dieses Buches
überträgt.
Der wesentliche Unterschied einer Vorlesung zu einer wissen-
schaftlichen Monographie ist, daß ich mich hier nicht an die wissen-
schaftliche Öffentlichkeit meines Faches richte, sondern an – meist
junge – Menschen, denen die Denkweise der Pädagogik, die Fragen,
denen sie sich stellt, die Antworten, die sie findet, überhaupt erst na-
hezubringen sind. Ansatz- und Ausgangspunkte meiner Überlegun-
gen und Argumentationen sind daher Begriffe, Probleme, Tatbestän-
de, von denen ich glaube annehmen zu dürfen, daß meine Höre-
rinnen und Hörer zu ihnen Zugang finden können, auch ohne sich
in der wissenschaftlichen Pädagogik schon sonderlich auszukennen.
Auf den sonst üblichen und notwendigen Aufwand zur Positionie-
rung der eigenen Gedanken im Diskurs der Disziplin wurde entspre-
chend verzichtet. Verweise auf Literatur sind eher spärlich. Absicht
war mehr, die Studierenden auf einem Weg des Nachdenkens mitzu-
nehmen, als sie mit dem Stand der pädagogischen Wissenschaft ver-
traut zu machen.
In meiner Vorlesung zur Einführung in die Pädagogik habe ich
erstmals das Experiment unternommen, Musik einzubeziehen, und
zwar nicht als bloße Auflockerung, sondern als konzeptionelles Ele-
ment der Hinführung zur jeweiligen Vorlesungsthematik. Meine
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Motive hierfür lege ich zu Beginn der ersten Vorlesung dar. Jedenfalls
war die Musik für Atmosphäre und Verlauf diese Vorlesung sehr prä-
gend, und zwar in einem schönen Sinne. Im Buch bleibt nur, die Ti-
tel anzugeben.
Ergänzungen, Fortschreibungen und neue Themen zu dieser Ein-
führung finden sich auf meiner Website: www.sesink.de.
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Erste Vorlesung
Von wo wir beginnen …
1.1 Ouvertüre
1.2 Eine Einführung in die Einführung
1.2.1 Wohinein einführen?
1.2.2 Was heißt „einführen“?
1.3 Ein Leitmotiv: Von wo wir beginnen …
Musik:
Peter Green – Slabo Days (1979).
Vom Album „In The Skies“ (1979)
1.1 Ouvertüre
Sie werden sich vielleicht etwas verwundert, möglicherweise auch ir-
ritiert gefragt haben, wieso Sie hier mit Musik empfangen wurden
und was das eigentlich soll. Musikberieselung ist Ihnen nicht ganz
unvertraut. Sie kennen das, etwa wenn Sie in ein Kaufhaus oder einen
Supermarkt gehen oder wenn Sie im Kino auf den Beginn der Vor-
stellung warten. Im Falle des Kaufhauses oder des Supermarktes hat
die Musik den Sinn, bei Ihnen eine Stimmung zu erzeugen, die Sie
empfänglich macht für das, was diejenigen, die ihr Geld in das Un-
ternehmen gesteckt haben, von Ihnen wollen: dass Sie Lust kriegen
auf Kaufen und Geld-ausgeben. Im Falle der Kinovorstellung soll Ih-
nen die Wartezeit angenehmer gemacht werden. Vielleicht ist im
Kino die Musikauswahl auch so getroffen, dass sie einen Bezug zum
folgenden Film hat, Sie also einstimmt.
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Heißt das also, dass ich Sie in Stimmung versetzen möchte, damit
Sie eher bereit sind, mir meine Vorlesung und das, was ich darin zum
Besten gebe, abzukaufen? Oder dass ich Sie mit Musik in diese Vor-
lesung einstimmen möchte? Sind das vielleicht die neuen Methoden,
mit denen jetzt auch in der Universität Kunden eingefangen und in
Stimmung versetzt werden? Musikberieselung, um Ihren wachen
und kritischen Geist einzuschläfern, der sich sonst vielleicht gegen
das, was ich hier verkaufen will, sperrren würde? In-Stimmung-brin-
gen für etwas, wozu Sie eigentlich gar keine rechte Lust haben? Sozu-
sagen ein erster Schritt in Richtung multimedial animierte Hoch-
schul-Lehre?
Wenn ich so frage, können Sie sich schon denken, dass diese Fra-
gen rhetorisch gemeint sind und wie es jetzt weitergeht: Nein, werde
ich jetzt gleich sagen, das soll es natürlich nicht sein! Und Ihre Erwar-
tung trügt Sie nicht. Nein, sage ich jetzt also: Wie im Kaufhaus oder
wie im Kino soll es hier nicht zugehen. Und multimedial animierte
Lehre haben Sie hier auch nicht zu erwarten. Dennoch brauchen Sie
jetzt nicht enttäuscht zu sein: In dieser Vorlesung wird Musik trotz-
dem weiterhin eine Rolle spielen. Aber seien Sie auch nicht beruhigt:
So völlig anders als im Kaufhaus oder im Kino sind meine Absichten
auch wieder nicht. Etwas Gemeinsames gibt es doch.
Wenn zum Zwecke der Ein-Stimmung oder des Stimmung-Ma-
chens Musik eingesetzt wird, so werden Sie in voller Absicht auf einer
anderen Ebene angesprochen als auf der rationalen Ebene. Dahinter
kann die Absicht stehen, Ihren Verstand und sein kritisches Vermö-
gen zu umgehen oder gar auszuschalten. Das ist ja weiß Gott nicht
grundsätzlich etwas Schlimmes oder Böses. Wenn man sich zu Hause
zur Entspannung Musik anhört, tut man auch nichts anderes. Aber
in diese Vorlesung sind Sie wohl nicht gekommen, um sich zu ent-
spannen und Ihren Verstand mal abzuschalten. Im Gegenteil, in den
meisten Lehrveranstaltungen fühlen Sie sich bestimmt eher aufgefor-
dert, ihre Gefühlswelt auszuschalten und sich auf das Rationale zu
konzentrieren. Das heißt: Wenn es im Kaufhaus so ist, dass das eine,
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leicht sagen, jetzt spinnt er aber wirklich. Recht haben sie. Etwas
Spinnerei ist schon im Spiel. Andere werden sich denken, och, war-
um nicht, ist doch ganz angenehm, nicht immer nur sein Gelaber an-
hören zu müssen. Recht haben auch sie. 90 Minuten theoretischer
Vortrag am Stück sind in der Regel eine Zumutung. Manche werden
denken, na hoffentlich ist sein Musikgeschmack einigermaßen. Tja,
da liegt in der Tat ein Risiko. Und vielleicht werden einige denken,
da muss doch mehr dahinterstecken, als er bis jetzt rausgerückt hat.
Das muss er uns schon noch etwas genauer erklären, was er damit ei-
gentlich beabsichtigt. Und auch sie haben recht. Mit der Musik, das
muss ich Ihnen schon noch etwas genauer erklären.
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dies Thema auf der inhaltlichen Ebene anzusprechen, auf einer ge-
fühlsmäßigen Ebene unterstützen.
Siebtens. Der Anfang einer Vorlesung ist meist durch Störungen
beeinträchtigt, teils weil immer einige zu spät kommen, teils weil
auch bei pünktlicher Ankunft das innere Ankommen noch seine Zeit
braucht. Die Musik kann dafür Raum geben.
Achtens. Dies ist immer noch ein Experiment, obwohl ich es
schon mehrmals unternommen habe. Diese Erfahrungen waren er-
mutigend. Aber nichts, was mit lebendigen Menschen zu tun hat,
lässt sich einfach wiederholen. beziehungsweise bei der Wiederho-
lung wird es etwas anderes. Das Gelingen ist also nicht dadurch ga-
rantiert, dass es schon einmal gutgegangen sind. Auch soziale Grup-
pen sind Individuen. Und die hier in diesem Semester zusammenge-
kommen sind, sind ein anderes Individuum als diejenigen, die im
vergangenen Wintersemester teilgenommen haben.
Es ist also weiterhin ein Experiment, und Experimente können
schiefgehen. Auch dann werde ich etwas gelernt haben. Und Sie viel-
leicht mit mir. Irgendwann versuche ich dann wieder mal was ande-
res. Ich experimentiere gern.
So, jetzt wissen Sie in etwa, was ich mir bei der Sache mit der Musik
gedacht habe. Alles Weitere wird sich in der Vorlesung zeigen. Und
wenn es nachher für Sie vielleicht nur dabei bleibt, dass es immerhin
eine nette Abwechslung war, an dieser Stätte auch mal ein bisschen
Musik zu hören, dann ist das auch in Ordnung.
Diese erste Vorlesung ist ja, in musikalischen Kategorien gespro-
chen, so etwas wie eine Ouvertüre. Was ist die Funktion einer Ou-
vertüre?
Einem Musiklexikon entnahm ich, dass sich Funktion, Form und
Auffassung der Ouvertüre in der Musikgeschichte gewandelt haben.
Dem, was ich hier heute vorhabe, entspricht wohl am ehesten die von
Gluck geforderte und später u.a. von Beethoven übernommene Auf-
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Und diese Erwartung ist voll und ganz berechtigt. Genau das dür-
fen Sie auch erwarten.
Was bedeutet das denn jetzt? Einführung in die pädagogische
Theorie oder Einführung in die pädagogische Wirklichkeit?
Es verhält sich so: Indem ich Ihnen theoretische Zugänge zur päd-
agogischen Realität zu eröffnen versuche, ist dies zugleich eine Ein-
führung in die theoretische Befassung mit Pädagogik. Im Unter-
schied zum Begriff Erziehungswissenschaft hat der Begriff der
Pädagogik diese Doppelbedeutung. Er meint die Realität ebenso wie
die Wissenschaft; die Praxis ebenso wie die Theorie.
Ich führe sie also nicht ein in pädagogische Theorien. Sondern in
Pädagogik, allerdings auf eine theoretische Weise. Man kann natür-
lich auch anders als theoretisch in die Pädagogik einführen, nämlich
praktisch oder literarisch oder sonstwie. Aber solche Einführungen
gehören woanders hin. Und die Einführung in pädagogische Theori-
en, die allerdings hierhin gehörte, wäre eine andere Vorlesung.
Aber ist damit für Sie schon wirklich geklärt, was Sie nun als In-
halt der Vorlesung erwarten dürfen? Wohl kaum.
Fünf Enttäuschungen:
1. Sie bekommen keine Einführung in pädagogische Theorien. Das
hatte ich Ihnen ja schon gesagt. Genauer bedeutet dies: keine
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Jetzt werden Sie sich vielleicht fragen, was denn dann überhaupt üb-
rigbleibt. In einem Satz zusammengefasst, möchte ich es so formulie-
ren: Ich werde versuchen, Sie auf einem theoretischen Wege einzu-
führen in pädagogische Realität.
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Bei diesem Satz möchte ich es aber nicht bewenden lassen. Eine
nähere Erläuterung ist nötig, damit Sie sich etwas darunter vorstellen
können. Ich werde genauer klären, was mit dem Satz gemeint ist.
Gehen wir also davon aus, dass in dieser Vorlesung in päd-
agogische Realität eingeführt werden soll. Dann stellen sich einige
Fragen, zum Beispiel:
• Woher weiß ich eigentlich, was Realität ist? Aus Erfahrung?
Aus eigener oder aus mitgeteilter Erfahrung? Aus Dokumen-
tarberichten? Aus mit speziellen Methoden gewonnenen
Erfahrungen? Aus quantitativen Messdaten? Aus Statistiken?
• Was ist das Pädagogische an Realität? Ist es die Tatsache, dass
es in der Schule oder in der Familie geschieht? Ist alles, was in
diesen Institutionen geschieht, Pädagogik? Sind Prügel päd-
agogische Realität? Ist Babysitten Pädagogik? Wodurch ist
etwas als pädagogisch charakterisiert? Wer legt solche Charak-
teristika fest?
• Ist Pädagogik eine existierende Realität oder eine sein sol-
lende? Ist sie ein Faktum oder eine Norm? Unterscheiden wir
also an der Realität zwischen dem, was die Bezeichnung „päd-
agogisch“ verdient und dem, was es – wie etwa die Prügel –
nicht verdient?
• Ist Pädagogik das, was man von Ihnen in Ihrem künftigen
Berufsfeld erwartet, eine Forderung an Sie, ein Auftrag? Oder
ist es das, was Sie selbst tun wollen, eine Forderung, die Sie an
sich selbst haben, eine Aufgabe, die Sie sich selbst stellen?
Die Antworten auf all diese Fragen verstehen sich keineswegs von
selbst. Und damit wird auch schon klar, dass selbst dann, wenn wir
über Realität sprechen wollen, wir nicht an theoretischen Überlegun-
gen vorbeikommen. Die Realität der Pädagogik kann nicht einfach
für sich selbst sprechen; sie ist uns nicht einfach an sich und durch
sich selbst präsent, sondern nur vermittelt durch Überlegungen über
diese Realität, durch begriffliche Bestimmungen. Natürlich gibt es
die unmittelbare, sprachlose Erfahrung mit Pädagogik, die zum Bei-
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Momente ins Spiel. Zum Beispiel Ihr Lebensgefühl: Trauen Sie sich
zu, etwas zu verändern? Haben Sie Erfahrungen gemacht, die Sie eher
resignieren lassen? Bestätigt das, was Sie von mir hören, Ihre pessimi-
stische Weltsicht? Oder fühlen Sie sich dadurch bestärkt in Ihrer zu-
versichtlichen Grundeinstellung?
Dass nichttheoretische Momente ins Spiel kommen, sagt nichts
gegen die Bedeutung der Theorie. Ganz und gar nichts. Sie können
allein auf einer gefühlsmäßigen Ebene keine Entscheidungen treffen,
keine praktischen Konsequenzen ziehen. Sie können nur Ihren Ge-
fühlen Ausdruck geben: weinen, lachen; jemanden in den Arm neh-
men. Aber das ist keine Praxis, die in Zusammenhänge eingreift; kein
Handeln. Das sind emotionale Reaktionen auf etwas, das geschieht.
Was geschieht, kann nicht durch Ihre Gefühle beeinflusst werden,
außer, Sie lassen ihre Gefühle handlungsleitend werden. Aber dann
sind sie mehr als Gefühle. Sie sind dann, wie Humboldt, der frühe
Theoretiker der bürgerlichen Bildung, 1792 formulierte, „ideenrei-
che Gefühle”, wie auch die Ideen, die der handelnde Mensch ver-
folgt, dann „gefühlvolle Ideen” sind.
Um Ihre Gefühle handlungsleitend werden zu lassen, müssen Sie
Theorie betreiben. Um Theorie zu betreiben wiederum, muss das
Gefühl Sie nicht verlassen. Im Gegenteil: Die Motivation, sich mit
Theorie zu befassen, wurzelt ja in dem Wunsch, was im Gefühl zum
Ausdruck kommt, eine bestimmte Qualität der Beziehung zur Welt
und zum anderen Menschen wie zu sich selbst, im Handeln so wirk-
sam werden zu lassen, dass diese Welt so werde, wie das Gefühl sie
will: liebenswert und liebevoll. Das mag romantisch klingen, und
manche/r wird sich sagen, dass solche Sentimentalitäten schlecht zur
Nüchternheit wissenschaftlicher Theoriebildung passen, da sie mög-
licherweise doch das Hirn eher vernebeln, als dass sie zur Aufklärung
beitragen.
Diese Bedenken gegen Gefühlsduselei in der Wissenschaft sind –
gerade in der Pädagogik, die dazu besonders neigt – ernst zu nehmen.
Aber ebenso ernst zu nehmen ist die Gefahr, die von einer Wissen-
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prägt. Wenn Sie nun jemandem etwas über das Land erzählen
sollten, in dem Sie leben, dann werden Sie mindestens ebensoviel
über sich selbst erzählen wie über das Land. Das lässt sich gar nicht
auseinanderhalten für Sie. Und jeder von Ihnen wird etwas anderes
erzählen. So ist es mit dem „Land Pädagogik”. Sie hätten schon eine
ganze Menge über dieses Land, die Pädagogik, zu erzählen. Sie sind
dort aufgewachsen. Sie sind dort immer noch zuhause. Wenn Sie
über Pädagogik etwas sagen, sagen Sie etwas über sich selbst. Und je-
der von Ihnen wird etwas anderes über Pädagogik zu erzählen haben.
Das kann so weit gehen, dass gar nicht mehr erkennbar ist, dass
es sich überhaupt um dasselbe Land handelt.
Gehen wir jetzt noch einen Schritt weiter. Wieder im Bild: Sie
sollen oder wollen nicht nur jemandem etwas erzählen, sondern sol-
len oder wollen sich in irgendeiner Weise um das Wohl dieses Landes
insgesamt kümmern, zum Beispiel in einer politisch verantwortli-
chen Position. Da genügt es nun ganz sicher nicht mehr, aus der ei-
genen Erfahrung zu schöpfen. Sie müssen das Land, in dem Sie le-
ben, dann schon genauer kennenlernen, und zwar so genau, dass sie
beanspruchen können, über es als ganzes etwas sagen zu können und
für es als ganzes etwas tun zu können. Um das zu erreichen, müssen
Sie sich Kenntnisse aneignen zusätzlich zu dem, was Sie im Laufe Ih-
res Lebens so alles erfahren und mitgekriegt haben. Es wäre hilfreich,
wenn es jemanden gäbe, der Sie in Ihrem eigenen Lande herumführt
und Ihnen die Hauptsachen zeigt. Jemand, der sich in diesem Land
auskennt, weil es sein Job ist, dieses Land systematisch zu bereisen.
Übertragen wir dieses Bild nun auf die Pädagogik als Land, so
heißt das, dass ich mit Ihnen eine Art Rundreise mache oder Sie in
der Pädagogik herumführe. Dies ist keine Reise in ein unbekanntes
Land, also in diesem Sinne keine „Einführung”, sondern ein Herum-
führen in Ihrem HeimatLand; wobei es allerdings durchaus möglich
ist, dass Sie Neues entdecken oder erfahren – denn überall sind Sie
noch nicht gewesen – beziehungsweise scheinbar Bekanntes in ande-
rem Lichte sehen, weil ich, als Ihr Reiseführer, Sie auf Dinge auf-
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merksam mache, die Ihnen vorher nicht so aufgefallen sind oder die
Sie schlicht übersehen haben.
Gleichzeitig damit kriegen Sie mit, wie jemand dieses Land be-
reist, der sich einen Gesamteindruck von ihm, von seinen Charakte-
ristika verschaffen will; dem es also um ein Bild vom Land als ganzem
geht. Sie machen also eine Erfahrung in einer besonderen Form des
Reisens. Man könnte auch sagen: In diese Weise des Reisens werden
Sie, indem ich Ihnen Ihr Land zeige, zugleich eingeführt.
Diese Herumführung bietet die Chance, aus den Beschränkthei-
ten der Perspektive persönlicher Lebensgeschichte auszubrechen, den
eigenen Horizont zu erweitern. Strenge Objektivität ist dabei den-
noch nicht zu erreichen. Erstens bleibt selbstverständlich Ihre per-
sönliche Lebensgeschichte für Ihr Bild von diesem Lande Pädagogik
bedeutsam. Wie Sie am eigenen Leib Pädagogik erfahren habe, das
können Sie nicht einfach ausstreichen aus Ihrem Bewusstsein. Und
sollen Sie auch nicht. Und zweitens ist bei allem Bemühen um eine
Sicht des Ganzen doch auch die Perspektive Ihres Reiseführers eine
persönliche. Je nachdem, wer sich Ihnen als Reiseführer zur Verfü-
gung stellt, je nachdem also, wer es ist, der Ihnen eine Einführung in
die Pädagogik gibt, stellt sich das Bild, das Sie von diesem Land, der
Pädagogik, erhalten, anders dar.
Bedenken Sie dies bitte immer: Sie bekommen hier nichts mit,
von dem Sie nachher sagen können: So und nicht anders ist es. Das
und nichts anderes ist Pädagogik. Ich werde mich bemühen, Ihnen
einen Blick auf das Ganze der Pädagogik zu geben, Sie gleichsam in
der Pädagogik herumzuführen und Sie dabei auf das aufmerksam zu
machen, worin ich das Spezifische sehe, das dieses Land, die Päd-
agogik, auszeichnet gegenüber anderen Ländern wie der Politik oder
der Psychologie oder der Soziologie undsoweiter. Aber dies wird ein
Sesinksches Bild von Pädagogik bleiben. Und Sie werden dies keines-
falls einfach übernehmen können und dürfen. Nehmen Sie diese
Vorlesung als einen Beitrag auf, der Ihnen helfen kann, Ihre eigene
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Musik:
Fleetwood Mac – Man Of The World (1969).
Vom Album „Greatest Hits“ (1971)
trennten Existenz aktiv zuwendet. Sie ist also auch das Ereignis, bei
dem die Pädagogik beginnt.
Die Auseinandersetzung mit der Geburt eines Menschen ist von
fundamentaler Bedeutung für die Pädagogik. Ich werde versuchen,
diese Bedeutung unter drei Hauptfragestellungen zu umreißen:
• Woher kommt dieser Mensch?
• Wie wird dieser Mensch aufgenommen?
• Wohin geht dieser Mensch?
Begleitet werden meine Ausführungen durch die Projektion von
Portraits bedeutender Persönlichkeiten. (Der Rest der Vorlesung
wird begleitet von der Projektion von Großaufnahmen von Säuglin-
gen.)
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ständnis, dass es in unserer eigenen Hand liege, was wir aus uns ma-
chen; aber das bezieht sich auf den Entwicklungsprozess nach der Ge-
burt. Diese Aussage hat zwar eine enorme pädagogische Bedeutung,
begründet sie doch die Bildung als eine sich selbst bestimmende Ent-
wicklung des einzelnen. Dennoch bleibt mit der Herkunft des Men-
schen aus etwas anderem als subjektivem Gestaltungswillen sozusa-
gen eine Hypothek, die nicht zu ignorieren ist.
In der Tatsache des Geborenseins liegt eine Verletzung des reinen
Selbstbestimmungsprinzips. Eine fremde Macht kam ins Spiel, und
dies nicht gerade beiläufig. Ein Mensch ist geworden, nicht gemacht;
und das bedeutet eine grundlegende Heteronomie. Denn dieser Ge-
wordenheit muss er sich fügen; sie bringt Bedürfnisse und Eigen-
schaften des Menschen mit sich, die es zunächst einmal hinzuneh-
men gilt.
Die Pädagogik ist ein erster historischer Einspruch der Gesell-
schaft gegen die Tatsache des Geborenseins als einer heteronomen
Bestimmtheit der eigenen Existenz. Sie entstand als organisierte ge-
sellschaftliche Praxis und als theoretische und wissenschaftliche Dis-
ziplin im 18. Jahrhundert. Zu dieser Zeit wurde mit dem aufsteigen-
den Bürgertum die alte feudale Gesellschaft und mit ihr die
Determiniertheit der menschlichen Existenz durch Natur, Geburt
und Herkunft in Frage gestellt. Bis dahin galt: Gott hatte der Welt
eine Ordnung gegeben, in die der einzelne Mensch hineingeboren
wurde. Er hatte die Menschen unterschiedlich erschaffen, und so un-
terschiedlich kamen sie auf die Welt. Die Unterschiede von Geburt
waren gottgewollt und daher nicht in Frage zu stellen. Der persönli-
che Lebensweg war nur eine Erfüllung der gottgewollten Bestim-
mung.
Das Leben insgesamt war weitestgehend geprägt von der Unter-
werfung unter die Bedingungen der Natur, jedenfalls da, wo die le-
bensnotwendige Produktion noch in der Hauptsache landwirtschaft-
liche Produktion war.
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terzogen. Und zwar nicht erst, wenn es zur Welt kommt, sondern
schon zuvor.
Erst aufgrund des medizintechnischen und pharmazeutischen
Fortschritts gibt es das, was wir ein Wunschkind nennen: Dieses
Kind ist nicht nur angenommen, sondern dass es zur Welt kommt,
kann zurückgeführt werden auf eine Entscheidung der Eltern, ein
Kind zu wollen. Mit dieser Entscheidung sind Projektionen verbun-
den: Die Eltern stellen sich – mehr oder weniger scharf umrissen –
das Kind vor, das sie wollen, auf das sie sich freuen. Ein Bild des Kin-
des entsteht schon, bevor es das Licht der Welt erblickt. Und dieses
Bild prägt die Erwartung, die dem Kind entgegengebracht wird. Sei-
ne bevorstehende Ankunft ist Einlösung des Wunsches, der im Kind
sozusagen Fleisch wird.
Natürlich sind selbst in unseren westlichen Industrieländern bei
weitem nicht alle Kinder, wahrscheinlich nicht einmal die meisten in
diesem Sinne Wunschkinder. So rationalisiert ist das Liebesleben
auch in unseren Gesellschaften noch nicht, dass nicht auch hier wei-
terhin viele Kinder auf die Welt kommen, weil es der Zufall wollte,
weil man nicht aufgepasst hat, weil man nachlässig war; oder gar ge-
gen den Willen der Eltern oder eines Elternteils. Nicht gewünschte
oder gar ausdrücklich unerwünschte Kinder werden natürlich anders
in Empfang genommen als die sogenannten Wunschkinder. Aber
auch die positive Erwartungshaltung gegenüber dem Wunschkind ist
ambivalent. Dieses Kind hat eine Erwartung zu erfüllen. Und das
kann eine verdammt schwere Hypothek sein.
Doch möchte ich hier gar nicht so sehr über die vielen Varianten
sprechen, wie Eltern ihre Kinder in Empfang nehmen. Es soll mehr
darum gehen, wie die Gesellschaft ihre Kinder in Empfang nimmt,
wie sie sozusagen grundsätzlich ihr Verhältnis zu den Nachgeborenen
bestimmt, wie sie sie in ihre Ordnung aufnimmt.
Die Pädagogik steht, wie ich schon betonte, in einem Spannungs-
verhältnis zwischen Annahme einer unverfügbaren Herkunft und der
Eröffnung der Möglichkeit künftiger Selbstbestimmung. Und wie
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die Gesellschaft ihre Kinder aufnimmt, das hängt davon ab, wie sie
dieses Spannungsverhältnis interpretiert.
Die adventistische Haltung: Die Betonung kann auf der Erwartung
der neuen offenen Möglichkeiten einer besseren Zukunft liegen, die
mit der Ankunft des Kindes gegeben ist. Dann ist das Kind Hoff-
nung. Die Erwartung seiner Ankunft erhält etwas Adventisches, das
bis hin zu messianischen Vorstellungen – wie etwa bei Maria
Montessori – vom Kind als potentiellen Erlöser vom Bösen, als Hei-
land gehen kann. Die Geburt ist – wie der französische Geburtshelfer
Leboyer sagt – „das Fest der Geburt“, ein quasi religiöses Ereignis.
Die ordnungspolitische Haltung: Die messianische Erwartung geht
einher mit einer kritischen Distanz zu den gegebenen gesellschaftli-
chen Verhältnissen. Diese bedürfen der Heilung. Wo aber diese Ver-
hältnisse als die besten aller möglichen erscheinen, wird das Kind vor
allem als jemand in Empfang genommen, der die gegebene Ordnung
nicht stören soll und möglichst reibungslos in sie zu integrieren ist.
Das Kind ist zunächst ein Fremdling in dieser Ordnung. Und daher
kommt es darauf an, es bei seiner Ankunft sogleich mit der bestehen-
den Ordnung und ihren Strukturen zu konfrontieren. Die Geburt
wird zur Ordnungsmaßnahme.
Die exorzistische Haltung: Von der Abwehr einer Störung ist es nicht
weit zur Abwehr einer Bedrohung. In seiner sozialen Ungeformtheit
stört das Kind nicht nur, sondern stellt es sogar eine Bedrohung dar.
Ja, das Rohe und Wilde der ursprünglichen Natur im Kinde kann gar
als das fundamental Böse erscheinen, dem es zu wehren gilt. Von An-
fang an muss das Kind in die Zucht genommen werden; seine Triebe
sind zu disziplinieren, und erst wenn es gelernt hat, sich in der Ge-
walt zu haben, kann allmählich davon gesprochen werden, dass dieses
Kind ein menschliches Mitglied der Gesellschaft ist. Dies ist sozusa-
gen der Gegenentwurf zur messianischen Vorstellung: das Kind jetzt
als „Rosemaries Baby“, als Teufelsbrut. Da wird die Pädagogik zum
Exorzismus beziehungsweise zur „Schwarzen Pädagogik“.
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Zweite Vorlesung
Erziehung I: Antipädagogik
Musik:
Pink Floyd – Another Brick In The Wall (1979).
Vom Album „The Wall“ (1980)
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Antipädagogik
müsste schon seine Probleme damit haben, seine Kritik des Kriegs als
Beitrag zur Qualifizierung von Offizieren für das Kriegshandwerk
vorzutragen. So gesehen wäre auch die Antipädagogik grundsätzlich
sicher schwer als Beitrag zur Berufsausbildung von Pädagoginnen
und Pädagogen zu legitimieren, außer eben in dem negativ abgren-
zenden Sinne, dass es immer gut ist, wenn man die Argumente des
Gegners kennt.
Diese Vorlesung ist Teil pädagogischer Berufsausbildung. Und
daher können Sie davon ausgehen, dass ich keine antipädagogische
Position vertrete. Es stellt sich also die Frage, wie ernst die Auseinan-
dersetzung mit der Antipädagogik überhaupt sein kann; ob diese
nicht vielleicht als eine Art Pappkamerad herhalten muss, gegen den
man seine eigene Legitimation von Pädagogik stark macht.
Ich kann Ihnen nur versichern, dass ich die Einwände der An-
tipädagogik gegen die Pädagogik sehr ernst nehme, dass ich viele der
pädagogischen Argumente gegen die Antipädagogik (und für die
Pädagogik) nicht für richtig halte, dennoch aber nicht zu einer an-
tipädagogischen Konsequenz gelange. Warum, das will ich Ihnen
heute erläutern.
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Antipädagogik
„Kinder gehören sich selbst, nicht den Eltern und nicht dem Staat.
Der Lebensraum der Kinder und Jugendlichen wird in der heutigen Industrie-
gesellschaft von klein an aufs unerträglichste beschränkt. Die Entwicklung der Tech-
nik, zum Beispiel des Straßenverkehrs, der Fabriken, der Chemie, der Atomindu-
strie, der Kriegsrüstung undsoweiter hat die tägliche Umwelt besonders der Kinder
lebensbedrohlich verändert. Da heute Arbeit, Freizeit und Lernen immer weiter aus-
einanderfallen, leben die Menschen fremdbestimmt, das heißt weitgehend isoliert
voneinander in konkurrierenden Kleinfamilien. Die Eindämmung der Beweglich-
keit durch immer mehr Asphalt und Beton ist nur ein äußeres Zeichen dafür, daß
die Erwachsenen den Zugriff auf die gesamte Zeit und Person von Kindheit und Ju-
gend proben. Die Zärtlichkeit geht dabei immer mehr verloren. Liebevolle Bezie-
hungen zwischen Jüngeren und zwischen jüngeren und älteren Menschen werden
von kleinauf verhindert und verboten, weil sie dem Leistungsprinzip im Wege ste-
hen. Das Liebesverbot und die Verunsicherung führen so weit, daß selbst Eltern
nicht wissen, welches Maß an Zärtlichkeit sie den Kindern überhaupt geben dürfen,
ohne dafür bestraft zu werden. Sie schämen sich auch offen zuzugeben, daß jeder
Zärtlichkeitswunsch zu Kindern, auch die sogenannte Mutterliebe, einen sexuellen
Aspekt hat. An die Stelle der Zärtlichkeit treten Statussymbole, Konsumzwang, be-
wußt gefördertes Konkurrenzverhalten, Erziehung, sowie die verschiedenen Formen
alltäglicher Gewalt. Wer, wie die Grünen einen gewaltfreien und straffreien Umgang
zwischen allen Menschen verwirklichen möchte, wird unschwer erkennen, daß be-
reits in dem Anspruch, Kinder ‚führen‘, ‚erziehen‘ und damit in seinem Sinne ge-
brauchen zu wollen, Herrschaft und Gewalt verankert sind. Somit ist schon Erzie-
hung schlechthin Gewalt.
Frieden ist nur möglich ohne Erziehung.“
Es folgen weitere Ausführungen zur Lage der Kinder in unserer Ge-
sellschaft. Schließlich werden sechs Hauptforderungen aufgestellt,
deren wesentliche Inhalte ich zusammenfasse:
1. Das Grundrecht auf freie Bestimmung des eigenen Aufenthalts-
orts für alle Kinder „von Geburt an”.
2. Die Abschaffung aller Einrichtungen, in denen Kinder nicht frei-
willig sind (zum Beispiel Heime und Jugendknaste).
3. Abschaffung der Schulpflicht.
4. Recht auf selbstbestimmte Sexualität.
5. Autonome politische Interessenvertretung einschließlich des ak-
tiven und passiven Wahlrechts für Kinder.
