You are on page 1of 309

Werner Sesink

Einführung in die Pädagogik


Vorlesungsskript

(erschienen im LIT-Verlag Münster 2001;


vergriffen)
Inhalt

Vorwort 5

Erste Vorlesung: Von wo wir beginnen 7


1.1 Ouvertüre 7
1.2 Eine Einführung in die Einführung 13
1.3 Ein Leitmotiv: Von wo wir beginnen 23

Zweite Vorlesung: Erziehung I: Antipädagogik 33


2.1 „We don‘t need no education!”? 33
2.2 Über Antipädagogik 35
2.3 Ihr habt eine ewige Kette zerbrochen …” 49
2.4 Bestimmungen des Erziehungsbegriffs 50

Dritte Vorlesung: Erziehung II: Schwarze Pädagogik 63


3.1 Johann Sebastian Bach und die Moderne 63
3.2 Schwarze Pädagogik 65
3.3 Historische Hintergründe 69
3.4 Das „pädagogische Jahrhundert“ 78
3.5 Das antinaturalistische Motiv: Emanzipation 83

Vierte Vorlesung: Leiblichkeit und Vernunft 89


4.1 Rhythmus 89
4.2 Mutter Natur? 92
4.3 Selbstsein der Natur (Böhme) 98
4.4 Natalität (Arendt) 105

1
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Fünfte Vorlesung: Einzigkeit und Sozialität 109


5.1 Die Einzigkeit des Genies und die
gewöhnliche Austauschbarkeit 109
5.2 Einheit, Trennung, Vermittlung 113
5.3 Ich, Du und Wir 118
5.4 Nicht-Identität 123
5.5 Wahres und soziales Selbst 125
5.6 Die Fähigkeit, allein zu sein 129
Sechste Vorlesung: Eigenheit und Fremdheit 133
6.1 Das Fremde 133
6.2 Das Eigene 137
6.3 Eigensinn und Eigentum 143
6.4 Der Plan von der Abschaffung des Dunkels 146
6.5 Anerkennung 150
Siebte Vorlesung: Arbeit und Spiel 157
7.1 Improvisation 157
7.2 Das „Reich der Notwendigkeit“ und
das „Reich der Freiheit“ (Marx) 159
7.3 „Was ist, ist. Was nicht ist, ist möglich.“ 166
7.4 Potentieller Raum 166
Achte Vorlesung: Bildung 177
8.1 Brüderlichkeit 177
8.2 Klassik 179
8.3 Bestimmungen des Bildungsbegriffs 181
8.4 Historische Bedingungen
selbstbestimmter Bildung 187
Neunte Vorlesung: Tradition und Erneuerung 189
9.1 Der Messias 189
9.2 Kindheit 193
9.3 Vom Umgang mit Tradition 196
Inhalt

Zehnte Vorlesung: Autorität und Rebellion 199


10.1 „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“ 199
10.2 Vaterlandsverrat 205
10.3 Autorität 209
10.4 Emanzipation 218

Elfte Vorlesung: Gewalt 221


11.1 „Schrei nach Liebe“ 221
11.2 Was nennen wir Gewalt? 226
11.3 Erziehungsgewalt 228
11.4 Strukturelle Gewalt und Jugendwut 237

Zwölfte Vorlesung: Technik und Bildung 241


12.1 „Das Lied schläft in der Maschine.“ 241
12.2 Begriff der Technik 244
12.3 Verhältnis von Technik und Bildung 245
12.4 Perspektiven des Verhältnisses
von Technik und Bildung 249

Dreizehnte Vorlesung: Schule 261


13.1 „Hurra, hurra, die Schule brennt …“ 261
13.2 Schule als Gegenstand pädagogischer
Forschung und Theorie 264
13.3 Schule als Institution der
Bürgerlichen Gesellschaft 267
13.4 Schule als Irrtum: Illichs radikale Schulkritik 274
13.5 Die Gegenposition: Schule als notwendige
Organisationsform von Bildung 278
13.6 Perspektiven der Schule 280
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Vierzehnte Vorlesung: Wert und Liebe 283


14.1 Kein Liebeslied 283
14.2 Annäherung 286
14.3 Sehnsucht nach Einheit 289
14.4 Pädagogische Verschmelzungsphantasien 292
14.5 „Thank you for tearing me apart“ 294
14.6 Verschmelzung oder Vermittlung 296

Literaturhinweise 301
Vorwort

Der vorliegende Band ist der erste einer Reihe, in der Vorlesungen
abgedruckt werden, die ich an der TU Darmstadt seit 1996 gehalten
habe. Die Texte wurden bewußt in der Fassung für den mündlichen
Vortrag belassen, auch wenn dies gelegentliche Verstöße gegen die
Regeln des Satzbaus mit sich brachte. Natürlich ist die Atmosphäre
einer Vorlesung, die sich an eine anwesende Hörerschaft wendet,
nicht in einem Buch reproduzierbar. Doch habe ich die Hoffnung,
daß sich etwas von der persönlichen Ansprache, mit der ich mich an
die Studierenden wandte, auf die Leserinnen und Leser dieses Buches
überträgt.
Der wesentliche Unterschied einer Vorlesung zu einer wissen-
schaftlichen Monographie ist, daß ich mich hier nicht an die wissen-
schaftliche Öffentlichkeit meines Faches richte, sondern an – meist
junge – Menschen, denen die Denkweise der Pädagogik, die Fragen,
denen sie sich stellt, die Antworten, die sie findet, überhaupt erst na-
hezubringen sind. Ansatz- und Ausgangspunkte meiner Überlegun-
gen und Argumentationen sind daher Begriffe, Probleme, Tatbestän-
de, von denen ich glaube annehmen zu dürfen, daß meine Höre-
rinnen und Hörer zu ihnen Zugang finden können, auch ohne sich
in der wissenschaftlichen Pädagogik schon sonderlich auszukennen.
Auf den sonst üblichen und notwendigen Aufwand zur Positionie-
rung der eigenen Gedanken im Diskurs der Disziplin wurde entspre-
chend verzichtet. Verweise auf Literatur sind eher spärlich. Absicht
war mehr, die Studierenden auf einem Weg des Nachdenkens mitzu-
nehmen, als sie mit dem Stand der pädagogischen Wissenschaft ver-
traut zu machen.
In meiner Vorlesung zur Einführung in die Pädagogik habe ich
erstmals das Experiment unternommen, Musik einzubeziehen, und
zwar nicht als bloße Auflockerung, sondern als konzeptionelles Ele-
ment der Hinführung zur jeweiligen Vorlesungsthematik. Meine

5
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Motive hierfür lege ich zu Beginn der ersten Vorlesung dar. Jedenfalls
war die Musik für Atmosphäre und Verlauf diese Vorlesung sehr prä-
gend, und zwar in einem schönen Sinne. Im Buch bleibt nur, die Ti-
tel anzugeben.
Ergänzungen, Fortschreibungen und neue Themen zu dieser Ein-
führung finden sich auf meiner Website: www.sesink.de.

Darmstadt, Oktober 2001


Werner Sesink

6
Erste Vorlesung
Von wo wir beginnen …

1.1 Ouvertüre
1.2 Eine Einführung in die Einführung
1.2.1 Wohinein einführen?
1.2.2 Was heißt „einführen“?
1.3 Ein Leitmotiv: Von wo wir beginnen …

Musik:
Peter Green – Slabo Days (1979).
Vom Album „In The Skies“ (1979)

1.1 Ouvertüre
Sie werden sich vielleicht etwas verwundert, möglicherweise auch ir-
ritiert gefragt haben, wieso Sie hier mit Musik empfangen wurden
und was das eigentlich soll. Musikberieselung ist Ihnen nicht ganz
unvertraut. Sie kennen das, etwa wenn Sie in ein Kaufhaus oder einen
Supermarkt gehen oder wenn Sie im Kino auf den Beginn der Vor-
stellung warten. Im Falle des Kaufhauses oder des Supermarktes hat
die Musik den Sinn, bei Ihnen eine Stimmung zu erzeugen, die Sie
empfänglich macht für das, was diejenigen, die ihr Geld in das Un-
ternehmen gesteckt haben, von Ihnen wollen: dass Sie Lust kriegen
auf Kaufen und Geld-ausgeben. Im Falle der Kinovorstellung soll Ih-
nen die Wartezeit angenehmer gemacht werden. Vielleicht ist im
Kino die Musikauswahl auch so getroffen, dass sie einen Bezug zum
folgenden Film hat, Sie also einstimmt.

7
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Heißt das also, dass ich Sie in Stimmung versetzen möchte, damit
Sie eher bereit sind, mir meine Vorlesung und das, was ich darin zum
Besten gebe, abzukaufen? Oder dass ich Sie mit Musik in diese Vor-
lesung einstimmen möchte? Sind das vielleicht die neuen Methoden,
mit denen jetzt auch in der Universität Kunden eingefangen und in
Stimmung versetzt werden? Musikberieselung, um Ihren wachen
und kritischen Geist einzuschläfern, der sich sonst vielleicht gegen
das, was ich hier verkaufen will, sperrren würde? In-Stimmung-brin-
gen für etwas, wozu Sie eigentlich gar keine rechte Lust haben? Sozu-
sagen ein erster Schritt in Richtung multimedial animierte Hoch-
schul-Lehre?
Wenn ich so frage, können Sie sich schon denken, dass diese Fra-
gen rhetorisch gemeint sind und wie es jetzt weitergeht: Nein, werde
ich jetzt gleich sagen, das soll es natürlich nicht sein! Und Ihre Erwar-
tung trügt Sie nicht. Nein, sage ich jetzt also: Wie im Kaufhaus oder
wie im Kino soll es hier nicht zugehen. Und multimedial animierte
Lehre haben Sie hier auch nicht zu erwarten. Dennoch brauchen Sie
jetzt nicht enttäuscht zu sein: In dieser Vorlesung wird Musik trotz-
dem weiterhin eine Rolle spielen. Aber seien Sie auch nicht beruhigt:
So völlig anders als im Kaufhaus oder im Kino sind meine Absichten
auch wieder nicht. Etwas Gemeinsames gibt es doch.
Wenn zum Zwecke der Ein-Stimmung oder des Stimmung-Ma-
chens Musik eingesetzt wird, so werden Sie in voller Absicht auf einer
anderen Ebene angesprochen als auf der rationalen Ebene. Dahinter
kann die Absicht stehen, Ihren Verstand und sein kritisches Vermö-
gen zu umgehen oder gar auszuschalten. Das ist ja weiß Gott nicht
grundsätzlich etwas Schlimmes oder Böses. Wenn man sich zu Hause
zur Entspannung Musik anhört, tut man auch nichts anderes. Aber
in diese Vorlesung sind Sie wohl nicht gekommen, um sich zu ent-
spannen und Ihren Verstand mal abzuschalten. Im Gegenteil, in den
meisten Lehrveranstaltungen fühlen Sie sich bestimmt eher aufgefor-
dert, ihre Gefühlswelt auszuschalten und sich auf das Rationale zu
konzentrieren. Das heißt: Wenn es im Kaufhaus so ist, dass das eine,