6. Recht auf wirtschaftliche Unabhängigkeit von den Erwachsenen.
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Antipädagogik
Aber statt daraus die Forderung nach Abschaffung der Erziehung ab-
zuleiten, wäre ebenso oder sogar eher die Forderung aufzustellen, für
eine bessere oder die „richtige” Erziehung einzutreten.
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Antipädagogik
zusagen technische Seite. Und sie hat eine inhaltliche Seite, die ihren
Sinngehalt betrifft. Die formale, technische Seite von Selbstbestim-
mung bezieht sich auf die Frage, was jemand alles können muss, um
über seine Lebensführung unter gegebenen Lebensbedingungen
selbst zu bestimmen. Diese Art von Selbstbestimmungsfähigkeit ist
gemeint im Rechtsbegriff der Mündigkeit. Die inhaltliche Seite be-
zieht sich auf die Frage, welchen Gehalt denn die Selbstbestimmung
habe, also woher die Bestimmungen kommen, woher das Sich-selbst-
Bestimmen seine Gehalte nimmt. Der pädagogische Begriff der
Mündigkeit schließt die Fähigkeit, diese Frage zu reflektieren und auf
sie eine eigene Antwort zu finden, mit ein.
Winkler nimmt eine solche Unterscheidung nicht vor. In seinem
Begriff der Subjektivität fällt das beides in eins. Erstens kann das neu-
geborene Kind sich schon rein technisch nicht selbst bestimmen: Es
ist völlig hilflos und abhängig. Wenn man es, wie es im Pink-Floyd-
Song hieß, sich selbst überließe („leave the kids alone”), dann könnte
es nicht überleben. Im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen ver-
fügt es noch nicht über das Wissen und die Fähigkeiten, die man un-
ter gegebenen gesellschaftlichen Lebensbedingungen braucht, um
durchzukommen. Diese Feststellung ist banal. Und selbstverständ-
lich wird sie auch von den Antipädagogen überhaupt nicht bezwei-
felt. Es ist absurd, sie als Einwand gegen die Antipädagogik vorzu-
bringen. Zweitens aber verbindet Winkler damit die Behauptung,
Kinder kämen „bestimmungs- und mittellos” auf die Welt. Und das
ist der entscheidende Punkt, an dem die Antipädagogik eine Gegen-
position einnimmt. Antipädagogen geht es darum, dass das Kind –
im Gegensatz zu Winklers Auffassung – keineswegs „bestimmungs
und mittellos” auf die Welt komme, dass sein Drang keineswegs nur
„animalisch” und „ungerichtet” sei. Nein, das Kind, sagen sie,
„spürt” in sich, was sein „Bestes” ist; und es habe auch schon die Mit-
tel, dem Ausdruck zu verleihen. Das Problem sei nur, dass die Erzie-
her oft, zu oft nicht fähig sind, diese Äußerungen wahrzunehmen, sie
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Antipädagogik
burt in diese Welt kommt. Und es heißt zum andern: sich dafür ein-
setzen, dass dieser Sinn, der jeder einzelne Mensch an und für sich ist,
in dieser Welt auch tatsächlich Geltung erlangen kann. Diese zweite
Weise der Wahrnehmung ist auf die erste Form als ihr Fundament
angewiesen. Wer ein Kind nicht in seinem Eigensinn wahrnehmen
kann, der kann sich auch nicht für die Wahrnehmung seines Lebens-
sinns einsetzen. Das Wahrnehmen im zweiten Sinne bedarf aber dar-
über hinaus des Sich-Auskennens in den realen Bedingungen des Le-
bens, die jeweils gegeben sind; es bedarf des Sich-Auskennens in den
noch unerschlossenen Möglichkeiten, welche in diesen Bedingungen
schlummern. Und es bedarf einer Reihe von praktischen Fähigkeiten,
um sich in dieser Welt und unter diesen Bedingungen behaupten
und durchsetzen zu können. Das alles bringen Kinder nicht mit. Und
das alles können sie auch nicht ohne Hilfe entwickeln und ausbilden.
Das bedeutet, dass die Ausbildung der Fähigkeiten, den eigenen
Sinn in der Welt zur Geltung zu bringen, abhängig ist von der Aus-
bildung der Fähigkeiten, sich praktisch und geistig bewusst zu seiner
natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt zu verhalten. Ob ein
Mensch diese Fähigkeiten tatsächlich ausbilden wird, ist in seiner na-
türlichen Ausstattung nicht schon bestimmt. Dies hängt vielmehr
davon ab, wie die Gesellschaft, in die er geboren wird, ihn aufnimmt,
und das heißt auch, ob und wieweit sie es ihm ermöglicht, diese Fä-
higkeiten auszubilden. Das setzt auf der Seite der Gesellschaft voraus,
dass sie es tatsächlich will, dass dieser Mensch sich aus eigenem Sinn
entwickelt.
Doch ist damit die Bedeutung des Wahrnehmens noch nicht hin-
reichend bestimmt. Bisher lief meine Argumentation noch auf eine
antipädagogisache Position hinaus. Diese besagt, dass das Wahrneh-
men hinsichtlich der Genese und des Gehalts von menschlicher Be-
stimmung oder von Sinn ein passiver Akt des Aufnehmens dessen ist,
was das Kind aktiv äußert. Das Kind sagt dem Erwachsenen sozusa-
gen, wo‘s langzugehen hat; und die Aufgabe des Erwachsenen ist
dann, ihm seine Kraft, sein Wissen, seine Fähigkeiten zu leihen und
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Antipädagogik
Musik:
New Model Army – A Liberal Education (1982).
Vom Album „The independent Story“ (1984)
Dieser Song der Gruppe New Model Army aus dem Jahre 1982 ent-
hält auf den ersten Blick so etwas wie eine Gegenposition zur Bot-
schaft des Pink-Floyd-Songs (bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass
auch im Pink-Floyd-Song gleich zu Anfang eine Situation des Verlas-
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Wenn wir über Erziehung sprechen wollen, dann muss klar sein: Re-
den wir über diese zwiefache Wirklichkeit der Erziehung? Oder wol-
len wir über etwas reden, das als Erziehung von irgendjemandem –
qua welcher Autorität eigentlich – definiert wurde? Entschieden wir
uns für das zweite (wie die Kollegen, von denen ich berichtete, es sich
wünschen würden), dann würden wir folgendes tun: Wir würden der
geschichtlichen, gesellschaftlichen, differenzierten Wirklichkeit von
Erziehung einen von irgendeiner Autorität festgesetzten einheitli-
chen Terminus „Erziehung” entgegensetzen, mit der Absicht, das Re-
den über das erste durch das Reden über das zweite zu ersetzen. Das
aber würde bedeuten: der Wirklichkeit ihr Recht auf Geschichte, Ge-
wordenheit, Veränderlichkeit, Differenziertheit, auch Widersprüch-
lichkeit abzusprechen. Das ist nicht nur, wie die Kollegen meinten,
eine Frage der Vereinfachung von wissenschaftlicher Diskussion; es
ist der Anspruch, die Wirklichkeit selbst zu vereinfachen und das Re-
den über sie zu kanalisieren. Und das heißt: ihr Gewalt anzutun. Sie
zu „erziehen” gewissermaßen: dass sie so werde, wie der Begriff es
vorschreibt.
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Antipädagogik
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
darüber schreiben. Aber wenn wir erziehen, haben wir bereits eine
Vorstellung davon, in welche Richtung die Entwicklung dieses Men-
schen gehen soll. Keine ganz genaue. Aber es bleibt auch nicht völlig
offen. Wir kümmern uns drum. Es ist uns nicht egal. Eben das heißt
Erziehung.
Und weiterhin ist damit schon ein zweites angesprochen: Damit
ein Mensch sich als und zum Menschen entwickeln kann, bedarf es
der Mitwirkung anderer Menschen. Diese Entwicklung geschieht
nicht von allein und nicht allein aus eigener Kraft eines Menschen.
Erziehung ist eine soziale Handlung. In ihr teilen Menschen sich ge-
genseitig mit, was es für sie heißt, als Mensch in menschlicher Ge-
meinschaft zu leben. Und was der einzelne Mensch dafür braucht, an
Fähigkeiten, Kenntnissen undsoweiter Und welchen Beitrag seiner
Mitmenschen dieser Mensch für seine Entwicklung erwarten kann:
welche Antwort der Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache.
Es geht also um die Entwicklung des einzelnen in seinem
Menschsein. Anders ausgedrückt: Wir können über die Entwicklung
eines einzelnen Menschen nichts sagen (und nichts dafür tun), ohne
etwas dazu zu sagen, was sein Menschsein ausmacht.
Zugleich aber ist diese Entwicklung des einzelnen in gesellschaft-
liche Bezüge eingebettet. „Tatsache” ist nicht nur die Entwicklung
des einzelnen, sondern ebenso die Entwicklung der Gesellschaft; die
sich eben auch vollzieht über die Entwicklung der vielen und jedes
einzelnen. Das gesellschaftliche Zusammenleben gehört zum
Menschsein. Und die Art des Zusammenlebens ist eine Art des
Menschseins. Wie Gesellschaften ihr Zusammenleben regeln, drückt
daher aus, was es für sie heißt, als Menschen zusammen zu leben. Er-
ziehung ist selbst ein Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenle-
bens, eine Weise des sozialen Umgangs von Menschen miteinander.
Hier insbesondere der älteren mit der jüngeren Generation. Und Er-
ziehung fördert die Entwicklung des einzelnen Menschen als Mo-
ment der gesellschaftlichen Entwicklung. Kinder haben nicht nur
eine Zukunft; sie sind auch die Zukunft der Gesellschaft.
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Antipädagogik
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
dass überhaupt der Entwicklung der jungen Menschen Ziele von der
Erwachsenengeneration gesetzt werden, dass der Sinn von Erziehung
durch die Erwachsenen bestimmt wird. Wir würden nur für bessere,
schönere, humanere Ziele plädieren.
Die Absetzung von der nationalsozialistischen Erziehungsidee
kann aber weitergehen. Aus meiner Sicht muss sie weitergehen. Der
Sinn der Entwicklung eines Menschen, so die weitergehende Positi-
on, kann/darf überhaupt nicht, weder im guten noch im schlechten
oder bösen, von außen gesetzt werden. Er muss – und das meine ich
mit der Formulierung: aus eigenem Sinn – im jeweiligen Menschen
selbst gefunden werden. Er selbst, jeder einzelne Mensch selbst, ist
der Sinn, um den es in Erziehung geht. Sein eigenes Menschsein ist
der Sinn, nicht sein Dasein für irgendeinen außerhalb von ihm lie-
genden Sinn: kein geschichtlicher Sinn, kein religiöser Sinn, kein ge-
sellschaftlicher Sinn, kein völkisch-rassischer Sinn, keine Idee, nichts
dergleichen, sofern es nicht Momente seines eigenen Sinns sind.
Dieser Mensch ist einzelner Mensch. Und als solcher kann sein
Sinn niemals in einem Allgemeinen ganz aufgehen. Das Allgemeine,
sei es geschichtlicher, religiöser, idealer Sinn der menschlichen Exi-
stenz muss vielmehr immer den einzelnen Menschen in seiner Ein-
zigkeit mit „berücksichtigen”, und zwar substantiell, nicht bloß als
Bedingung, auf die man sich halt wohl oder übel einlassen muss,
wenn man realistisch ist.
Wenn von Entwicklung aus eigenem Sinn die Rede ist, wird also
ein zentrales Problem der Pädagogik angesprochen, das Problem, wie
sich die Einzigkeit des Individuums zu seiner Allgemeinheit als ge-
sellschaftliches Wesen verhält, kurz formuliert: das Verhältnis von
Einzelnem und Allgemeinem als Verhältnis von Individuum und
Gesellschaft. Denn die Erziehung ist eine soziale Handlung und eine
soziale Funktion; sie hat eine Aufgabe für die Gesellschaft zu erfüllen.
Und zugleich ist ihr aufgetragen, die Entwicklung des einzelnen in
und zu seinem Menschsein zu fördern, also eine Aufgabe für das In-
dividuum wahrzunehmen.
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
nötig, Disziplinierung der Natur des Kindes. Wie aber soll ein
Mensch zu geistiger Freiheit finden, dessen Natur dem Zwang der
Disziplinierung unterworfen wurde? Und was ist mit den Menschen,
deren intellektuelle Voraussetzungen von Natur aus eine Entlassung
in die selbstständigkeit nicht zulassen, die weiterhin unter Betreuung
bleiben müssen? Gilt für sie der Erziehungsbegriff nicht? Oder nur
eingeschränkt?
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Dritte Vorlesung
Erziehung II: Schwarze Pädagogik
Musik:
Johann Sebastian Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 3,
G-Dur (BWV 1048). 1. Satz: Allegro Moderato
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
also im Titel vor. Escher ist der Name eines bildenden Künstlers. Er
ist besonders bekannt geworden durch Lithographien wie „Treppauf,
Treppab“, die paradoxe Verschlingungen zeigen, welche auf beson-
deren Varianten optischer Täuschungen beruhen. Gödel schließlich
ist der Name eines Mathematikers, der bewiesen hat, dass kein for-
males System, also auch kein mathematisches System sich selbst be-
gründen kann.
Jetzt werden viele von Ihnen wahrscheinlich von diesem Buch
noch nichts gehört haben und sich nicht vorstellen können, worum
es dabei gehen soll. Es ist im weitesten Sinne ein Buch über Künstli-
che Intelligenz und über viele Fragen, vor allem logischer Art, die sich
mit diesem Projekt, der Künstlichen Intelligenz, verbinden. Bach war
ein Komponist und Musiker des 18. Jahrhunderts. Das ist lange her.
Die Künstliche Intelligenz ist ein Projekt des ausgehenden 20. Jahr-
hunderts, das ins 21. Jahrhundert reicht. Seine Realisierung steht in
den Sternen. Für Hofstadter jedoch besteht zwischen Bachs Musik
und der Künstlichen Intelligenz ein innerer Zusammenhang. Dieser
Zusammenhang lässt sich mit dem Begriff „Formales System“ be-
zeichnen.
Ein Formales System ist ein rein nach den formalen Regeln der
Logik konstruiertes System. Computerprogramme sind zum Beispiel
Formale Systeme. Künstliche Intelligenz ist als Formales System ge-
dacht. Aber auch die Bachsche Musik lässt sich – wenn man ihre for-
malen Strukturen untersucht – als Konstruktion Formaler Systeme
ansehen. Das gilt zwar in einem gewissen Sinne für alle Musik. Aber
bei Bach lässt sich die Regelhaftigkeit der Musik besonders gut her-
ausarbeiten. Und zugleich entsteht bei Bach aus diesen Regeln eine
Komposition mit so komplexen Strukturen, dass eben – wie ich sagte
– für Menschen wie Hoftstadter zu dem emotionalen Vergnügen,
welches das Hören der Musik auslöst, noch das intellektuelle
Vergnügen tritt, welches die Analyse ihrer formalen Strukturen berei-
tet. Bachs Musik hat etwas Konstruktivistisches.
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Schwarze Pädagogik
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Schwarze Pädagogik
Dieses sind also die zwei vornehmsten Stücke, auf die man im ersten Jahr der
Erziehung sehen muß. Sind nun die Kinder schon über ein Jahr alt, wenn sie also
anfangen etwas zu verstehen und zu sprechen, so muß man auch auf andere Dinge
denken, doch nicht anders als mit der Bedingung, daß der Eigensinn der Hauptvor-
wurf aller Arbeit sei, bis er völlig beseitigt ist.“
(Aus: J. Sulzer, Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder, 1748, Zit.
n. Rutschky, S. 173ff.)
Katharina Rutschky hat die Pädagogik, die hier zum Vorschein
kommt, „Schwarze Pädagogik” genannt. Ich habe Ihnen eine Passage
vorgelesen, die noch harmlos ist. In der Textsammlung befinden sich
pädagogische Anweisungen, die an physische Folter nicht nur gren-
zen und die voller seelischer Grausamkeit sind. Was sich da zeigt, ist
eine ganz, ganz dunkle, ja bösartige Seite der Pädagogik. Eine Seite,
die keineswegs aus der Welt ist, auch wenn sie heute in der pädagogi-
schen Literatur nicht mehr zum Ausdruck kommt. Worum es immer
wieder geht: den eigenen Willen des Kindes und damit seinen Wider-
stand gegen die erzieherischen Absichten der Eltern und Erzieher zu
brechen; es gefügig zu machen. Es ist die Frage, woher das für uns
heute kaum glaublich gute Gewissen dieser offenen Grausamkeit
kommt. Und ob solche Grausamkeit – wenn auch vielleicht in ver-
hüllterer Gestalt – wirklich zu aller Pädagogik dazugehört, wie ja die
Antipädagogik behauptet.
Wogegen richtet sich die pädagogische Grausamkeit? Auf den er-
sten Blick: gegen das Kind; genauer: gegen dessen „Eigensinn”, Un-
gehorsam. Der Kampf gegen den kindlichen Eigensinn wird aller-
dings im Namen des Kindes geführt. Er soll zu seinem Besten sein.
Er ist daher nicht vergleichbar dem Kampf, der auf bloße Unterwer-
fung oder gar Vernichtung des Gegners zielt. Wogegen genau der
Kampf geführt wird, das wird sehr deutlich im folgenden Zitat:
„Die wahre Liebe stammt aus dem Herzen Gottes, dem Quell und Urbild alles Va-
tersinnes (Eph. 3,15), ist durch die Liebe des Erlösers ab- und vorgebildet und wird
durch den Geist Christi in den Menschen erzeugt, genährt, erhalten. Durch diese
von oben stammende Liebe wird die natürliche elterliche Liebe gereinigt, geheiligt,
geklärt und gestärkt. Diese geheiligte Liebe hat vor allem das dem Kinde gesteckte
Ziel, das Gedeihen des inwendigen Menschen, das Geistesleben desselben im Auge,
seine Befreiung von der Macht des Fleisches, seine Erhebung über die Ansprüche des
bloß natürlichen Sinnenlebens, seine innere Unabhängigkeit von der es umfluten-
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
den Welt. Sie ist darum von früh an schon darauf bedacht, daß das Kind lerne, sich
selbst zu verleugnen, zu überwinden und zu beherrschen, daß es nicht blindlings den
Trieben des Fleisches und der Sinnlichkeit folge, sondern dem höheren Willen und
Triebe des Geistes. Diese geheiligte Liebe kann darum auch ebensowohl hart sein als
mild, ebenso versagen als gewähren, jedes zu seiner Zeit, sie versteht auch durch We-
hetun wohlzutun, sie kann auch schwere Verleugnungen auferlegen, wie ein Arzt,
der auch bittere Arzneien verordnet, wie ein Chirurg, der wohl weiß, daß der Schnitt
seines Messers schmerzt, aber er schneidet doch, weil es die Rettung des Lebens gilt.
»Du hauest ihn (den Knaben) mit der Rute; aber du errettest seine Seele von der
Hölle.« In diesem Wort malt Salomo das Hartseinkönnen der wahren Liebe. Es ist
nicht die harte stoische oder einseitig gesetzliche Strenge, die Gefallen an sich selber
hat und lieber den Zögling opfert, als daß sie einmal von ihrer Satzung wiche; nein,
sie läßt ihr herzliches Wohlmeinen bei allem Ernst doch immer wieder in Freund-
lichkeit, Erbarmen, hoffender Geduld, wie die Sonne durch Wolken, hindurch-
leuchten. Sie ist bei aller Festigkeit doch frei und weiß immer, was sie tut und warum
sie es tut.“
(Aus: K. A. Schmid [Hrsg.], Enzyklopädie des gesamten Erziehungs und Unter-
richtswesens, l887, zit. n. Rutschky, S. 25 f.)
Eine Seite im Kind soll bekämpft werden zugunsten der anderen Sei-
te. Das „Fleisch” wird bekämpft zugunsten des Geistes. Natur wird
bekämpft im Namen der Vernunft. Die Natur des Kindes, das
„Fleisch”, erscheint als das feindliche Gegenüber der Erziehung; da-
gegen die Vernunft im Kinde als ihr Bündnispartner.
Etliche Texte in Katharina Rutschkys Sammlung befassen sich
zum Beispiel mit der Frage, wie dem kindlichen Bewegungsdrang be-
gegnet werden, wie die Kinder zum Stillsitzen gebracht werden kön-
nen. Es werden etwa trickreiche Konstruktionen vorgeschlagen,
durch die Kinder mechanisch an ihren Platz in der Schulbank fixiert
werden. Die natürliche Bewegung, der eigene Bewegungsrhythmus
der Kinder soll unterbunden werden, um ihnen stattdessen die Ab-
folgen von Stillsitzen und Sichbewegendürfen aufzunötigen, welche
der Unterrichtsplan vorsieht. Dies alles geschieht im Namen der Päd-
agogik.
An dieser Stelle wird es nun allerdings nötig, über die moralische
Empörung, die uns heute erfasst, wenn wir so etwas lesen oder hören,
hinauszukommen. Denn wir wollen ja verstehen; verstehen, was die
Pädagogik damals in diese Frontstellung zum Kind trieb.
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
von den Grenzen, welche die eigene, innere Natur der Arbeit setzte.
In seinem eigenen leiblichen Vermögen fand der Handwerker die
Naturbedingtheit vor, welche die Möglichkeiten begrenzte, die sich
der Produktivität seiner Arbeit eröffneten. Dennoch konnte sich in
den Städten ein anderes Selbstbewusstsein der Arbeit entwickeln,
weil es hier nicht so sehr die äußere, übermächtige Natur war, welche
die Bedingungen setzte, sondern die eigene, innere Natur, die sich
immerhin durch Lernen, Schulung und Einsicht zu höheren Vermö-
gen formen ließ.
Die Städte waren daher die Orte, an denen sich noch unter feu-
dalen Gesellschaftsbedingungen die Keime einer neuen Produktions-
weise und einer neuen Gesellschaftsform entwickeln konnten. Dies
war ein langer, jahrhundertedauernder Prozess. Im 18. Jahrhundert
jedoch gewann die neue, industrielle Produktionsweise ein solches
Gewicht, dass die feudalen Gesellschaftstrukturen sich als unerträgli-
che Fesselung der wachsenden Produktivkräfte erwiesen. Die land-
wirtschaftliche Produktion verlor relativ an Bedeutung gegenüber
der Güterproduktion des sich entfaltenden industriellen Sektors. Im-
mer mehr Menschen wanderten vom Land ab in die Städte, wo die
Manufakturen und Fabriken ihnen Arbeit gaben. Ein immer größe-
rer Teil des durch menschliche Arbeit produzierten Reichtums be-
stand aus den Waren, welche hier hergestellt wurden.
Technisch emanzipierte sich die Arbeit beziehungsweise Produk-
tion von den einschränkenden Bedingungen der Bindung an die äu-
ßere oder auch innere Natur: erstens durch Emanzipation von der
menschlichen Hand, weitergehend überhaupt von den Beschränkun-
gen, welche die leibliche Beteiligung der Menschen an der Produkti-
on setzte. Menschliche Arbeitskraft wurde von Maschinen zunächst
unterstützt und erweitert, in zunehmendem Maße jedoch auch ver-
drängt. Auch die Naturstoffe und -materialien wurden – durch Ent-
wicklung insbesondere der chemischen Industrie – Schritt für Schritt
ersetzt durch künstlich hergestellte Stoffe und Materialien. Was der
Mensch zu leisten vermochte, war immer weniger abhängig davon,
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Schwarze Pädagogik
was die Natur ihm erlaubte und gab. Es war auch immer weniger ab-
hängig von dem, was seine Hand, was sein Leib zu leisten vermag.
Technischer Fortschritt beruhte auf geistigem Fortschritt. Natur
wurde zur Rohstoffquelle und zur Verfügungsmasse. Kunststoffe tra-
ten an die Stelle von Naturstoffen; die Fabrikhalle an die Stelle des
ländlichen Naturraums; Maschinen an die Stelle der leiblichen
menschlichen Arbeitskraft.
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Schwarze Pädagogik
Und alle sollten frei sein, sich auf selbst bestimmte Weise am gesell-
schaftlichen Leben zu beteiligen. Die Demokratie hob alle Standes-
unterschiede auf, die von einer fiktiven absoluten Macht geschaffen
wurden.
Die zunehmende ökonomische Bedeutung der neuen bürgerli-
chen Klasse gegenüber den alten feudalen Ständen führte daher im
18. Jahrhundert zu tiefgreifen Veränderungen in den gesellschaftli-
chen und politischen Verfassungen der ökonomisch fortgeschritte-
nen Länder. Rechtliche Gleichheit, das heißt Abschaffung der Un-
gleichheit von Geburt (Natur), Freiheit von feudalen Bindungen –
dies waren Forderungen des Bürgertums, die sich letztlich nur durch
eine Revolutionierung der gesellschaftlichen und politischen Verfas-
sung umsetzen ließen. Das herausragende Ereignis dieser Zeit war die
Französische Revolution von 1789; auch wenn es einige Jahrzehnte
dauerte, in Deutschland sogar bis zum Jahr 1918, bis die Demokratie
sich als die der Bürgerlichen Gesellschaft gemäße Staatsform durch-
setzte.
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Bevor ich nun wieder auf die Pädagogik zu sprechen komme, hören
Sie wieder Bach, den 2. und 3. Satz des 3. Brandenburgischen Kon-
zerts, von dem Sie eingangs den ersten Satz hörten. Diesmal alledings
in einer merkwürdigen Variante. Achten Sie auf den Begleittext, den
ich der Plattenhülle entnommen habe.
Musik:
Johann Sebastian Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 3, G-Dur
(BWV 1048). 2. Satz: Adagio (Kadenz). 3. Satz: Allegro.
Walter Carlos am Moog-Synthesizer
Diese Schallplatte ist ein absolutes Novum. Sie ist weder eine „Dreißigzentimeterste-
reoklassiklangspielplatte“ noch eine simple „dufte Popscheibe“. Wer also dem gewal-
tigen Thomaskantor nur in mystischer Klausur und enger Mensur begegnen mag,
als „Wort Gottes“-Ersatz auf Originalinstrumenten, der zucke zurück. – Wer da an-
dererseits glaubt, ein maniriertes, oberflächliches „Dubdadeduuuhh“ Geriesel als
wohltuend entspannende Ohren und Seelenspülung rezeptfrei zu beziehen, auch der
sei gewarnt. Hier wütet kein drummer, zwitschern keine shugarbabies, seufzt kein
melancholisch gestreicheltes Becken. Die Bach-„Titel“ sind genau nach der Origi-
nalPartitur aufgenommen. Wer jedoch aufgeschlossen genug ist, musikalisches Neu-
land zu betreten, mit Bach in neue Klangdimensionen vorzustoßen, wer Experimen-
te nicht scheut und Musik oder fantastische Stereotechnik oder beides zusammen
liebt, den können wir entwarnen. Mehr noch: wir können ihm ein einmaliges Aben-
teuer, eine galaktische Klangraumfahrt anbieten bis an die – bei uns leider so ferne
– Grenze zwischen „E“ und „U“, wo das Ernsthafte unterhaltend wird und umge-
kehrt. Auf denn, folgen wir J. S. Bach auf seinen Abenteuern im Land der Elektro-
nen. It's exciting! It's revolution! It's an exciting revolution! …
Glanzstück der Platte ist unstreitig das Brandenburgische Konzert Nr.3 in G-
dur. Die Bezeichnung der Originalbesetzung lautet: „Tre Violini, tre viole, e tre Vio-
loncelli col Basso per il Cembalo“, also neunstimmiges Streichorchester + Cembalo.
Hierbei wechseln häufig Sologruppen mit dem Tutti ab. Als Überleitung vom 1.
zum 2. Satz schrieb Bach nur eine „phrygische“ Kadenz (2 Akkorde), die dem Cem-
balospieler Gelegenheit zur Improvisation gab. In der Konzertpraxis unterbleibt dies
zumeist, hier aber ziehen Walter Carlos und Benjamin Folkman alle Register ihres
Wunderapparates und bringen eine hinreißende Demonstration seiner wie ihrer Fä-
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Schwarze Pädagogik
higkeiten zuwege: die faszinierende Mischung von „modern sound“ und barockem
Stilgefühl. Der 3. Satz ist ein überschäumender Kehraus – der Genius Bachs und die
Elektronen sprühen nur so. Befreit von der Erdenschwere des großen Orchesters,
ungehemmt von gravitätsbefrachteter Leiblichkeit und sprödem, widerstandsetzen-
dem Material offenbart Bachs Musik bei klarster Linienführung aller Stimmen ein
wesentliches Merkmal, das gerade die Jazz und Unterhaltungsmusik unserer Tage …
an ihr fesselt: „Bach swingt“!
Ich möchte Sie besonders auf eine Textstelle des Begleittextes auf-
merksam machen: „Befreit von der Erdenschwere des großen Orche-
sters, ungehemmt von gravitätsbefrachteter Leiblichkeit und sprö-
dem, widerstandsetzendem Material offenbart Bachs Musik …“
In der herkömmlichen Aufführungspraxis muss sich die Form am
Material verwirklichen. Am Klang von Orchesterinstrumenten hat
das Material Anteil, aus dem sie sind: Holz, Haare, Metall, Därme.
Der Musiker arbeitet sich an diesem Material ab, müht sich, ihm sei-
nen spezifischen Klang zu entlocken, das Instrument zum Singen zu
bringen. Musik ist – ihrer technischen Seite nach betrachtet – noch
weitgehend Handwerk; gebunden an die Möglichkeiten, welche das
Naturmaterial bietet, und an die Fähigkeiten und Begabungen, die in
der Leiblichkeit des Musikers schlummern. Das 18. Jahrhundert ist
das Jahrhundert, in dem das Handwerk von der industriellen Pro-
duktionsweise abgelöst wird; in dem die Produktion sich „befreit von
der Erdenschwere“ der Landarbeit, nicht weiter „gehemmt“ von der
Leiblichkeit der arbeitenden Menschen „und sprödem, widerstand-
setzendem Material“. Maschinen und Kunststoffe treten ihren Sie-
geszug an.
Eine solche Wende vollzieht sich jetzt auch in der Musik. Sound-
und Rhythmus-Maschinen beginnen Ende der 60er Jahre in die Mu-
sik einzudringen; synthetische Klänge verdrängen zunehmend die
Klangwelt der herkömmlichen Musikinstrumente. Sie werden nicht
mehr der Natur entlockt, sondern frei konstruiert. In der Tat: Das ist
in einem gewissen Sinne die Wiederholung des 18. Jahrhunderts auf
dem Gebiete der musikalischen Produktion. Die Form emanzipiert
sich vom Material.
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neswegs nur die Ansprüche der Vernunft. Faktisch ist sie erst einmal
Vollzug eines asymmetrischen Verhältnisses, innerhalb dessen die Er-
ziehenden die Macht haben, ihre Vorstellungen von einer „richtigen“
und „guten“ Entwicklung gegenüber den Erzogenen durchzusetzen.
Die Idee der Erziehung, wie sie in Kants Selbstbegründungszirkel der
Vernunft enthalten ist, dient der Legitimation dieser Asymmetrie,
daher der Legitimation der Macht und – gegebenenfalls – der Ge-
walt, die sich darin manifestiert.
Und damit sind wir wieder bei der Schwarzen Pädagogik. Denn
eben dies ist ihr Kennzeichen: dass sie in ihrer Grausamkeit gegen die
kindliche Natur sich – ganz im Kantischen Sinne – auf die Vernunft
beruft.
„Wir“, die Menschen, sind nur, was wir aus uns machen – das ist
die Botschaft des im 18. Jahrhundert aufsteigenden modernen
bürgerlichen Selbstbewusstseins. Fähigkeit und Legitimation der
Selbstbestimmung liegen im Vermögen der Vernunft. Nur dass die-
ses „Wir” und „uns” in der Erziehung auseinandergelegt sind in:
„Wir Erwachsene, Erzieher” machen aus „uns”, sprich: unseren Kin-
dern, etwas. „Wir” sind die Subjekte der Erziehung. Und die Kinder
sind ihre Objekte.
Weil aber dies der Subjekthaftigkeit des Menschen widerspricht,
muss diese simple SubjektObjektStruktur modifiziert werden. Wir,
die Subjekte der Erziehung, suchen uns in den Objekten, den Kin-
dern, einen Bündnispartner: die Vernunft. Soweit Kinder vernünftig
sind, sind sie Subjekte; und damit unsere Partner bei der Erziehung.
Objekt der Erziehung bleibt dann die Natur im Kinde. So dass das
Erziehungsgeschäft letztlich gar nicht so sehr eine Polarisierung von
Erwachsenen und Kindern intendiert als vielmehr eine Polarisierung
von Vernunft und Natur, die durch das Kind selbst hindurchgeht
und die durch Erziehung herausgeholt und verstärkt wird. Wenn Sie
sich an die Texte der Schwarzen Pädagogik erinnern, werden Sie fest-
stellen, dass genau dies ein geradezu als tückisch erscheinender We-
senszug dieser Pädagogik ist, dass sie in ihrer Grausamkeit gegen das
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Schwarze Pädagogik
Kind dieses zugleich auf die eigene Seite zieht und damit in es selbst
den Zwiespalt bis hin zur Selbstverachtung, zum Selbsthass einsenkt.
„Es ist ganz natürlich, daß die Seele ihren Willen haben will, und wenn man nicht
in den ersten zwei Jahren die Sache richtig gemacht hat, so kommt man hernach
schwerlich zum Ziel. Diese ersten Jahre haben unter andern auch den Vorteil, daß
man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren al-
les, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den
Willen benehmen, so erinnern sie sich hernach niemals mehr, daß sie einen Willen
gehabt haben und die Schärfe, die man wird brauchen müssen, hat auch eben des-
wegen keine schlimmen Folgen.
Man muß also gleich anfangs, sobald die Kinder etwas merken können, ihnen
sowohl durch Worte als durch die Tat zeigen, daß sie sich dem Willen der Eltern un-
terwerfen müssen. Der Gehorsam besteht darin, daß die Kinder 1. gern tun, was ih-
nen befohlen wird, 2. gern unterlassen, was man ihnen verbietet, und 3. mit den Ver-
ordnungen, die man ihrethalben macht, zufrieden sind.“
(Aus: J. Sulzer, Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder, 1748, Zit.
n. Rutschky, S. 173 ff.)
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Durchgängig wird am Verhältnis zur Natur von Heydorn das Moment von
Kampf und Herrschaft hervorgehoben mit der Perspektive, die Naturgeschichte des
Menschen im Akt einer abschließenden Unterwerfung und Verwandlung der Natur,
„der revolutionären Überwindung der Natur durch den Menschen” …, zu beenden:
„Der elementare Kampf des Menschen mit der Natur geht seinem Ende zu” …. Die
Geschichte dieses Kampfes ist die Bildungsgeschichte der Gattung Mensch. Sie ist
unhintergehbar eine der Naturentfremdung. „Naturtrieb und Reflexion”, schreibt
Heydorn in seiner Marx-Interpretation, „sind unter der Bedingung der Entfrem-
dung auseinandergerissen, müssen auch, solange diese anhält, über den Bildungspro-
zeß ihren Widerspruch austragen, einander vermissen, da die Natur nicht zufällt,
sondern erst über die Stadien einer wachsenden Vergewaltigung wiedergewonnen
werden kann.” … „Ein Weg führt über die Verhaftung, über einen Prozeß, mit dem
wir die Ketten lösen, die natürliche Gewalt überwältigen. Erst mit der Vollendung
dieses Prozesses kann der Mensch sein eigener Zweck werden.” … Dies erst, so Hey-
dorn, wäre Mündigkeit: Sie ist „Befreiung des Menschen durch den Sieg über die
Natur”. … Dies ist die Bedingung, daß Natur, „als Dingheit überwunden, ihren Wi-
derspruch aufgibt. Das Verinnerlichte hebt an zu neuer, versöhnender Gestalt” …
Natur ist menschlich geworden, dem Menschen anverwandelt.
(Boenicke 2000, S. 122-124)
Heydorns Bildungstheorie ist von einer nahezu emphatischen Hu-
manität geprägt. Und doch findet sich auch bei ihm diese kompro-
misslose Fronstellung gegen die Natur, auch gegen die innere Natur
des Menschen. Emanzipation ist das Motiv dieses Antinaturalismus:
Emanzipation von den Fesseln, welche die Natur der Entwicklung
der Menschen auferlegt; von schicksalhaftem Verhängnis; von gesell-
schaftlichen Verhältnissen, in denen der Geburtsstand entscheidet
über die Lebens-Chancen.
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass hier auf einen Bildungs-,
nicht auf einen Erziehungstheoretiker Bezug genommen wurde, ob-
wohl es ja um den Erziehungsbegriff geht und der Bildungsbegriff
erst später auf dem Programm steht. Kennzeichnend für den Erzie-
hungsbegriff ist das Moment der Fremdbestimmung; für den Bil-
dungsbegriff hingegen – das nehme ich hier vorweg – das Moment
der Selbstbestimmung.
Nun wird sich trotz dieser eigentlich so deutlich erscheinenden
Unterscheidung schon gezeigt haben: Der pädagogische Erziehungs-
begriff kommt nicht ohne den Bildungsbegriff und das heißt ohne
die Aussichtnahme auf Selbstbestimmung aus. Und an dieser Stelle,
wo es um das Verhältnis der Erziehung zur menschlichen Natur geht,
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Schwarze Pädagogik
wird dies ganz besonders deutlich. Die Erziehung wird einem Bil-
dungsziel unterstellt, dem Ziel der Bildung der Vernunft zur Mün-
digkeit. Erziehung bezieht ihre Legitimation aus der Aussicht auf Bil-
dung.
Vernunft kann nicht erzogen werden; sie kann nur gebildet wer-
den. Aber um sie bilden zu können, muss die Natur des Menschen
diszipliniert, unter Kontrolle gebracht werden. Die Absicht, einen
Menschen durch die Vernunft und nicht durch seine Natur das wer-
den zu lassen, was er sein kann, bringt Erziehung in dieses Oppositi-
onsverhältnis gegen die Natur. Weil Bildung intendiert ist, wird Er-
ziehung gewaltförmig, so ließe sich die zugrundeliegende Paradoxie
ausdrücken. Ich wiederhole an dieser Stelle ein Zitat Heydorns, das
ich schon in der vorigen Vorlesung im Zusammenhang mit der an-
tipädagogischen Frage nach der Gewaltförmigkeit und Notwendig-
keit der Erziehung vorgetragen hatte:
„Erziehung ist das uralte Geschäft des Menschen, Vorbereitung auf das, was die Ge-
sellschaft für ihn bestimmt hat, fensterloser Gang! Mit der Erziehung geht der
Mensch seinen Weg durch das Zuchthaus der Geschichte. Er kann ihm nicht erlas-
sen werden. Im Begriff der Erziehung ist die Zucht schon enthalten, sind Einfügung,
Unterwerfung, Herrschaft des Menschen über den Menschen eingeschlossen, be-
wußtloses Erleiden.” (Heydorn 1970, S. 9)
Erziehung, so verstanden, ist für Heydorn die Bedingung der Mög-
lichkeit von Bildung. Und deshalb, um der Bildung willen, kann sie
dem Menschen nicht erlassen werden.
Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Zusammenhang von Erzie-
hung und Bildung doch immerhin eine überraschende Entdeckung
ist, sind wir es doch in der Pädagogik eher gewöhnt, Bildung als Ent-
wicklung aus Freiheit zu betrachten und Erziehung als deren unfreie
Vorgeschichte. Dass der Zwangs- und Gewaltcharakter von Erzie-
hung aber möglicherweise gerade daher rühren könnte, dass Bildung
ihr folgen und sie begleiten soll, ist nicht unbedingt der naheliegend-
ste Gedanke.
Nun machen Sie sich aber keine Sorgen. Ich bin jetzt keineswegs
umgeschwenkt, um das Hohelied der erzieherischen Gewalt gegen
87
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
die Natur mitzusingen. Noch sind wir unterwegs im Thema; und der
Ausgang sollte vorläufig noch offen sein – jedenfalls für Sie. Das letz-
te Wort ist keinesfalls gefallen. Ganz kurz möchte ich Sie jetzt vorbe-
reiten auf das, was in der nächsten Vorlesung folgt.
Die Schwarze Pädagogik hat sich gegen den „Eigensinn” der
menschlichen Natur gewandt. Dies geschah im Namen der Ver-
nunft. So auch begründeten sich Kants Propagierung der Disziplin
gegen die „Rohigkeit“ und „Wildheit“ des unerzogenen Kindes, He-
gels Abwehr des Eigensinns und Heydorns Misstrauen gegen jede
Pädagogik, die sich auf die Natur des Kindes beruft.
Wenn ich Ihnen nun sage, dass ich im Jahre 1988 eine Habilita-
tionsschrift eingereicht habe, die den Titel trug: „Der Eigensinn des
Lernens”. Untertitel: „Die Dialektik der menschlichen Natur und ihr
Bildungsschicksal in Familie, Schule, Arbeit und Staat”, dann wer-
den Sie sich darauf sicher den zutreffenden Reim machen können,
dass ich gegen die bisher referierten Positionen gerade auf einem „Ei-
gensinn” der menschlichen Natur beharre, der im Namen der Bil-
dung nicht etwa „auszureuten” wäre, wie Hegel verlangte, sondern
den es in Bildung zu entfalten gälte.
Über diesen „Eigensinn” der menschlichen Natur soll in der
nächsten Vorlesung etwas gesagt werden.
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Vierte Vorlesung
Leiblichkeit und Vernunft
4.1 Rhythmus
4.2 Mutter Natur?
4.3 Selbstsein der Natur (Böhme)
4.4 Natalität (Arendt)
Musik:
Guem et Zaka – L‘Abeille (1978).
Vom Album „Guem et Zaka“ (1978)
4.1 Rhythmus
Was uns in der Musik wohl am unmittelbarsten ergreift, ist der
Rhythmus. Tanzen und Trommeln stehen am Anfang der Musik.
Der Rhythmus ergreift uns, indem er unseren Leib ergreift. Er setzt
sozusagen, ohne dass wir etwas dazutun, unseren Leib in Bewegung.
Läßt ihn sich mitbewegen, sich ihm hingeben, mit ihm in der Bewe-
gung verschmelzen. Indem der Rhythmus einer Musik unseren Leib
ergreift, ohne irgendeinen Umweg über unser Herz und unseren Ver-
stand, ergreift er uns da, wo wir am meisten Natur sind. Rhythmus
ist die Bewegung der Natur, in die wir leiblich hineingehören. In der
Bewegung der Natur, könnte man daraus folgern, liegen die
Ursprünge unserer Musik.
Von welcher Natur spreche ich aber, wenn ich über den Rhyth-
mus ihrer Bewegung spreche?
Rhythmen finden wir in der Natur vor. Der Tag-Nacht-Rhyth-
mus; der Rhythmus der Jahreszeiten. Es gibt auch die Melodie des
89
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Windes, die Melodie eines Baches. Das ist die Musik der Natur, die
außer uns ist; eine Musik, die sich uns mitteilt (wir machen sie nicht)
und doch erst in unserer Wahrnehmung zur Musik wird; Musik der
Natur, die wir aufnehmen, gestalten – und so zu einem kulturellen
Phänomen werden lassen.
Was erfahren wir, wenn wir von einem Rhythmus erfasst werden?
Wir erfahren eine Resonanz. Wie der Gitarrenkörper in Resonanz ge-
rät, wenn eine Saite angeschlagen wird, so gerät unser Leib in Reso-
nanz, wenn er einen Rhythmus wahrnimmt. In ihm, im menschli-
chen Leib, schläft sozusagen der Rhythmus, der erweckt wird, wenn
die Trommel geschlagen wird. Nicht nur die Natur außer uns birgt
Musik. Ebenso, ja mehr noch ist es unsere innere Natur, der mensch-
liche Leib, dem Rhythmus innewohnt. Viele unserer ursprünglichen
und fundamentalen Lebensäußerungen und Bewegungen sind ganz
natürlich rhythmisch: der Herzschlag, der Atem, Laufen, Schwim-
men …
Erwacht dieser Rhythmus in einem Menschen zur Musik, dann
kann er sich seiner Umgebung mitteilen, zum Beispiel im Tanz oder
im Trommeln und meist in beidem zusammen. Denn der Tanz folgt
der Trommel; und auf der Trommel tanzen die Hände. Der Tanz der
Hände auf der Trommel setzt den Leib des anderen, des tanzenden
Menschen, in Bewegung. So vermitteln sich die Bewegungen, die
Rhythmen zweier Menschen; eine Vermittlung, die sicher keine päd-
agogische ist (außer im Tanzunterricht); und sehr nahe an der Natur.
Ich zitiere aus einem Buch von Jean-Martin Büttner. Titel: „Sän-
ger, Songs und triebhafte Rede. Rock als Erzählweise“. Er schreibt:
„Messungen in Discotheken haben ergeben, daß die häufigsten Rhythmen auf der
Tanzfläche dem menschlichen Puls entsprachen; Tanz den Herzschlag. Thomas
Verney … referiert die These, ‚daß die Urerinnerung an den mütterlichen Herz-
schlag auch viele unserer musikalischen Neigungen erklärt. Alle bekannten Trom-
melrhythmen […] entsprechen einem von zwei Grundmustern, entweder dem
schnellen Trappeln von Tierhufen oder dem gemessenen Schlag des menschlichen
Herzens […] In der ganzen Welt [überwiegt] der Herzschlag-Rhythmus, sogar bei
den noch heute existierenden Jägervölkern.‘“ (Büttner 1997, S. 399)
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Leiblichkeit und Vernunft
Das Wort Rhythmus stammt aus dem Altgriechischen und hieß dort
soviel wie Bewegung, Fluss, Fließen; aber auch die Begrenzung der
Bewegung, ihre Teilung in gleiche Stücke; der Takt. Dieses Wort
wiederum ist lateinisch (tactus) und heißt Schlag. Der Schlag auf die
Trommel initiiert Bewegung, indem er sie teilt. Rhythmus ist ja nicht
das gleichförmige Mitfließen in einer Bewegung, sondern enthält die
Beendigung und Wiederaufnahme der Bewegung, die Unterbre-
chung und die Wiederholung. Und wenn man nun diesen Aspekt des
Rhythmus‘, den Takt, betrachtet, dann fällt etwas auf: Es kommt
Metrik ins Spiel. Der Takt eines Rhythmus‘ lässt sich nur in Zeitma-
ßen und Zählfolgen erfassen. Ausgerechnet da, wo wir unserer inne-
ren Natur am nächsten zu sein scheinen, taucht das Zeitmaß, die
Zahl und mit ihr die Mathematik auf, das heißt jene Disziplin, auf
der alle Naturwissenschaft und Technik beruhen. (Das gilt selbstver-
ständlich ebenso für Harmonie, Melodik undsoweiter; ich möchte
aber hier beim Rhythmus bleiben.)
Ich werde auf diese erstaunliche Nähe von Natur und Technik in
einer späteren Vorlesung noch einmal zurückkommen. An dieser
Stelle möchte ich nur aussprechen, was sich hier andeutet: dass die
Natur der Menschen nicht etwas der Technik ganz Fernes ist, son-
dern sich im Gegenteil eine Nähe zeigt, welche uns nötigt, über Na-
tur möglicherweise ganz anders zu denken, als viele von uns meinen,
wenn sie größte Naturnähe in größter Technikferne vermuten.
Meine These ist: Unsere innere Natur (und damit meine ich un-
sere Leiblichkeit) befindet sich in einem Resonanzverhältnis zur äu-
ßeren Natur. Musikalische Rhythmik ist ein direkt erfahrbares Bei-
spiel dafür.
Mit dem Musikstück zu Beginn der heutigen Vorlesung wollte
ich also zunächst bei Ihnen selbst eine leibliche Erfahrung auslösen,
welche sehr nahe an unsere innere Natur geht. Das war gedacht als
eine Heranführung an unser heutiges Thema: Leiblichkeit und Ver-
nunft.
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
hältnis zur Natur aus; eher durch ein sehr energisch zupackendes. Da
wird der Natur mit immer gewaltigeren Apparaturen zu Leibe ge-
rückt. Und längst herrscht ja wissenschaftliche Übereinstimmung,
dass die naturwissenschaftliche Beobachtung der Natur diese keines-
wegs unangetastet lässt. Eine Spur des beobachtenden Eingriffs steckt
noch im Ergebnis der Beobachtung.
Die technische Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse
hat uns nun die Ökologieproblematik eingehandelt. Darin steckt ein
wichtiger Hinweis: Es gibt eine Differenz zwischen der „Natur“ der
Naturwissenschaften und der Natur, die ökologisch zum Problem
wird. In der Ökologie-Diskussion wird in anderer Weise von Natur
gesprochen als in den Naturwissenschaften. Es ist die Rede von Na-
turzerstörung, von einer Entfremdung von der Natur, von wachsen-
der Naturferne (zu der gerade die Naturwissenschaften ja Erhebliches
beitragen). Ich möchte diese Rede von der Naturzerstörung aufgrei-
fen.
Was wird zerstört?
Sicher nicht die Natur, von der die Naturwissenschaften reden.
Die Natur der Naturwissenschaften kann gar nicht zerstört werden.
Noch die schlimmste Umweltkatastrophe oder die atomare Spren-
gung unseres Planeten wäre Bestätigung von Naturgesetzen. Sofern
Natur sich in solchen Gesetzen hinreichend fassen ließe, wäre sie un-
zerstörbar. Zerstört werden kann nur etwas, das einen wesentlichen
inneren Aufbau, einen inneren Zusammenhang hat.
Natur wird also in der Ökologie-Debatte als Zusammenhang ge-
sehen; als ein Zusammenhang, den wir für erhaltenswert ansehen,
weil er für uns etwas Wertvolles oder Sinnvolles darstellt; und zwar
etwas äußerst Sinnvolles: die menschliche Existenz einschließend,
nicht ausschließend.
Damit rücken wir selbst, als Menschen, als Gattung, als handeln-
de Wesen in diesen Zusammenhang ein. Wenn wir von Natur spre-
chen, dann sprechen wir also nicht über dieses und jenes Stück Na-
tur; dann sprechen wir nicht nur von der Natur da draußen. Oder
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
94
Leiblichkeit und Vernunft
Damit habe ich in Anspielung auf das Leitmotiv, das ich für diese
Vorlesung gewählt habe, in Anspielung an die Geburt eine Metapher
aufgegriffen, die im Reden von der Natur, wo sie als etwas zu Bewah-
rendes beschworen wird, häufig benutzt wird: die Metapher von der
„Mutter Natur“. In ihr wirkt ein „Bild von der Natur als der ernäh-
renden Mutter, dem Organismus, in den man hineinverwoben ist“
(Böhme/Böhme 1985, 34), wirken Vorstellungen von Mutterschaft,
Geburt und Kindheit, welche unseren Naturverlust als eine Art Mut-
terverlust erscheinen lassen.
Übrigens steckt die Metapher schon in den Worten selbst. Natur
stammt vom lateinischen Wort für Gebären (nasci) ab; und das Wort
Materie vom lateinischen Wort für Mutter (mater) bzw. Gebärmut-
ter (matrix). Verfolgen wir also ein wenig die Auslegungen des
Mensch-Natur-Verhältnisses, die mit dieser Metaphorik verbunden
sind.
Dass die menschliche Gattung eine Hervorbringung der Natur in
ihrem Evolutionsprozess ist, ist eine aus moderner Sicht triviale Fest-
stellung. Diese „Geburt“ der Gattung begründet allerdings noch kein
Verhältnis. Ein Verhältnis setzt Getrenntsein voraus. Alle Gattungen
sind Hervorbringungen der Natur; aber für keine andere von ihnen
bedeutet dies den Eintritt in ein Verhältnis zur Natur. Sie alle bleiben
Natur, ungetrennt von dieser.
Das Auftreten der menschlichen Gattung dagegen ist ausgezeich-
net durch die Konstitution eines Verhältnisses der Gattung zu dem,
woraus sie ist, zur Natur. Die Metapher der Geburt stimmt, soweit
sie eine Trennung unterstellt. Sie wird fragwürdig, soweit sie ihre
Vorstellungsbilder aus dem menschlichen Sozialleben nimmt. Natur
ist keine Mutter im sozialen Sinne. Wollte man diese Metapher auf
sie anwenden, so wäre über sie zu sagen, dass sie eine Mutter ist, die
von ihrer Mutterschaft nichts weiß, die gegen ihr Kind daher von ab-
soluter Gleichgültigkeit ist.
Natur ist da, aber nicht für ihr Kind. Ihr Kind nährt sich von ihr,
aber sie nährt nicht ihr Kind. Ihr Kind existiert für sie nicht als eige-
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
nes Wesen, um das sie sich zu sorgen hat. Diese Mutter sorgt sich um
gar nichts. Sie ist wie eine Mutter, die nichts weiß von ihrem Kind,
das neben ihr ruht, und es durch eine einzige unwillkürliche Körper-
drehung erdrücken könnte, ohne es zu bemerken.
Mutter Natur hat geworfen, aber nicht entworfen. Die Entbin-
dung des Kindes von der Mutter war daher alles andere als eine na-
türliche Geburt. Dieses Kind hat sich selbst entbunden. Die Geburt
der Menschheit fand statt, als diese begann, sich selbst zu entdecken,
sich als von der (übrigen) Natur getrennte Einheit zu begreifen, sie
sich außerhalb des Paradieses wiederfand, wo sie verurteilt war, selbst
für sich zu sorgen, das heißt zu arbeiten. Erst diese „zweite Geburt“
der menschlichen Gattung aus der Arbeit an ihren eigenen Lebensbe-
dingungen ließ auch die „erste Geburt“, die Geburt aus Natur, zur
„Geburt“ werden (Böhme/Böhme 1985, 146).
„Indem … die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anderes ist als die Erzeugung
des Menschen durch die menschliche Arbeit, also das Werden der Natur für den
Menschen, so hat er [der Mensch] also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis
von seiner Geburt durch sich selbst“. (Marx 1844, 546)
Weder liebt Mutter Natur ihr Kind, noch hasst sie es. Sie hat gar
kein Verhältnis zu ihm, denn sie „weiß“ von keinem Kind. Jedes
Kind aber braucht eine Mutter, die es liebt, die es versorgt, beschützt,
sich seiner Entwicklung annimmt. Es braucht diese Mutter um so
mehr, je geringer seine eigene Macht ist. Es nimmt sich von ihr, was
es bekommen kann, und liebt sie dafür. Es entsteht die Projektion
der guten Mutter Natur, die nährt, kleidet, behaust. Und mehr als
das: die Projektion einer guten Mutter Natur, welche sogar die selbst-
ständigkeit ihres Kindes, „die Ablösung des Kindes zu einem Selbst-
bewusstsein an und für sich, jenseits der Symbiose, selbst will.“ (Böh-
me/Böhme 1985, 143) In dieser Vorstellung verliert „Natur … nie-
mals ihren Charakter, freundliche nutritive Umgebung unseres um
Abgrenzung kämpfenden Einzelorganismus zu sein. Grundlegend
steht dieses Urvertrauen hinter aller philosophischen Teleologie der
Natur“ (Böhme/Böhme 1985, 158), das heißt hinter allen Vorstel-
lungen, die daran glauben, dass in der Natur selbst eine der Mensch-
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Leiblichkeit und Vernunft
heit wohlgesonnene Kraft wirke, für welche diese Gattung die Krone
der Schöpfung sei.
„Daß Natur die ‚Intention‘ zugerechnet wird, den Menschen zu selbstbewußtem
Dasein sich entwickeln lassen zu wollen …, ist Reflex einer personalistisch stilisierten
Urverbundenheit der Mutternatur mit den Wegen ihres Kindes: Mensch.“ (Böhme/
Böhme 1985, 158)
Aber Mutter Natur bleibt tatsächlich gleichgültig. Sie gibt und
nimmt, sie bewahrt und vernichtet. Mal erscheint sie als gut, mal als
böse und mal als indifferent, ja abgewandt. All dies sind Projektionen
aus der kindlichen Abhängigkeit. Es sind Projektionen einer huma-
nen Idee in die Natur. Mutter Natur kann halt auch sehr böse sein.
Und dann gilt es, sie wieder gut zu machen. Arbeit ist die Wiedergut-
machung einer Natur, die aus sich allein nicht gut genug ist für dieses
Kind. In der geschichtlichen Entwicklung der Arbeit als „zweiter Ge-
burt“ wird die Absetzung von ursprünglicher Natur zur Praxis der
Emanzipation von den Launen, zur Lösung vom „Gängelband“ der
„Mutter Natur“ (Marx). Naturwissenschaften und Technik verschär-
fen dieses Motiv einer Abwendung von der nicht hinreichend guten
Mutter Natur. Es ist nun die Arbeit der Vernunft, welche das
menschliche Dasein von den Fesseln der Natur befreit und so als Ge-
burtshelfer der Gattung zum Werden ihrer selbst verhilft. Wie hatte
Kant gesagt: Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erzie-
hung. Und er kann nur erzogen werden von Menschen.
Unser Verhältnis zur Natur ist also von einer grundlegenden Am-
bivalenz durchzogen. Wir sind Wesen aus Natur, Geschöpfe der Na-
tur. Und alles, was gut für uns ist, misst sich an unserer leiblichen
Zugehörigkeit zu einer Welt, in die wir hineingeboren sind. Aber die-
se Welt ist nicht gut genug für uns (oder wir sind nicht gut genug für
sie): Sie ist nicht das Paradies (und war es auch nie). Natur ist auch
bedrohlich, unheimlich, überwältigend. In ihrem Schoße sind wir
keineswegs geborgen. Wir müssen uns mithilfe unserer Vernunft von
ihr emanzipieren und dürfen doch unsere Bindung an sie nicht ver-
gessen – wie die Ökologieproblematik zeigt.
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Die Frage ist: Wie können wir uns vernünftigerweise von der
nicht hinreichend guten Natur emanzipieren, ohne unsere Natür-
lichkeit zu negieren? Gibt uns vielleicht die Natur eine Idee ihrer
selbst, welche von der Vernunft aufgenommen und in menschliche
Praxis umgesetzt werden kann? Dann wäre die Emanzipation von der
Natur zugleich eine Emanzipation zur Natur.
Musik:
Guem et Zaka: Afrique Tango (1978).
Vom Album „Guem et Zaka“ (1978)
Wir sehen die Welt an und sehen, dass sie sich uns zeigt. Dass wir uns
der Welt zuwenden können, ist auch darin begründet, dass die Welt
uns zugewandt ist. Leiblichkeit ist eine Resonanzerfahrung. Wir wer-
den durch die Welt in „Schwingung” versetzt, und die Welt wird es
durch uns.
Karl Marx sprach, als er seinen Materialismus begründete, davon,
dass der „erste zu konstatierende Tatbestand … die körperliche Or-
ganisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis
zur übrigen Natur“ sei (Marx 1846, 20f.). Er sprach also von einem
Verhältnis der inneren, physischen zur äußeren Natur. Darin ist Be-
dürftigkeit und Kraft angelegt: Angewiesenheit auf eine der inneren
zuträgliche Qualität der äußeren Natur und Fähigkeit, sich zur Be-
schaffung und Aneignung des Benötigten in der äußeren Natur zu-
rechtzufinden. Die innere, physische Natur enthält also in der Be-
dürftigkeit der „körperlichen Organisation” einen Anspruch an die
äußere Natur, aber auch an ihre eigene andere Seite, an ihr Potenzial
an Fähigkeiten und Kräften, diesem Anspruch im Stoffwechselpro-
zess mit der äußeren Natur Geltung zu verschaffen. Eine solche An-
spruchshaltung ist nur der menschlichen Gattung zu eigen; denn nur
sie vermag durch ihr geistiges Vermögen die äußere Natur am Maß
ihrer inneren Natur zu messen und die verborgene Potenzialität der
Natur im Horizont ihrer eigenen Potenziale an Fähigkeiten und
Kräften zu erschließen.
Innere Natur, die menschliche Physis oder Leiblichkeit, ist somit
keinesfalls lediglich der biologische oder physikalische Körper. Der
Leib ist das Zentrum einer von ihm entworfenen idealen Struktur.
Diese ideale Struktur ist jene Natur des Menschen, wie sie in den
Paradiessehnsüchten, den Träumen vom goldenen Zeitalter, auch in
ökologischen Utopien einer herzustellenden Harmonie und Partner-
schaft von Mensch und Natur, des vollkommen Heimatlichwerdens
und Zuhauseseins des Naturwesens Mensch in einer humanen Natur
sich ausdrückt. Sie ist nicht bloße Bedürftigkeit, bloßes Getrieben-
sein des Inneren auf das Außen, des biologisch-physikalischen Kör-
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
hier gemeinte Idee, die der Leib von der Natur in sich trägt, ist das
implizite Maß, das der Leib in der Organisation seiner Weltbezüge
anlegt. Mein Leib, sagt Merleau-Ponty, ist „wie ein natürliches Sub-
jekt, wie ein vorläufiger Entwurf meines Seins im ganzen” (Merleau-
Ponty 1966, 234).
Man könnte daher von einer intentionalen Paradiessehnsucht des
Leibes sprechen. Sie wirkt eine Struktur der Natur, in der wir uns im-
mer schon bewegen und bewegt haben, indem wir uns dessen be-
wusst werden, dass wir es tun. Alle Dinge der Natur erscheinen uns
von vornherein in diesen Zusammenhängen. Die wahrgenommene
Welt ist so wie ein Spiegel unseres Leibes. Unsere Wahrnehmungen
nehmen als wahr an, was unser Leib als wahr zu nehmen uns be-
stimmt, und verkünden uns im Wohlbefinden oder im Schmerz das
Urteil, das er über die Natur jeweils fällt, gemessen am impliziten
Maß der idealen Struktur: Die Natur ist oder sie ist nicht, was sie –
aus Perspektive des Leibes – sein soll und das heißt wie die Natur im
Menschen sich will.
Und noch einmal ist zu betonen, weil es gerade für die Pädagogik
so wichtig ist: Dieses Sich-Wollen der Natur ist sozial konstituiert,
nämlich durch das Wollen des anderen Menschen. Wie ich die Welt
außer mir wahrnehme, das sind Variationen und Modifikationen
dessen, was ich sah, als ich zum ersten Mal der Welt ins Antlitz blick-
te: damals sah ich den auf mir ruhenden Blick des anderen Men-
schen, der mich „hielt” (Winnicott 1990, 30) in der Anfangszeit mei-
nes Lebens. Ich sah diesem Menschen ins Auge, ins Gesicht. Und
damit sah ich auch, was dieser Blick erblickte: nämlich mich, meine
leibliche Gegenwärtigkeit im Arm oder auf dem Schoß dieses Men-
schen. Einen Blick, in dem sich, wenn er nicht gleichgültig ins Leere
sah, sondern wirklich mich in meiner Gegenwart wahrzunehmen be-
reit und fähig war, zugleich meine Herkunft und meine Zukunft,
meine ganze Lebensgeschichte zusammenfasste, wie sie gewollt, emp-
fangen und getragen wurde von diesem Menschen, durch den – wie
immer verwandelt – die Gemeinschaft aller Menschen mich auf-
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Leiblichkeit und Vernunft
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Leiblichkeit und Vernunft
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Leiblichkeit und Vernunft
– ein initium setzen – steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tä-
tigkeiten, was nichts anderes besagt, als daß diese Tätigkeiten eben von Wesen geübt
werden, die durch Geburt zur Welt gekommen sind und unter der Bedingung der
Natalität stehen.“ (Arendt 1981, S. 15f.)
Hinzuzufügen ist: Geburt darf hierbei nicht als ein rein biologischer
Vorgang gesehen werden. Geburt ist die Aufnahme der menschli-
chen Natur in einem einzelnen Menschenwesen durch die Gesell-
schaft. In diesem Sinne muss Geburt wirklich stattgefunden haben,
damit diese Kraft des Neuanfangens überhaupt in der Welt bleibt
und dort ihre Wirksamkeit entfalten kann. Wir nennen sie meist
Produktivität oder Kreativität, und sie enthält ein unvorhersehbares
Moment der Spontaneität. Worauf Hannah Arendt hingewiesen hat,
ist, dass diese Kraft etwas mit der Geburt zu tun hat, dass sie Aus-
druck von Natalität ist.
Es geht also nicht um den einmaligen Geburtsvorgang, wenn-
gleich dieser eine besondere fundamentale Bedeutung hat. „Geburt”
findet vielmehr darüber hinaus immer wieder statt. In jedem sponta-
nen schöpferischen Impuls bricht Natur ein und äußert sich Natali-
tät; und immer wieder ist eine Resonanz auf seiten der Gesellschaft
gefordert, damit dieser jeweilige Geburtsakt auch wirklich stattfinden
kann. Diese Resonanz ist Erziehung.
Wie steht es also mit dem Verhältnis von Leiblichkeit und Vernunft?
Ich hatte in der ersten Vorlesung die Unterscheidung gemacht
zwischen Verstand und Vernunft und gesagt, dass zur Vernunft eine
Bezugnahme auf etwas kommen muss, was über die immanenten
Maßstäbe des Verstandes, welche sich in formalen, logischen Bestim-
mungen erschöpfen, hinausgeht. Dieses Hinzukommende ist – so
meine These – jene Idee einer Natur, welche dem menschlichen Lei-
be inhärent ist. Diese Idee kommt mit der Leiblichkeit aus der Natur
und weist insofern zurück auf etwas, das der Bestimmungskraft der
Ratio vorausgeht. Diese Idee weist aber auch über die Natur, wie sie
von sich aus ist, ohne menschliches Zutun, hinaus. Indem die Ver-
nunft sie aufgreift, bindet sie sich in einer Weise zurück an die Na-
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Fünfte Vorlesung
Einzigkeit und Sozialität
Musik:
Wolfgang Amadeus Mozart – Sinfonie Nr. 40 gmoll, KV 550
(1788). 1. Satz: Molto Allegro
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Dann können wir uns wieder dieser unserer Welt der Gewöhn-
lichkeit und Normalität zuwenden; und dort gibt es keinen Mozart
oder sonst irgendein Genie. Dort gibt es nur die Normal-Sterblichen,
wie man so schön sagt, Menschen wie Dich und mich; Menschen,
die man einordnen kann, die man verstehen kann, die erklärbar sind,
die in die Ordnung passen, der auch wir zugehören.