8
Von wo wir beginnen …

der Verstand, das andere, ihren emotionalen Kaufwunsch, stören


könnte und deshalb ausgeschaltet werden soll, ist es in der Uni so,
dass das eine, das Gefühl, das andere, den Verstand, zu stören scheint
und deshalb seinerseits ausgeschaltet werden soll. So wären wir denn
mal das eine: Verstandeswesen, und mal das andere: Gefühlswesen.
Dennoch sind wir uns ziemlich sicher, dass wir eigentlich immer
beides sind. Und dass wir auch dann, wenn wir unseren Verstand
nicht abschalten, sondern denken wollen, wenn uns nicht nach Ent-
spannung, sondern nach geistiger Konzentration zumute ist, nicht
nur Verstandeswesen sind, sondern auch noch fühlende, empfinden-
de, sinnliche Wesen.
Und damit bin ich bei der Gemeinsamkeit zwischen Musikberie-
selung im Kaufhaus und der Musik, die hier zur Einleitung erklang:
Ich möchte Sie in dieser Vorlesung ebenfalls nicht nur als Verstan-
deswesen ansprechen, sondern als Personen, als Menschen, die emp-
findende, fühlende Wesen sind. Dazu genügt es nicht, dass ich es sage
und beteure. Das sind Worte, und höchstens, wie ich sie sage, kann
Ihnen glaubhaft machen, dass ich es so auch meine. Musik spricht Sie
jedoch direkt an. Ihrer Wirkung können Sie sich kaum entziehen.
Wenn ich hier Musik laufen lasse, erreiche ich Sie auf jeden Fall auch
auf dieser anderen Ebene.
Aber damit stehen der Inhalt der Vorlesung und die Musik doch
noch in keinem inneren Zusammenhang. Erst läuft hier Musik, und
in irgendeiner Weise fühlen Sie sich zwar davon angesprochen; je-
doch kaum als Teilnehmer einer Vorlesung, nicht als Studierende der
Pädagogik, oder? Nach der Musik kommt dann die Vorlesung, und
damit doch wohl etwas ganz anderes. Was Sie da an Inhalten erwar-
ten, hat vermutlich herzlich wenig mit Musik zu tun.
Und wenn ich Ihnen jetzt sage, dass ich vorhabe, jede Vorlesung
mit Musik zu beginnen, dass ich jeweils etwa nach der Hälfte der Zeit
eine Pause von einigen Minuten machen werde, in der wiederum
Musik läuft, und dass zum Abschluss und Ausklang wieder Musik
laufen soll, dann werden ich weiß nicht wieviele von Ihnen sich viel-

9
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

leicht sagen, jetzt spinnt er aber wirklich. Recht haben sie. Etwas
Spinnerei ist schon im Spiel. Andere werden sich denken, och, war-
um nicht, ist doch ganz angenehm, nicht immer nur sein Gelaber an-
hören zu müssen. Recht haben auch sie. 90 Minuten theoretischer
Vortrag am Stück sind in der Regel eine Zumutung. Manche werden
denken, na hoffentlich ist sein Musikgeschmack einigermaßen. Tja,
da liegt in der Tat ein Risiko. Und vielleicht werden einige denken,
da muss doch mehr dahinterstecken, als er bis jetzt rausgerückt hat.
Das muss er uns schon noch etwas genauer erklären, was er damit ei-
gentlich beabsichtigt. Und auch sie haben recht. Mit der Musik, das
muss ich Ihnen schon noch etwas genauer erklären.

Ich will also jetzt versuchen, Ihnen in einigen Punkten verständlich


zu machen, was ich mir dabei gedacht habe.
Erstens. Was ich nicht will: Ihren Verstand umgehen; Sie einlul-
len, ablenken. Ich will allerdings auch nicht nur Ihren Verstand an-
sprechen. Beides soll jedoch auch nicht bloß beziehungslos nebenein-
ander stehen, sondern ich werde jedesmal zu Beginn einer Vorlesung
versuchen, kurz einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem
Musikstück und den Inhalten der Vorlesung dieses Tages.
Zweitens. Für mich selbst ist Musik seit meiner Jugend ein ganz
wichtiger Bestandteil meines Lebensgefühls und Lebensgenusses. Ich
habe selbst Musik gemacht (klassische Musik zu Hause am Klavier;
Rockmusik in einer Band auf der Bühne; synthetische Musik zu
Hause mit Synthesizer und Tonbandgerät), und ich höre ausneh-
mend gern Musik. Wissenschaftliche Theoriebildung gehört aber
ebenso zu meinem Lebensgefühl und Lebensgenuss und ist nicht nur
ein Job oder eine anstrengende Arbeit, die ich aus Pflichtgefühl tue.
In beidem fühle ich mich voll präsent. Einige Jahre stand die Musik
im Vordergrund. Die meiste Zeit aber die wissenschaftliche Theorie-
bildung. Beides ist für mich jedenfalls unterschiedlicher Ausdruck
desselben. Vielleicht kann im Verlaufe der Vorlesung deutlich wer-
den, worin diesselbe besteht.

10
Von wo wir beginnen …

Drittens. Die Bezüge zwischen Musik und pädagogischer Theorie,


die ich herstellen möchte, sind nicht musiktheoretisch oder in Form
einer ästhetischen Theorie untermauert. Erwarten Sie also von mir
keine systematische Herleitung dessen, was ich hier versuche. Die
Überlegungen, die ich Ihnen vortragen werde, sind bruchstückhaft,
nicht systematisch durchdacht. Sie gehören nicht zum Inhalt der
Vorlesung, sondern begleiten die Vorlesung lediglich auf einer ande-
ren Ebene, für die ich keine klare Bezeichnung habe.
Viertens. Ich werde in ganz unterschiedlicher Weise auf die Mu-
sikstücke Bezug nehmen. Manchmal ist es der Text eines Songs.
Manchmal ist es die historische Zeit, in der die Musik entstanden ist.
Manchmal ist es die Person, die sie gemacht oder geschrieben hat.
Manchmal ist es die Musikgattung. Manchmal ist es das Le-
bensgefühl einer Generation oder sozialen Gruppe, das sich in dieser
Musik wiederfindet, undsoweiter. Heute gehe ich gar nicht auf die
speziellen Musikstücke ein, sondern nur auf die Tatsache generell,
dass und warum diese Vorlesung verbunden ist mit Musik.
Fünftens. Die Musik ist überwiegend auch, aber nicht nur und
nicht immer unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, dass sie mir ge-
fällt. Was mir gefällt, muss nicht Ihnen allen gefallen. Betrachten Sie
also diesen musikalischen Part der Vorlesung nicht primär als Beitrag
zum Sich-Wohlfühlen. Es geht mir dabei darum, Sie auf ein Thema
hinzulenken, und zwar auf eine eindringlichere Weise, als ich es nur
mit Worten könnte, und seien sie noch so gut durchdacht und wohl-
formuliert. Das Thema, auf das ich Sie damit hinlenken möchte,
heißt: Was hat die pädagogische Theorie mit mir, mit meinem Le-
ben, mit meinen Wünschen und Hoffnungen, was hat sie mit der le-
bendigen Welt da draußen zu tun?
Sechstens. Dieses Thema: Was hat die Theorie mit dem Leben zu
tun, ist ein inhaltliches Thema, das in meiner Vorlesung immer un-
tergründig mitschwingt, aber auch immer wieder ausdrücklich zur
Sprache kommen soll. Der musikalische Part soll meine Versuche,

11
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

dies Thema auf der inhaltlichen Ebene anzusprechen, auf einer ge-
fühlsmäßigen Ebene unterstützen.
Siebtens. Der Anfang einer Vorlesung ist meist durch Störungen
beeinträchtigt, teils weil immer einige zu spät kommen, teils weil
auch bei pünktlicher Ankunft das innere Ankommen noch seine Zeit
braucht. Die Musik kann dafür Raum geben.
Achtens. Dies ist immer noch ein Experiment, obwohl ich es
schon mehrmals unternommen habe. Diese Erfahrungen waren er-
mutigend. Aber nichts, was mit lebendigen Menschen zu tun hat,
lässt sich einfach wiederholen. beziehungsweise bei der Wiederho-
lung wird es etwas anderes. Das Gelingen ist also nicht dadurch ga-
rantiert, dass es schon einmal gutgegangen sind. Auch soziale Grup-
pen sind Individuen. Und die hier in diesem Semester zusammenge-
kommen sind, sind ein anderes Individuum als diejenigen, die im
vergangenen Wintersemester teilgenommen haben.
Es ist also weiterhin ein Experiment, und Experimente können
schiefgehen. Auch dann werde ich etwas gelernt haben. Und Sie viel-
leicht mit mir. Irgendwann versuche ich dann wieder mal was ande-
res. Ich experimentiere gern.

So, jetzt wissen Sie in etwa, was ich mir bei der Sache mit der Musik
gedacht habe. Alles Weitere wird sich in der Vorlesung zeigen. Und
wenn es nachher für Sie vielleicht nur dabei bleibt, dass es immerhin
eine nette Abwechslung war, an dieser Stätte auch mal ein bisschen
Musik zu hören, dann ist das auch in Ordnung.
Diese erste Vorlesung ist ja, in musikalischen Kategorien gespro-
chen, so etwas wie eine Ouvertüre. Was ist die Funktion einer Ou-
vertüre?
Einem Musiklexikon entnahm ich, dass sich Funktion, Form und
Auffassung der Ouvertüre in der Musikgeschichte gewandelt haben.
Dem, was ich hier heute vorhabe, entspricht wohl am ehesten die von
Gluck geforderte und später u.a. von Beethoven übernommene Auf-

12
Von wo wir beginnen …

gabe, als programmatisches Einleitungsstück thematisch mit dem


folgenden Werk verbunden zu sein.
Übertragen wir das auf die heutige Vorlesung als Ouvertüre zur
folgenden Gesamtkomposition. Das Thema der gesamten Vorlesung
soll in der „Ouvertüre” bereits „anklingen”. Und das heißt: Ich werde
heute eine programmatische Einführung versuchen in das Thema der
Vorlesung, also eine Einführung in die Einführung.