Das Fatale ist, nach Baudrillard: Man sieht es dem Genie nicht
an. Es sieht irgendwie aus wie jedermann. Es besteht Verwechslungs-
gefahr. Wenn Mozart aussieht wie irgendein Trottel von nebenan,
wenn er sich verhält wie ein nervtötender Spätpubertant, dann könn-
te ja auch im Trottel von nebenan etwas schlummern, wovon uns
nichts ahnt, dann könnte ja auch jede andere Nervensäge möglicher-
weise das Ausnahmerecht der Exzentrizität für sich geltend machen.
Wir könnten uns der gesellschaftlichen Normalität nicht mehr sicher
sein. Überall lauerte die Un-Normalität hinter der Fassade der Nor-
malität. „Gott macht sich über uns lustig, das ist unerträglich. Man
muß Mozart zerstören.“ Entweder gehört er ganz in den Olymp.
Oder er gehört ganz zu uns. Es kann nicht sein, dass das Genie einer
von uns ist. Denn das stellte unsere Gewöhnlichkeit in Frage. Sie
wäre plötzlich ein Problem. Eine Art Makel: Was ist denn aus unserer
eigenen Genialität geworden? Wo ist das Genie geblieben, das wir
hätten werden können?
Nein, es muss für uns wohl so sein: Das Genie ist die Ausnahme,
welche die Regel bestätigt. Es ist „Außenseiter“; denn es steht außer-
halb des Rahmens gesellschaftlicher Normalität. Wir sind diesseits
dieses Rahmens. Das Genie ist „außenseits“.
Immerhin, indem wir es anerkennen, indem wir es sogar bewun-
dern, anhimmeln, geben wir etwas zu. Wir geben zu, dass es ein Le-
ben geben könnte, das „außenseits“ ist, dass das Diesseitige des Nor-
mal-Sterblichen-Lebens nicht alles ist. Leider nur ist uns, die wir uns
diesseits aufhalten, diese „Außenseite“ der menschlichen Existenz
verwehrt. Dort zu sein, ist eine singuläre Gnade, die nur wenigen,
vereinzelten gewährt wird. Und vielleicht ist es ja auch irgendwie be-
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Einzigkeit und Sozialität
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Einzigkeit und Sozialität
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
lässtder das Ganze der Erziehung abzudecken vermag, sondern als ein
Begriff, der einen bestimmten Aspekt von Erziehung hervorhebt.)
Gehe ich nun von der anderen Seite an die Frage heran, dann ist
das Individuum und seine Einzigkeit der Ausgangspunkt. Erkenne
ich die Einzigkeit eines Menschen an, dann erkenne ich auch an, dass
dieser Mensch sich nicht fügen kann und lässt in den Ordnungszu-
sammenhang einer Gesellschaft. Nehme ich seine Individualität
kompromisslos ernst, dann gerate ich augenscheinlich in einen Ge-
gensatz zur Gesellschaft, zur Allgemeinheit. Das Genie lässt sich
nicht sozialisieren. Aus lauter Außenseitern lässt sich keine Gesell-
schaft formen. Die radikale Betonung der Einzigkeit führt zum An-
archismus. (Das Hauptwerk eines frühen Theoretikers der Anarchie,
Max Stirners, trägt den Titel „Der Einzige und sein Eigentum“.)
In der Theorie mag es möglich sein, sich für die eine oder die an-
dere dieser beiden radikalen Positionen zu entscheiden. In der Praxis
allerdings wird immer eine Art Mittelweg eingeschlagen: Es werden
Kompromisse geschlossen zwischen den Ansprüchen des Individu-
ums auf der einen Seite und denen der Gesellschaft auf der anderen
Seite. Das Individuum nimmt sich zurück und passt sich wenigstens
ein Stück weit an. Und auch die Gesellschaft nimmt sich zurück und
lässt der Individualität mehr oder weniger großen Raum.
Allerdings ist so das darin steckende Problem nicht wirklich ge-
löst. Denn damit werden ja zwei Welten postuliert: Die soziale Welt
der Ordnung und Funktionalität; und die persönliche, individuelle
Welt der Einzigkeit. Mal bewege ich mich in der einen Welt; mal in
der anderen. Ich schlüpfe sozusagen abwechselnd in zwei Häute. Bin
ich wirklich ganz ich, dann stehe ich in keiner Beziehung mehr zur
Gesellschaft und ihrer Ordnung; erfülle ich meine gesellschaftlichen
Aufgaben, dann bin ich nicht mehr wirklich ich.
Ist dies so? Entspricht dieses Entweder-Oder – entweder Indivi-
dualität oder Sozialität – unserer eigenen Empfindung?
Zu einem Teil, denke ich, ja. Wir alle werden wohl immer wieder
die Erfahrung machen, dass wir um des gesellschaftlichen Funktio-
114
Einzigkeit und Sozialität
nierens willen etwas tun, in eine Rolle schlüpfen, worin wir nicht
wirklich bei uns selbst sind. Und auch, dass es Situationen gibt, in de-
nen wir so mit uns selbst beschäftigt sind, dass wir völlig vergessen
können, dass es noch so etwas wie eine Gesellschaft um uns herum
gibt.
Aber ich vermute doch, dass ich nicht nur für mich spreche, wenn
ich sage, dass es auch das andere gibt: die Erfahrung, dass ich eine ge-
sellschaftliche Aufgabe oder Funktion wahrnehme, ohne mich selbst
aufgeben zu müssen; ja dass mich genau dies sogar so erfüllen kann,
dass ich gerade darin meine ganz persönliche Bestimmung entdecke.
Insofern wir das Wort „Beruf“ ganz ernst nehmen, also das darin
steckende Wort „Berufung“, wird in ihm genau dies ausgedrückt: die
Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Aufgabe um meiner selbst
willen.
Demnach gäbe es nicht die Ausschließlichkeit des Entweder-
Oder, des mal das eine, mal das andere. Sondern es gäbe die Möglich-
keit des Zusammenkommens von Individualität und Sozialität.
Solange wir aber nicht begreifen können, inwieweit dies Zusam-
menkommen möglich sein soll, wie von der Gesellschaft ein Weg zur
Individualität führt und umgekehrt vom Individuum ein Weg zur
Sozialität, könnte das, was wir annehmen, ja auch eine Selbsttäu-
schung sein, die uns lediglich den Schmerz der Unvereinbarkeit von
Individuum und Gesellschaft zu lindern oder zu betäuben helfen soll.
(Vertreter der radikalen Positionen, der rein gesellschaftlich-funktio-
nalen beziehungsweise der anarchistischen, würden die Annahme ei-
ner Vereinbarkeit sicherlich als Täuschung abtun.)
Wie also ist das, was wir doch für unsere Lebenspraxis meist an-
nehmen, erklärlich? Wie können wir es theoretisch fassen?
Meine These ist: Wenn wir so ansetzen, wie ich es vorhin getan
habe, nämlich entweder vom Individuum als erster Annahme ausge-
hen oder von der Gesellschaft, dann müssen wir unterstellen, dass es
eine entweder von außen (durch Gott) gestiftete innere Übereinstim-
115
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
mung von Individuum und Gesellschaft gibt; oder dass diese Über-
einstimmung einfach zufällig gegeben ist.
Denn denken wir einmal darüber nach:
Ausgangspunkt sei die Existenz einer gesellschaftlichen Ordnung.
Diese Ordnung müsste irgendwie in der Welt sein, ganz unabhängig
von den einzelnen menschlichen Wesen, die nach und nach geboren
werden. Wie kann sich die Gesellschaft in diesen Menschen jeweils
fortsetzen? Doch nur dann, wenn sie so beschaffen ist, dass die jeweils
geborenen Menschen (zufällig?) in sie hineinpassen. Und alle, die
nicht hineinpassen, ausgeschlossen werden. Was aber, wenn niemand
mehr in diese Ordnung hineinpasste? Was würde dann aus ihr?
Gehen wir von der anderen Seite heran. Prämisse sei die Existenz
der Individuen, vor jeder gesellschaftlichen Ordnung und Verbin-
dung miteinander. Wie kämen diese Individuen zu einander und zu
einem gemeinsamen Leben? Doch nur, wenn sie jeweils in sich be-
reits das, worin ihre Gemeinsamkeit bestünde, mitbrächten.
Das theoretische Problem ist: Sobald ich von einer der beiden Sei-
te als alleiniger Prämisse ausgehe, führt kein Weg zur anderen Seite.
Wir kommen so zu keiner Erklärung dessen, was wir doch zu erfah-
ren glauben.
Deshalb müssen wir anders ansetzen. Wir dürfen nicht von der
Getrenntheit von Individuum und Gesellschaft ausgehen, sondern
wir müssen von ihrer Einheit ausgehen. Das führt uns wieder zum
Leitmotiv dieser Vorlesung, der Geburt.
Die Geburt ist unzweifelhaft ein Trennungsvorgang. Die Durch-
trennung der Nabelschnur ist sozusagen die Manifestation dieser
Trennung in einem Akt von höchster Symbolkraft. Von jetzt ab exi-
stieren diese beiden Lebewesen, die vormals eine physisch-leibliche
Einheit waren, Mutter und Kind, als getrennte Wesen.
Dem Vorgang der Trennung geht eine Einheit voraus. Mutter
und Kind existieren keineswegs als ursprünglich getrennte Wesen,
die dann aus diesem ursprünglichen Getrenntsein irgendwie zuein-
ander finden müssen. Sondern sie existieren ursprünglich in einer
116
Einzigkeit und Sozialität
117
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
119
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Hegel zum Beispiel hat bestritten, dass dies Aufgabe der Schule
sei.
Kinder müssten, sagt er, zu der „Einsicht“ gebracht werden, dass „die Welt als das
Substantielle, das Individuum hingegen nur als ein Akzidens zu betrachten ist – daß
daher der Mensch nur in der fest ihm gegenüberstehenden, selbstständig ihren Lauf
verfolgenden Welt seine wesentliche Betätigung und Befriedigung finden kann und
daß er sich deshalb die für die Sache nötige Geschicklichkeit verschaffen muß“ (Wer-
ke 10, S. 78).
„In der Schule ... verliert die Unmittelbarkeit des Kindes ihre Geltung; hier wird
dasselbe nur insofern geachtet, als es Wert hat, als es etwas leistet; hier wird es nicht
mehr bloß geliebt, sondern nach allgemeinen Bestimmungen kritisiert und gerichtet,
nach festen Regeln durch die Unterrichtsgegenstände gebildet, überhaupt einer all-
gemeinen Ordnung unterworfen, welche vieles an sich Unschuldige verbietet, weil
nicht gestattet werden kann, daß alle dies tun“ (Werke 10, S. 82). „Man darf ... die
Eigentümlichkeit der Menschen nicht zu hoch anschlagen. Vielmehr muß man für
ein leeres, ins Blaue gehendes Gerede die Behauptung erklären, daß der Lehrer sich
sorgfältig nach der Individualität jedes seiner Schüler zu richten, dieselbe zu studie-
ren und auszubilden habe. Dazu hat er gar keine Zeit. Die Eigentümlichkeit der Kin-
der wird im Kreise der Familie geduldet; aber mit der Schule beginnt ein Leben nach
allgemeiner Ordnung, nach einer allen gemeinsamen Regel; da muß der Geist zum
Ablegen seiner Absonderlichkeit, zum Wissen und Wollen des Allgemeinen, zur
Aufnahme der vorhandenen allgemeinen Bildung gebracht werden. Dies Umgestal-
ten der Seele – nur dies heißt Erziehung. Je gebildeter ein Mensch ist, desto weniger
tritt in seinem Betragen etwas nur ihm Eigentümliches, daher Zufälliges hervor“
(Werke 10, S. 71).
Dass Lehrer in der Schule „gar keine Zeit“ hätten, sich auf jeden ein-
zelnen Schüler einzulassen, ist für Hegel keineswegs nur ein pragma-
tisches Argument, dem man sozusagen noch ein „leider“ hinzuden-
ken könnte: „leider keine Zeit“. Vielmehr ist für ihn klar, dass die
Gesellschaft beziehungsweise ihr Staat den Lehrerinnen und Lehrern
hierfür auch gar keine Zeit geben sollen. Das „Umgestalten der See-
le“, an dessen Ende alles „Eigentümliche“ verloschen ist, dies, so sagt
er, „nur dies heißt Erziehung“.
Bei Hegel sehen wir, dass die Eigentümlichkeit der Individualität
etwas ist, was überwunden werden muss. Die Kinder bringen es mit
auf die Welt, und in der Familie gilt das Kind auch um seiner selbst
willen und nicht nur um dessen willen, was es zu leisten vermag.
Denn in der Familie wird das Kind geliebt, wie es eben ist, auch wenn
schon dort jene Zucht einsetzen soll, durch welche das bloße Liebes-
verhältnis zwischen Eltern und Kind in ein Erziehungsverhältnis um-
120
Einzigkeit und Sozialität
gewandelt wird. Der Widerstand, auf den die Erziehung trifft und
den sie in der Familie um der Liebe willen nicht vollständig brechen
wird, dieser Widerstand, den Hegel als „Eigensinn“ und „Eigenwille“
bezeichnet, könne um der Vollendung des Erziehungswerks willen in
der Schule nicht mehr geduldet werden. Dort müssten sie vielmehr
definitiv „ausgereutet“ werden.
Die Einzigkeit („Eigentümlichkeit“), das ist nämlich die Natur-
seite im Kinde. Erziehung aber soll das Kind zur Vernunft, das heißt
„zum Ablegen seiner Absonderlichkeit, zum Wissen und Wollen des
Allgemeinen, zur Aufnahme der vorhandenen allgemeinen Bildung“
bringen. Die „Natur“, gegen die Hegel die Erziehung gewendet wis-
sen will, das ist nicht die Natur der Naturwissenschaften, sondern die
sinnlich-materielle Welt, die uns als sinnlich-materiellen Wesen be-
gegnet. Und da ist es eben dieser Baum und nicht ein Baum, das
heißt nicht ein Exemplar der begrifflich definierten Kategorie, der
uns anrührt. Dieser Baum ist einmalig. Es ist der Baum, in dem ich
meinen Aussichtsplatz habe; in dessen Rinde ich meinen Namen ge-
ritzt habe. Und er kann in dieser Einmaligkeit erfahren werden, weil
er einem einmaligen Wesen, nämlich diesem bestimmten Menschen,
erfahrbar wird. In den naturwissenschaftlichen Kategorien hingegen
ist die Natur bereits zur Vernunft gebracht. Da ist es nur noch ein Ex-
emplar der Gattung, das gegebenenfalls gefällt wird. Und entspre-
chend kann ich den Tod dieses Baumes sozusagen ungeschehen ma-
chen, indem ich zum Ausgleich ein anderes Exemplar pflanze. So
mag ein einzelner Schüler in der Schule scheitern. Für eine Gesell-
schaft, der es nicht um seine Einzigkeit geht, kann verlustfrei ein an-
derer an seine Stelle treten, sofern nur die Absolventenquote stimmt.
So kommen wir immer wieder auf dieselbe Grundstruktur des Er-
ziehungsverhältnisses zurück. Der Eigensinn, die Natur, die Natali-
tät, die Einzigkeit – dies alles sind verschiedene Bezeichnungen für
das, was das Kind in das Erziehungsverhältnis einbringt und das dem,
was die PädagogInnen im Auftrag der Gesellschaft einbringen sollen,
nämlich sozialem Sinn, Vernunft, Ordnung, Integration, Allgemei-
121
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
122
Einzigkeit und Sozialität
Musik:
Theodor W. Adorno – Stück für Streichquartett op. 2; Bewegt
(1925/26)
5.4 Nicht-Identität
Die Musik, die Sie eben hörten, ist von Theodor W. Adorno, einem
der berühmtesten und einflussreichsten deutschen Sozialphiloso-
phen. Adorno hat im Rahmen seiner Philosophie auch eine ästheti-
sche Theorie entwickelt, von der ich nicht viel verstehe. Schließlich
123
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
124
Einzigkeit und Sozialität
bedingung hat, das heißt dass sie ohne Gesellschaft nicht sein kann,
macht die „immanente Allgemeinheit des Einzelnen“ aus.
Ich will hier nicht weiter verfolgen, wie Adorno das „Nichtiden-
tische“ denkt. Es soll der Hinweis genügen, dass wir bei diesem der
Musik so nahe stehenden Philosophen ein zentrales Denkmotiv fin-
den, welches für die Ihnen hier von mir dargestellte Theorie der Päd-
agogik kennzeichnend ist. Weshalb Sie es, in vielfältigen Variationen
und Durchführungen als das Thema der Pädagogik in der Komposi-
tion dieser Vorlesung immer wieder zu hören bekommen (werden).
126
Einzigkeit und Sozialität
127
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
128
Einzigkeit und Sozialität
130
Einzigkeit und Sozialität
sich selbst heraus sein kann. Im ersten Fall muss das Kind sich zusam-
mennehmen und im Interesse seiner Selbstbehauptung auf die Um-
weltforderung reagieren. Im zweiten Falle kann das Kind sich ent-
spannen und den Impulsen folgen, die spontan in ihm aufsteigen. Es
kann sich von seiner Umwelt ab und sich sich selbst zuwenden. Es
kann alleinsein. Aber dass es dies kann, ist Ausdruck einer Sicherheit
und eines Vertrauens, die sozial gestiftet sind, eben durch die Anwe-
senheit einer vertrauenswürdigen, sicherheitgebenden Person – in
der frühen Kindheit meist der Mutter.
Die Fähigkeit zum Alleinsein setzt also Sozialvertrauen voraus. Sie
ist nicht das Gegenteil von Sozialität, sondern basiert auf Sozialität.
Und zugleich ist das soziale Verhältnis, das hier zum Kind eingegan-
gen wird, eines, das das Alleinseinkönnen intendiert. Man könnte
auch sagen: Beides, das Alleinsein eines Menschen mit sich selbst und
das In-Gesellschaft-sein, fundieren sich wechselseitig, ohne dass das
eine im andern aufgelöst wird. Denn die Kraftquelle, aus der die Ge-
sellschaft lebt und sich ständig erneuert, ist die Kreativität der Indi-
viduen. Diese aber erschließt sich nicht von selbst, sondern nur dann,
wenn ihr Raum gegeben wird. Und dies Raumgeben ist eine soziale
Tat.
Damit aber ist deutlich, dass das Alleinsein-Können eine außer-
halb des einzelnen liegende Bedingung hat, eine soziale Bedingung.
Am Lebensanfang ist es die Mutter oder die ihre Stelle vertretende
Person, in deren Macht es steht, dass das Kind in Ruhe bei sich allein
sein kann. Diese Geborgenheit aber braucht der einzelne überhaupt:
dass er, ohne allein für sich sorgen zu müssen, was unmöglich wäre,
doch allein sein und nur sich selbst wahrnehmen, genießen, auspro-
bieren kann, seine eigene Spontaneität, das zur Vermittlung drängen-
de Leben in sich spüren kann, weil „die Gesellschaft“ ihn trägt. „Die
Gesellschaft“ aber, das ist keine Abstraktion, das sind die andern, die
für ihn sorgen, wie er – nach seinen Kräften – mit für sie gesorgt hat
und sorgen wird; die jetzt für ihn da sind, damit er für sich sein kann,
und die wissen, dass er für sich sein können muss, um auch für andere
131
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
da sein zu können; die ihn aber nicht nur brauchen in dem Sinne,
dass er etwas für sie tun kann, sondern die ihren Genuss an ihm ha-
ben, wie er für sich ist.
Das „soziale Selbst“ steht in Kommunikation mit der äußeren
Realität, mit den anderen Menschen. Es reagiert und passt sich an.
Ohne das „soziale Selbst“ ist ein Leben in der Welt nicht möglich.
Aber ohne einen nichtkommunizierbaren und nichtkommunizieren-
den Kern wäre auch das Leben des „sozialen Selbst“ (das dann „fal-
sches Selbst“ ist) nur mechanisch und daher unwirklich. Diesen Kern
muss sich ein Mensch bewahren können, und es ist eine der wichtig-
sten Qualitäten einer zur Menschlichkeit bestimmten Gesellschaft,
dass sie dieses „Heiligtum“ achtet und unangetastet lässt.
„Im Zentrum jeder Person ist ein Element des ‚incommunicado‘, das heilig und
höchst bewahrenswert ist. ... ich glaube, daß dieser Kern niemals mit der Welt wahr-
genommener Objekte kommuniziert, und daß der Einzelmensch weiß, daß dieser
Kern niemals mit der äußeren Realität kommunizieren oder von ihr beeinflusst wer-
den darf. ... Wenn auch gesunde Menschen kommunizieren und es genießen, so ist
doch die andere Tatsache ebenso wahr, daß jedes Individuum ein Isolierter ist, in
ständiger Nicht-Kommunikation, ständig unbekannt, tatsächlich ungefunden.“
(Winnicott 1974, S. 245)
Alleinsein also kann ein Mensch nur in Gegenwart anderer (ihre
Präsenz muss nicht physischer Art sein), die ihm Halt und Sicherheit
geben und es ihm erlauben, sich auf sich und in sich zu konzentrie-
ren, also in einem einfachen und nicht reaktiven Sinne zu „sein“. Der
nichtkommunizierende Kern des Selbst ist die Quelle, aus der die Fä-
higkeit zur kreativen Kommunikation mit der Welt (einer Kommu-
nikation, die nicht nur die äußere Realität widerspiegelt, sondern
selbst etwas in sie einbringt) überhaupt erst hervorgeht. Diese Quelle
einer lebendigen sozialen Auseinandersetzung und Entwicklung zu
erhalten, was nichts anderes heißt, als sie fließen zu lassen, muss ein
zentrales Anliegen der Gesellschaft selbst sein.
Was heißt dies für die Pädagogik?
Lassen wir jeden Menschen, dem wir als Pädagoginnen und Päd-
agogen begegnen, erfahren, dass diese Welt in Erwartung ist; in Er-
wartung seines ganz einzigartigen Beitrags.
132
Sechste Vorlesung
Eigenheit und Fremdheit
Musik:
Aisha Kandisha‘s Jarring Effects – Dunya; Fin Roh (1996).
Vom Album „Shabeesation“ (1996)
133
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Es gibt eine Art Massenpsychose rund um eine Gestalt, genannt Aisha Kandisha.
Habt Ihr je davon gehört?
Wer ist Aisha Kandisha?
Sie ist eine Frau – ein Geist („spirit”) in Gestalt einer Frau. Praktisch jeder Ma-
rokkaner hat mir ihr Kontakt gehabt auf die eine oder andere Weise. Sie ist Legion,
sie ist vielgestaltig. Ich habe ein Buch, das sagt, dass vor etwa 25 Jahren 35.000 Män-
ner in Marokko mit ihr verheiratet waren. Viele Insassen von Ber Rechid, der psych-
iatrischen Klinik, sind mit ihr verheiratet …
Was genau geschieht, wenn Du sie erblickst?
Dann bist Du mit ihr verheiratet, das ist es. Du fängst an, Dich sehr fremdartig
(„strangely”) zu verhalten. Es gibt einige gut bekannte Ehemänner von Aisha Kandi-
sha in der Gegend von Tanger. Sie wandern an Bächen und Flußufern entlang in der
Hoffnung, ihre Stimme zu hören. Du kannst sie sehen auf ihren Wegen …
eine ansteckende Psychose …
Richtig. Und wenn sie Aisha Kandisha wiederfinden, dann machen sie auf der
Stelle Liebe mit ihr, egal, wer da noch ist.
Ich habe diese Musik auch ausgewählt, weil ich sie sehr gerne höre.
Das wiederum hängt damit zusammen, dass sie zwar etwas fremd
klingt, aber doch auch nicht so fremd, dass mir gar kein Zugang dazu
möglich wäre. Denn sie enthält eindeutig Einflüsse aus der westli-
chen PopMusik. Das ist keine arabische oder marokkanische Folklo-
re oder Ursprungsmusik. Sie ist, um es mal etwas platt auszudrücken,
grad so fremd, dass die Anziehung überwiegt. Denn das Fremde zieht
an. Es stößt ab, es befremdet – das ist das, was etwa als Problem des
Fremdenhasses aktuell ist. Aber es zieht auch an; es fasziniert. Diese
Ambivalenz sollten wir erst einmal festhalten.
Deshalb ist es auch nicht nur das Gefallen an der Musik, das die
Auswahl bestimmt hat. Der Name der Gruppe transportiert darüber
hinaus eine Botschaft, die mit der Faszination des Fremden
zusammenhängt. Wie der Name der Gruppe nämlich andeutet und
im Booklet-Text erläutert wird, werden der Gestalt, von der die Rede
ist, der mystischen Gestalt namens „Aisha Kandisha”, bestimmte ver-
wirrende Wirkungen („jarring effects”) zugeschrieben: Aisha Kandi-
sha macht die Menschen, die mit ihr in Berührung kommen, „ver-
rückt”, sie verwirrt sie, sie wirft sie aus der Bahn. Und noch mehr:
Das Verrücktsein besteht darin, nach Aisha Kandisha verrückt zu
sein, also danach verrückt zu sein, von ihr verrückt gemacht zu wer-
den. Von dem, was sie auslöst, der Verwirrung, dem Aus-der-Bahn-
134
Eigenheit und Fremdheit
135
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
fördert und damit die Chance zu etwas Neuem eröffnet. Oder mein
Welt- beziehungsweise Selbstbild haben sich als Gefängnisse eta-
bliert, die mir die Freiheit des Denkens nehmen, meine Kreativität
blockieren; überhaupt mich nicht mehr lebendig sein lassen. Dann
kann die Erschütterung durch das Fremde geradezu befreiend wir-
ken.
Das Fremde könnte mich aus einer Bahn werfen, die ich partout
nicht verlassen will; oder aber, die zu verlassen in mir längst eine ge-
heime Sehnsucht bestand. Dann finde ich mich nachher vielleicht
auf seltsamen Wegen wieder – wie Aisha Kandisha‘s Ehemänner.
Anders als das bloß Unbekannte stiftet das Fremde jedenfalls Un-
ruhe. Ich bin genötigt, mich dazu zu verhalten. Und ich weiß – eben
weil es fremd ist – erstmal nicht, wie ich mich dazu verhalten soll.
Also kommt zur Unruhe die Unsicherheit. Das ist an sich weder et-
was Positives noch etwas Negatives. Es kommt darauf an, wonach
mir ist, was ich brauche; was diese Unruhe und Unsicherheit für
mich bedeuten.
Wenn etwas zu fremd ist – und das heißt also jetzt: wenn die Un-
ruhe und Unsicherheit, die etwas bei mir auslöst, mich überfordern
–, dann werde ich wohl versuchen, das Fremde als Fremdes auszu-
blenden. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten:
• Sich-abwenden; Abstand wahren; Distanz schaffen: Es ist weit weg;
es berührt mich nicht. Es geht mich nichts an.
• Ausgrenzen; Mauern errichten: Ich schütze mich vor ihm. Ich
wehre es ab. Ich sperre es ein.
• Ignorieren, Nicht-Wahrnehmen, Leugnen: Ich sehe es nicht; es exi-
stiert gar nicht.
• Integrieren, Angleichen, Vereinnahmen; Einordnen, Verstehen, Ent-
fremden: Seine Fremdheit ist unwesentlich. Sie lässt sich nehmen.
Es kann mir/uns anverwandelt werden.
• Stigmatisieren, Sanktionieren: Es darf nicht sein. Ich erlaube es
nicht.
• Vernichten: Ich lösche es aus. Ich mache es nicht-existent.
136
Eigenheit und Fremdheit
Dies alles beruhigt mich und gibt mir meine Sicherheit zurück.
Wenn wir jetzt, an dieser Stelle, uns kurz an die Schwarze Päd-
agogik erinnern, dann werden wir sehen, dass genau diese Verhal-
tensweisen jene sind, mit welchen die Schwarze Pädagogik auf das
Kind beziehungsweise seinen Eigensinn reagierte. Könnte das nicht
heißen, dass das Kind für diese Erziehung in seinem Eigensinn als
Fremder erscheint? Mit jeder Geburt, hatte ich in der vorigen Woche
gesagt, bricht Natur in die bestehende gesellschaftliche Ordnung ein.
Und damit etwas, das aller sozialen Ordnung fremd ist. Das Kind
durch Erziehung zur Vernunft zu bringen, könnte dies nicht auch in-
terpretiert werden als das Bestreben, dem Kind seine Fremdheit zu
nehmen? Es in die bestehende Ordnung, die es erst einmal stört, zu
integrieren?
Das Kind stört die gesellschaftliche Normalität. Es weiß noch
nicht, was gut und böse, was richtig und falsch ist. Denn es kennt die
Normen noch nicht, die in der Welt, in die es geboren wird, gelten.
Schlimmer noch: Es kennt nicht nur die jeweils gültigen Normen
nicht, es weiß überhaupt noch gar nichts von Normen, von Ord-
nung. Das erste also ist, dass es überhaupt daran herangeführt werden
muss, dass es so etwas gibt.
Es macht meine Identität aus. Hier weiß ich, wer ich bin. Werde ich
aus diesem Bereich verstoßen, dann werde ich selbst der Fremde. Jede
Erschütterung meiner Ordnung erschüttert daher meine Identität.
Der Fremde, der meine Ordnung erschüttert, bedroht mich selbst
mit Fremdheit. „Überfremdung” ist ein Stichwort, das auf diese
Angst verweist.
Umgekehrt gilt aber auch: Bin ich der Fremde, dann ist meine Ei-
genheit bedroht. Als Fremder setze ich mich Angriffen auf meine Ei-
genheit aus, die mir nicht gestattet wird.
Die Polarisierung von Eigenem und Fremdem bringt also eine
grundsätzliche Instabilität mit sich, eine Spannung, die nach Auf-
lösung drängt.
Die verschiedenen Reaktionsweisen des Eigenen auf das Fremde,
die ich vorhin benannt habe, stimmen in einem überein: Immer geht
es um die Bewahrung des Eigenen, wenn das Fremde nicht toleriert
werden kann. Die dargestellten Formen sind übrigens durchaus mit-
einander kombinierbar. So kann die Integration mit der Ver-
leugnung oder Unterdrückung dessen am Andern einhergehen, was
fremd bleibt. Oder die Ghettoisierung dient der Vernichtung. Oder
die Ausgrenzung soll dazu führen, dass der Andere sich von selbst an-
passt.
Das Kind kommt als Fremder in diese Welt. Wenn es dort fremd
bleibt, ist es dem Untergang geweiht. Denn es kann ohne soziale Ver-
mittlung, ohne Aufnahme in der Gemeinschaft nicht existieren.
Wenn es jedoch gänzlich dieser Welt angeeignet wird, wenn sein Ei-
gensinn gebrochen, seine Natur unterdrückt wird, dann ist es ebenso
vom Tode bedroht. Denn dann wird es zu einem funktionalen Ele-
ment dieser Ordnung ohne eigenes Leben.
138
Eigenheit und Fremdheit
te der Erwachsenen, sondern auch von der Seite der Kinder oder
Jugendlichen her:
• Sich-abwenden; Abstand wahren; Distanz schaffen: Kinder werden
von ihren Eltern verlassen. Oder im Stich gelassen. Eltern – eher
Väter als Mütter – fliehen vor der Verantwortung, die es bedeu-
tet, Kinder zu haben und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Und Kinder neigen dazu, die Schuld dafür bei sich zu suchen:
Ich war nicht gut genug für meinen Papa, meine Mama. Sie
haben es mit mir nicht ausgehalten. Deshalb sind sie fort.
Eltern setzen ihre Kinder aus. Harmloser und alltäglicher: Sie
schicken ihre Kinder weg: „Geht spielen!“ Oder weniger harmlos:
sie geben sie weg, zum Beispiel ins Internat. Aber Kinder suchen
auch von sich aus das Weite, gehen von sich aus auf Abstand, lau-
fen von zu Hause weg, reißen aus.
• Ausgrenzen; Mauern errichten: Kinder und Jugendliche werden
ausgegrenzt, weil sie stören. Man macht die Tür zu. Man errich-
tet Barrieren: Zutritt für Kinder verboten. Aber Kinder betonen
auch von sich aus ihre Andersheit, grenzen sich auch selbst aus
und ab von den Erwachsenen. Auch an den Türen zu Kinderzim-
mern hängen Schilder: Zutritt verboten.
Kinder und Jugendliche werden eingesperrt, schließen sich aber
auch selbst ein.
• Ignorieren, Nicht-Wahrnehmen, Leugnen: Kinder und Jugendliche
werden nicht wahrgenommen; ihre Bedürfnisse werden igno-
riert, übergangen, missachtet. Planungen, etwa im städtebauli-
chen Bereich, werden ohne Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse
vorgenommen. Aber sie versuchen auch von sich aus, nicht auf-
zufallen, verstecken sich, machen sich unsichtbar, wünschen sich,
gar nicht da zu sein, tot zu sein.
• Integrieren, Angleichen, Vereinnahmen; Einordnen, Verstehen, Ent-
fremden: Von Kindern und Jugendlichen wird Anpassung gefor-
dert. Aber sie versuchen auch von sich aus, sich anzupassen,
indem sie das in sich unterdrücken, was für die Erwachsenen
139
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
140
Eigenheit und Fremdheit
141
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Heute frage ich etwas anders. Ich gehe von der Fremdheit und
Unvermittelbarkeit aus und frage nach der Möglichkeit ihrer Ak-
zeptanz, wenn doch Vermittlung um des gesellschaftlichen Lebens
willen sein muss.
Vermittlung ist sicherlich eine der zentralen Kategorien, in denen
die Aufgabe der Pädagogik gefasst wird. Es ist allerdings eine recht
abstrakte Kategorie. Und vielleicht fällt es leichter, zu verstehen, was
damit gemeint ist, wenn wir sagen: es geht darum, Beziehungen und
Zusammenhänge zu stiften:
• Menschen miteinander zusammenzubringen,
• Menschen mit Dingen und Sachverhalten bekannt und ver-
traut zu machen und Dinge und Sachverhalte Menschen
nahezubringen,
• Menschen in Strukturen und Ordnungen einzuführen, Ord-
nungen und Strukturen an Menschen anzupassen,
• Menschen zu sich selbst in Beziehung treten zu lassen …
Immer wird dabei das, was sich vermitteln soll, mit etwas
konfrontiert, das anders und zunächst einmal fremd ist. Sonst wäre
Vermittlung nicht nötig.
Das Andere soll nun mit dem Eigenen in einen Zusammenhang
gebracht werden, so dass es – ebenso wie das Eigene – Teil eines Ge-
meinsamen und seine ausschließliche Fremdheit aufgehoben wird.
Etwas am Andern muss es geben, wodurch es sich mit dem Eigenen
vermitteln und in etwas Gemeinsames integrieren lässt. Etwas am
Andern muss nicht fremd bleiben. Sonst wäre Vermittlung nicht
möglich.
Aber nicht alles am Andern lässt sich in Gemeinsamkeit überfüh-
ren. Immer bleibt etwas, das einzig ist und daher fremd bleiben muss.
Etwas, das sich nicht integrieren lässt. Das sich daher also der Aneig-
nung entzieht. Aus der Sicht des Eigenen ist dies eine Schranke, die
in der Andersheit des Anderen begründet liegt. Es darf anders sein,
soweit es einen anderen Stellenwert im Ganzen hat und eben da-
durch sich mit dem Eigenen zu einem übergreifenden Gemeinsamen
142
Eigenheit und Fremdheit
stehende Ordnung als das Eigene, das gegen die Erschütterung durch
das Fremde verteidigt werden soll.
Was hier als das Eigene auftritt, ist das abgesicherte und geordnete
Eigene; das, was man unter seine eigene Kontrolle gebracht hat; aber
auch das, durch das man selbst kontrolliert wird. Durch Ordnung
machen wir uns die Welt verfügbar. Aber durch Ordnung werden
wir auch selbst verfügbar. Wir können eine Ordnung nicht benutzen,
ohne ihr anzugehören. Was unter unsere Kontrolle gebracht ist, ist
Eigenes im Sinne des Eigentums. Es gehört mir; ich habe Verfü-
gungsgewalt darüber. Insofern ist jede gesellschaftliche Ordnung
auch eine Eigentumsordnung.
Verstehen Sie diesen Begriff jetzt nicht zu eng. Es geht mir nicht
nur um das rechtliche Eigentum wie Eigentum an Grund und Bo-
den; Eigentum an Produktionsmitteln; Eigentum an sich selbst. Es
geht auch um das soziale Eigentum: also das, was eine Gesellschaft
oder gar die Menschheit insgesamt sich zu eigen gemacht und nach
ihren Interessen geordnet hat. Und noch weiter: Wenn ich von Ei-
gentumsordnung spreche, meine ich die Gesamtheit der Regelungen,
wie wer womit umgehen darf, worauf jemand zugreifen darf oder
nicht, worüber jemand verfügen darf und worüber nicht, wozu er
Zugang hat, wozu nicht undsoweiter.
Und dieser Eigentumsordnung gehören wir als Eigentümer oder
gesellschaftliche Miteigentümer an. Wir sind Nutznießer der Eigen-
tumsordnung, insofern wir an der Verfügung über die Lebensbedin-
gungen, die durch sie gesichert wird, teilhaben.
Doch wir sind auch selbst Eigentum der Gesellschaft, jedenfalls
soweit unsere Existenz im Zugehören zu dieser Ordnung aufgeht.
Denn wir müssen, um selbst verfügen zu dürfen, auch über uns ver-
fügen lassen. Zwischen Rechten und Pflichten besteht eine Art Kom-
plementärverhältnis. Gesellschaftliche Ordnung, betrachtet als Ei-
gentumsordnung, ist Ergebnis eines Auseinandersetzungsprozesses
zwischen Individuum und Gesellschaft; ein Ergebnis, in dem beide
Seiten bereits miteinander verwachsen und voneinander durchdrun-
144
Eigenheit und Fremdheit
gen sind. Weshalb eben die Ordnung, der man zugehört, als Eigenes
erscheint und Fremdes entsprechend abgewehrt wird.
Wenn Sie an die Schwarze Pädagogik zurückdenken, werden Sie
sich aber erinnern, dass das Eigene dort in einer ganz anderen Weise
charakterisiert wurde: nämlich als kindlicher Eigensinn und das heißt
als kindliches Beharren auf der Fremdheit gegenüber der bestehen-
den Ordnung, als Widerstand gegen die An-Eignung des Kindes
durch die Gesellschaft und deren Vernunft. Der Eigensinn ist jenes
Moment, das sich der Aneignung widersetzt, das sich der Vergesell-
schaftung widersetzt, das sich nicht recht sozialisieren lassen will; das
fremd und daher ordnungsgefährdend bleibt.
Sie sehen also, und es ist wichtig, sich dies begrifflich klarzuhal-
ten: das Eigene bedeutet etwas ganz Unterschiedliches, ja geradezu
Gegensätzliches, je nachdem, worauf es sich bezieht: Ob es sich auf
das Eigene bezieht, das jemand mitbringt, der von außen in eine be-
stehende Ordnung eindringt, wie der Fremdling von weither oder
das Kind; oder ob das Eigene das ist, was man sich im Laufe eines
Entwicklungs- und Auseinandersetzungsprozesses, genannt Erzie-
hung, angeeignet und dem man sich übereignet hat. Je nachdem, ob
es sich um eine Voraussetzung der Erziehung oder um ein Ergebnis
von Erziehung handelt.
Eigensinn als Voraussetzung von Erziehung bedeutet Differenz,
Getrenntsein; Sich-Entziehen. Eigensinn bedeutet auch Fremdheit
gegenüber dem Eigentum.
Eigentum als Ergebnis von Erziehung bedeutet Übereinstim-
mung, Integration, Dazugehören. Eigentum bedeutet auch Befrem-
dung über den Eigensinn.
Anarchistische Pädagogik wäre eine eigensinnige Pädagogik.
Schwarze Pädagogik ist eine eigentümliche Pädagogik.
145
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Musik:
Amïra Saqati – El Ghourba (1995).
Vom Album „Agdal Reptiles On Majoun“ (1995)
chen: Wie das Haus gebaut ist, ohne tote Winkel, so dass die Wege
der Schülerinnen und Schüler immer voll einsehbar sind; die Zeit-
struktur des Tagesablaufs, die ihnen vorgegeben ist; das System von
Strafe und Nachsicht oder Belohnung.
Zwischen den Kindern entwickelt sich eine zärtliche, liebevolle
Beziehung. Sie beginnen, einander zu schützen, aufeinander zu ach-
ten. Vor allem der Jüngste von ihnen scheint sehr gefährdet, ja verlo-
ren. Die älteren passen auf, dass er nicht ausrastet. Sie sprechen da-
von, später zusammenzuleben. Sie verbinden sich gegen das
Internats-System. Welcher Plan steckt hinter diesem System?
Eines Tages „kam das Zeichen.
Es kam in der Biologiestunde. Biehl [der Internatsleiter und zugleich Lehrer]
nahm den Darwinismus durch, das Überleben der am besten Geeigneten. „Er gilt
noch immer”, sagte er, „auch in der Gesellschaft, doch wird er dadurch gemildert,
dass wir die Folgen abwenden.”
Es gab eine Pause, nachdem er das gesagt hatte. Es war ein reicher Augenblick.
Er hatte niemand bestimmten angesehen, er wandte sich, so gesehen, nie an Ein-
zelpersonen. Vielleicht war ich trotzdem in diesem Augenblick derjenige, der ihn am
besten verstand.
Für die, die innerhalb waren, also die meisten, für die war es schwer zu begreifen,
was er meinte, für die war da vor allem die Freude darüber, dass sie innerhalb waren
und die am besten Geeigneten.
Bei denen, die außerhalb sind, füllt die Furcht und die Resignation beinahe alles
aus, das weiß man ja.
Verstehen kann man am besten, wenn man auf der Grenze ist.
Es war ein Gesetz, das verstand man. Es erwählte den einen, den anderen ver-
dammte es. Für die auf der Grenze aber bemühte man sich, die Folgen abzuwenden.
Für sie gab es eine Chance. Biehls Privatschule war diese Chance.
Dies kann man am besten verstehen, wenn man erklärtermaßen nur vielleicht
geeignet ist zum Überleben.
(Høeg 1995, S. 41)
„Innerhalb sein” – für die, die innerhalb sind, ist es eine Selbstver-
ständlichkeit. Sie wissen gar nicht mehr, was nötig war, um dorthin
zu gelangen. Sie haben es geschafft. Für die, die außerhalb sind, für
die Ausgegrenzten, Abgeschobenen, überwiegt die Resignation und
die Furcht vor den Folgen des Ausgegrenztseins, die Furcht vor dem
definitiven Absturz, dem Untergang. Wirklich ermessen, was es be-
deutet, sich darum bemühen zu müssen, nach innerhalb zu gelangen,
können nur die, die auf der Grenze sind, die eine Chance haben; de-
147
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
nen eine Chance gegeben wird, die auf dem Prüfstand stehen, unun-
terbrochen beweisen müssen, dass sie der Chance, die man ihnen
gibt, wert sind. Die immer in Frage gestellt sind, keine Gewissheit ha-
ben: Gehören sie nun dazu oder nicht? Lohnt es sich noch, es zu ver-
suchen, oder ist schon alles verloren, ist es aussichtslos?
Auf der Grenze zu sein, heißt, das als Lebenszustand zu haben,
was für die meisten von uns hier in diesem Saal nur eine vorüber-
gehende Erfahrung ist; eine Erfahrung zudem, die überwiegend mit
einem guten Ausgang verbunden war, denn sonst wären wir nicht
hier: die Prüfung. Jede Prüfung stellt uns auf diese Grenze. Es ist of-
fen, wohin wir geraten: nach innen oder nach außen. Wir hier gehö-
ren zu denen, die innerhalb sind, die soweit schonmal die Prüfung
beziehungsweise etliche Prüfungen bestanden haben. Da ist vor allem
die Freude, dass wir innerhalb sind und die am meisten Geeigneten.
Stellen Sie sich vor, das Geprüftwerden sei Ihr Lebenszustand; dann
können Sie vielleicht ermessen, was es bedeutet, nicht nur vorüber-
gehend auf der Grenze zu sein, zu denen zu gehören, die nur viel-
leicht geeignet sind. Und zwar nicht für diesen oder jenen Beruf.
Sondern für das Leben in dieser Gesellschaft überhaupt.
Was die drei Kinder in jenem Internat erfahren, ist diese ständige
Prüfung ihrer Berechtigung, dazuzugehören. Aber es ist noch mehr.
Das ist nicht der ganze Plan. Sie sind in dem Internat nicht nur, um
geprüft zu werden. Der ganze Plan, ist, das Nötige dafür zu tun, dass
sie diese Prüfung bestehen. Die Entdeckung der Kinder ist, worin
dies Nötige besteht:
„Es ist ein Komplott”, sagte er. „Alles ist berechnet. Sie haben die Leute gesammelt.
Jetzt sollen sie vernichtet werden.”
„Integriert”, sagte Katarina. „Sie wollen Kinder aus Fürsorgeheimen und
Jugendgefängnissen holen und sie zurück auf die öffentliche Schule führen. Integra-
tion. Das ist es, das ist der Plan.” (S. 204)
Was dem jüngeren der Kinder als Vernichtungsplan erscheint, ist ein
fortschrittliches pädagogisches Integrationsprojekt. Das vermeintli-
che Vernichtungslager ist eine Schule, die sich die Integration
benachteiligter Jugendlicher zum Ziel gesetzt hat.
148
Eigenheit und Fremdheit
Die Geschichte treibt auf die Katastrophe zu. Dem jüngeren der
Kinder erscheint, was es in dem Internat erlebt, als Wiederholung des
Martyriums, dem es durch seine Eltern ausgesetzt war. Er wird sich
dies auch diesmal nicht weiter gefallen lassen. Der Schulleiter wird
von den Kindern zur Rechenschaft gezogen.
„Wir wollten Gutes tun”, sagte er. …
„Wir wollten helfen”, sagte er. „Nicht nur den Kindern des Lichts. Auch euch
andere wollten wir führen. Aus dem Totenhaus ins Land der Lebenden. Wir wollten
alle in der dänischen Privatschule versammeln. Auch die, die Schlimmes erleiden
und ein Recht auf Licht haben.” …
„Was ist mit der Dunkelheit in den Menschen?” sagte Katarina.
„Das Licht wird sie zerstreuen”, sagte Biehl.
August neigte sein Gesicht hinunter zu Biehls Ohr. Sie sahen aus wie zwei Men-
schen, die vertraulich miteinander reden.
„Soviel Licht gibt es nicht auf der Welt”, flüsterte er. (S. 214f.)
Das also ist es: der Plan von der Abschaffung des Dunkels. Ein „ko-
lossaler” Plan, denn er soll die ganze Welt erfassen.
Sie müssen geglaubt haben, sie könnten … die Schule zu einer „Werkstatt der Son-
ne“ machen, wie er gesagt hat. Zu einem Laboratorium, das den Unterschied zwi-
schen den Gestörten und den Normalen aufhebt.
Sie wollten nichts wissen von dem Gedanken, dass einige Schüler unten im
Dunkel waren. Sie wollten überhaupt vom Dunkel nichts wissen, alles im Univer-
sum sollte Licht sein. Mit dem Messer des Lichts wollten sie das Dunkel sauberscha-
ben. (S. 238)
Was anderes ist dieser Plan als der Plan der Pädagogik? Ein solcher
Plan kann Menschen nicht „sein lassen”; er will, er muss sie formen,
damit sie integrierbar sind.
Ihr Plan betraf das ganze Universum, da wurde ich mir sicher. Und über einen sol-
chen Plan kann man nicht hinweggehen.
Sie sprechen in den Anträgen nur davon, den Kriminellen und Minderbegabten
und Gestörten zu helfen, das waren die Worte, auch wenn es um die Zusagen der
Gelder ging. In ihren Gedanken aber, oder auf dem Grund ihrer Gedanken, als ein
fernes Ziel, hatten sie die ganze Welt. „Wir arbeiten für die Herrlichkeit künftiger
Zeiten”, schrieb Biehl. Sie spürten, die Zeit war auf ihrer Seite, sie arbeiteten an et-
was, das sich ausbreiten und zuerst die ganze Volksschule beseelen würde und dann
den Rest des Landes. Wenn es ausgesprochen werden mußte, nannten sie nur Grup-
pen von Kindern. Ihr Ziel aber war das Universum. … Alle waren sie sicher, dass sie
ewige Werte verteidigten. Sie sprachen es nicht direkt aus, vielleicht dachten sie es
auch nicht direkt. Aber irgendwo in sich selbst und untereinander waren sie absolut
und total sicher, dass sie recht hatten und dass ihre Ideen und Gedanken mit künf-
tigen Generationen von Kindern, die erwachsen wurden, hinaus in die Welt fliegen
149
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
und sich über das Land verbreiten würden, und darüber hinaus, vielleicht sogar bis
zu den Mauren. Dass man eines Tages, in einer nicht zu fernen Zukunft alle dazu
bringen könnte, ihre Ideale von Fleiß und Präzision zu respektieren, und dann wür-
den alle Lebewesen im Universum friedlich zusammenleben.
Ich weiß, dass das ihr Ziel gewesen ist. Das kann man nicht alltäglich nennen.
So etwas nennt man kolossal. (S. 225f.)
6.5 Anerkennung
Die Geschichte um den Plan von der Abschaffung des Dunkels
möchte ich nun auf das Verhältnis von Eigensinn und Eigentum zu-
rückbeziehen.
Das Eigene wird mit dem Fremden konfrontiert. Wenn ich in die
Perspektive des Andern, des Fremden wechsle, wird das Fremde zum
Eigenen und das Eigene zum Fremden.
Was wir Vermittlung nennen, bedeutet zuerst einmal die Her-
stellung einer Gemeinsamkeit oder die Integration beider Seiten in
etwas Gemeinsames. Dies Gemeinsame kann man sich als Schnitt-
menge oder Überlappungsbereich vorstellen. Aber eine solche sche-
matische Vorstellung birgt ihre Gefahren.
Was in diesem Überlappungsbereich nämlich eintritt, ist nicht
nur eine Bestimmung dessen, worin Eigenes und Anderes sozusagen
von Haus aus übereinstimmen, ist nicht nur ein Zutagetreten vor-
handener Übereinstimmung oder Gleichheit. Sondern durch die
Vermittlung entsteht etwas Neues, das mehr ist als die Schnittmenge
der Gemeinsamkeiten. Andersheit wird hier zwar integriert, aber
nicht beseitigt. Im Gegenteil, gerade im Zusammenkommen von
Unterschiedenem liegt eine neue Potenzialität. Ich möchte dies an
drei Begriffen erläutern.
Solidarität. Solidarität nennen wir eine Beziehung zwischen Men-
schen, in der diese füreinander da sind. Darin liegt eine Komplemen-
tarität von Bedürfnis und Leistung oder auch von Mangel und Über-
schuss. In einer Solidargemeinschaft kompensiert zum Beispiel die
Leistungsfähigkeit der einen den Mangel an Leistungsfähigkeit der
150
Eigenheit und Fremdheit
151
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
tioniert nur, wenn die Ziele, Inhalte und Formen der Zusam-
menarbeit geregelt sind. Dies sind die Strukturen gesellschaftlichen
Zusammenlebens; insgesamt die Strukturen, welche eine gesell-
schaftliche Ordnung ausmachen.
Innerhalb dieser Strukturen agieren die Einzelnen niemals als
bloß isolierte Einzige, sondern in Bezug auf andere Menschen und in
Bezug auf das Ganze der Gemeinschaft. Die Beziehung zur Welt ist
hier eine Beziehung der menschlichen Gemeinschaft oder Ge-
sellschaft als ganzer zur Welt. Die Aneignung der Welt ist hier soziale
Aneignung; und ihr Resultat ist die jeweilige gesellschaftliche Ord-
nung als eine Eigentumsordnung mit verteilten und geregelten Ver-
fügungsrechten.
Stelle ich diese Ordnung in das Zentrum, dann gibt es ein Innen
und ein Außen. Das Außen ist dann eine Art blinder Fleck oder toter
Winkel. Für das, was innen ist, haben wir Begriffe und Kategorien.
Wir können es identifizieren, bewerten. Wir können es formen und
gestalten. Menschen, die innen sind, können wir erziehen. Das Beste
wäre aus dieser Sicht, wenn es überhaupt nur ein Innen gäbe, wenn
es keinen blinden Fleck, keinen toten Winkel gäbe; wenn alles so
transparent und vom Licht der Vernunft beleuchtet wäre, dass wir
ganz unter Kontrolle bekommen, was wir durch Erziehung bewirken
wollen: eine vollkommene Ordnung nach menschlichem Plan. Das
ist der Plan von der Abschaffung des Dunkels.
Im Roman von Peter Høeg zeigt sich, dass sowohl das Eigene als
auch das Fremde sich nicht aufheben lassen in das Gemeinsame. Dass
da etwas bleibt, das sich selbst dem Solidargedanken der Komple-
mentarität, dem einfühlsamen Verständnis und der arbeitsteiligen
Kooperation entzieht, also auch jenen Formen von Gemeinsamkeit,
in denen das Andere als Anderes ja anerkannt wird. Was sich am Ei-
genen dieser Vermittlung entzieht, ist das, was am Eigenen fremd
bleibt. Und was sich am Fremden dieser Vermittlung entzieht, ist
dessen Eigensinn. Es ist das, was im Dunkel bleibt.
152
Eigenheit und Fremdheit
Betrachte ich nun, was aus dem Eigenen geworden ist, dann zeigt
sich uns eine Art Spaltung: in das, was sich vermitteln lässt; und in
das, was sich der Vermittlung entzieht. In Soziales und Einziges. Fal-
len wir also alle auseinander in zwei nun ihrerseits unvermittelte, das
heißt voneinander isolierte Hälften, eine soziale und eine individuel-
le? Und gibt es zwischen dem Eigenen und dem Fremden außerhalb
der Gemeinsamkeit gar keine Beziehung?
Ich hatte schon über den besonderen Charakter sozialer Gemein-
samkeit gesprochen, der darin liegt, dass hier die Andersheit nicht
nur akzeptiert, sondern geradezu benötigt wird. Soziale Gemein-
samkeit ist also nicht abstrakte Allgemeinheit, wie sie etwa einem
Gattungsbegriff zugrundeliegt, in dem all die Merkmale zusammen-
gefasst werden, durch welche die Exemplare der Gattung sich nicht
voneinander unterscheiden, worin ein Exemplar ist wie das andere.
Soziale Gemeinschaft ist demgegenüber vielmehr eine konkrete All-
gemeinheit, in welcher Unterschiedenes aufeinander bezogen wird
und miteinander interagiert. Die Quelle dieser Unterschiedenheit
aber ist nicht etwa die gesellschaftliche Ordnung, abstrakt und das
heißt losgelöst von den Individuen betrachtet, welche sie bilden.
Sondern die Quelle der Unterschiedenheit ist die Einzigkeit des Ei-
genen wie des Fremden.
Insofern die soziale Gemeinsamkeit keine abstrakte, sondern eine
konkrete Allgemeinheit ist, erhält sie ihre jeweilige Gestalt und Form
in Abhängigkeit davon, welche Menschen es sind, die sie bilden. Sie
kann daher keine überzeitliche ewige Ordnung sein, sondern sie ent-
wickelt und verändert sich mit den Menschen, die sie bilden. Sie hat
eine Geschichte.
Daher muss sich die soziale Ordnung an die Menschen binden,
wenn sie eine menschliche Lebensform bleiben und keine abstrakte
Struktur werden soll. Das Soziale im einzelnen Menschen muss sich
entwickeln können aus seinem Eigensinn und darf nicht an dessen
Stelle treten. Nur dann ist das Engagement, sich am Gemeinsamen
zu beteiligen, ein motiviertes und nicht erzwungenes. Dass die gesell-
153
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
154
Eigenheit und Fremdheit
155
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
156
Siebte Vorlesung
Arbeit und Spiel
7.1 Improvisation
7.2 Das „Reich der Freiheit“ und das „Reich der
Notwendigkeit“ (Marx)
7.2.1 Von der „Arbeitsgesellschaft“ zur
„Freizeitgesellschaft“
7.2.2 Notwendige Arbeit
7.2.3 Befreiende und befreite Arbeit
7.2.4 Arbeit und Pädagogik
7.3 „Was ist, ist. Was nicht ist, ist möglich.“
7.4 Potentieller Raum
7.4.1 „Der Ort, an dem wir leben“
7.4.2 Spiel-Raum
7.4.3 Realitätsprinzip und Omnipotenz
7.4.4 Kultur-Raum
Musik:
Charlie Haden and Ernie Watts – First Song (For Ruth) (1988).
Vom Album „Gitanes Jazz – Saxophone“ (Compilation; 1989)
7.1 Improvisation
Sie haben (in dieser Vorlesung erstmals) ein Jazz-Stück gehört. Ich
habe ein Saxophon-Stück ausgesucht, weil ich den Sound eines Saxo-
phons ungeheuer mag (und mich übrigens deshalb selbst mit 16 Jah-
ren mal erfolglos am Saxophon versucht habe).
157
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Zum Wesen des Jazz gehört die Improvisation. In der Musik ist
Improvisation die freie Gestaltung in einem festgelegten Rahmen.
Dieser Rahmen kann aus unterschiedlichen musikalischen Elemen-
ten bestehen und mehr oder weniger eng gefasst sein – darin unter-
scheiden sich dann auch unterschiedliche Stile des Jazz. Der Free Jazz
zum Beispiel, der in den 50er Jahren aufkam, versuchte, den Rahmen
so weit zu fassen oder gar aufzulösen, dass eine maximale Improvisa-
tionsfreiheit gegeben war. Maximal heißt aber nicht: grenzenlos oder
unendlich. Auch der Free Jazz brauchte, insbesondere für das Zusam-
menspiel mehrerer Musiker, gewisse Festlegungen oder Vereinbarun-
gen beziehungsweise Regeln.
Wichtig ist also, dass der musikalische Rahmen die Freiheit der
Improvisation zwar begrenzt, aber gleichzeitig auch erst ermöglicht.
Improvisation ist freies Spiel mit gegebenem Material, nach vorgege-
benen Regeln.
Indem ich so die Aufmerksamkeit nicht nur auf die in Improvisa-
tion sich ausdrückende Freiheit der kreativen Gestaltung lenke, son-
dern auch auf die Bedingung dieser Freiheit, welche paradoxerweise
ihre Einschränkung ist, bin ich bei einem zentralen Thema unserer
Vorlesung, das in verschiedenen Varianten immer wieder auftauchte:
das Verhältnis von Freiheit und Bedingtheit; von Spontaneität und
Determination; von Selbst- und Fremdbestimmung undsoweiter Es
ist ein Thema, welches im Erziehungsbegriff angelegt ist, wenn dieser
die Paradoxie einer fremdbestimmten Entwicklung aus eigenem Sinn
enthält.
Es soll heute um das gehen, was der Jazz-Musiker in Anspruch
nimmt, wenn er improvisiert; was aber auch in allen anderen Be-
reichen in Anspruch genommen wird, wo immer menschlicher Ge-
staltungskraft eine Chance zur Verwirklichung gegeben werden soll:
es geht um „Spiel-Raum“, den „Frei-Raum“, in dem Spiel möglich ist
und den der englische Psychoanalytiker Winnicott Potentiellen
Raum nennt.
158
Arbeit und Spiel
159
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
160
Arbeit und Spiel
161
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Da dies eine zunächst etwas verwirrende These ist, soll sie näher
untersucht werden: Arbeit emanzipiert von ihrer eigenen Notwen-
digkeit.
162
Arbeit und Spiel
dass sie beständig und in ausreichender Menge auch für eine um-
fängliche Vorratswirtschaft ihre Gaben lieferte. Sie sorgten für das
kontinuierliche Nachwachsen dessen, was sie verbrauchten.
Im weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte wurde so bis heu-
te Schritt für Schritt Natur durch Arbeit substituiert. Die moderne
Gesellschaft schließlich gründet sich in ihrer Wert-Ökonomie so
vollständig auf die Arbeit, dass Natur als ökonomische Größe nahezu
verschwindet. (Die ökologische Problematik, die aus diesem ökono-
mischen Verschwindenlassen der Natur resultiert, will ich an dieser
Stelle nicht thematisieren.)
163
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Was sich geschichtlich verändert, ist die Relation der beiden Ar-
ten notwendiger Arbeit. Immer mehr Arbeit floß in die Produktion
von Arbeitsmitteln (Technik) und immer weniger Arbeit in die Pro-
duktion von Lebensmitteln.
Allerdings: Solange das Anwachsen der arbeitsmittelproduzieren-
den Arbeit die Verringerung der lebensmittelproduzierenden Arbeit
vollständig kompensiert, mag die Arbeit zwar insgesamt einen wach-
senden Ausstoß an Produkten bewirken, aber sie besetzt weiterhin als
notwendige Tätigkeit einen gleichbleibenden Anteil der Lebenszeit.
Sie befreit nicht von sich. Notwendend im zweiten Sinne ist sie erst,
wenn sich die notwendige Gesamtarbeitszeit verringert und die ar-
beitsfreie Zeit ausdehnt. Erst dann trifft zu, was als Übergang von der
„Arbeitsgesellschaft“ in die „Freizeitgesellschaft“ bezeichnet wird.
164
Arbeit und Spiel
Und doch ist sie auch eine befreiende Tätigkeit. Und darin liegt ein
Übergang.
Zweitens: Es liegt darin ein Übergang in die freie Tätigkeit. In die
Tätigkeit, die nicht mehr von Natur-Notwendigkeit und auch nicht
von Arbeits-Notwendigkeit bestimmt ist. Diese freie Tätigkeit wird
möglich in jenem Bereich, auf dessen Ausdehnung die Arbeit als von
sich selbst befreiende hinwirken will: in der arbeitsfreien Zeit. Marx
hat gesagt: Hier, in diesem Bereich der arbeitsfreien Zeit, beginne
überhaupt erst das wahre menschliche Leben, das Leben nämlich, in
dem er sich selbst bestimmen könne. Die Arbeit sei das „Reich der
Notwendigkeit“. Jenseits dessen, in der arbeitsfreien Zeit, erstrecke
sich das „Reich der Freiheit“. (Marx 1894, 828)
In der notwendigen Arbeit unterwirft der Mensch sich den Bedin-
gungen, die er vorfindet und deren Not er zu wenden sucht. Doch
dabei hilft ihm die List seiner Vernunft; denn zugleich entwickelt er
die Arbeit so, dass sie sich selbst reduziert, also ihre eigene Not-
wendigkeit aufhebt, sich befreit.
Woher nimmt die Arbeit diese Kraft der Befreiung?
Aus jener Kraft der Innovation, die sich über das je Gegebene und
seine Not erheben kann; die hinter dem je Gegebenen seine noch un-
erschlossenen Möglichkeiten entdecken kann; die das Nicht-Seiende
im Seienden erschließt; die das Seiende durchbricht, um das Nicht-
Seiende zum Sein zuzulassen. Das ist die utopische Kraft der Bil-
dung. Durch Bildung vermag Arbeit von sich zu befreien. Oder an-
ders ausgedrückt: Durch Bildung wird Arbeit zur befreiten Arbeit,
zur freien Arbeit; zur Kultur.
Wo die notwendige Arbeit geleistet ist, wo die Lebensbedingun-
gen gesichert sind, dort kann die freie Tätigkeit einsetzen, die sozu-
sagen zweckfreie Tätigkeit, das heißt die Tätigkeit, in der Menschen
sich nicht einer Zielvorgabe unterzuordnen, keiner Notwendigkeit
und keinem Zwang zu folgen haben. Wo Ziele überhaupt erst ge-
setzt, neue Möglichkeiten entdeckt, Zukunft geöffnet wird. Für diese
Art der Tätigkeit haben wir das Wort Spiel.
165
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Musik:
Einstürzende Neubauten – Was ist, ist (1996).
Vom Album „Ende Neu“ (1996)
166
Arbeit und Spiel
Ist Darmstadt der Ort, an dem wir leben? Wo, an welchem Ort
leben wir gerade jetzt, in diesem Augenblick? Hier in diesem Raum?
Leben Sie wirklich hier? Sind Sie hier? Sind Sie nicht vielleicht
mit Ihren Gedanken gerade ganz woanders? Ihr Körper ist hier, aber
Ihr Geist ist anderswo? Und wenn Sie mit Ihren Gedanken hier sind,
sind Sie dann ganz hier? Auch mit dem Herzen? Oder mit der Seele?
Wo ist das an oder in Ihnen, das „Ich” sagt? Was heißt „hier”? Hat
Ihre Psyche einen physikalischen Aufenthaltsort?
Wir sagen auch: „In welcher Welt leben Sie eigentlich?” Und
dann heißt das, dass mein Gegenüber, an das ich diese Frage richte
und von dem ich ja sehe, wo sie oder er sich gerade befindet, nämlich
an demselben physikalischen Ort, an dem auch ich mich befinde, mir
als irgendwie abwesend erscheint, als „nicht von meiner Welt”. Das
bezieht sich anscheinend auf seinen – wie man vorläufig sagen könnte
– inneren Aufenthaltsort. Innerlich lebt er woanders als ich.
Es sieht so aus, als hätten wir zwei Aufenthaltsorte: den inneren
und den äußeren. Heißt das, dass Sie an beiden Orten leben? Haben
Sie zwei Leben? Parallel? Miteinander verbunden? Wodurch?