1.2 Eine Einführung in die Einführung


Diese Vorlesung ist also eine Einführung; eine Einführung in die
Pädagogik. Als ich mir überlegt habe, wie ich diese Vorlesung konzi-
pieren soll, musste ich mir vor allem über zwei Dinge klar werden:
Erstens – wohinein soll eingeführt werden? Zweitens: Was heißt
überhaupt „einführen”? Beide Fragen hängen natürlich eng mitein-
ander zusammen.

1.2.1 Wohinein einführen?


Die Vorlesung hieß früher einmal „Einführung in die Erziehungswis-
senschaft”. Ich nenne sie aber lieber „Einführung in die Pädagogik”.
Warum? Der Titel „Einführung in die Erziehungswissenschaft” wür-
de das Thema der Vorlesung sehr stark eingrenzen, stärker, als es mei-
nen Intentionen entspricht. „Einführung in die Pädagogik” eröffnet
dagegen ein weiteres thematisches Feld, worin die Erziehungswissen-
schaft eine gewichtige Rolle spielt. Wenn ich sagen würde: „Wissen-
schaftliche“ oder „theoretische Einführung in die Pädagogik”, wäre
zum Beispiel folgendes klar: Was hier gemacht wird, ist Wissen-
schaft, meinetwegen Erziehungswissenschaft. Aber womit sich diese
Wissenschaft befasst, ist nicht lediglich selbst wieder Wissenschaft
oder Theorie; sie befasst sich zum Beispiel auch mit pädagogischer
Praxis und den Problemen dieser Praxis.

13
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Meistens werden Ihnen von den Lehrenden an einer Universität,


vor allem in den geisteswissenschaftlichen und sozialwissenschaftli-
chen Disziplinen, Theorien anderer Wissenschaftler vorgestellt und
erläutert. Die eigene Theorie dessen, der Ihnen da etwas vorträgt, bil-
det sich aus der Auseinandersetzung mit anderen Theorien. Wäre
dies alles, würde die Wissenschaft oder Theorie allerdings ständig nur
in sich selbst kreisen; und alle Wissenschaftler wären nur die Epigo-
nen anderer Wissenschaftler.
Irgendwann muss das, was wir Wissenschaft oder Theorie nen-
nen, doch einmal entstanden sein. Sie muss ihre Wurzeln in etwas
anderem als Wissenschaft und Theorie haben. Und das gilt für jede
Theorie oder Wissenschaft, die Aussagen machen will über etwas, das
nicht Theorie oder Wissenschaft ist, sondern Praxis, Erfahrung, Rea-
lität oder wie immer wir dies andere vorläufig bezeichnen wollen.
So speist sich die Entwicklung der Wissenschaft und der Theorie
zwar immer auch und in ganz bedeutendem Maße aus der Auseinan-
dersetzung mit den wissenschaftlichen Werken und den Theorien,
die vorher entwickelt wurden. Aber sie braucht als zweite Wurzel
auch die Sachhaltigkeit, die in ihrem Bezug auf Praxis, Erfahrung
oder Realität besteht.
Und so will auch ich mich in dieser Vorlesung nicht vorrangig mit
der Theorie beschäftigen, auch wenn ich selbstverständlich Theorie
betreibe. Was ich tue, theoretisieren, ist nicht das, womit ich mich in
dieser Weise beschäftige.

An dieser Stelle könnten Sie einwenden: Moment – Pädagogik als


Praxis, als Erfahrung, als Realität, das ist doch das, woher ich komme.
Was Erziehung und Bildung in der Praxis bedeuten, das kenne ich ei-
gentlich. Schließlich bin ich in einer – mehr oder weniger vollständi-
gen – Familie groß geworden und bin lange genug zur Schule gegan-
gen. Wohin ich aber gekommen bin, die Universität, das ist der Ort,
an dem Wissenschaft und Theorie zu Hause sind. Und da hinein er-
warte ich jetzt eigentlich eingeführt werden.

14
Von wo wir beginnen …

Und diese Erwartung ist voll und ganz berechtigt. Genau das dür-
fen Sie auch erwarten.
Was bedeutet das denn jetzt? Einführung in die pädagogische
Theorie oder Einführung in die pädagogische Wirklichkeit?
Es verhält sich so: Indem ich Ihnen theoretische Zugänge zur päd-
agogischen Realität zu eröffnen versuche, ist dies zugleich eine Ein-
führung in die theoretische Befassung mit Pädagogik. Im Unter-
schied zum Begriff Erziehungswissenschaft hat der Begriff der
Pädagogik diese Doppelbedeutung. Er meint die Realität ebenso wie
die Wissenschaft; die Praxis ebenso wie die Theorie.
Ich führe sie also nicht ein in pädagogische Theorien. Sondern in
Pädagogik, allerdings auf eine theoretische Weise. Man kann natür-
lich auch anders als theoretisch in die Pädagogik einführen, nämlich
praktisch oder literarisch oder sonstwie. Aber solche Einführungen
gehören woanders hin. Und die Einführung in pädagogische Theori-
en, die allerdings hierhin gehörte, wäre eine andere Vorlesung.
Aber ist damit für Sie schon wirklich geklärt, was Sie nun als In-
halt der Vorlesung erwarten dürfen? Wohl kaum.

Ich vermute, dass hier eine ganze Reihe unterschiedlicher Erwartun-


gen an den Inhalt oder die Inhalte dieser Vorlesung präsent sind. Be-
vor ich sage, was ich machen werde, möchte ich daher schon mal vor-
weg eine ganze Reihe von Erwartungen enttäuschen, indem ich
Ihnen zunächst sage, was Sie durchaus berechtigterweise erwarten
könnten, aber nicht bekommen werden. (Sie sehen, ich bin durch
und durch Pädagoge, also Motivationskünstler: erstmal kräftig ent-
täuschen! Was ich sagen will: Wenn Sie ein ordentlicher Pädagoge
oder eine ordentliche Pädagogin werden wollen, nehmen Sie sich
bloß an mir kein Beispiel.)

Fünf Enttäuschungen:
1. Sie bekommen keine Einführung in pädagogische Theorien. Das
hatte ich Ihnen ja schon gesagt. Genauer bedeutet dies: keine

15
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Geschichte der pädagogischen Theorien; keinen Überblick über


das Spektrum der gegenwärtig vertretenen Positionen in der Päd-
agogik oder über die Hauptströmungen der Pädagogik. Es wird
immer wieder mal einen Hinweis auf theoretische Positionen
geben, auch auf geschichtliche Zusammenhänge, klassische Texte
undsoweiter; aber dies geschieht unvollständig und punktuell.
2. Sie bekommen keine Systematik pädagogischer Theorie. Die einzel-
nen Vorlesungen bauen nicht systematisch aufeinander auf. Eher
könnte man sagen, dass es gut ein Dutzend Einführungen in die
Pädagogik geben wird. Jede einzelne Vorlesung soll für sich
verständlich sein und in ein pädagogisches Thema einführen.
Querverweise wird es geben. Aber das ist noch keine Systematik.
3. Sie bekommen keine Übersicht über die Gliederung und Struktur
der pädagogischen Disziplinen, also nach der Art: Die wissen-
schaftliche Disziplin Pädagogik teilt sich auf in: Allgemeine Päd-
agogik, Berufspädagogik, Schulpädagogik, Sozialpädagogik, Reli-
gionspädagogik, Erwachsenenbildung, Medienpädagogik undso-
weiter.
4. Sie bekommen auch keinen Überblick über alle relevanten päd-
agogischen Praxisfelder, die ja zum Teil mit der Disziplinstruktur
zusammenhängen.
5. Sie bekommen keine Einführung in das Studium der Pädagogik.
Wenn Sie also Antworten auf solche Fragen erwarten: Was heißt
studieren? Wie baue ich mein Studium auf? Welche Besonderhei-
ten bringt das Fach Pädagogik für das Studium mit sich? Wie
schreibe ich eine Hausarbeit? Wie halte ich ein Referat? undso-
weiter – muss ich Sie ebenfalls enttäuschen.

Jetzt werden Sie sich vielleicht fragen, was denn dann überhaupt üb-
rigbleibt. In einem Satz zusammengefasst, möchte ich es so formulie-
ren: Ich werde versuchen, Sie auf einem theoretischen Wege einzu-
führen in pädagogische Realität.