Winnicott hat die Frage nach dem Ort, an dem wir leben, dahin-
gehend beantwortet, dass er nicht sagte: an beiden Orten, im Innern
und im Äußern; sondern: an keinem der beiden Orte, vielmehr an ei-
nem dritten. „Wo“ ist dieser dritte Ort?
Der Raum, an den die NaturwissenschaftlerInnen unter Ihnen als
erstes denken, ist der physikalische, äußere Raum. Dieser Raum ist
erfüllt mit Dingen; und in ihm bewegen wir uns selbst als physikali-
sche Körper. Die Dinge, mit denen dieser Raum erfüllt ist, sind na-
türlich nicht nur durch ihre physikalische Beschaffenheit bedeutsam,
sondern auch durch anderes; insbesondere auch durch soziale Be-
stimmungen und Funktionen. Das ist der soziale Raum, in dem wir
uns vorfinden und der die gesellschaftswissenschaftlich Orientierten
unter Ihnen besonders interessiert. Die Mauern eines Gefängnisses
haben eine andere soziale Bedeutung als die Mauern einer Schule
oder die Mauern Ihres Zuhauses, auch wenn sie physikalisch von
167
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
7.4.2 Spiel-Raum
Um sich vorstellen zu können, was er meint, sollten wir an das ur-
sprüngliche, unreglementierte, spontane, in sich versunkene Spiel des
Kindes denken. Wir haben den Eindruck, dass ein solches Kind in ei-
nem gewissen Sinne „ganz dabei” ist, aber auch „nicht ganz da”. Wo
hält sich dieses Kind auf? Offensichtlich ist es nicht in sich gekehrt
und hängt bloß seinen Gedanken, Phantasien und Träumen nach. Es
168
Arbeit und Spiel
hantiert mit Dingen, es gibt Laute von sich, die dem Betrachter nicht
bloß als Selbstgespräch, sondern durchaus als eine Kommunikation
mit den Dingen erscheinen; es ist sehr konzentriert, und zwar auf das,
was es tut. Zugleich erscheint uns das Innere des Kindes in einem au-
ßerordentlichen Maße beteiligt. Das Kind hantiert nicht mecha-
nisch, sondern äußerst engagiert, so einbezogen, dass es alles andere
um sich herum vergisst. Es lebt in diesem Moment offensichtlich in
einer durchaus realen Welt, die dennoch von der sonstigen realen
Welt, die das Kind umgibt, durch irgendetwas abgeschirmt ist. Der
Raum, in dem das Kind spielt – und damit ist nicht das Kinderzim-
mer gemeint –, ist Winnicotts Potentieller Raum. Es ist der Raum,
der Spiel ermöglicht. Spiel ist eine Tätigkeit, die weder bloße Hallu-
zination und reine Phantasie ist noch Anpassung und Unterwerfung
gegenüber einer gegebenen äußeren Realität. Es ist eine ganz beson-
dere, vermittelnde Tätigkeit; vermittelnd nämlich zwischen Innen
und Außen, subjektivem Impuls und objektiver Bedingung. Im Spiel
liegt für Winnicott die Wurzel aller Kultur.
„1. Kulturelles Erleben ist lokalisiert in einem schöpferischen Spannungsbereich zwi-
schen Individuum und Umwelt (anfänglich: dem Objekt). Dasselbe gilt für das Spie-
len. Kulturelles Erleben beginnt mit dem kreativen Leben, das sich zuerst als Spiel
manifestiert. 2. Für den einzelnen Menschen ist die Möglichkeit, sich dieses Berei-
ches zu bedienen, durch Lebenserfahrungen in den allerersten Phasen seiner Existenz
vorgegeben. 3. Die Erfahrungen im potentiellen Bereich zwischen subjektivem Ob-
jekt und objektiv wabrgenommenem Objekt, zwischen Ich und ‚Nicht-Ich‘ sind für
das Kind von Anfang an äußerst intensiv. Dieser Spannungsbereich entsteht in der
Wechselwirkung zwischen dem ausschließlichen Erleben des eigenen Ich (‚es gibt
nichts außer mir‘ und dem Erleben von Objekten und Phänomenen außerhalb des
Selbst und dessen omnipotenter Kontrolle.“ (Winnicott 1974, S. 116)
Bei Winnicott hat das kindliche Spiel eine ganz besondere Bedeu-
tung für die Entwicklung der beiden Pole menschlicher Lebensbe-
wältigung: für die Entwicklung seiner kreativen Kräfte und für die
Entwicklung seines Realitätsbezugs. Das Spiel leistet die Vermitt-
lung: In ihm finden beide Pole zu ihrem Recht, ohne das Recht des
jeweils anderen Pols zu bestreiten. In der Vermittlung können die
kreativen Kräfte wirksam werden, das heißt in die Realität gestaltend
hineinwirken, statt nur unverwirklicht in der Phantasie gehalten zu
169
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
170
Arbeit und Spiel
171
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
172
Arbeit und Spiel
173
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
7.4.4 Kultur-Raum
Wenn wir versuchen zu begreifen, was für ein Ort der Potentielle
Raum ist, müssen wir uns davor hüten, ihn in den Kategorien des äu-
ßeren oder des inneren Raums zu erfassen zu versuchen. Der Poten-
tielle Raum ist kein besonderer Ort in der äußeren Welt; und er ist
keine geheime Kammer in unserer Psyche. Er ist der Raum, in dem
Inneres und Äußeres einander begegnen und einander durchdringen.
Seinen Ursprung hat er in der frühkindlichen Entwicklung, wenn das
Kind beginnt zu spielen. Spielen ist die originäre Art der Weltbe-
gegnung im Potentiellen Raum. Es ist für Winnicott die Wurzel aller
kulturellen Erfahrung und Kreativität.
Weder im Raum der reinen Innerlichkeit können wir leben noch
im Raum der reinen Äußerlichkeit. Im Raum der reinen Innerlich-
keit ist uns zwar alles möglich; aber nichts davon ist real. Im Raum
der reinen Äußerlichkeit sind wir Objekte unter Objekten, funk-
tionelle Elemente eines natürlichen und sozialen Reiz-Reaktions-Zu-
sammenhangs, der uns unsere Bewegungsmöglichkeiten diktiert.
Auch hier leben wir nicht, weil für die Subjektivität des Ich kein
Raum ist.
Nur dort, wo unser Inneres, unsere Phantasien und Träume in die
Realität eindringen können, weil diese hierfür Raum gibt, indem sie
sich sozusagen zurücknimmt in ihrer Definitionsmacht, wo wir Frei-
174
Arbeit und Spiel
raum oder Spielraum erhalten, und nur dort, wo wir die Realität in
uns einlassen, uns auf sie einlassen und sie nicht leugnen, können wir
leben. In diesem Raum werden Inneres und Äußeres sozusagen trans-
parent füreinander. Die Bezeichnung Potentieller Raum weist darauf
hin: Es erschließen sich wechselseitig die Potenziale des Inneren (un-
sere subjektiven Gestaltungskräfte) und des Äußeren (die in der Ob-
jektivität noch schlummernden unentborgenen Möglichkeiten).
Durch diese sich wechselseitig erschließende Potenzialität werden so-
wohl der einzelne Mensch mit seinen inneren Kräften als auch die äu-
ßere Welt, zu der er in Beziehung tritt, in die Möglichkeit der Ent-
wicklung gestellt, und zwar einer miteinander verbundenen
Entwicklung: Durch die Entwicklung der individuellen Kräfte er-
schließen sich die Möglichkeiten der Welt, und durch die Entwick-
lung der Welt erschließen sich die individuellen Potenziale. Diesen
Zusammenhang nennen Pädagogen Bildung.
Um es festzuhalten: Bildung ist demnach nicht – wie wir es ge-
wöhnlich verstehen – die Entwicklung nur des einzelnen Menschen
in einer gegebenen, sich jedenfalls unabhängig von ihm ent-
wickelnden Welt; sondern die gemeinsame und einander durch-
wirkende Entwicklung von Individuum und Welt. Deshalb gehören
Bildung und Weltgestaltung (Kultur) zusammen.
175
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
und Kreativität entbunden und konstruktiv, indem sie sich den Ge-
gebenheiten vermitteln. Denn nicht nur unverrückbare Fakten sind
„gegeben“; sondern ebenso Möglichkeiten (Potenziale) des Anderen,
Neuen. Wo man sich blind nur der Faktizität beugt, wird die Mög-
lichkeit zum Andern nicht sichtbar. Die Welt stagniert. In Entwick-
lung versetzt wird sie nur durch die utopische Kraft der Bildung, die
sowohl Selbstbildung ist als auch Weltbildung.
Das Spiel ist daher nicht nur ein Gegenbegriff zur Arbeit. Son-
dern Spiel und Arbeit gehören zusammen. Bleibt das Spiel in den
Sandkasten eingesperrt, in eine bloße Phantasiewelt und kann es sich
nicht der Lebensrealität mit ihren Notwendigkeiten vermitteln, dann
bleiben die in ihm sich ausdrückenden kreativen Kräfte unwirksam.
Das Spiel wird belanglos, bloßer Zeitvertreib. Fehlt der Arbeit jeder
Spielraum, dann fehlt ihr auch jedes schöpferische Element. Dann
wird sie zur reinen Funktion, einer Tätigkeit ohne eigenen Beitrag
des Tätigen. Dann wird die Arbeit kulturlos.
Deshalb muss Pädagogik die Heranwachsenden an die Arbeit her-
anführen, indem sie sie spielen lässt.
176
Achte Vorlesung
Bildung
8.1 Brüderlichkeit
8.2 Klassik
8.3 Bestimmungen des Bildungsbegriffs
8.3.1 Bildung und Erziehung
8.3.2 Transitiver, intransitiver und reflexiver
Bildungsbegriff
8.3.3 Unbestimmbarkeit und Selbstbestimmbarkeit
der Bildung
8.4 Historische Bedingungen selbstbestimmter Bildung
Musik:
Ludwig van Beethoven – Symphonie Nr. 9 d-moll op. 125 (1824).
Ode an die Freude.
8.1 Brüderlichkeit
Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
wir betreten feuertrunken,
Himmlische, Dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
was die Mode streng geteilt.
Alle Menschen werden Brüder,
wo Dein sanfter Flügel weilt.
Seid umschlungen, Millionen,
diesen Kuß der ganzen Welt.
Drüben, hinterm Sternenzelt,
muß ein guter Vater wohnen.
177
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
178
Bildung
8.2 Klassik
Damit komme ich zu einem zweiten Anknüpfungspunkt an die ein-
leitende Musik. „Klassische Musik“ nennt man das ja auch, was Sie
soeben gehört haben. Das Wort Klassik ordnet diese Musik ein. Es
ordnet sie zeitlich ein: Die Zeit der „Wiener Klassik“, wie die
ursprüngliche Benennung für das, was wir heute Klassische Musik
nennen, lautete, umfasste einige Jahrzehnte um das Jahr 1800 her-
um, liegt also jetzt etwa zweihundert Jahre zurück. Zu ihr wurden ge-
zählt: Haydn, Mozart, Beethoven. Später wurde der Begriff, auf
179
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
180
Bildung
181
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
und angenommen zu sein, und die Bildung der Vernunft wird zu ei-
ner abstrakten Verstandesschulung.
183
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
184
Bildung
185
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
geht. „Der Eigensinn des Lernens“ habe ich das Buch genannt. (Se-
sink 1990)
Sie sehen allerdings, dass ich einen Zusatz zum Lernbegriff ge-
wählt habe: „Eigensinn“ des Lernens. Dieser Zusatz zielt auf den
ausgeklammerten Bildungsbegriff. Der Begriff des Lernens hat näm-
lich eine Neutralität, die dem Bildungsbegriff nicht zukommt. So
macht es keine Probleme, davon zu sprechen, dass Tiere lernen; doch
würde wohl niemand sagen, dass Tiere gebildet werden. Beim Bil-
dungsbegriff wird in der Regel eine Qualität mitgedacht, die nicht je-
des Lernen auszeichnet. Diese Qualität besteht darin, dass das Ler-
nen, das wir als Bildung zu bezeichnen bereit sind, einen Sinn hat,
der sich auf das Menschsein oder auf ein menschenwürdiges, dem
Menschen angemessenes Leben bezieht – was immer jeweils darunter
verstanden werden mag. Menschenbildung hieß es im Beginn des 19.
Jahrhunderts deshalb auch ausdrücklich. Mehr noch: allgemeine
Menschenbildung, womit gesagt ist, dass jenes Lernen, jene Entwick-
lung gemeint sein sollte, zu der jeder Mensch ganz einfach durch sein
Menschsein berufen und aufgefordert sein sollte.
186
Bildung
abhängig von Zeit und Ort, von kultureller Tradition und gesell-
schaftlicher Verfassung, vom Stand der Produktivkräfte und von der
Reflexion auf dies alles. Es ist immer in Bewegung, vielfältig differen-
ziert; auch in sich widersprüchlich. Dass man – was die Techniker,
Naturwissenschaftler, Mathematiker und Informatiker unter den
Studierenden so oft als Verschwommenheit und Mangel an Präzision
in der Pädagogik beklagen – dass man den Bildungsbegriff nicht ein-
fach definieren kann, liegt in der „Natur“ dieser „Sache“. Nein, was
Bildung ist, steht ständig zur Disposition; und eben dies noch ist Mo-
ment der Bildung: dass sie sich selbst bestimmt und deshalb nicht
vorweg bestimmbar ist. Bildung ist eben nicht eine irgendwie von
woanders – von Natur oder von Gesellschaft – her bestimmte oder
bestimmbare, sondern eine sich selbst bestimmende Entwicklung.
187
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
188
Neunte Vorlesung
Tradition und Erneuerung
Musik:
Georg Friedrich Händel: Hallelujah (aus dem „Messias“) (1741)
189
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
190
Tradition und Erneuerung
191
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Jenes Herz voll Liebe wird von der Verständnislosigkeit der Welt durchbohrt
werden wie von einer Lanze, und bitter wird ihm vorkommen, was die Bildung ihm
zum Stillen seines Durstes darreicht.
Schon steht das Grab bereit für die Seele des Kindes, die inmitten so vieler Un-
natürlichkeit nicht zu leben vermag; und ist sie begraben, dann werden viele Wäch-
ter darauf sehen, daß sie nicht aufersteht.
Aber das Kind ersteht immer wieder und kehrt immer wieder, frisch und lä-
chelnd, um unter den Menschen zu leben. Wie Emerson sagt: das Kind ist der ewige
Messias, der immer wieder unter die gefallenen Menschen zurückkehrt, um sie ins
Himmelreich zu führen.“ (Montessori 1952, 302f.)
Nehme ich aber das Bild vom Kind als Messias wirklich ernst, dann
kann es keine Erziehung geben. Der mythische Jesus konnte nicht er-
zogen werden. Die Welt kann das Neue, das der Messias bringt, le-
diglich aufnehmen, sich ihm öffnen. Sie kann sich ihm auch versper-
ren, es abwehren; es ignorieren. Sie kann sogar versuchen, das Kind
zu töten, um die Revolution zu verhindern. Aber Erziehung ist aus-
geschlossen. Messianismus kennt keine Vermittlung, keine Ausein-
andersetzung. Er kennt nur die Verkündigung, die Botschaft, die
Mission. Die Welt kann nur empfangen; sie hat nichts zu geben. Al-
les, was die neue Ordnung ausmachen soll, bringt das Kind mit. Und
die Erwachsenen haben nur eine Chance, wenn sie selbst wieder wer-
den „wie die Kinder“, rein und unschuldig und mit keiner Faser ihrer
Existenz gebunden an die bestehende Weltordnung.
Der Messias kommt in diese Welt, um ihr anzugehören; aber er
kommt nicht aus dieser Welt. Und so kann er ihr eben doch nicht
angehören. Er ist gekommen, und die Welt konnte und wollte ihn
nicht aufnehmen. Es hat, so würde ich sagen, keine Vermittlung ge-
geben. Er ist wieder gegangen. Die Erwartung bleibt. Irgendwann
wird vielleicht wieder ein Erlöser kommen; jedes Kind könnte es sein.
An diesem Gedanken ist etwas sehr Schönes. Das Kind wird in
seinem eigenen Sinn wahr- und angenommen. Dem Messias bei-
bringen zu wollen, was der Sinn seiner Existenz ist, wäre absurd. Aber
es wird dem Kind auch Enormes zugemutet: Ihm allein wird die gan-
ze Mühsal aufgebürdet, das Elend dieser Welt zu beseitigen. Die ge-
samte zu leistende Arbeit einer Gestaltung der Welt zum Guten wird
dem Kind aufgelastet. Es liegt eine Selbsterniedrigung in dieser Erhö-
192
Tradition und Erneuerung
9.2 Kindheit
Jetzt komme ich zum Thema der heutigen Vorlesung. Eines ist klar:
Der Messias steht für das ganz Neue; für eine Erneuerung von Grund
auf; für den Bruch mit der Tradition.
Betrachten wir die gesellschaftliche Funktion der Pädagogik, wie
sie sich in den pädagogischen Einrichtungen, etwa in der Schule, ma-
nifestiert, dann werden wir eher in der Tradierung von Kultur, in der
Sicherung von Kontinuität in der Generationenabfolge ihren Kern
sehen. Und ich hatte ja auch schon gesagt: Messianismus ist eine an-
tipädagogische Haltung.
Und dennoch ist Pädagogik nicht einfach das Gegenteil von Mes-
sianismus. Die Hoffnung auf die erneuernde Kraft, die mit jedem
Kind in diese Welt kommt, gehört auch zur Pädagogik; jedenfalls
dann, wenn sie nicht Schwarze Pädagogik ist. Ich hatte dies in der
letzten Woche mit dem abstrakten Begriff der intransitiven Bildung
bezeichnet: jene Entwicklung, die ihre Initiative im Kinde selbst, in
seinem eigenen Sinn hat; und die insofern keine Funktion der Gesell-
schaft, keine Reaktion auf Anforderungen der Gesellschaft ist, son-
dern eine potentiell gesellschaftsverändernde Kraft. Winnicott nann-
te dies den „spontanen Impuls“; Hannah Arendt nannte es „Natali-
tät“. Und gerade dieses Wort nimmt ja direkt Bezug auf die
erneuernde Kraft der Geburt.
Die heutige Vorlesung ist überschrieben mit Tradition und Er-
neuerung. Weihnachten ist Tradition. Aber es bewahrt die Erinne-
rung an eine radikale Erneuerung, die durch die Geburt des Messias
in die Welt kommen sollte. Beide Motive sind so in unserem Weih-
193
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
194
Tradition und Erneuerung
den sollte, aufs schärfste kritisiert. Indem sie eine Hege- und Pflege-
pädagogik propagiere, die doch das Kind nicht wirklich stärke in sei-
ner Widerstandskraft gegen die unmenschliche Gesellschaftsord-
nung, vor deren Zugriff sie es angeblich bewahren solle, liefere sie es
ganz im Gegenteil geradezu der Raserei seiner blindwütigen Entwick-
lungsdynamik aus:
„Mit dem Begriff der Kindheit wird eine Natur verbunden, die den Sündenfall noch
nicht hinter sich hat; Kindheit fällt so über die eigene Erinnerung wie ein Licht in
die Welt, ist Unschuldsnatur, die an ihr leiden muß, aber der Rettung sicher ist. …
die Hellsicht des Kindes ist die Hellsicht einer unverdunkelten Vernunft. Naivität
erscheint als ungebrochenes Verhältnis zur Wahrheit, die vom Kinde erkennbar ist.
… Dem Wachstum des Kindes, das seinen eigenen Naturgesetzen folgen soll, ent-
spricht die Freisetzung aller Triebkräfte in der kapitalistischen Gesellschaft. …
Das Recht auf natürliche Selbstentfaltung, das die liberale Pädagogik im An-
schluß an Rousseau aufnimmt, ist die Selbstentfaltung der Gesellschaft, innerhalb
derer dieses Recht erhoben wird.“ (Heydorn 1972, 59, 62, 64)
Aber Heydorn schlägt sich damit nicht etwa auf die Seite der Schwar-
zen Pädagogik. Was er kritisiert, ist auch hier der Mangel an Vermitt-
lung. Die kindliche Natur kann nicht einfach als Heilsbringerin
Schluss machen mit aller Tradition und einen absoluten Anfang set-
zen. Indem dem Kind in seiner Natur alle Kraft zugeschrieben wird,
die es benötigt, um den Lauf der Welt zum Guten zu wenden, wenn
die Welt es nur gewähren lässt, wird ihm tatsächlich der päd-
agogische Beitrag vorenthalten, ihm die Vermittlung mit dieser Welt
zu ermöglichen, es mit der kritischen Kraft zu versehen, welche aus
der Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse, deren Geworden-
heit und deren Gestaltbarkeit, kommt. Es wird – so Heydorns Vor-
wurf an die Reformpädagogik – an seine Unbedarftheit und Naivität
geradezu fixiert, ohnmächtig gehalten gegenüber der übermächtigen,
da undurchschauten gesellschaftlichen Realität.
Erst in dieser Verbindung mit der kritischen Vernunft, erst aufge-
klärt vermag die kindliche Natur sich mit der Gesellschaft zu ver-
mitteln und tatsächlich zu einer gesellschaftsverändernden Kraft zu
werden. Und so fährt Heydorn nach seinen vehementen Angriffen
auf die Reformpädagogik fort:
195
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
„Dennoch ist Kindheit die Geburt eines neuen Menschen, eine stets wiederholte
Möglichkeit, Fortsetzung und absoluter Anfang. Eine alte jüdische Erwartung be-
sagt, daß mit jedem Kind der Messias geboren werden kann. Sein Kommen setzt die
gesamte bisherige Arbeit des Menschengeschlechtes voraus, da er nicht zufällig er-
scheint, sondern erst, wenn die vermenschlichende Arbeit reif ist; besagt aber, daß
mit jedem Kinde die Determination durchbrochen werden, der Mensch in sein
Menschentum gelangen kann. Geburt ist die Unberechenbarkeit innerhalb der De-
termination, mit Kindheit wird Mögliches gegenwärtig, ‚terra incognita‘. Dies ist
kein Irrlicht; die Erwartung richtet sich darauf, daß die Widersprüche überwunden
werden, denen wir unterlegen sind. Es ist dies die alte Erwartung der aufsteigenden
Menschheit, die im Kinde das Kommende sieht, die mögliche Befreiung, das Her-
vortreten des Menschen aus seiner Zerschlagenheit. Eben solches wird nicht ge-
schenkt. Es setzt voraus, daß das Auge geöffnet, die wirkliche Welt angeeignet wird,
um sie hinter uns zu lassen. … Der Mensch wurde als neuer Anfang in seine Ge-
schichte gesetzt, aber nicht ohne diese Geschichte. Kindheit, Dämmerung eigenen
Beginns, Licht an der Grenze des Bewußtseins, wird zum kommenden Licht.“ (Hey-
dorn 1972, 67f.)
Mit diesen Worten beschließt Heydorn das Kapitel über „Kindheit“.
Auch er erkennt die „Natalität“ an, das revolutionäre Potenzial,
das in der Geburt jedes Kindes entbunden wird. Worauf er uner-
bittlich besteht, ist der Anschluss an die Tradition. Worauf er un-
erbittlich besteht, ist Vermittlung. Worauf er unerbittlich besteht, ist
Erziehung: jene notwendige Fremdbestimmung, die von der Gesell-
schaft ausgeht und in der allein die Möglichkeit des Wirklichwerdens
des eigenen Sinns beschlossen liegt.
196
Tradition und Erneuerung
sie stoßen können. Dann hätten die Lernenden die Chance, diese
Dinge selbst zu „finden“, statt sie aufgeladen zu bekommen. „Fin-
den“ kann man etwas aber nur, wenn man – möglicherweise ohne es
zu wissen – danach gesucht hat. Im Moment des Findens erst spürt
man sein Suchen. Was man gefunden hat, ist eine Möglichkeit, eine
Potenzialität, die mit diesem Ding verbunden ist, zugleich aber auch
als „Möglichkeit zu ...“ bestimmt ist durch den kreativen Impuls des
findenden Menschen. Winnicott erinnert an das frühestkindliche
Finden der Brust und daran, dass dieses Finden im subjektiven Erle-
ben ein Erschaffen war. So enthalte auch das spätere Finden der kul-
turellen Güter, die die Generation der Erwachsenen herumliegen
lässt, dieses Moment des Erschaffens. In der kreativen Aneignung
werden die kulturellen Güter neu geformt.
Es kann gar nicht ausbleiben, dass die Kinder etwas anderes fin-
den, als die Erwachsenen glauben, liegen gelassen zu haben. Oft fin-
den sie etwas, von dem die Erwachsenen gar nicht wussten, dass sie
es liegengelassen hatten. Oder sie finden etwas, das die Erwachsenen
lieber vor ihnen versteckt hätten. Oder sie finden etwas, das die Er-
wachsenen längst verloren glaubten. Oder sie finden etwas, das ganz
anders aussieht als das, was die Erwachsenen liegen gelassen zu haben
glauben. Kulturelle Phänomene können eben nicht einfach so, wie
sie sind, aufgehoben und in die Tasche gesteckt werden. Sie zu fin-
den, sie sich anzueignen, heißt, ihnen eigene Form zu geben; und die-
se eigene Form hat zu tun mit dem, wonach dieses Kind gerade auf
der Suche ist, hat also zu tun mit seinen ganz persönlichen Lebensim-
pulsen. Sicher kann man mit kulturellen Phänomenen in einer Weise
umgehen, die ich vorhin etwas nachlässig, aber treffend, wie ich mei-
ne, als „Einsacken“ bezeichnete. „Eingesackt“ aber sind sie tot und
langweilig. Lebendig und belebend werden sie erst durch wirkliche
„Aneignung“. Dass Erwachsene sie in dieser neuen Lebendigkeit an-
schließend womöglich buchstäblich nicht mehr wiedererkennen, ge-
hört dazu und muss akzeptiert werden, wenn man die Welt der Kul-
tur nicht zum musealen Anschauungsobjekt erstarren lassen will.
197
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
198
Zehnte Vorlesung
Autorität und Rebellion
Musik:
Ton Steine Scherben – Macht kaputt, was Euch kaputt macht!
(1970)
199
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
200
Autorität und Rebellion
Lippen hingen. Rockmusik war die Musik der Rebellion gegen diese
Eltern-Generation.
Der Text des Songs listet in den paar Zeilen so ziemlich alles auf,
wogegen die Rebellion sich richtete: die Stumpfsinnigkeit und Pas-
sivität des Medienkonsums, den Konsumterror der Wirtschafts-
wundergesellschaft, die Macht des Geldes, die Verwüstung der Welt
durch Fabriken und Maschinen, den Produktionswahn, den Rü-
stungswahn, den imperialistischen Krieg in Vietnam, den Poli-
zeistaat, den Kapitalismus und sein Rechtssystem, die Staatsgewalt.
Und gegen wen wird dieser ganze Machtapparat aufgeboten? Gegen
„uns“, die Generation der Jugend.
„Jugend“ war damals ziemlich genau umrissen. Keineswegs galt,
was heute so gern gesagt wird: Jeder ist so alt, wie er sich fühlt. Nichts
da! „Trau keinem über dreißig!“ Diese Parole konnte nicht interpre-
tiert werden als: Trau keinem, der sich älter fühlt als dreißig. Es ging
nicht um Rüstigkeit und Lebenslust; sich jung erhalten zu haben;
sondern um die objektive Zugehörigkeit zu einer Generation, die für
die Entstehung von Lebensverhältnissen verantwortlich gemacht
wurde, welche kaputt machte, und zwar alles und jeden. Wer über
dreißig war, gehörte zum „Establishment“, egal wie jung er sich fühl-
te.
Von denen, die sich selbst schon zugrunde gerichtet hatten, die
selbst schon völlig „kaputt“ waren, wollte man sich nicht weiter „ka-
putt machen“ lassen. Deshalb mußte man kaputt machen, was ka-
putt machte. Gewalt als Gegengewalt. Und vor allem: Gewalt nur ge-
gen Sachen beziehungsweise Strukturen, keine Gewalt gegen
Personen – das war damals die von den Meinungsführern der Rebel-
lion ausgegebene Losung. In dem zweiten TSS-Song, der am Ende
der heutigen Vorlesung laufen wird und der den Titel trägt „Wir
streiken“, wird die gemeinte Gegengewalt bezeichnet; sie versteht
sich in der Hauptsache als nicht-mehr-mitmachen, anhalten, aufhal-
ten, verweigern, stoppen, sabotieren. (In den Jahren danach hat sich
gezeigt, dass die Trennung von Gewalt gegen Sachen und Gewalt ge-
201
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
202
Autorität und Rebellion
203
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
204
Autorität und Rebellion
10.2 Vaterlandsverrat
Erziehung als Traditionssicherung ist so alt wie die Menschheits-
geschichte. Jedes Kind muss – heute in der Regel von seinen Eltern,
aber das war nicht immer so – in die bestehende gesellschaftliche
Ordnung eingeführt werden; eine Ordnung, die ihm als die Ord-
nung, als die Welt der Erwachsenen, der Generation seiner Eltern er-
scheint, obwohl sie von sehr viel weiter her kommt. Aber von den Er-
wachsenen selbst wird sie als „ihre Ordnung“ angesehen, als ihr
„Eigenes“, das sie zu bewahren suchen. Denn die Eltern sind – wie
ich in einer früheren Vorlesung gesagt habe – Mit-Eigentümer in die-
ser Eigentums-Ordnung, beziehen daraus ihre Berechtigungen und
Verpflichtungen im Zugriff auf die Welt, aber sind damit auch Be-
standteil dieser Ordnung, ihr selbst übereignet: müssen auch entspre-
chend dieser Ordnung über sich verfügen lassen.
Den Eltern erscheint die gesellschaftliche Ordnung als ihre eigene
Ordnung. (Auch dies ist nicht ohne Brüche, selbstverständlich. Aber
davon soll an dieser Stelle abgesehen werden.) Für das Kind ist dies
205
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
erstmal eine fremde Ordnung; mehr noch: für das Kind ist Ordnung
überhaupt erstmal etwas Fremdes. Deshalb kann umgekehrt das
Kind als Fremder erscheinen, gegen den das Eigene der Eigentums-
Ordnung verteidigt werden muss.
Integration in die bestehende Ordnung, Aneignung der Kinder
durch die Gesellschaft, dies ist – geschichtlich betrachtet – die Si-
cherung der Tradition, der Überlieferung, des kulturellen Erbes.
Überlieferung vollzieht sich im Generationenverhältnis. Als Gene-
rationenverhältnis übersteigt es das bloße Eltern-Kind-Verhältnis.
Dies ist im Kern ein intimes Verhältnis, auch ein Liebesverhältnis.
Das Generationenverhältnis dagegen ist alles andere als intim. Und
ob dabei sehr viel Liebe im Spiel ist, mag bezweifelt werden.
In der Familie überlagern sich diese beiden Dimensionen des Ge-
nerationenverhältnisses. Welche mehr im Vordergrund steht, hängt
sehr stark ab vom Rollenverständnis der Eltern. Insbesondere Vätern
wird oft eher die Aufgabe zugeschrieben, für die gesellschaftliche Di-
mension des Eltern-Kind-Verhältnisses einzustehen; während Müt-
tern eher die Dimension der Intimität nahegelegt wird. Der Konflikt
zwischen Vater und Mutter ist oft durch diese spannungsvolle Diffe-
renz geprägt.
In der Studentenbewegung war der Generationenkonflikt
tatsächlich in erster Linie ein Konflikt mit den Vätern. Bei der eben
beschriebenen Rollenzuschreibung kann dies auch gar nicht anders
sein.
Der Generationenkonflikt als Konflikt mit den Vätern wird dann
notwendig auch ein Konflikt der Jugend mit dem sogenannten Va-
terland. Schon das Wort erzeugte bei meiner Generation damals Ab-
scheu, Ekel, Verachtung. Es stand für die Gesamtheit dessen, was uns
kaputt machte. Und es war gleichzeitig durch die Generation der El-
tern mit einer falschen Gloriole versehen, von einem weihevollen
Dunst umgeben, in dessen dunklem Nebel grauenhafte Verbrechen
verborgen wurden. Der Inbegriff der Vergewaltigung einer ganzen
Generation war der militärische Dienst für das Vaterland; Kriegs-
206
Autorität und Rebellion
207
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Musik:
Jimi Hendrix – Star Spangled Banner (1968).
Vom Album „Experience Hendrix“ (1997)
208
Autorität und Rebellion
Jimi Hendrix‘ Version kommt ohne Text aus. Hier „spricht“ al-
lein die Musik, in einer Sprache, die an Deutlichkeit nichts zu wün-
schen übrig lässt. Dies ist Eure Sprache, Euer Text, hieß dies zu-
gleich. In dieser Sprache wollen wir nicht mit Euch sprechen.
Zwischen den Generationen herrschte damals in der Tat weitge-
hend Sprachlosigkeit. Die Jugend wollte nicht mehr die Sprache der
Erwachsenen sprechen; und die Erwachsenen wollten die Sprache der
Jugendlichen nicht verstehen. Wenn Worte etwas sagen, was ich
nicht sagen will, dann gerate ich beim Aussprechen dieser Worte ins
Stammeln. Dann fällt es mir schwer, diese Worte überhaupt heraus-
zubringen. Es gibt eine Sprachhemmung. Ich stottere, „talking ‘bout
my gggegeneration“.