16
Von wo wir beginnen …

Bei diesem Satz möchte ich es aber nicht bewenden lassen. Eine
nähere Erläuterung ist nötig, damit Sie sich etwas darunter vorstellen
können. Ich werde genauer klären, was mit dem Satz gemeint ist.
Gehen wir also davon aus, dass in dieser Vorlesung in päd-
agogische Realität eingeführt werden soll. Dann stellen sich einige
Fragen, zum Beispiel:
• Woher weiß ich eigentlich, was Realität ist? Aus Erfahrung?
Aus eigener oder aus mitgeteilter Erfahrung? Aus Dokumen-
tarberichten? Aus mit speziellen Methoden gewonnenen
Erfahrungen? Aus quantitativen Messdaten? Aus Statistiken?
• Was ist das Pädagogische an Realität? Ist es die Tatsache, dass
es in der Schule oder in der Familie geschieht? Ist alles, was in
diesen Institutionen geschieht, Pädagogik? Sind Prügel päd-
agogische Realität? Ist Babysitten Pädagogik? Wodurch ist
etwas als pädagogisch charakterisiert? Wer legt solche Charak-
teristika fest?
• Ist Pädagogik eine existierende Realität oder eine sein sol-
lende? Ist sie ein Faktum oder eine Norm? Unterscheiden wir
also an der Realität zwischen dem, was die Bezeichnung „päd-
agogisch“ verdient und dem, was es – wie etwa die Prügel –
nicht verdient?
• Ist Pädagogik das, was man von Ihnen in Ihrem künftigen
Berufsfeld erwartet, eine Forderung an Sie, ein Auftrag? Oder
ist es das, was Sie selbst tun wollen, eine Forderung, die Sie an
sich selbst haben, eine Aufgabe, die Sie sich selbst stellen?
Die Antworten auf all diese Fragen verstehen sich keineswegs von
selbst. Und damit wird auch schon klar, dass selbst dann, wenn wir
über Realität sprechen wollen, wir nicht an theoretischen Überlegun-
gen vorbeikommen. Die Realität der Pädagogik kann nicht einfach
für sich selbst sprechen; sie ist uns nicht einfach an sich und durch
sich selbst präsent, sondern nur vermittelt durch Überlegungen über
diese Realität, durch begriffliche Bestimmungen. Natürlich gibt es
die unmittelbare, sprachlose Erfahrung mit Pädagogik, die zum Bei-

17
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

spiel ein neugeborenes Kind macht. Aber um diese Erfahrung als


pädagogische qualifizieren zu können und das heißt um über diese
Erfahrung als Pädagogik sprechen zu können, bedarf es des Nach-
denkens. Es tut mir also leid für alle Praxis- und Realitäts-Fans: Ohne
Theorie ist nichts zu machen!
Wenn Sie sich gleich in der Pause die Titel der einzelnen Vorle-
sungen ansehen, dann soll mit ihnen also erstens jeweils ein Stück
pädagogischer Realität bezeichnet werden. Zugleich aber stecken in
diesen Begriffen theoretische Überlegungen, durch die Qualitäten
von Realität rekonstruiert werden sollen, die diese Realität als päd-
agogische ausmachen.
Und was soll nun bei dieser Einführung für Sie nachher heraus-
kommen?
• Dass Sie am Ende hier rausgehen und sich sagen können, aha,
so geht also Pädagogik, so muss ichs machen, wenn ich wahr-
haft Pädagoge heißen will?
• Oder: Aha, das ist also Pädagogik. Wie furchtbar! Nichts
schrecklicher, als Pädagoge zu sein. Schleunigst das Berufsziel
wechseln!
• Oder dass Sie anschließend einfach so richtig gut bescheid
wissen und überall als Experte auftreten und die Wahrheit
über die Pädagogik rumerzählen können?
• Oder eine Prüfung in Pädagogik bestehen können?
• Oder dass Sie hinterher wissen, wie es richtig wäre, wenn!
Und jetzt die Ärmel aufkrempeln und diese beschissen
unpädagogische Realität zu einer wahrhaft pädagogischen
machen?
Das sind alles Möglichkeiten. Ich werde Ihnen nicht sagen, was
das, was ich hier vortrage, für Sie bedeuten soll. Das werden Sie selbst
entscheiden müssen. Denn zwischen der Theorie und der Praxis gibt
es – auch wenn die Theorie sich mit der Praxis befasst und keine Na-
belschau betreibt – eine Differenz, die nicht von der Theorie her zu
überwinden ist. Anders ausgedrückt: Es kommen nicht-theoretische

18
Von wo wir beginnen …

Momente ins Spiel. Zum Beispiel Ihr Lebensgefühl: Trauen Sie sich
zu, etwas zu verändern? Haben Sie Erfahrungen gemacht, die Sie eher
resignieren lassen? Bestätigt das, was Sie von mir hören, Ihre pessimi-
stische Weltsicht? Oder fühlen Sie sich dadurch bestärkt in Ihrer zu-
versichtlichen Grundeinstellung?
Dass nichttheoretische Momente ins Spiel kommen, sagt nichts
gegen die Bedeutung der Theorie. Ganz und gar nichts. Sie können
allein auf einer gefühlsmäßigen Ebene keine Entscheidungen treffen,
keine praktischen Konsequenzen ziehen. Sie können nur Ihren Ge-
fühlen Ausdruck geben: weinen, lachen; jemanden in den Arm neh-
men. Aber das ist keine Praxis, die in Zusammenhänge eingreift; kein
Handeln. Das sind emotionale Reaktionen auf etwas, das geschieht.
Was geschieht, kann nicht durch Ihre Gefühle beeinflusst werden,
außer, Sie lassen ihre Gefühle handlungsleitend werden. Aber dann
sind sie mehr als Gefühle. Sie sind dann, wie Humboldt, der frühe
Theoretiker der bürgerlichen Bildung, 1792 formulierte, „ideenrei-
che Gefühle”, wie auch die Ideen, die der handelnde Mensch ver-
folgt, dann „gefühlvolle Ideen” sind.
Um Ihre Gefühle handlungsleitend werden zu lassen, müssen Sie
Theorie betreiben. Um Theorie zu betreiben wiederum, muss das
Gefühl Sie nicht verlassen. Im Gegenteil: Die Motivation, sich mit
Theorie zu befassen, wurzelt ja in dem Wunsch, was im Gefühl zum
Ausdruck kommt, eine bestimmte Qualität der Beziehung zur Welt
und zum anderen Menschen wie zu sich selbst, im Handeln so wirk-
sam werden zu lassen, dass diese Welt so werde, wie das Gefühl sie
will: liebenswert und liebevoll. Das mag romantisch klingen, und
manche/r wird sich sagen, dass solche Sentimentalitäten schlecht zur
Nüchternheit wissenschaftlicher Theoriebildung passen, da sie mög-
licherweise doch das Hirn eher vernebeln, als dass sie zur Aufklärung
beitragen.
Diese Bedenken gegen Gefühlsduselei in der Wissenschaft sind –
gerade in der Pädagogik, die dazu besonders neigt – ernst zu nehmen.
Aber ebenso ernst zu nehmen ist die Gefahr, die von einer Wissen-

19
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

schaft ausgehen kann, welche menschliche Gefühle übergeht. Neh-


men wir uns also vor, achtsam zu sein und beide Gefahren nicht aus
dem Auge zu verlieren.

1.2.2 Was heißt „einführen”?


Von seiner Wortbedeutung her stellt sich beim Wort „einführen in
…” die Vorstellung ein, es gebe da so etwas wie einen Bereich, in den
jemand, in diesem Falle ich, jemand anderen, in diesem Falle Sie,
hineinführt. Man spricht davon, jemanden bei seiner Familie einzu-
führen; ihn im Freundeskreis einzuführen undsoweiter Er wird sozu-
sagen irgendwohin gebracht, wo er vorher nicht war. beziehungswei-
se er soll Mitglied eines Zusammenhangs werden, dem er vorher
nicht angehörte. Dabei wird er bekannt gemacht in dem doppelten
Sinne: er wird mit dem Kreis bekannt gemacht, in den er eingeführt
wird; und er wird dem Kreis bekannt gemacht.
Diese Vorstellung, die vom Wort „Einführung” her nahegelegt
wird, kann zu Missverständnissen verführen. Denn erstens gehören
Sie dem Zusammenhang, in den Sie hier eingeführt werden sollen,
schon längst an. Der Bereich, zu dem Sie gebracht werden, ist ein Be-
reich, aus dem Sie herkommen. Und zweitens: Das Einführen selbst
gehört schon zu dem, wohinein eingeführt werden soll. Es ist selbst
eine pädagogische Tätigkeit, so dass es nicht an einen anderen Ort
führt, sondern paradoxerweise selbst schon der Ort ist, an den es füh-
ren soll. Mit anderen Worten: Sie sind schon da. Wohin soll ich Sie
also noch führen beziehungsweise was bedeutet unter dieser Voraus-
setzung denn noch „Einführung”?
Ich will versuchen, es in einem Bild anschaulich zu machen, wie
ich mir eine Einführung unter diesen Voraussetzungen vorstelle.
Stellen Sie sich vor, Sie sind Bewohner eines Landes und dort
auch schon viel herumgekommen. Was Sie gesehen haben, wie Sie es
in sich aufgenommen und verarbeitet haben, also: wie Sie sich als Be-
wohner dieses Landes fühlen und wie dieses Land sich Ihnen dar-
stellt, ist sehr stark durch Ihre ganz persönliche Lebensgeschichte ge-

20
Von wo wir beginnen …

prägt. Wenn Sie nun jemandem etwas über das Land erzählen
sollten, in dem Sie leben, dann werden Sie mindestens ebensoviel
über sich selbst erzählen wie über das Land. Das lässt sich gar nicht
auseinanderhalten für Sie. Und jeder von Ihnen wird etwas anderes
erzählen. So ist es mit dem „Land Pädagogik”. Sie hätten schon eine
ganze Menge über dieses Land, die Pädagogik, zu erzählen. Sie sind
dort aufgewachsen. Sie sind dort immer noch zuhause. Wenn Sie
über Pädagogik etwas sagen, sagen Sie etwas über sich selbst. Und je-
der von Ihnen wird etwas anderes über Pädagogik zu erzählen haben.
Das kann so weit gehen, dass gar nicht mehr erkennbar ist, dass
es sich überhaupt um dasselbe Land handelt.
Gehen wir jetzt noch einen Schritt weiter. Wieder im Bild: Sie
sollen oder wollen nicht nur jemandem etwas erzählen, sondern sol-
len oder wollen sich in irgendeiner Weise um das Wohl dieses Landes
insgesamt kümmern, zum Beispiel in einer politisch verantwortli-
chen Position. Da genügt es nun ganz sicher nicht mehr, aus der ei-
genen Erfahrung zu schöpfen. Sie müssen das Land, in dem Sie le-
ben, dann schon genauer kennenlernen, und zwar so genau, dass sie
beanspruchen können, über es als ganzes etwas sagen zu können und
für es als ganzes etwas tun zu können. Um das zu erreichen, müssen
Sie sich Kenntnisse aneignen zusätzlich zu dem, was Sie im Laufe Ih-
res Lebens so alles erfahren und mitgekriegt haben. Es wäre hilfreich,
wenn es jemanden gäbe, der Sie in Ihrem eigenen Lande herumführt
und Ihnen die Hauptsachen zeigt. Jemand, der sich in diesem Land
auskennt, weil es sein Job ist, dieses Land systematisch zu bereisen.
Übertragen wir dieses Bild nun auf die Pädagogik als Land, so
heißt das, dass ich mit Ihnen eine Art Rundreise mache oder Sie in
der Pädagogik herumführe. Dies ist keine Reise in ein unbekanntes
Land, also in diesem Sinne keine „Einführung”, sondern ein Herum-
führen in Ihrem HeimatLand; wobei es allerdings durchaus möglich
ist, dass Sie Neues entdecken oder erfahren – denn überall sind Sie
noch nicht gewesen – beziehungsweise scheinbar Bekanntes in ande-
rem Lichte sehen, weil ich, als Ihr Reiseführer, Sie auf Dinge auf-

21
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

merksam mache, die Ihnen vorher nicht so aufgefallen sind oder die
Sie schlicht übersehen haben.
Gleichzeitig damit kriegen Sie mit, wie jemand dieses Land be-
reist, der sich einen Gesamteindruck von ihm, von seinen Charakte-
ristika verschaffen will; dem es also um ein Bild vom Land als ganzem
geht. Sie machen also eine Erfahrung in einer besonderen Form des
Reisens. Man könnte auch sagen: In diese Weise des Reisens werden
Sie, indem ich Ihnen Ihr Land zeige, zugleich eingeführt.
Diese Herumführung bietet die Chance, aus den Beschränkthei-
ten der Perspektive persönlicher Lebensgeschichte auszubrechen, den
eigenen Horizont zu erweitern. Strenge Objektivität ist dabei den-
noch nicht zu erreichen. Erstens bleibt selbstverständlich Ihre per-
sönliche Lebensgeschichte für Ihr Bild von diesem Lande Pädagogik
bedeutsam. Wie Sie am eigenen Leib Pädagogik erfahren habe, das
können Sie nicht einfach ausstreichen aus Ihrem Bewusstsein. Und
sollen Sie auch nicht. Und zweitens ist bei allem Bemühen um eine
Sicht des Ganzen doch auch die Perspektive Ihres Reiseführers eine
persönliche. Je nachdem, wer sich Ihnen als Reiseführer zur Verfü-
gung stellt, je nachdem also, wer es ist, der Ihnen eine Einführung in
die Pädagogik gibt, stellt sich das Bild, das Sie von diesem Land, der
Pädagogik, erhalten, anders dar.
Bedenken Sie dies bitte immer: Sie bekommen hier nichts mit,
von dem Sie nachher sagen können: So und nicht anders ist es. Das
und nichts anderes ist Pädagogik. Ich werde mich bemühen, Ihnen
einen Blick auf das Ganze der Pädagogik zu geben, Sie gleichsam in
der Pädagogik herumzuführen und Sie dabei auf das aufmerksam zu
machen, worin ich das Spezifische sehe, das dieses Land, die Päd-
agogik, auszeichnet gegenüber anderen Ländern wie der Politik oder
der Psychologie oder der Soziologie undsoweiter. Aber dies wird ein
Sesinksches Bild von Pädagogik bleiben. Und Sie werden dies keines-
falls einfach übernehmen können und dürfen. Nehmen Sie diese
Vorlesung als einen Beitrag auf, der Ihnen helfen kann, Ihre eigene

22
Von wo wir beginnen …

Sicht des Ganzen der Pädagogik zu gewinnen, und sei es in kritischer


Ablehnung meiner Sicht.

Musik:
Fleetwood Mac – Man Of The World (1969).
Vom Album „Greatest Hits“ (1971)

1.3 Ein Leitmotiv: Von wo wir beginnen …


„Von wo wir beginnen …“ Das ist eine mehrdeutige Formulierung.
Sie kann meinen „Von wo wir in dieser Vorlesung beginnen“. Und
so ist sie auch gemeint.
Eine zweite Bedeutung kann darin liegen, dass wir danach fragen,
von wo wir als Pädagoginnen und Pädagogen beginnen; wo also die
pädagogische Tätigkeit ansetzt. Auch das ist gemeint.
Sie kann schließlich unseren Anfang, den Beginn des Mensch-
seins ansprechen. Von wo beginnen wir, wenn wir uns als Menschen
entwickeln, das heißt in einer sozialen Umwelt empfangen, von
Menschen um- und versorgt, gepflegt, erzogen und gebildet werden
und wenn wir so begleitet unseren Lebensweg beginnen?
Die heutige Vorlesung ist, so sagte ich, eine „Ouvertüre“. Und
eine Ouvertüre nimmt oft ein Leitmotiv vorweg, das danach die mu-
sikalische Entwicklung des Hauptstücks prägt. Als ein solches Leit-
motiv, das also in der gesamten Vorlesung immer wieder aufgenom-
men werden und anklingen wird, habe ich für diese Vorlesung die
Geburt gewählt.
Ich beginne also meine Einführung in die Pädagogik mit dem
Thema Geburt.
Und unser aller Leben als getrennte, eigene Personen begann mit
unserer Geburt.
Die Geburt ist schließlich der Zeitpunkt und das Ereignis, an
dem die soziale Umwelt sich einem Menschen in seiner eigenen ge-
23
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

trennten Existenz aktiv zuwendet. Sie ist also auch das Ereignis, bei
dem die Pädagogik beginnt.
Die Auseinandersetzung mit der Geburt eines Menschen ist von
fundamentaler Bedeutung für die Pädagogik. Ich werde versuchen,
diese Bedeutung unter drei Hauptfragestellungen zu umreißen:
• Woher kommt dieser Mensch?
• Wie wird dieser Mensch aufgenommen?
• Wohin geht dieser Mensch?
Begleitet werden meine Ausführungen durch die Projektion von
Portraits bedeutender Persönlichkeiten. (Der Rest der Vorlesung
wird begleitet von der Projektion von Großaufnahmen von Säuglin-
gen.)

Woher kommt dieser Mensch?


Woher wir kommen, ist eine Frage, die uns von Kindheit an beschäf-
tigt: „Wo kommen die kleinen Kinder her?“ In der Frage liegt nicht
nur kindliche Neugier. Sie ist auch eine Frage, welche die Religion
und die Philosophie seit jeher umtrieb. Und auf die die Menschen im
Laufe ihrer Geschichte recht unterschiedliche Antworten gegeben
haben. Sie ist die Frage nach dem Grund der eigenen Existenz.
Für den modernen Menschen ist nicht mehr so selbstverständlich,
dass er seine Existenz einer anderen Macht verdanken soll als sich
selbst, sei diese Macht nun ein Gott oder die Natur. Es liegt etwas Be-
unruhigendes darin, dass unsere eigene Existenz so ganz und gar in
etwas gründen soll, worüber wir nicht verfügen. Zwar sprachen auch
wir als Jugendliche schon vom „Kinder machen“ und bezeichneten
damit den Liebesakt hinsichtlich seiner Fortpflanzungsfunktion.
Aber dieses „Machen“ hatte noch nicht die volle Bedeutung, die es
etwa in technischen Zusammenhängen hat, wo Machen gleichbedeu-
tend ist damit, den Prozess unter voller Kontrolle zu haben und nach
Belieben steuern zu können.
Noch ist der Mensch anders als technische Artefakte in diesem
Sinne nicht „gemacht“. Zwar gehört es zum modernen Selbstver-

24
Von wo wir beginnen …

ständnis, dass es in unserer eigenen Hand liege, was wir aus uns ma-
chen; aber das bezieht sich auf den Entwicklungsprozess nach der Ge-
burt. Diese Aussage hat zwar eine enorme pädagogische Bedeutung,
begründet sie doch die Bildung als eine sich selbst bestimmende Ent-
wicklung des einzelnen. Dennoch bleibt mit der Herkunft des Men-
schen aus etwas anderem als subjektivem Gestaltungswillen sozusa-
gen eine Hypothek, die nicht zu ignorieren ist.
In der Tatsache des Geborenseins liegt eine Verletzung des reinen
Selbstbestimmungsprinzips. Eine fremde Macht kam ins Spiel, und
dies nicht gerade beiläufig. Ein Mensch ist geworden, nicht gemacht;
und das bedeutet eine grundlegende Heteronomie. Denn dieser Ge-
wordenheit muss er sich fügen; sie bringt Bedürfnisse und Eigen-
schaften des Menschen mit sich, die es zunächst einmal hinzuneh-
men gilt.
Die Pädagogik ist ein erster historischer Einspruch der Gesell-
schaft gegen die Tatsache des Geborenseins als einer heteronomen
Bestimmtheit der eigenen Existenz. Sie entstand als organisierte ge-
sellschaftliche Praxis und als theoretische und wissenschaftliche Dis-
ziplin im 18. Jahrhundert. Zu dieser Zeit wurde mit dem aufsteigen-
den Bürgertum die alte feudale Gesellschaft und mit ihr die
Determiniertheit der menschlichen Existenz durch Natur, Geburt
und Herkunft in Frage gestellt. Bis dahin galt: Gott hatte der Welt
eine Ordnung gegeben, in die der einzelne Mensch hineingeboren
wurde. Er hatte die Menschen unterschiedlich erschaffen, und so un-
terschiedlich kamen sie auf die Welt. Die Unterschiede von Geburt
waren gottgewollt und daher nicht in Frage zu stellen. Der persönli-
che Lebensweg war nur eine Erfüllung der gottgewollten Bestim-
mung.
Das Leben insgesamt war weitestgehend geprägt von der Unter-
werfung unter die Bedingungen der Natur, jedenfalls da, wo die le-
bensnotwendige Produktion noch in der Hauptsache landwirtschaft-
liche Produktion war.