Musik:
The Who – My Generation (1965);
Vom Album „Who Sings My Generation“ (1965)
10.3 Autorität
Im Generationenverhältnis überlagern sich, wie ich sagte, zwei Di-
mensionen von Erziehung. Zum einen ist darin enthalten das Ver-
hältnis von Eltern zu ihren Kindern. Zum zweiten das Verhältnis der
Gesellschaft zur Jugend.
Die Sicherung kultureller und gesellschaftlicher Kontinuität über
die Generationenabfolge hinweg ist eine gesellschaftliche Funktion
der Erziehung, die insbesondere von der Soziologie in den Blick ge-
nommen wird. Diese Betrachtungsweise ist nicht gerade urpäd-
agogisch. Denn sie verliert die Entwicklung des einzelnen Menschen
aus dem Blick beziehungsweise sieht sie nur noch im Hinblick auf ih-
ren Beitrag zur gesellschaftlichen Reproduktion. Dennoch gehört sie
zur Pädagogik. Wir können nicht die pädagogische gegen die so-
ziologische Sichtweise ausspielen. Denn das Verhältnis der Eltern zu
ihren Kindern spielt sich nicht im gesellschaftsfreien Raum ab.
209
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Wie Hegel gesagt hat (ich habe dies schon zitiert), gilt in der Fa-
milie das Kind um seiner selbst willen. Hier hat die Liebe der Eltern
zu ihren Kindern ihren Ort, eine Liebe, die bedingungslos ist, das
heißt nicht abhängig gemacht wird von der Leistungsfähigkeit des
Kindes, von seinen Begabungen, seiner Schönheit, seiner Wohlerzo-
genheit undsoweiter Aber die Familie hat auch eine gesellschaftliche
Aufgabe, nämlich die Aufgabe der Erziehung. Und damit kommt et-
was anderes in das Eltern-Kind-Verhältnis hinein, das das Liebesver-
hältnis nicht verdrängen muss, es aber überformt: Integration der
Kinder in die bestehende Ordnung. Mit Liebe ist es da nicht getan,
wie Hegel betonte. Hier tritt notwendig die „Zucht“ hinzu (bis hin
zur „Züchtigung“), das Moment mehr oder weniger gewaltsamer
Fremdbestimmung in der Erziehung.
So hat auch die Familie eine Doppelfunktion. Sie ist Ort des un-
mittelbaren Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern. Und sie ist
eine gesellschaftliche Institution mit einer gesellschaftlichen Funk-
tion. Dass sie Ort des unmittelbaren Verhältnisses zwischen Eltern
und Kind sein kann, hat gesellschaftliche Bedingungen. Die Gesell-
schaft muss es ihren Mitgliedern erlauben, in ein solches Verhältnis
der Liebe zu ihren Kindern zu treten. Was uns heute als eine selbst-
verständliche Norm erscheint, deren Verletzung äußerste Gewissens-
qual nach sich zieht, nämlich dass Eltern ihre Kinder lieben sollten,
kann für unsere Weltregion erst seit etwa zweihundert Jahren Gel-
tung beanspruchen. Uns heute erscheint unfassbar, dass Jean-Jacques
Rousseau, der doch das Erziehungsverhältnis als ein Verhältnis der
Liebe zum Kind zu begründen versuchte, seine eigenen Kinder weg-
gegeben hat an irgendeine fremde Frau, die sich um sie kümmern
sollte. Wie kann jemand, der die Liebe des Erziehers zum Kind so
stark betont, so mit seinen eigenen Kindern umgehen? Was sich dar-
an jedoch zeigt, ist, dass Rousseau in seinem realen Leben noch ein
Angehöriger seiner Zeit war, in der das, was er propagierte, eben kei-
nerlei Gültigkeit besaß. Er war in der Theorie seiner Zeit voraus.
Aber diese seine Zeit steckte ihm noch gewaltig „in den Knochen“.
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Autorität und Rebellion
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Autorität und Rebellion
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Autorität und Rebellion
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
10.4 Emanzipation
In der Studentenbewegung ist die Jugend in Konfrontation gegangen
zu den Bildungsinstitutionen und zur Pädagogik dieser Institu-
tionen. Sie fragte nach den Bedingungen, unter denen eine „Erzie-
hung zur Mündigkeit“ (Adorno), das heißt zum kritischen Gebrauch
der eigenen Vernunft, möglich sei. Und sie forderte von der Päd-
agogik, sich dieser gesellschaftlichen Bedingungen einer Erziehung
zur Mündigkeit nicht nur bewusst zu sein, sondern sich auch für ihre
Herstellung und Sicherung einzusetzen.
Denn die Diagnose lautete: Unter den gegebenen Bedingungen
einer nur zum Schein demokratischen Gesellschaft, unter den Be-
dingungen einer Gesellschaft, welche ihre Jugend lediglich zu aus-
tauschbaren Leistungsträgern für profitorientierte Ökonomie aus-
bilden will, erhält die kritische Vernunft keine Chance, Autorität auf
ihre Legitimation hin zu befragen. An die Stelle von legitimierter Au-
torität tritt daher Herrschaft.
Daher bedurfte die Pädagogik einer Revision. Sie musste in ihre
eigene Theoriebildung die Frage nach ihren gesellschaftlichen Be-
dingungen und Verstrickungen aufnehmen, sich also gesellschafts-
theoretisch wenden. Und sie musste die Befähigung der Jugend zur
Kritik von Herrschaft als Bildungsziel für die pädagogische Praxis
218
Autorität und Rebellion
219
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Musik:
Ton Steine Scherben – Wir streiken! (1970)
220
Elfte Vorlesung
Gewalt
Musik:
Die Ärzte – Schrei nach Liebe (1993).
Vom Album „Die Bestie in Menschengestalt“ (1993)
221
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Das Publikum der Ärzte, die Käufer ihrer Platten sind vor allem Al-
tersgenossen des Jungen oder jungen Mannes, der darin als „Arsch-
loch“ tituliert wird. Der Songtext hat daher eine Hauptfunktion: Er
soll eine Zuwendung zu diesem Jungen bewirken, eine Zuwendung,
die zugleich Abgrenzung ist.
Die Zuwendung sagt: Seht ihn Euch an, diesen armen Jungen; er
macht einen auf harter Typ, auf gewalttätig. Aber man muss ihn ver-
stehen: Letztlich tut er nur so, das ist nur „Attitüde“, also ein äußer-
lich eingeübtes, ein aufgesetztes Verhalten. Innen drin im Herzen ist
das ein ganz lieber, nach Zärtlichkeit und Romantik dürstender Jun-
ge. Er weiß es nur selbst nicht. Das ist die Zuwendung: voller Ver-
ständnis und Empathie.
Das andere ist die Abgrenzung. Die Abgrenzung geschieht auf
einmal durch eine Beschimpfung: Arschloch! Junge, was bist Du für
ein Arschloch! Klingt wie eine spontane Reaktion. Wenn ein „nor-
maler“ friedlicher Mensch so einen Skin mit Springerstiefeln sieht,
wie er „Terz“ macht, dann ist das eine spontane Reaktion: Arschloch!
In dem Songtext geht dem allerdings was anderes voraus: das Ver-
ständnis, die „Artikulation“ des Verständnisses. Und damit die Ab-
grenzung auf intellektueller Ebene. Die ist wiederum doppelt. Sie be-
steht erstens darin, festzuhalten, dass dieser arme Junge auch arm im
Geiste ist. „Saudumm“, versteht nichts, kennt keine Fremdwörter.
Und vor allem weiß er eben nichts über sich selbst, er versteht sich
selbst nicht. Wir hingegen: Wir sind intelligent; wir kennen Fremd-
222
Gewalt
wörter, wir verstehen uns selbst. Aber damit nicht genug: Wir verste-
hen nicht nur uns selbst, sondern wir verstehen auch ihn, den armen
Jungen.
Mit anderen Worten: Wir, die Ärzte und ihre Fans, sind nicht
einfach nur anders; wir reagieren keineswegs nur emotionalspontan
auf die Andersheit dieses Jungen: „Arschloch!“. Wir sind ihm haus-
hoch überlegen. Wir verstehen ihn besser als er sich selbst. Unser Ur-
teil „Arschloch“ ist kein spontanes, emotionales, sondern ein wohlbe-
gründetes, durchdachtes Urteil.
Haben wir den armen Jungen so schon einmal intellektuell weit
unter uns gestellt, können wir unsere Überlegenheit weiter ausbauen.
Der Junge ist ja nicht nur „saudumm“. Er ist ja auch sonst ein Nichts:
Seine Probleme interessieren niemand; nicht einmal seine Eltern und
seine Freundin; die Besseres zu tun haben, als sich für ihn Zeit zu
nehmen. Niemand liebt ihn; niemand ist zu ihm zärtlich. Er hasst
sich selbst. Er hält sich selbst für ein Arschloch, das man nicht lieben
kann. Und sucht sich Opfer für seinen Hass, der eigentlich ihm selbst
gelten müsste. Das ist eine Verschiebung, eine „Projektion“, wie „die
Ärzte“ diagnostizieren. „Verdient“ haben den Hass gar nicht die, ge-
gen die die Gewalt dieses Jungen sich dann richtet. Verdient hat er
selbst ihn.
Aber Hass ist ja immer noch eine emotionale, „saudumme“ Reak-
tion; eine unreflektierte, eine verständnislose Reaktion. Deshalb
kommt in dem Song der Ärzte auch nicht etwa Hass zum Ausdruck,
sondern Verachtung. Die Verachtung dessen, der sich in jeder Bezie-
hung himmelhoch überlegen weiß: dessen, der intelligent ist, der mit
Sprache umgehen kann, der sich artikulieren kann, der Menschen
besser versteht als sie sich selbst, der Zärtlichkeit kennt, der Liebe
kennt; kurz die Verachtung dessen, mit dem es das Leben gut ge-
meint hat, für den, der zu kurz gekommen ist.
Als was tritt die Band hier auf? Denken Sie an die Vorlesung in
der letzten Woche. Die „Ärzte“ treten als Autorität auf. Sie bringen
ihre Überlegenheit zum Ausdruck: eine Überlegenheit an Erfahrung,
223
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
224
Gewalt
besser wüßten, was mit ihm los sei als er selbst. Dass er das doch ein-
sehen und ihren Ratschlägen folgen, ihren Maßnahmen sich fügen
solle.
Ja, aus dem Song der Ärzte meldet sich diese Welt der Normalen,
der Besserwisser, derer, die es geschafft haben, derer, die in dieser Ge-
sellschaft die Macht haben zu entscheiden, ob man für diese Schule
geeignet ist, welchen Beruf man ergreifen darf, ob man überhaupt
Arbeit kriegt, wo man sich aufhalten darf. Die die Urteile abgeben.
Und die die Ausübung ihrer Macht immer verbrämen mit dieser „At-
titüde“ des Verständnisses – aber man weiß ja noch nicht einmal, was
„Attitüde“ heißt – , die Mitgefühl heucheln mit dem armen Jungen,
der all die guten Seiten des Lebens nicht kennengelernt hat, die sie
selbst so reichlich genießen dürfen. In dem Song meldet sich für den,
der gemeint ist, eben nichts anderes als diese Stimme der Gewalt, die
einem sagt, dass man ein Nichts ist, ungeeignet für diese Gesellschaft;
und einem einreden möchte, dass der Hass, den man gegen diese Ge-
sellschaft empfindet, falsch adressiert sei. Dass noch der eigene Hass
in einem selbst das ihm zukommende Objekt finde. Die einem ein-
reden wollen, dass man für niemanden, nicht einmal für einen selbst,
irgendeinen Wert hat.
Um es in einem Satz zusammenzufassen: Was ich aus dem Song
nur hören kann, ist die Arroganz der Integrierten gegenüber denen,
die es nicht geschafft haben und nie schaffen werden. Eine Arroganz,
die durch ihr geheucheltes Verständnis sich sowohl verkleidet als
auch hemmungslos verschärft. Die am andern, am Ausgegrenzten
nichts mehr gelten lässt, das ihm noch Würde verleihen könnte. Der
Schritt vom Verständnis zur Arroganz ist nicht groß. Ihn zu tun,
dazu gehört nur zweierlei: Dummheit und Lieblosigkeit. Dass sich
diese Band „die Ärzte“ nennt, mag noch ein wahrscheinlich sogar be-
wusster Ausdruck dieser Arroganz sein: die andern sind alle potenti-
elle Diagnose-Objekte.
Die Arroganz kommt daher mit der Attitüde – ich benutze dieses
Wort jetzt absichtlich – mit der Attitüde intellektueller Überle-
225
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
227
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
walt, die sich generell gegen die äußere Natur richtet, wenn diese um-
geformt, gebändigt, gezähmt, kultiviert werden soll und die man
weitgehend auch als Gegengewalt gegen die Naturgewalten, die „Ur-
gewalten der Natur“ verstehen kann.
Das Thema Gewalt in der heutigen Vorlesung meint allerdings
die Gewalt gegen Personen. Gewalt soll im folgenden unter zwei für
die Pädagogik wichtigen Gesichtspunkten betrachtet werden: als Er-
ziehungsgewalt; und als sogenannte Jugendgewalt. In dem Zu-
sammenhang werden wir auch von „struktureller Gewalt“ sprechen
müssen.
11.3 Erziehungsgewalt
Erziehungsgewalt war ein Thema für die Antipädagogik ebenso wie
für die Schwarze Pädagogik. Die Antipädagogik warf der Erziehung
prinzipielle Gewaltförmigkeit vor und lehnte sie deshalb ebenso prin-
zipiell ab. Die Schwarze Pädagogik verstand sich als notwendige Ge-
walt gegen den Eigensinn der Kinder; notwendig, um die Kinder zur
Vernunft zu bringen; und notwendig, um zu verhindern, dass sich
eine ungezähmte innere Natur in den Kindern gewaltsam durchsetz-
te und die menschliche Ordnung zerstörte. Wenn Sie sich außerdem
an die Bestimmungen des Erziehungsbegriffs erinnern, die ich Ihnen
in der zweiten Vorlesung vorgetragen habe, werden Sie sehen, dass
dort das Moment der Fremdbestimmung angeführt wurde als Mo-
ment, das zumindest latent auch Gewaltförmigkeit der Erziehung zur
Konsequenz haben könnte, nämlich immer dann, wenn sich der Ei-
gensinn des Kindes gegen die Fremdbestimmung sperrt. Die Frage,
der ich mich heute stellen möchte, ist die, ob gewaltfreie Erziehung
möglich ist.
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Gewalt
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Gewalt
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
stet hatte, dann können Sie all diese Varianten als Formen der Gewalt
ansehen. Denn jedesmal findet keine Vermittlung statt. Weil sie ob-
jektiv nicht möglich ist. Oder weil sie verweigert wird. Oder weil die
subjektive Fähigkeit dazu nicht gegeben ist. Oder aus welchem
Grund auch immer.
Erziehungsgewalt ist unausweichlich, solange und soweit die in
Erziehung intendierte Vermittlung nicht geleistet oder gelungen ist.
Erziehung wird zur reinen Gewalt, wenn sie diese Vermittlung gar
nicht intendiert. Als Erziehungsgewalt aber ist sie eine Gewalt, die
darauf abzielt, Gewalt hinter sich zu lassen.
11.3.3 Vermittlungsfähigkeit
Es gibt subjektive und objektive Voraussetzungen der Vermitt-
lungsfähigkeit. Objektiv kann es so sein, dass bestimmte Interessen,
Bedürfnisse, Positionen einfach nicht miteinander vereinbar sind,
auch nicht in Form von Kompromissen; und dass in ihnen auch kei-
ne Ansätze des Sich-aufeinander-Zubewegens zu finden sind. Für sol-
che Fälle muss eine Regelung gefunden werden, die sich wiederum
auf Vereinbarungen, das heißt auf Vermittlung stützt. Oder es greift
das Recht des Stärkeren und damit die Gewalt. Ein Beispiel aus dem
Erziehungsverhältnis: Der Bedürfnis eines Kleinkindes, seine Mutter
Tag und Nacht zur Verfügung zu haben, verträgt sich nicht mit dem
Bedürfnis der Mutter, auch einmal ausschlafen zu dürfen. Diese bei-
den Bedürfnisse sind nicht vermittelbar. Entweder – oder. Die Mut-
ter mag in sich selbst versuchen, Kompromisse zu finden. Aber wer
da Kompromisse schließt, sind zwei widerstreitende Seiten in der
Mutter, wobei eine Stimme in ihr sozusagen stellvertretend die Posi-
tion des Kindes einnimmt. Sie beharrt nicht strikt auf ihrem Recht
auf Nachtruhe. Ob sie ihr Kind schreien lässt oder aufsteht und es
aufnimmt, macht sie von der Situation abhängig. Aber das ist ihre
Entscheidung, kein Kompromiss, den sie mit dem Kind gemeinsam
gefunden hat. Es liegt in ihrer Gewalt, ob sie das Kind schreien lässt
oder nicht.
232
Gewalt
11.3.4 Vermittlungsbedürftigkeit
Dennoch steht Vermittlung nicht im Gegensatz zur Natur. Denn
was Menschen wohl von Natur aus mitbringen, ist ihre Vermitt-
lungsbedürftigkeit und ihr Vermittlungsstreben. Kinder bringen die
Tendenz mit auf die Welt, sich mit dieser Welt zu vermitteln. Sie
können es noch nicht, aber sie wollen es. Das ist das Spezifische der
menschlichen Natur: dass sie ein Bedürfnis enthält, das nur durch die
Vernunft befriedigt oder erfüllt werden kann.
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Gewalt
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
236
Gewalt
den Erzieher fehlt, dann wird Erziehung gewaltförmig oder sie dankt
ab. Ich denke nicht, dass die Gewaltförmigkeit von Erziehung völlig
vermeidbar ist. Wir können uns nur bemühen, sie weitestgehend zu
verringern und möglichst hinter uns zu lassen.
238
Gewalt
Es ist viel davon die Rede, dass die Gewalt an den Schulen steige
und steige. Gemeint ist physische Gewalt. Im Spiegel, im Stern und
überall lesen wir die Geschichten von schwerbewaffneten Ju-
gendlichen, von Lehrerinnen und Lehrern, die täglich um ihre Ge-
sundheit fürchten müssen. Im vergangenen Jahr muss es tatsächlich
mehrmals vorgekommen sein an Deutschlands Schulen, dass Lehrer
von Schülern verprügelt wurden.
Ich will nicht bewerten, was davon Medien-Hype ist und was tat-
sächlich Ausdruck gestiegener Gewaltbereitschaft unter Kindern und
Jugendlichen. Aber ich will auf etwas anderes hinweisen: Es ist noch
gar nicht lange her, da gehörte es zum täglichen Geschäft an
Deutschlands Schulen, dass Menschen verprügelt wurden. Dass –
nach heutiger Rechtslage – Straftaten verübt wurden. Und zwar von
Gewaltberechtigten, Prügelberechtigten – man nannte sie Erzie-
hungsberechtigte – an Kindern und Jugendlichen. Das Züchtigungs-
recht war verbrieft. Physische Gewalt gehörte zur Normalität des
Schulalltags; physische Gewalt als legitimiertes Erziehungsmittel.
Ich empfinde es als eigenartig, dass so undifferenziert von gestie-
gener Gewalt an den Schulen gesprochen wird, als ob erst von Gewalt
gesprochen werden dürfe, wenn sie von Kindern und Jugendlichen
ausgeht. Haben diese Erwachsenen denn all die Prügel vergessen, die
sie in der Schule einstecken mussten? Oder – wenn wir von der älte-
ren Generation sprechen – die sie selbst ausgeteilt haben, als Eltern
oder als Lehrer? Ich vermute, dass es heute entschieden weniger phy-
sische Gewalt an den Schulen gibt als noch vor vierzig Jahren, also zu
der Zeit, in der ich in die Schule gegangen bin. Viel weniger physi-
sche Gewalt, die von Lehrern gegen Kinder und Jugendliche aus-
geübt wird. Vielleicht mehr physische Gewalt unter den Kindern
und Jugendlichen. Da bin ich unsicher, weil es heute eine stärkere
Tabuisierung von physischer Gewalt gibt als zu meiner Jugendzeit
und deshalb vielleicht das Phänomen sensibler wahrgenommen wird.
Wahrscheinlich etwas mehr Gewalt von Jugendlichen gegen Lehrer.
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
240
Zwölfte Vorlesung
Technik und Bildung
Musik:
Einstürzende Neubauten – NNNAAAMMM (1996).
Vom Album „Ende Neu“ (1996)
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Das Lied schläft in der Maschine. In der Maschine schläft das Lied.
Maschine träumt das Lied!
Wenn es so ist, sollten wir es dann nicht aufwecken? Oder sollen
wir die Maschine weiter träumen lassen? Und sie nicht aus ihren
Träumen reißen?
Maschine ist der Traum vom Lied! Nicht Ende des Lieds. Ma-
schine ist Verheißung. Hoffnung. Sehnsucht.
Der Traum vom Paradies.
Der Traum vom ewigen Leben, von der Unsterblichkeit.
Der Traum vom vollkommenen Glück auf Erden.
Der Traum vom Ende des Leids; vom Ende des Kampfs. Vom
Frieden. Vom ewigen Frieden.
In die Maschine legen wir unsere Gestaltungskraft. Es ist eine
Kraft, deren Ausdruck, nicht aber deren Grund die Maschine und die
242
Technik und Bildung
durch sie genutzte Naturkraft ist. Die Kraft der Maschinen kommt
aus den Menschen. Die Maschine ist lediglich ein Medium, eine Ver-
mittlungsinstanz zwischen den utopischen Entwürfen einer men-
schengerechteren Welt und den Bedingungen, welche die Natur uns
setzt. Es ist menschliche Gestaltungskraft, Phantasie und Kreativität,
die sich in der Maschine objektiviert. Durch die Maschine hindurch
wirkt daher etwas, das nicht Maschine ist.
„In der Maschine schläft das Lied“ – dies nimmt unmittelbar Bezug
auf ein Gedicht des deutschen Romantikers Joseph von Eichendorff
aus dem Jahre 1835:
„Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.
(Joseph von Eichendorff 1835)
Die Romantiker des frühen 19. Jahrhunderts dachten nicht gerade an
Maschinen, wenn sie solche Zeilen dichteten. Für sie waren es die
Dinge der Natur, deren Lied es zu erwecken galt. Erweckt werden
konnte sie durch den Menschen, wenn er das „Zauberwort“ traf und
so eine Resonanz entstehen konnte zwischen der menschlichen und
der natürlichen Poesie.
Ich interpretiere den Song der Einstürzenden Neubauten daher
als eine neoromantische Lesart der Technik. Nicht nur in den Din-
gen der Natur, auch in den Dingen, die Menschen geschaffen haben,
auch in ihren Maschinen ist demnach Poesie – eben jene Poesie,
durch welche die Menschen nach romantischer Auffassung die Welt
zum Singen bringen konnten. Auch dem Entwurf der Maschinen un-
terliegt ein spontanes Moment: Ideen, Einfälle, Intuition – wir haben
eine Menge Begriffe für dieses Moment, das wir alle mehr oder we-
niger gut kennen, an das wir mehr oder weniger fest glauben, ohne
dass wir es wirklich dingfest machen könnten. Es sind unsere eigene
innere Natur, unsere „Natalität“ (Arendt), der spontane Impuls
(Winnicott), die im Entwurf von Maschinen sich manifestieren. Da-
243
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Für die Beziehung von Technik und Bildung lassen sich fünf Ver-
hältnisbestimmungen unterscheiden:
• Bildung zur Technik und für Technik: Da unsere Lebenswelt in
zunehmendem Maße von Technik geprägt ist, muss Bildung als
Befähigung zur Lebensbewältigung auch die Vorbereitung zum
angemessenen Verhalten in einer technisierten Welt mit ein-
schließen. Als technische Bildung ist sie zuerst besondere fachli-
che Bildung, die eigene Bildungsanstalten, Bildungsgänge und
Unterrichtsfächer hervorgebracht hat. Heute ist anerkannt, dass
technische Bildung zudem als eine Form allgemeiner Bildung
beziehungsweise als Beitrag zur allgemeinen Bildung zu begrün-
den ist. Dies hängt damit zusammen, dass das Technische zu
einer so umfassenden und alles durchdringenden Dimension
unserer Lebenswelt geworden ist, dass sich Bildung, die sich als
Aufklärung aller Heranwachsenden über die Zusammenhänge
der Welt versteht, nicht mehr ohne Bezug auf die Technik denk-
bar ist (wenngleich in der Schulrealität das Technische bis heute
immer noch nicht entsprechende Berücksichtigung in der Allge-
meinbildung gefunden hat).
• Bildung mittels Technik: Wie alle gesellschaftlichen Praxisbereiche
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Technik und Bildung
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Technik und Bildung
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
250
Technik und Bildung
heißt so, weil Technologien sich ausbreiten, die dem Terminus In-
formation einen anderen, eben technischen, apparativen Bedeu-
tungsgehalt geben. Es sind technische Systeme, Geräte, die Informa-
tionen (das meint Signalfolgen) austauschen, deren Bedeutung in
wachsendem Maße nur in der Auslösung apparativer Funktionen
liegt, also dem technischen System immanent bleibt. Und die Infor-
mationsgesellschaft ist gedacht als eine Gesellschaft, die durch das
Vordringen dieser technischen Kommunikation zur beherrschenden
Form der Kommunikation charakterisiert sein soll.
Hierauf vorzubereiten, meint nicht, die Menschen dazu zu befä-
higen, sich Informationen zu beschaffen, Informationen weiterzuge-
ben, Informationen zu beurteilen undsoweiter, oder dazu, besser mit-
einander zu kommunizieren oder gesellschaftliche Veränderungen als
Kommunikationsprozesse zu initiieren (immerhin gäbe es genügend
Anlässe zur Kommunikation über gesellschaftliche Veränderungen:
die Bewältigung der ökologischen Krise zum Beispiel; oder die Lö-
sung der Nord-Süd-Problematik; oder die alte Frage der sozialen Ge-
rechtigkeit und Wohlfahrt …). Sondern es meint die Befähigung der
Menschen, mit technischen Informations- und Kommunikationssy-
stemen umzugehen. Das Veränderungspotenzial wird nicht mehr
primär im Menschen, sondern in der von ihm hervorgebrachten
Technik gesehen, die „sich“ entwickelt, gesellschaftliche Verände-
rungen bewirkt und schließlich sogar die Ziele für die Entwicklung
der Menschen durch Bildung vorgibt. So erscheint verrückterweise
die Computertechnologie gegenwärtig als die große, auch pädago-
gisch reformative Innovationskraft.
Die technische Entwicklung gestaltet die Bildung, nicht umge-
kehrt? Wir fangen tatsächlich an zu glauben und uns damit abzufin-
den, dass sich subjektive Gestaltungsmacht aus unseren Köpfen in
die Technik verlagert, zumal in die Computertechnik; dass Technik
an die Stelle der Bildung tritt; und dass daher die Schule ihre über-
kommene Funktion verliert, subjektive Gestaltungsfähigkeit auszu-
bilden. Statt die Heranwachsenden an ihre eigenen Möglichkeiten
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Technik und Bildung
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Technik und Bildung
anspruchnahme der Menschen, damit der freie Raum, den sie schafft,
auch tatsächlich frei bleibt und nicht von ihr selbst wieder mit nun-
mehr technisch erzeugten Nötigungen besetzt wird.
Dies schlägt auch auf die Bildung selbst durch. Denn der techni-
sche Zugriff auf die Welt schließt den technischen Zugriff auf den
Menschen mit ein. In ihrer zielgerichteten Umsetzung in pädago-
gisches Handeln erhält auch die Beziehung zum einzelnen Menschen
einen technischen Zug: An und in ihm soll die vom Arbeitsmarkt
nachgefragte Ausbildungs-Qualität realisiert werden. Wie alle Tech-
nik ist so auch die Pädagogik in dieser Hinsicht durchaus gewaltför-
mig. Die pädagogische Bildhauerei meißelt nicht nur eine intendierte
Gestalt heraus, sie arbeitet darin auch die Roheit und Wildheit der
ungebildeten Natur weg. Aber wie Technik überhaupt, so geht auch
die technische Seite der Pädagogik nicht im totalen Verfügungsan-
spruch auf. Pädagogik hat ihre gesellschaftliche Funktion auch im-
mer in der Bereitstellung eines geschützten Freiraums für die Ent-
wicklung der Heranwachsenden aus ihren eigenen Potenzialen
gesehen. Wir können die Schule insgesamt als eine Großtechnik in
diesem Sinne verstehen. Das Wort selbst weist in seiner ursprüng-
lichen Bedeutung darauf hin, dass es nicht nur um Verfügbarma-
chung von Menschen, sondern auch um die Bereitstellung eines
Raums für Entwicklung ging (griechisch scholé = Muße, freie Zeit).
Die Schule nimmt Kinder und Jugendliche aus dem „clinch“ mit
der äußeren Welt heraus. Aus der Distanz und in Anspruchnahme
von freier Zeit kann die Welt anders als in ihrer vereinnahmenden
und überwältigenden Gegebenheit, nämlich in Bezug auf ihre noch
verborgenen, zu erschließenden positiven oder negativen Möglich-
keiten, Gefahren und Chancen wahrgenommen werden. Der engli-
sche Psychoanalytiker D.W. Winnicott hat hierfür den Begriff des
Potentiellen Raums geprägt (Winnicott 1974, 124). Davon war in ei-
ner früheren Vorlesung schon die Rede. Schule könnte Potentieller
Raum sein, vorausgesetzt, sie nimmt nun nicht ihrerseits die Schüle-
rInnen so in Anspruch, wie dies die Welt tun würde, von der sie sie
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Technik und Bildung
257
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Art, wie wir sie machen können, wenn wir den Duft einer Blumen-
wiese genießen, sondern gezielte Beobachtung, gezielt nämlich durch
das Interesse an bestimmten Naturprodukten. Indem der Mensch die
physis daraufhin beobachtet, wie sie es macht, wenn sie die Dinge,
beispielsweise Früchte hervorbringt, an denen er Interesse hat, ahmt
er, wenn er es ihr nachmacht, scheinbar die physis nach, liest seine
Technik von ihrer ihr immanenten „Technik“ ab. In Wahrheit hat er
dabei jedoch schon zuvor in seinem eigenen interessierten Blick in
die physis Technik projiziert. Technik beginnt nicht beim Tun und
bei den Mitteln, sondern beim interessierten Blick, bei der theoria.
Die technische theoria betrachtet die Natur, als ob ihre Prozesse pro-
duktorientiert angelegt seien.
Das Sichauskennen der techne bezieht sich auf eben das, worin
sich die Naturdinge von den durch Menschenhand hergestellten
Dingen unterscheiden, nämlich auf die Initiative, den Impuls, die
Potenzialität des Hervorbringens. Der Aufbruch, den die Naturdinge
in sich selbst tragen, enthält nämlich auch (aber keineswegs aus-
schließlich) den potentiellen Aufbruch in die Nutzbarkeit; und kennt
der Mensch sich hierin aus, gewinnt er Einsicht in diese, ihn spezi-
fisch interessierenden Potenzen der physis , dann vermag er sie auch
aktiv zu entbergen, also aus der physis hervorzuholen.
So verkehrt sich die Perspektive. Genesis ist ein durch alle Her-
vorbringungen hindurch offener Prozess. Poiesis geschieht pro-
duktorientiert. Sie legt genesis in ihrem Produkt still. Der Tisch soll
Tisch bleiben. Aus ihm sollen keine Zweige wachsen; er soll aber
auch nicht vermodern. Das Produkt, jedes Produkt der techne ist
weiterhin aus physis hervorgegangen, aber es gilt nicht mehr als ein
Ding, dessen zukünftiger Werdensprozess als verborgene Initiative
des Hervorbringens in ihm selbst liegt. Was aus ihm wird, soll allein
im Menschen liegen, der es gebraucht und verbraucht. Die perspek-
tivische Verkehrung liegt darin, dass das Hervorbringen nun vom
Hervorzubringenden, vom Produkt her bestimmt wird, also eine
vom Menschen bestimmte, offenbare Möglichkeit ist, die bekannten
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Technik und Bildung
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
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Dreizehnte Vorlesung
Schule
Musik:
Extrabreit – Hurra hurra, die Schule brennt (1980).
Vom Album „Ihre größten Erfolge“ (1980)
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
men des Vandalismus ist mir aus meiner eigenen Gefühlslage als
Schüler emotional sehr verständlich.)
Es wäre ein symbolischer Akt gewesen. Die Schule brennen zu se-
hen, hätte die Bedeutung gehabt, der Vernichtung dieses Systems
von Erniedrigung, Verdummung, Arroganz und Elitarismus zu-
schauen zu können, als das ich die Schule erlebt habe. Ich sehe dies
heute in einem milderen Lichte. Aber das soll nicht heißen, dass ich
jetzt sagen würde, ich hätte mich damals völlig getäuscht.