25
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Das Bürgertum der Städte allerdings repräsentierte bereits ein an-


deres Weltverhältnis. Die handwerkliche Produktion war sehr viel
stärker vom Geschick des einzelnen Menschen bestimmt als von den
Naturbedingungen. Das städtische Leben war weniger von der Natur
geprägt als das ländliche. Die Bedeutung des von Menschen Ge-
machten gegenüber dem von Natur Gefügten wuchs schließlich
enorm mit dem Beginn der Industrialisierung. Diese veränderte
Selbsterfahrung des Bürgertums verlangte nach sozialer Anerken-
nung zuerst innerhalb der fortbestehenden feudalen Verhältnisse;
sprengte schließlich aber deren soziale Strukturen und wurde revolu-
tionär gegen die feudale Gesellschaftsordnung zur allgemeinen Norm
erhoben. Jeder Mensch sollte Herr seines eigenen Schicksals werden
können und nicht in die Beschränkungen des Standes eingepfercht
sein, die ihm durch Geburt auferlegt waren. Alle Menschen sollten
von Geburt an die gleichen Chancen zu einer selbstbestimmten Ent-
wicklung, das heißt zur Bildung haben. Die Bildungsidee war eine
antifeudale revolutionäre Idee. Bildung war gedacht und dann auch
eingerichtet als das Gegenprinzip zum Geborensein, als die Emanzi-
pation von der Geburt. Pädagogik sollte systematisch und organisiert
für Bildung sorgen.
Das Vertrauen in die Macht der Bildung war bei den Klassikern
der Pädagogik enorm. Durch Erziehung und Bildung sollten die
Menschen zu der Formung finden, die ihrer eigenen Vorstellung
vom wahren Menschsein entsprach. Nicht durch Geburt, sondern
durch Bildung sollte der Mensch Mensch sein beziehungsweise wer-
den. Bildung war gedacht als die Humanisierung des Menschen; und
Pädagogik sollte die gesellschaftliche Praxis der Humanisierung
durch Bildung sein.
Dieses Projekt, manchmal bezeichnet als „Projekt der Moderne“
oder „Humanismus-Projekt“, wird neuerdings immer stärker in
Zweifel gezogen. Es ist deutlich geworden: Erziehung und Bildung
haben das nicht leisten können, was ihnen in der Moderne zuge-
schrieben wurde. Die Menschen sind keineswegs besser geworden.

26
Von wo wir beginnen …

Die schrecklichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden


und werden im 20. Jahrhundert begangen. Dies Scheitern der päd-
agogischen Hoffnungen legt eine Relativierung des pädagogischen
Anspruchs und der Erwartungen an die Pädagogik nahe. Mehr päd-
agogische Bescheidenheit scheint angebracht.
Es kann aber auchdie ganz andere Konsequenz gezogen werden,
dass man das vermeintliche Übel sozusagen radikaler (bei der Wur-
zel) fassen müsse. Vielleicht ist des Übels Wurzel ja gerade die Tatsa-
che der Geburt sein, das Gewordensein aus etwas, das wir nicht wirk-
lich zu kontrollieren vermögen. Statt Menschen einfach werden zu
lassen, sollten sie besser gemacht werden. An die Stelle der Pädagogik
träte dann die Züchtung – ein Gedanke, den vor einigen Jahren der
Philosoph Peter Sloterdijk in die öffentliche Diskussion gebracht hat.
Seine Plausibilität bezieht er aus zweierlei: erstens aus dem Festhalten
an der antinaturalistischen Position der Pädagogik; gut ist der
Mensch demnach nur, soweit er sich selbst geformt hat; und zweitens
aus den sich mit der Gentechnologie eröffnenden Möglichkeiten ei-
nes wachsenden konstruktiven Eingriffs in die Genese eines Men-
schen schon vor seiner Geburt. Dadurch verliert die Geburt ihren
Charakter eines Ereignisses, das mit Naturgewalt daherkommt, und
nähert sich einem technischen Produktionsvorgang an.
Woher kommt dieser Mensch? – das war die Frage. Die päd-
agogische Intention der Bildung hat sehr viel zu tun mit der Antwort
auf diese Frage. Ist dieser Mensch durch und durch ein Geschöpf der
Natur oder Gottes, durch Geburt vollständig determiniert in den
Möglichkeiten seines Werdens, dann gibt es keine Bildsamkeit und
keinen Ansatz für die Pädagogik im modernen Sinne. Bildung setzte
zumindest ein gewisses Maß an Unbestimmtheit und damit an Be-
stimmbarkeit durch andere Menschen und durch sich selbst voraus.
In der vollen Emphase des klassischen Bildungsbegriffs ging diese
Vorstellung bis hin zu einer völligen Selbstbemächtigung des Men-
schen durch Bildung, wodurch seine Geburt zu einer Marginalie
wurde.

27
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Die moderne Antwort könnte ganz anders lauten: Dieser Mensch


kommt aus der Retorte. Ob dies heißt, dass er damit wirklich im
technischen Sinne vollständig machbar und somit auch kontrollier-
bar ist, sei dahingestellt. Es gibt jedenfalls solche Phantasien.
Die Möglichkeit der Pädagogik scheint also in einem hohen
Maße davon abzuhängen, dass die Geburt beides ist: Ausdruck des
Gewordenseins eines Menschen und damit seiner Heteronomie; wie
auch damit die Eröffnung eines Weges der Selbstbestimmung, der
Autonomie. Heteronomie und Autonomie sind aufeinander zu be-
ziehen. Das ist die Aufgabe der Bildung, und Pädagogik hat das ihre
dazu zu tun, ihre Bewältigung zu unterstützen.

Wie wird dieser Mensch in Empfang genommen?


Wie das Kind in Empfang genommen wird, dies hängt in hohem
Maße davon ab, woher es – aus Sicht derer, die es in Empfang neh-
men – kommt. Es kann als ein Gottessegen, ein Gottesgeschenk
dankbar angenommen werden; oder aber auch als göttliche Fügung,
gar als Prüfung leidvoll hingenommen werden.
Die Bedeutung der Ankunft eines Kindes ist in traditionalen Ge-
sellschaften durch Sitte, Recht und Gesetz bestimmt. In der indi-
schen Gesellschaft kann ein Kind, wenn es weiblichen Geschlechts
ist, ein Unglück für die Familie bedeuten. Männliche Nachkommen
sichern in den meist patriarchalen Gesellschaften die Erbfolge, die
Fortführung des Namens.
In der modernen Gesellschaft gibt die Geburt eines Kindes dage-
gen den Projektionen der Erwachsenen sehr viel mehr Raum. Die
Geburt hat nicht einfach nur eine Bedeutung. Ihr wird auch eine Be-
deutung gegeben.
Ich sagte schon, dass die moderne Pädagogik in dem spannungs-
vollen Verhältnis von unverfügbarer Herkunft und selbstbestimmter
Zukunft gründet. Das Verhältnis zum Kind ist nicht einfach durch
Sitte und Gesetz bestimmt, sondern es ist aktiv zu bestimmen. Das
Kind selbst wird sozusagen einer gesellschaftlichen Interpretation un-

28
Von wo wir beginnen …

terzogen. Und zwar nicht erst, wenn es zur Welt kommt, sondern
schon zuvor.
Erst aufgrund des medizintechnischen und pharmazeutischen
Fortschritts gibt es das, was wir ein Wunschkind nennen: Dieses
Kind ist nicht nur angenommen, sondern dass es zur Welt kommt,
kann zurückgeführt werden auf eine Entscheidung der Eltern, ein
Kind zu wollen. Mit dieser Entscheidung sind Projektionen verbun-
den: Die Eltern stellen sich – mehr oder weniger scharf umrissen –
das Kind vor, das sie wollen, auf das sie sich freuen. Ein Bild des Kin-
des entsteht schon, bevor es das Licht der Welt erblickt. Und dieses
Bild prägt die Erwartung, die dem Kind entgegengebracht wird. Sei-
ne bevorstehende Ankunft ist Einlösung des Wunsches, der im Kind
sozusagen Fleisch wird.
Natürlich sind selbst in unseren westlichen Industrieländern bei
weitem nicht alle Kinder, wahrscheinlich nicht einmal die meisten in
diesem Sinne Wunschkinder. So rationalisiert ist das Liebesleben
auch in unseren Gesellschaften noch nicht, dass nicht auch hier wei-
terhin viele Kinder auf die Welt kommen, weil es der Zufall wollte,
weil man nicht aufgepasst hat, weil man nachlässig war; oder gar ge-
gen den Willen der Eltern oder eines Elternteils. Nicht gewünschte
oder gar ausdrücklich unerwünschte Kinder werden natürlich anders
in Empfang genommen als die sogenannten Wunschkinder. Aber
auch die positive Erwartungshaltung gegenüber dem Wunschkind ist
ambivalent. Dieses Kind hat eine Erwartung zu erfüllen. Und das
kann eine verdammt schwere Hypothek sein.
Doch möchte ich hier gar nicht so sehr über die vielen Varianten
sprechen, wie Eltern ihre Kinder in Empfang nehmen. Es soll mehr
darum gehen, wie die Gesellschaft ihre Kinder in Empfang nimmt,
wie sie sozusagen grundsätzlich ihr Verhältnis zu den Nachgeborenen
bestimmt, wie sie sie in ihre Ordnung aufnimmt.
Die Pädagogik steht, wie ich schon betonte, in einem Spannungs-
verhältnis zwischen Annahme einer unverfügbaren Herkunft und der
Eröffnung der Möglichkeit künftiger Selbstbestimmung. Und wie

29
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

die Gesellschaft ihre Kinder aufnimmt, das hängt davon ab, wie sie
dieses Spannungsverhältnis interpretiert.
Die adventistische Haltung: Die Betonung kann auf der Erwartung
der neuen offenen Möglichkeiten einer besseren Zukunft liegen, die
mit der Ankunft des Kindes gegeben ist. Dann ist das Kind Hoff-
nung. Die Erwartung seiner Ankunft erhält etwas Adventisches, das
bis hin zu messianischen Vorstellungen – wie etwa bei Maria
Montessori – vom Kind als potentiellen Erlöser vom Bösen, als Hei-
land gehen kann. Die Geburt ist – wie der französische Geburtshelfer
Leboyer sagt – „das Fest der Geburt“, ein quasi religiöses Ereignis.
Die ordnungspolitische Haltung: Die messianische Erwartung geht
einher mit einer kritischen Distanz zu den gegebenen gesellschaftli-
chen Verhältnissen. Diese bedürfen der Heilung. Wo aber diese Ver-
hältnisse als die besten aller möglichen erscheinen, wird das Kind vor
allem als jemand in Empfang genommen, der die gegebene Ordnung
nicht stören soll und möglichst reibungslos in sie zu integrieren ist.
Das Kind ist zunächst ein Fremdling in dieser Ordnung. Und daher
kommt es darauf an, es bei seiner Ankunft sogleich mit der bestehen-
den Ordnung und ihren Strukturen zu konfrontieren. Die Geburt
wird zur Ordnungsmaßnahme.
Die exorzistische Haltung: Von der Abwehr einer Störung ist es nicht
weit zur Abwehr einer Bedrohung. In seiner sozialen Ungeformtheit
stört das Kind nicht nur, sondern stellt es sogar eine Bedrohung dar.
Ja, das Rohe und Wilde der ursprünglichen Natur im Kinde kann gar
als das fundamental Böse erscheinen, dem es zu wehren gilt. Von An-
fang an muss das Kind in die Zucht genommen werden; seine Triebe
sind zu disziplinieren, und erst wenn es gelernt hat, sich in der Ge-
walt zu haben, kann allmählich davon gesprochen werden, dass dieses
Kind ein menschliches Mitglied der Gesellschaft ist. Dies ist sozusa-
gen der Gegenentwurf zur messianischen Vorstellung: das Kind jetzt
als „Rosemaries Baby“, als Teufelsbrut. Da wird die Pädagogik zum
Exorzismus beziehungsweise zur „Schwarzen Pädagogik“.