Ich sagte, eine Brandstiftung, welche meiner Schule gegolten hät-
te, wäre ein symbolischer Akt gewesen. Denn es hätte ja nur das Ge-
bäude gebrannt mit seinem Inventar. Und in Wirklichkeit waren es
schließlich die Lehrer, deren Verhalten jenen Hass auf die Schule in
mir auslöste.
Nicht, dass ich meine Lehrer nicht auch als Personen verantwort-
lich gemacht hätte für die Gemeinheiten, die den Schulalltag be-
herrschten und denen vor allem die schwächeren Schüler erbar-
mungslos ausgesetzt waren, von denen es dann hieß, sie gehörten
nicht an eine solche Schule; sie seien nicht gut genug für diese Schule.
Ein Urteil, das völlig bedenkenlos verbunden wurde mit einer Her-
absetzung ihres menschlichen Werts. Aber obwohl ich die Lehrer
durchaus persönlich verantwortlich machte dafür, dass diese Schule
mir als ein Gefängnis erschien, war ich nicht der Meinung, dass ich
also vielleicht nur Pech gehabt hätte mit meinen Lehrern und es an
anderen Schulen anders zuginge. Es ging nach dem, was ich so hörte,
an anderen Schulen nicht so anders zu. Vielleicht war, bedingt durch
den arroganten Elitarismus der Lehrer an dieser Anstalt, das Klima
dort besonders stickig. Aber wie mir schien, herrschte an anderen
Schulen ebenfalls nicht gerade der frischeste freiheitliche Wind.
Ich glaubte damals: So wird man, wenn man Lehrer wird. Oder:
Solche Leute werden Lehrer. Niemals wollte ich auch so werden.
Und niemals wollte ich mit solchen Leuten mal zusammenarbeiten
müssen. Also wusste ich, als ich Abitur machte, zwar nicht, was ich
262
Schule
beruflich mal werden wollte. Aber ich wusste ganz genau: eines auf
keinen Fall, nämlich Lehrer.
Woher schließlich mein Sinneswandel kam, kann ich jetzt nicht
darstellen. Jedenfalls habe ich ja schließlich das Erste Staatsexamen
für das Lehramt an Gymnasien gemacht; und mir eine wissen-
schaftliche Disziplin ausgesucht, in der die Schule zum theoretischen
Thema und die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern zur prak-
tischen Aufgabe wurde. Meine Staatsexamensarbeit habe ich über
„Gesellschaftspolitische Aspekte der Gesamtschulreform“ geschrie-
ben; das war 1971. Und meine Doktorarbeit trug den Titel: „Die
Schule der bürgerlichen Gesellschaft. Kritik der öffentlichen Bil-
dungsinstitution“. Das war 1975.
Diese beiden Titel deuten aber schon an, womit mein Sinneswan-
del zu tun hatte. Zum einen hat sich mir im Zusammenhang mit der
Studentenbewegung die politische Dimension von Pädagogik er-
schlossen. Bildung wurde für mich zum Schlüsselbegriff für ge-
sellschaftliche Veränderung hin zu menschenwürdigeren Verhält-
nissen; eine Veränderung, die eben in den Köpfen und Herzen der
Menschen beginnt; aber auch eine Veränderung von Verhältnissen,
die mehr Menschen substantielle Bildung ermöglichen sollte. Und
die Schule war und blieb die Institution, die zumindest dafür vor-
gesehen ist, dass in ihr Bildung für alle möglich gemacht werden soll.
Zum zweiten aber bot die theoretische Beschäftigung mit der
Schule mir die Möglichkeit, meinen Hass auf die Schule zu ratio-
nalisieren: also zu begreifen, wodurch das, was ich selbst in meiner
Schulzeit erfahren hatte und wovon ich ja schon ahnte, dass es nicht
nur die zufällige personelle Besetzung des Lehrerkollegiums war, die
dafür veranwortlich zu machen war, durch welche gesellschaftlichen
Bedingungen und durch welche institutionellen Strukturen dies be-
gründet war. Mein Hass auf die Schule erhielt die Form der theore-
tischen Kritik. Man könnte sagen: Ich ließ die Schule jetzt in der
Theorie „brennen“.
263
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Aber das trifft es nicht ganz. Denn beides zusammen: die Ent-
deckung der Bildung als gesellschaftsverändernder Kraft und die
theoretische Kritik der Schule als Institution machten aus der Schule
für mich etwas Neues. Sie war jetzt nicht mehr eine übermächtige
Gegebenheit, in der schicksalhaft die individuelle Deformation sich
vollzog, sondern sie wurde sozusagen transparent für mich hinsicht-
lich der Potenziale, die in ihr steckten und die es lediglich wahrzu-
nehmen galt; „wahrzunehmen“ in dem Doppelsinne: man musste
diese Potenziale sehen und man musste sie praktisch nutzen. Die
Schule musste nicht mehr „brennen“, nicht mehr vernichtet, sondern
sie musste erobert und verändert werden.
13.2.1 Schulgeschichtsschreibung
Die bis dahin in Westdeutschland vorherrschende Schulgeschichts-
schreibung verfuhr historistisch. Das heißt: Sie rekonstruierte aus
dem in Archiven vergrabenen Quellenmaterial die Entstehung und
Entwicklung des Schulwesens, um zu zeigen, „wie es wirklich gewe-
sen ist“ (Leopold von Ranke). Wie – nicht: warum es so gewesen ist.
Es ging um eine möglichst authentische Wiedergabe dessen, was an
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Schule
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Schule
denkbar (Illich 1973, S. 25). Und es frage sich: „Wieviel Schule kön-
nen wir (noch) aushalten?“ (v. Hentig 1971, S. 11)
Diese Kritik richtete sich nicht mehr auf diese oder jene Erschei-
nungsform oder Folgeerscheinung schulischen Lernens. Sie wollte
nicht darauf hinaus, dass die Schule sich bessern solle, sie wollte die
Schule nicht reformieren, sondern stellte diese überhaupt in Frage.
Sie war „radikal“, soweit sie die Schule selbst und nicht etwa Irrtümer
und Fehler derjenigen, die mit Schule zu tun haben, verantwortlich
machte für die „Versklavung“ des kindlichen Geistes im Schulunter-
richt, und enthielt „die Idee einer vollständigen Loslösung von der
Schule“ (v. Hentig 1971, S. 28). So spottete Illich über die „Bil-
dungsreformer, die sich gedrängt fühlen, fast alles zu verdammen,
was das Wesen moderner Schulen ausmacht – und zugleich wieder
neue Schulen vorschlagen“ (Illich 1973, S. 62). Eine bloße Reform
der Schule könne keine Abhilfe bringen, weil nicht irgendwelche än-
derbaren Eigenschaften der Schule, sondern das, was Schule wesent-
lich ausmacht, also die Schule selbst abgeschafft werden müsse, um
eine Bildung zur freien Subjektivität wieder zu ermöglichen. Schule
werde „heute mit Bildung identifiziert, wie einst die Kirche mit Re-
ligion“. (Illich 1972, S. 13) In Wahrheit aber habe „das Schulwesen
die Bildung entwürdigt“, sei „die Schule bildungs und gesellschafts-
feindlich geworden ..., wie zu anderen Zeiten die Kirche antichrist-
lich wurde oder Israel dem Götzendienst verfiel“. (Illich 1972, S. 37)
Illich hatte seine Gedanken nicht mit Blick auf das Bildungswe-
sen in der BRD formuliert. Das von ihm in Cuernavaca (Mexiko) ge-
gründete Institut CIDOC hatte es sich zur Aufgabe gemacht, neue
gesellschaftliche Entwicklungsstrategien vor allem für die latein-
amerikanischen Länder auszuarbeiten. Doch ging er mit der Schule
so grundsätzlich ins Gericht, dass seine schulkritischen Schriften seit
Anfang der 70er Jahre auch bei uns größere Verbreitung fanden. Sei-
ne Analyse der Schule wurde als treffend auch für die Schulwirklich-
keit in den westlichen und östlichen Industrieländern angesehen oder
doch zumindest als anregende Polemik aufgegriffen.
275
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Die Aufgabe, die die Schule sich stellt, nämlich ihre Schüler für
die Bewältigung der gesellschaftlichen Anforderungen zu qualifizie-
ren, wurde von Illich und anderen Schulkritikern keineswegs als sol-
che in Frage gestellt. Aber die Schule sei die absolut falsche Einrich-
tung, sie zu erfüllen. Illichs Mitarbeiter E. Reimer, dessen schul-
kritische Ausführungen ebenfalls auf dem westdeutschen Buchmarkt
erschienen, schrieb:
„Die auf die Schule übertragenen Funktionen der Sozialisation sind tatsächlich not-
wendige Funktionen. Unser genereller Einwand ist der, dass sie von der Institution
Schule schlecht erfüllt werden und dass wir Alternativen zu den Schulen entwickeln
müssen.“ (Reimer 1972, S. 40)
Lernen, das heutigen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht wer-
den solle, müsse sich außerhalb der Institution Schule vollziehen,
welche durch ihren Zwangscharakter die Lernmotivation zerstöre
und daher trotz des ungeheuren Aufwands, den sie betreibe, völlig
uneffektiv sei. Indem sie aber das Lernen monopolisiere und dadurch
den Menschen die Verantwortung für ihre Bildung abnehme, erzeu-
ge sie allgemein ein verantwortungsloses, die eigene Entmündigung
betreibendes Bewusstsein, welches alle wichtigen gesellschaftlichen
Aufgaben und Ziele, alle menschlichen Werte wie „Gesundheit, Ler-
nen, Würde, Unabhängigkeit und schöpferisches Bemühen“ identi-
fiziere mit den „Leistungen der Institutionen, die angeblich diesem
Zweck dienen“ (Illich 1973, S. 17). Resultat sei die „neue Entfrem-
dung“ in einer „verschulten Gesellschaft“ (Illich 1972, S. 27):
„Indem die Schule die Notwendigkeit lehrt, belehrt zu werden, bereitet sie auf die
entfremdende Institutionalisierung des Lebens vor. Haben die Menschen diese Lek-
tion einmal gelernt, so verlieren sie jeden Anreiz, in Unabhängigkeit heranzu-
wachsen; sie ... verschließen sich den Überraschungen, die das Leben bietet, wenn es
nicht durch institutionelle Definition vorausbestimmt wird.“ (Illich 1973, S. 58)
Dass die Schule so ist, wie sie ist, sei keineswegs durch die Gesell-
schaft bedingt. Es sei falsch, „die Schule als eine Variable zu be-
trachten, die von der politischen und wirtschaftlichen Struktur ab-
hängig ist“ (Illich 1973, S. 83). Umgekehrt; wie Reimer es
formuliert:
276
Schule
„... es ist eine ungerechte Welt ... vor allem deshalb ..., weil sie sich aus fehlerhaften
Institutionen zusammensetzt. Diese Institutionen wiederum sind nichts anderes als
die kollektiven Gewohnheiten von Individuen, aber Individuen können schlechte
Gewohnheiten haben, ohne schlechte Menschen zu sein. Im allgemeinen sind die
Menschen sich ihrer Gewohnheiten, und besonders ihrer institutionalisierten Ge-
wohnheiten, gar nicht bewußt. Eine der Thesen dieses Buches lautet, daß die Men-
schen ihre schlechten Gewohnheiten erkennen und ändern können. Dann wäre die
Welt eine bessere Welt ...“ (Reimer 1972, S. 12)
Die Schule, als eine dieser „fehlerhaften Institutionen“, als eine sol-
che, sich besonders verheerend auswirkende „kollektive schlechte Ge-
wohnheit“ sei die Ursache für den entfremdeten Gesellschaftszustand
– nicht umgekehrt. Sie selbst sei nicht etwa in den objektiven gesell-
schaftlichen Bedingungen begründet, sondern beruhe auf einer „Illu-
sion“, derjenigen nämlich, „daß Lernen meistens das Ergebnis von
Unterricht sei“ (Illich 1973, S. 27). Doch ist sie selbst nunmehr Rea-
lität, und ebenso die angeblich von ihr hervorgebrachte entfremdete
Form der Gesellschaft – womit die Schule sich selbst sozusagen die
Gesellschaft geschaffen hat und täglich neu erschafft, auf deren
Grund ihr Existenzberechtigung zukommt.
Die nicht-entfremdete Gesellschaft hingegen, aus deren Perspek-
tive Illich „Alternativen zur Schule“ verlangte – sie existiert nur als
Ziel, als Wunschvorstellung. Wie der kritisierte fehlerhafte Zirkel
von entfremdetem Lernen und entfremdeter Gesellschaft (gleichsam
das Negativ zu Kants Selbstbegründungszirkel der Vernunft) nach Il-
lichs Auffassung nur auf einem Versehen beruht, zufällig ist, wie es
für die Schule keine gesellschaftliche Notwendigkeit geben sollte, so
ist auch nicht auszumachen, aus welcher realen Notwendigkeit her-
aus eine Entschulung Möglichkeit werden könnte. Auch Illich selbst
meinte, die von ihm zur Realisierung „eines neuen Stils von bilden-
den Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt“ (Il-
lich 1973, S. 81) „vorgeschlagenen Bildungseinrichtungen“ sollten
„einer Gesellschaft dienen, die es noch gar nicht gibt“ (Illich 1973, S.
82). Doch ist dies eine tautologische Aussage, soweit die „Gesell-
schaft, die es noch gar nicht gibt“, ja eben nur eine Gesellschaft ist,
„welche die Schule abgeschafft hat“ (Illich 1973, S. 81). An die Stelle
277
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
278
Schule
„In einer Welt, in der die Beziehungen der Menschen zunehmend durch Technik
und Wissenschaft determiniert werden, sind, wie uns scheint, Schulen als konstitu-
tives Element einer unaufhebbaren Entfremdung zu deuten und zu akzeptieren“.
(Mitter 1975, S. 1018)
Auch Christa Berg gestand der Schule zu, dass sie durch ihren „in-
strumentalen Charakter“ immerhin „den Standard einer Gesell-
schaft“ garantiere und ihre Ablehnung „zur Flucht in reaktionäre In-
dustriefeindlichkeit kulturpessimistischer Provenienz“ gerate. (Berg
1973, S. 453) Überhaupt spielte der Verweis auf Industrialisierung,
technischen Fortschritt und Verwissenschaftlichung aller Lebensbe-
reiche eine Hauptrolle bei der Ablehnung von Illichs Thesen. Aus
den ablehnenden Stellungnahmen sowjetmarxistischer Wissen-
schaftler zu Illich wurde abgelesen, dass die Schule als eine universell
notwendige gesellschaftliche Einrichtung zu betrachten sei. Das
stützte die
„These..., daß Schulen als obligatorische und institutionalisierte Erziehungseinrich-
tungen in einem Zeitalter, in dem die Technik – in ihrer Wechselbeziehung zur Wis-
senschaft einen der wesentlichsten Bedingungsfaktoren darstellt, nicht ersetzbar
sind“ (Mitter 1975, S. 1017).
„Schulen sind so wichtig für die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft,
dass sie nur unter den massivsten politischen Angriffen zerfallen würden“ (Gintis
1974, S. 307).
Illich sah den Weg zur wirklichen und wahrhaften Selbstbestimmung
der Bildung in ihrer konsequenten Privatisierung: Abschaffung der
Schulpflicht; Abschaffung der staatlichen Verantwortlichkeit für die
Schule – das bedeutete Abschaffung der Schule. Was bliebe, wäre die
Bildung; aber jetzt nicht mehr als gesellschaftlicher Auftrag, sondern
als persönliches, individuelles Bedürfnis, das privat befriedigt werden
sollte.
Damit blendete Illich eine wesentliche Bestimmung von Bildung
aus: dass sie als Bildung für eine gegebene gesellschaftliche Realität
sich nicht nur qualifizierend auf diese Realität beziehen muss, son-
dern dass zu ihr auch ihre soziale Vermittlung gehört: die Aus-
handlung dessen, was Menschsein in unserer Gesellschaft für uns be-
deuten soll. Würde Bildung vollständig privatisiert, dann müsste
279
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
auch die Bestimmung dessen, was Menschsein heißen soll, wie wir
zusammen leben wollen, jedem einzelnen privat überlassen werden.
Gesellschaft zerfiele auf der Ebene unseres kulturellen Selbstverständ-
nisses in eine ungeheure Vielzahl unterschiedlichster persönlicher Le-
bensentwürfe.
Was dafür jeweils zu lernen wäre, könnte Bildungsqualität haben,
sofern der einzelne sich dafür entschiede. Aber es gäbe keine gesell-
schaftliche Sorge mehr für Bildung. Bildung würde – wie die Reli-
gion – zur Privatangelegenheit, die man sich leistet oder auch nicht,
an der man Geschmack findet oder auch nicht.
Was würde unter solchen Voraussetzungen aus dem gesellschaftli-
chen Zusammenhang? Woher würde er gestiftet?
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Vierzehnte Vorlesung
Wert und Liebe
Musik:
Public Image Limited – Not A Love Song (1983).
Von der EP „This Is Not A Love Song“ (1983)
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Wert und Liebe
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etwas anderes als die Philosophie. Die Menschen haben sie nicht
(mehr). Aber offensichtlich sehnen sie sich danach. Und aus dieser
Sehnsucht heraus treiben sie Philosophie. Laut Duden-Herkunfts-
wörterbuch zeigen Wortzusammensetzungen mit „Philo-“ Bedeu-
tungsnähe zu Liebe und Freundschaft, aber eben auch zu Wissen-
schaft.
Meine These ist, dass alle Wissenschaft – auch heute – von dieser
Sehnsucht getrieben ist. Und dass diese Sehnsucht nicht eine andere
ist als jene Sehnsucht, die sich im Liebeslied ausdrückt.
14.2 Annäherung
Wir sprechen von Liebe jetzt also auf zwei Ebenen: von der Liebe als
Thema (des Lieds, der Wissenschaft) und von der Liebe als Beweg-
grund (des Lieds, der Wissenschaft). Wenn Liebende von ihrer Liebe
sprechen, dann weil sie lieben und dieser ihrer Liebe Ausdruck geben
wollen. Wenn ein Sänger ein Liebeslied singt, dann wird er versu-
chen, auch in seinen Gesang Liebe zu legen, also zugleich seine eigene
Empfindung zum Ausdruck zu bringen. Wenn er aber von der Liebe
singt und wir spüren: Er drückt nicht sich aus, sondern bedient ein
Klischee, dann empfinden wir seinen Gesang als verlogen; dann wird
das Lied zur Schnulze, sein Text zum Kitsch. Wenn die Wissenschaft
von der Liebe spricht, dann – so die übliche Position – nicht, um Lie-
be auszudrücken. Hier scheint klar: Das Thema ist nicht der Beweg-
grund. Dies ist fast so etwas wie eine wissenschaftliche Verhaltens-
norm. Und wenn die durchbrochen wird, dann handelt der oder die
Betreffende sich sehr leicht den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit,
der Gefühlsduselei ein.
Für die Pädagogik als einer Theorie von der Praxis für die Praxis
ist das ein besonderes Problem. Denn sie kann eine solche wohl nur
sein, wenn sie als Theorie die Beweggründe der Praxis – wenn auch
in reflektierter Form – teilt. Hier können wir die beiden Ebenen
nicht so sauber auseinanderhalten.
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Wert und Liebe
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal eine Aussage Hegels auf-
greifen, die ich schon in einer früheren Vorlesung zitiert habe, als es
um das Verhältnis der Pädagogik zur Einzigkeit eines Menschen
ging. Hegel sagte:
„In der Schule ... verliert die Unmittelbarkeit des Kindes ihre Geltung; hier wird das-
selbe nur insofern geachtet, als es Wert hat, als es etwas leistet; hier wird es nicht
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mehr bloß geliebt [wie in der Familie], sondern nach allgemeinen Bestimmungen
kritisiert und gerichtet …“ (Werke 10, S. 82).
Hegel nimmt in diesem Zitat eine Gegenüberstellung der Begriffe
Wert und Liebe vor, die ich dann auch für die Thematik der heutigen
Vorlesung aufgegriffen habe. Diese Gegenüberstellung mag auf den
ersten Blick seltsam und unverständlich erscheinen. Heißt Liebe
nicht, dass ein Mensch für einen anderen Menschen „wertvoll“ ist, ja
vielleicht „das Wertvollste“ überhaupt?
Es ist klar, dass Hegel den Begriff des „Werts“ nicht in diesem
höchst persönlichen und intimen Sinne gebraucht. „Wert haben“
wird in Zusammenhang damit gebracht, dass das Kind „etwas leistet“
und dass es in Hinsicht seiner Leistungsfähigkeit „nach allgemeinen
Bestimmungen kritisiert und gerichtet“ wird. Nach allgemeinen,
nicht nach individuellen, persönlichen Bestimmungen!
Es geht also um den „Wert“ eines Menschen, eines Kindes für die
Allgemeinheit, das heißt für die Gesellschaft. Und wenn wir uns
ansehen, was in der Schule geschieht, ist das ja auch höchst plausibel:
Ständig wird dort jedes Kind nach allgemeinen, also für alle in glei-
cher Weise geltenden, Bestimmungen „kritisiert und gerichtet“, be-
urteilt und bewertet. Ob es in dieser Klasse oder auch in dieser Schule
bleiben kann, wielange es dort bleiben kann, was es an Förderung er-
fährt, wieviel Geld die Gesellschaft für es aufwendet, dies alles ist ab-
hängig von seiner Leistung und damit von seinem darin manifestier-
ten und in Zeugnissen bezeugten „Wert“ für die Gesellschaft. Sollte
eine Lehrerin oder sollte ein Lehrer sich von persönlichen Motiven
verleiten lassen, ein Kind nach anderen Maßstäben zu bewerten als
die anderen Kinder, dann mag dies menschlich verständlich sein,
liegt darin aber eine Verfehlung des Amtsauftrags.
In der Tat, es ist, wie Hegel sagt: In der Schule wird das Kind
nicht einfach nur geliebt, wird es nicht einfach angenommen, wie es
ist, und ohne Ansehen seiner Leistungsfähigkeit, ohne Ansehen sei-
nes Werts nach Kräften gefördert und versorgt. Auch in der Familie
ist dies selbstverständlich keineswegs immer der Fall. Hegel will mit
seiner Gegenüberstellung von Familie und Schule auch nicht etwas
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Wert und Liebe
Das Zitat stammt von Osho, früher genannt Bhagwan Shree Raj-
neesh. Es sagt: Die menschliche Existenz ist nicht als in sich ruhendes
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Sein, sondern nur als Werden zu begreifen. Dieses Werden ist nicht
gleichbedeutend mit dem Werden in der Natur, das die Griechen mit
dem Wort genesis bezeichnet haben. Das Werden der Natur ist kein
Suchen. Natur ist das Ganze. Und ihr Werden ist die Entwicklung
des Ganzen, nicht aber die Entwicklung hin zu einem Ganzen.
Aber dies Ganze ist auch keine freie Konstruktion. Die Menschen
können ihr Menschsein nicht einfach frei entwerfen und dann her-
stellen, als ob es keine Bindungen gäbe, denen der Entwurf des
Menschseins entsprechen muss, wie dies in Utopien einer vollstän-
digen technischen Emanzipation von der Natur halluziniert wird
(Künstliche Intelligenz als „postbiologische Stufe der Evolution“;
Künstliches Leben aus der Retorte oder im Computer). Das Ganze,
Heile menschlicher Existenz, nach dem das Menschsein Suche ist,
könnte nur dann die freie Konstruktion sein, wenn aus diesem Gan-
zen die Leiblichkeit und damit die Einbindung der Menschen in eine
materielle Welt ausgeschlossen, das heißt die menschliche Existenz
vollständig in die Virtualität reiner kognitiver Strukturen aufgehoben
würde.
Die Suche nach dem Ganzen ist daher für das leibliche Wesen
Mensch immer auch gebunden an die Zugehörigkeit zu einer mate-
riellen Welt. Der einzelne Mensch kann allein für sich nicht existie-
ren. Er benötigt die Verbindung zu anderen Menschen und vermit-
telt darüber zur äußeren Welt insgesamt. Ganzwerden heißt Einswer-
den mit den anderen Menschen und der Welt: ganz aufgenommen
werden und im Ganzen aufgenommen werden: Trennungen und
Spaltungen überwinden, Wunden heilen, vom Leiden erlöst werden,
allgemeine Brüderlichkeit.
Woher kommt dieses Sehnen?
Der immer wieder zitierte Winnicott spricht von einer angebore-
nen Tendenz des Menschen zur Integration. Er nimmt an, dass dieses
Sehnen nach Ganzheit in der menschlichen Natur angelegt ist, als ein
ursprüngliches, spontanes Vereinigungsbegehren, das sich auf die
Welt richtet – welche am Lebensanfang sich darstellt als „das Objekt“
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Wert und Liebe
beziehungsweise „das gute Objekt“, die Mutter oder die Person, die
ihre Stelle vertritt. Dieses Begehren bedarf der Resonanz: Die Welt
kommt auch ihrerseits dem Kind entgegen, nimmt seine Impulse auf
und gibt sie ihm in einer Form zurück, in der sie das Kind einholen
in diese Welt.
Das Kind wird dabei keineswegs in eine festgefügte bestehende
Weltordnung einfach eingepasst. Es wird vielmehr einem Strom ge-
schichtlichen Werdens eingegliedert, in dem sich die Suche der
Menschheit nach einer ihr gemäßen (menschenwürdigen) Welt aus-
drückt. Jeder einzelne Mensch trägt seinen einzigartigen Beitrag dazu
bei. Und jeder einzelne Mensch ist ein Anspruch an die Welt, so zu
sein, dass er in ihr ganz aufgehoben sein kann.
Der Anspruch, von dem ich spreche und der sich mit dem ur-
sprünglichen, spontanen Integrationsbegehren des Kindes verbindet,
ist nicht ein ausgedachtes oder willkürlich bestimmes Sollen. Er kann
nicht einfach gesetzt werden. Vielmehr findet jeder Mensch sich in
ihm immer schon vor, insofern er leiblich auf diese Welt kommt.
Dem menschlichen Leib ist ein Sollens-Anspruch an die Welt inhä-
rent, den ich in der Vorlesung über „Leiblichkeit und Vernunft“ als
„Paradiessehnsucht“ des Leibes bezeichnet habe. Darin wirkt eine
Idee von Natur, die aus der Natur kommt und doch auch über ihren
je gegebenen Zustand hinausweist, indem sie niemals in ihr das volle
Genügen hat. Der menschliche Leib findet sich außer in Momenten
der Ekstase niemals in vollständiger Einheit und Harmonie mit der
Welt, sondern immer auch als ein von dieser Welt mit Schmerz,
Krankheit und Tod bedrohtes Lebewesen.
So wird die leibliche Idee einer vollkommen menschenwürdigen
Natur (des Paradieses auf Erden) umgesetzt in die Bearbeitung der
Natur, ihre allmähliche Umwandlung in eine menschengemäßere
Umwelt. Die dem Leib inhärente Idee, sein Vermittlungsbegehren
müssen hierfür durch Bildung sozusagen ans Licht geholt werden,
bewusst gemacht und in Handlungsziele umgesetzt werden, ohne
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
dass dies letztlich doch so gelingen könnte, dass aus ihr ein techni-
sches Projekt zu werden vermag. Die Sehnsucht bleibt unstillbar.
Sie mag sich als eine Sehnsucht „Zurück zur Natur“ darstellen; als
eine Art Regression auf einen hypothetischen ursprünglichen Na-
turzustand der Menschheit, in dem sie noch in vollkommener Ein-
heit mit der Natur lebte. Einen solchen Zustand hat es nie gegeben.
Das Menschsein beginnt mit der Trennung in der Einheit. Es kommt
aus der Natur und bleibt in der Natur; aber in der Natur als einer
durch das Naturgeschöpf Mensch zu verändernden Natur. Die Ein-
heit liegt nur in der Zukunft. Deshalb ist die Sehnsucht nach ihr
grundsätzlich nicht rückwärtsgewandt, sondern auf ein Fortschrei-
ten, nicht auf Regression, sondern auf Progression gerichtet. Die Ein-
heit ist Utopie.
Liebe ist diese unstillbare Sehnsucht. Als Begehren des anderen
Menschen ebenso wie als Wunsch nach Versenkung in die innere
Natur. Und auch die geistige Tätigkeit ist von ihr motiviert: Durch
das Denken sollen die Möglichkeiten einer vollkommen menschen-
gerechten Welt erschlossen werden. Und im Denken wird die Welt
als geistig durchdrungene, als Begriff und Theorie dem Denken
selbst als wesensgleich anverwandelt. Im Erkennen stellt das Denken
zumindest in der Sphäre des Geistes die ersehnte Einheit mit dem
Gegenstand her – wenn es vergißt, dass der Begriff doch immer noch
auf etwas anderes, Nicht-Geistiges verweist, dem der Denkende als
leibliches Wesen selbst zugehört.
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Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik
Musik:
Sinnead O‘Connor – Thank You (1994).
Vom Album „Universal Mother“ (1994)
Der Song ist vom Album „Universal Mother“, das Sinnead O‘Con-
nor aufgenommen hat in einer Zeit, in der sie sich mit ihrer eigenen
Mutterschaft intensiv auseinandersetzen musste. Das Album ist stark
geprägt von diesem Thema. Ich vermutete erst, dass dieser Song ihrer
eigenen Mutter gewidmet ist, ein Liebeslied als Dankeslied für emp-
fangene Liebe. Aber dann las ich, dass sie in ihrer Kindheit unter ei-
ner sehr gewalttätigen Mutter zu leiden hatte. Es ist also an jemand
anderen gerichtet. Wie ich inzwischen herausgefunden habe: an Peter
Gabriel, mit dem sie einige Jahre eine Liebesbeziehung hatte, die aber
nicht lange vor der Zeit, als sie diesen Song schrieb, zerbrochen war.
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Wert und Liebe
Der Dank gilt jemandem, der ihr das gegeben hat, was sie sich si-
cher von ihrer Mutter ersehnt hätte; jemandem, der zugehört hat, der
sie wirklich gesehen, also wahrgenommen hat, der sie nicht im Stich
gelassen hat, der mit ihr ausgeharrt hat, der ihr nicht weh getan hat;
der sanft und zart zu ihr war; jemandem, der mit ihr schweigen konn-
te, der sie gehalten und nicht fallengelassen hat, der sie hat sein lassen,
ihr geholfen hat.
Und dann folgen merkwürdige Zeilen:
Danke, dass Du mir das Herz gebrochen hast;
danke, dass du mich auseinandergerissen hast.
Jetzt habe ich ein starkes starkes Herz.
Danke, dass Du mir das Herz gebrochen hast.
Nicht verschmelzen; nicht eins werden – sondern: zerbrechen,
auseinanderreißen. Und dafür Dank? In einem Liebeslied? Als Dank
für empfangene Liebe?
Hier wird von einer Liebe gesprochen, welche durch die Tren-
nung geht und sie übersteht, an ihr wächst, ohne sie rückgängig ma-
chen zu wollen. Wenn dieses Lied wirklich, wie ich erst vermutet hat-
te, an die Mutter gerichtet wäre, könnten wir dies verstehen: Die
Trennung des Kindes von den Eltern ist notwendig um seiner selbst
willen; Eltern müssen diese Trennung nicht nur ertragen oder hin-
nehmen, sie müssen sogar auf sie hinarbeiten, aus Liebe zu ihrem
Kind. Dann zerstört die Trennung von Eltern und Kind nicht ihre
Liebe, sondern lässt sie wachsen. Doch sind diese Zeilen eben nicht
auf das Eltern-Kind-Verhältnis bezogen. Sie meinen eine allgemeine-
re Erfahrung der Liebe. In ihnen ist ein Widersprechen; ein Wider-
sprechen gegen die Absolutheit des schmerzhaft enttäuschten Ver-
schmelzungsbegehrens, gegen den Totalitätsanspruch des Eins-Seins.
In ihnen wird der Durchgang durch die Trennung nicht als Wider-
spruch gegen die Liebe, sondern als einer ihrer wesentlichen Wege
angesprochen. In der Trennung bewährt sich Liebe.
Grundsätzlich gilt dies auch für die Pädagogik und ihre Motive.
Das Festhalten an der Identität und am Versuch ihrer pädagogischen
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Literaturhinweise
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Literatur
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Literatur
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Ergänzende Literaturhinweise
zur Einführung in die Pädagogik
Einführungen
Giesecke, Hermann: Einführung in die Pädagogik. Weinheim-Mün-
chen 1991
Gudjons, Herbert: Pädagogisches Grundwissen. 5. Aufl. Bad Heil-
brunn 1997
Kaiser, Armin/Kaiser, Ruth: Studienbuch Pädagogik. 10. Aufl.
Frankfurt a.M. 2001
Lassahn, Rudolf: Einführung in die Pädagogik. 7. Aufl. Heidelberg
1995
Lenzen, Dieter (Hg.): Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Rein-
bek 1994
306
Literatur
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