30
Von wo wir beginnen …

Die technische Haltung: Nüchtern dagegen die technische Haltung:


Aus dem, was da zur Welt kommt, lässt sich was machen. Das Kind
gilt in seiner Naturursprünglichkeit gleichsam als Material, mit dem
pädagogisch zu arbeiten ist. Es gibt besseres und schlechteres Materi-
al. Und es gibt auch unbrauchbares Material. Daher gehört der Ge-
danke der Selektion, vorgeburtlich oder nachgeburtlich, zu einer
technischen Haltung gegenüber den Kindern. Und der Gedanke ei-
ner aktiven Eugenik, sprich konstruktiven Manipulation der Erban-
lagen liegt durchaus in seiner Konsequenz.

Wohin geht dieser Mensch?


Diese Frage führt direkt in die Pädagogik. Denn wir gehen davon
aus, dass ein Mensch auf seinem Weg der Begleitung und Unterstüt-
zung bedarf.
Aber wie Sie gesehen haben, steckt das pädagogische Moment
ebenso schon in den beiden anderen Fragen, die auf den ersten Blick
nicht direkt die Pädagogik zu betreffen scheinen. Die drei Fragen be-
ziehungsweise die Antworten darauf, hängen miteinander aufs engste
zusammen. Und von ihnen hängt ab, ob Pädagogik im modernen
Sinne überhaupt eine Möglichkeit hat; und wie sie sich versteht.
Die vorpädagogische Haltung: Wohin ein Mensch geht, dies hängt
von der Natur, von Gott, vom Schicksal ab. Es ist Fügung. Dies ist
die Haltung traditionaler Gesellschaften. Sie bietet für Pädagogik im
modernen Sinne keinen Ansatzpunkt und keinen Raum.
Die antipädagogische Haltung: Wohin ein Mensch geht, das hängt al-
lein von ihm ab. Das wäre die antipädagogische Position, auf die in
der nächsten Vorlesung noch ausführlich einzugehen sein wird. Ihr
unterliegt ein naturalistischer Kurzschluss, wonach natürliche Her-
kunft und selbstbestimmte Zukunft nicht etwa in einem spannungs-
vollen Verhältnis zueinander stehen, sondern unmittelbar zusam-
menfallen. Der Mensch ist demnach das von Natur zur Selbstbestim-
mung berufene und fähige Wesen.

31
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Die pädagogische Haltung: Die Gegenposition hierzu ist die, dass es


von der Pädagogik abhänge, wohin ein Mensch gehe, wie er sich ent-
wickle. Welche Ausprägung diese pädagogische Bestimmung des
menschlichen Weges nimmt, die ja ein Weg der Selbstbestimmung
sein soll, das wiederum hängt vom spezifischen Verhältnis der inten-
dierten Selbstbestimmung zum Moment der Unverfügbarkeit der ei-
genen Herkunft ab, das sich in der Tatsache der Geburt manifestiert.
Wird die Pädagogik ihn durch strenge Disziplin aus seiner triebhaf-
ten Naturverhaftetheit herausführen wollen? Wird sie ihn zweckra-
tional bearbeiten? Wird sie seinen Selbstbildungskräften Raum ge-
ben? In jedem Falle wird sie – wie auch immer – die Bedeutung seiner
Herkunft zu würdigen haben und den eigenen, den gesellschaftlichen
Beitrag zu seinem Werdegang.
Pädagogik ist die fortwährende Auseinandersetzung mit der Tat-
sache der Geburt: Sind wir bereit, die Unverfügbarkeit der Herkunft
dieses Kindes und dessen, wie es uns gegenübertritt, anzuerkennen?
– Unverfügbarkeit für uns und für es selbst! Und sind wir willens,
dennoch auf die Fähigkeit dieses Kindes zu setzen, seinen Weg in
Auseinandersetzung und Vermittlung mit der gesellschaftlichen Ver-
nunft, die wir als Pädagoginnen und Pädagogen ihm gegenüber zu
repräsentieren haben, selbst zu bestimmen?

32
Zweite Vorlesung
Erziehung I: Antipädagogik

2.1 „We don‘t need no education!“?


2.2 Über Antipädagogik
2.2.1 Zwei Kernsätze der Antipädagogik
2.2.2 Die antipädagogische Grundposition
und die pädagogische Gegenposition
2.2.3 Was heißt Selbstbestimmung?
2.3 „Ihr habt eine ewige Kette zerbrochen …“
2.4 Bestimmungen des Erziehungsbegriffs
2.4.1 Über die fehlende Einheit des Erziehungsbegriffs
2.4.2 Drei Bestimmungen des Erziehungsbegriffs
Entwicklung
Eigener Sinn
Fremdbestimmung

Musik:
Pink Floyd – Another Brick In The Wall (1979).
Vom Album „The Wall“ (1980)

2.1 „We don‘t need no education!”?


Daddy hat sich davongemacht über den Ozean.
Ließ nur eine Erinnerung zurück,
einen Schnappschuss im Familienalbum.
Daddy, was hast Du mir sonst noch dagelassen?
Daddy, was hast Du für mich zurückgelassen?
Alles in allem nur einen Stein in der Mauer:
Alles in allem nur Steine in der Mauer.

33
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Wir brauchen keine Erziehung,


wir brauchen keine Gedankenkontrolle,
keine dunkle Bösartigkeit im Klassenzimmer.
Lehrer, lasst die Kinder in Ruhe.
Lehrer, lass uns Kinder in Ruhe.
Alles in allem ist es nur ein weiterer Stein in der Mauer.
Alles in allem seid Ihr nur weitere Steine in der Mauer.
(Pink Floyd, Another Brick In The Wall)

Lehrerinnen und Lehrer, Pädagoginnen und Pädagogen, lasst die


Kinder in Ruhe; lasst die Finger von den Kindern. Das ist die Bot-
schaft des Pink-Floyd-Songs. Eine antipädagogische Botschaft.
Wer wie Sie Pädagogik studiert, für den ist es wohl erstmal eine
Selbstverständlichkeit, dass es Pädagogik geben muss, also dass es
zwingende Gründe gibt, die Finger nicht von den Kids zu lassen. Für
eine Vorlesung zur Einführung in die Pädagogik muss man wohl
ebenfalls annehmen, dass sie nicht vorhat, in etwas einzuführen, des-
sen Existenzberechtigung sie grundsätzlich infrage stellt.
Wenn also jetzt zu Beginn des ersten Teil einer Vorlesung, die
dem Begriff der Erziehung gewidmet ist, ein Song gespielt wird, des-
sen Text eine antipädagogische Message zum Ausdruck bringt, dann
ist die Erwartung naheliegend, dass mir die antipädagogische Positi-
on lediglich als negative Folie zur Legitimation der Pädagogik dienen
soll.
In der Tat will ich nicht so tun, als ob die Frage für mich noch
grundsätzlich offen sei, ob der Pädagogik überhaupt eine Existenzbe-
rechtigung zukommt. Nicht, weil ich eine Vorlesung zu diesem The-
ma halte. Das besagt nämlich noch gar nichts. Eine Vorlesung über
den Krieg als Form der Auseinandersetzung unterstellt noch kein Plä-
doyer für den Krieg. Sie kann auch von einem Pazifisten gehalten
werden. Und von den Antipädagogen wird Pädagogik ja als eine Art
Kriegführung der Erwachsenen gegen die Kinder aufgefasst. Eine
theoretische Erörterung der Pädagogik unterstellt daher noch kein
Plädoyer für die Pädagogik.
Etwas anders sieht es natürlich mit der Einbindung der Lehre in
die Ausbildung von Pädagoginnen und Pädagogen aus. Ein Pazifist

34
Antipädagogik

müsste schon seine Probleme damit haben, seine Kritik des Kriegs als
Beitrag zur Qualifizierung von Offizieren für das Kriegshandwerk
vorzutragen. So gesehen wäre auch die Antipädagogik grundsätzlich
sicher schwer als Beitrag zur Berufsausbildung von Pädagoginnen
und Pädagogen zu legitimieren, außer eben in dem negativ abgren-
zenden Sinne, dass es immer gut ist, wenn man die Argumente des
Gegners kennt.
Diese Vorlesung ist Teil pädagogischer Berufsausbildung. Und
daher können Sie davon ausgehen, dass ich keine antipädagogische
Position vertrete. Es stellt sich also die Frage, wie ernst die Auseinan-
dersetzung mit der Antipädagogik überhaupt sein kann; ob diese
nicht vielleicht als eine Art Pappkamerad herhalten muss, gegen den
man seine eigene Legitimation von Pädagogik stark macht.
Ich kann Ihnen nur versichern, dass ich die Einwände der An-
tipädagogik gegen die Pädagogik sehr ernst nehme, dass ich viele der
pädagogischen Argumente gegen die Antipädagogik (und für die
Pädagogik) nicht für richtig halte, dennoch aber nicht zu einer an-
tipädagogischen Konsequenz gelange. Warum, das will ich Ihnen
heute erläutern.

2.2 Über Antipädagogik


Als wir aufwuchsen und zur Schule gingen;
gab es da diese Lehrer, welche
die Schüler quälten, wo sie nur konnten,
indem sie ihren Senf dazutaten
zu allem, was wir machten,
und jede Schwäche aufdeckten,
sosehr die Kinder auch versuchten, sie zu verbergen.
Aber in der Stadt wusste man genau:
Wenn sie abends nach Hause kamen, würden ihre fetten
und psychopathischen Frauen sie verprügeln,
Tag für Tag ihr Leben lang.
Wir brauchen keine Erziehung,
wir brauchen keine Gedankenkontrolle,
keine dunkle Bösartigkeit im Klassenzimmer.
Ihr Lehrer, lasst die Kinder in Ruhe.

35
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Du Lehrer, lass uns Kinder in Ruhe.


Alles in allem ist Erziehung nur ein weiterer Stein in der Mauer.
Alles in allem seid Ihr nur weitere Steine in der Mauer.
(Pink Floyd, Another Brick In The Wall)

Ist dies überhaupt eine antipädagogische Botschaft? Klar, es ist von


„education” die Rede, und das übersetzen wir mit Erziehung. Aber
die Erzieher, von denen die Rede ist, sind die Lehrer. Dennoch – der
Song wendet sich nicht gegen die Schule. Er wendet sich nicht gegen
die Berufstätigkeit von Lehrern, nicht gegen das Unterrichten, son-
dern dagegen, dass Lehrer sich als Erzieher aufspielen.
In der Pädagogik gibt es eine Forderung, die lautet: Unterricht
möge auch erziehend sein. Damit ist nicht das gemeint, was im Pink-
Floyd-Song angesprochen wird: dass Lehrer zu allem ihren Senf da-
zutun müssen, dass sie die Schüler permanent zu kontrollieren und
bloßzustellen versuchen, dass ihr Verhalten von einer dunklen Bösar-
tigkeit ist, dass sie ihren eigenen Lebensfrust an den Kindern ausle-
ben. Erziehend soll Unterricht vielmehr dadurch sein, dass er nicht
nur Wissen vermittelt, sondern auch zu einem Verhalten führt, das
als „sittlich” oder moralisch, das meint: als einer menschlichen Exi-
stenz angemessen bezeichnet werden kann.
Im Pink-Floyd-Song ist nicht von solchen Idealen der Erziehung
die Rede, sondern von der Erziehungsrealität, wie sie viele erfahren
haben. Also – könnte man einwenden – ist die vermeintlich antipäd-
agogische Botschaft in Wirklichkeit nur gegen eine falsche Erziehung
gerichtet. Nicht „education” überhaupt, sondern eine bestimmte
bösartige Form davon wird nicht gebraucht. Damit soll man die Kin-
der in Ruhe lassen. Und insofern könnte der Song indirekt sogar als
ein Plädoyer für „richtige”, „gute” Erziehung verstanden werden.
Wir müssen jetzt nicht versuchen, die Frage zu klären, wie genau
der Text gemeint ist. Das können wir offen lassen. Doch gibt es Tex-
te, die in dieser Hinsicht unmissverständlich sind. Aus einem solchen
Text möchte ich Ihnen einige Passagen vorlesen.
Es handelt sich um einen Entwurf für ein Kinderprogramm der
Grünen aus dem Jahre 1983.

36
Antipädagogik

„Kinder gehören sich selbst, nicht den Eltern und nicht dem Staat.
Der Lebensraum der Kinder und Jugendlichen wird in der heutigen Industrie-
gesellschaft von klein an aufs unerträglichste beschränkt. Die Entwicklung der Tech-
nik, zum Beispiel des Straßenverkehrs, der Fabriken, der Chemie, der Atomindu-
strie, der Kriegsrüstung undsoweiter hat die tägliche Umwelt besonders der Kinder
lebensbedrohlich verändert. Da heute Arbeit, Freizeit und Lernen immer weiter aus-
einanderfallen, leben die Menschen fremdbestimmt, das heißt weitgehend isoliert
voneinander in konkurrierenden Kleinfamilien. Die Eindämmung der Beweglich-
keit durch immer mehr Asphalt und Beton ist nur ein äußeres Zeichen dafür, daß
die Erwachsenen den Zugriff auf die gesamte Zeit und Person von Kindheit und Ju-
gend proben. Die Zärtlichkeit geht dabei immer mehr verloren. Liebevolle Bezie-
hungen zwischen Jüngeren und zwischen jüngeren und älteren Menschen werden
von kleinauf verhindert und verboten, weil sie dem Leistungsprinzip im Wege ste-
hen. Das Liebesverbot und die Verunsicherung führen so weit, daß selbst Eltern
nicht wissen, welches Maß an Zärtlichkeit sie den Kindern überhaupt geben dürfen,
ohne dafür bestraft zu werden. Sie schämen sich auch offen zuzugeben, daß jeder
Zärtlichkeitswunsch zu Kindern, auch die sogenannte Mutterliebe, einen sexuellen
Aspekt hat. An die Stelle der Zärtlichkeit treten Statussymbole, Konsumzwang, be-
wußt gefördertes Konkurrenzverhalten, Erziehung, sowie die verschiedenen Formen
alltäglicher Gewalt. Wer, wie die Grünen einen gewaltfreien und straffreien Umgang
zwischen allen Menschen verwirklichen möchte, wird unschwer erkennen, daß be-
reits in dem Anspruch, Kinder ‚führen‘, ‚erziehen‘ und damit in seinem Sinne ge-
brauchen zu wollen, Herrschaft und Gewalt verankert sind. Somit ist schon Erzie-
hung schlechthin Gewalt.
Frieden ist nur möglich ohne Erziehung.“
Es folgen weitere Ausführungen zur Lage der Kinder in unserer Ge-
sellschaft. Schließlich werden sechs Hauptforderungen aufgestellt,
deren wesentliche Inhalte ich zusammenfasse:
1. Das Grundrecht auf freie Bestimmung des eigenen Aufenthalts-
orts für alle Kinder „von Geburt an”.
2. Die Abschaffung aller Einrichtungen, in denen Kinder nicht frei-
willig sind (zum Beispiel Heime und Jugendknaste).
3. Abschaffung der Schulpflicht.
4. Recht auf selbstbestimmte Sexualität.
5. Autonome politische Interessenvertretung einschließlich des ak-
tiven und passiven Wahlrechts für Kinder.
6. Recht auf wirtschaftliche Unabhängigkeit von den Erwachsenen.

Im Jahre 1984 gab es dann einen Bundesparteitag der Grünen, auf


dem dieses Entwurfspapier erfolglos eingebracht wurde.

37
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

2.2.1 Zwei Kernsätze der Antipädagogik


Dieses Papier ist in seiner antipädagogischen Haltung sicherlich un-
missverständlich. Es bezieht in seine Ablehnung Unterricht und
Schule und jede sonstige Form von Fremdbestimmung gegenüber
Kindern und Jugendlichen generell mit ein.

Welche Unterstellungen werden in dem Papier gemacht?


Erstens: Erziehung schlechthin ist Gewalt. Damit ist nicht nur ge-
meint, dass die Erziehung, wie wir sie hauptsächlich antreffen, ge-
waltförmig sei; sondern: Es kann überhaupt keine andere Erziehung
geben.
Zweitens: Erziehungsgewalt ist schädlich, moralisch verwerflich
und überflüssig.
Ich meine, dies sind zwei Kernsätze der Antipädagogik. Sie gehö-
ren zusammen. Denn jeder Satz für sich genommen begründet noch
nicht die Antipädagogik. Nehme ich nur den ersten Satz, so könnte
immer noch folgen: Bedauerlicherweise aber ist sie unvermeidlich.
Nehme ich nur den zweiten Satz, könnte immer noch folgen:
Aber sie muss nicht sein. Eine gewaltfreie Erziehung ist möglich.
Die antipädagogische Aussage ist also klar. Aber ist sie auch über-
zeugend?

Zum ersten Satz: Erziehung schlechthin ist Gewalt.


Dieser Satz wird mit „Somit …” eingeleitet. Er soll sich also aus
dem Vorhergehenden zwingend ergeben. Ich habe Ihnen das vorhin
vorgelesen. Vor diesem Satz (und auch im weiteren Fortgang der Ar-
gumentation) jedoch ist nicht von Erziehung schlechthin die Rede,
sondern von einer vorwiegenden Realität der Erziehung. Es finden
sich keine Gründe, weshalb nichts anderes möglich sein soll, weshalb
Erziehung zwangsläufig Gewalt sein soll. So lässt das Papier in seinen
Begründungen Raum für den Einwand: Was da beschrieben wird, ist
schlimm. Aber es ist nicht Erziehung überhaupt, sondern eine Fehl-
form von Erziehung. Die gibt es, das muss ja nicht bezweifelt werden.

38
Antipädagogik

Aber statt daraus die Forderung nach Abschaffung der Erziehung ab-
zuleiten, wäre ebenso oder sogar eher die Forderung aufzustellen, für
eine bessere oder die „richtige” Erziehung einzutreten.

Zum zweiten Satz: Erziehungsgewalt ist schädlich, moralisch verwerf-


lich und überflüssig.
Indem der Erziehung alles Unglück von Kindheit und Jugend an-
gelastet wird: Drogensucht, Kriminalität, Freiheitsberaubung, Un-
terdrückung von Zärtlichkeit und Liebe, Misshandlung, Ausbeutung
undsoweiter, einschließlich der negativen gesellschaftlichen Folgen,
erscheint sie als fundamentale Ursache für die Ent-Humanisierung
des individuellen wie des gesellschaftlichen Lebens. Dass sie daher
moralisch verwerflich ist, scheint sich von selbst zu verstehen. Aller-
dings nur dann, wenn klar ist, dass tatsächlich Erziehung die Ursache
für die beschriebenen Phänomene ist. Und wenn klar ist, dass Erzie-
hung nicht nötig, dass sie überflüssig ist, weil Kinder von Geburt an
zur Selbstbestimmung fähig sind.
Beides wird in dem Papier behauptet, aber nicht wirklich begrün-
det. Für den ersten Teil der Aussage gilt wiederum, dass nicht die
Schädlichkeit von Erziehung schlechthin, sondern die einer be-
stimmten Form von Erziehung dargestellt wird. Für den zweiten Teil
der Aussage gilt, dass er lediglich gesetzt wird:
„Das für das heutige Überleben Wichtige besteht darin, daß die Grünen junge Men-
schen erstmals als erwachsenen Menschen voll gleichberechtigt anerkennen und ih-
nen die Fähigkeit nicht mehr absprechen, von Geburt an in wirklich eigener Regie
und Selbstbestimmung ihr Leben führen zu können. Damit ist gemeint, daß diese
generell richtige Erkenntnis nicht durch zynischen Vorbehalt angeblicher biologi-
scher Abhängigkeit beziehungsweise Gegebenheit bei kleinen Kindern verspottet
werden darf. Selbst kleinste Kinder äußern auf ihre Weise ihre Bedürfnisse, werden
aber oft genug nicht gehört. Kinder haben von Anfang an eine eigene Identität, die
sie nicht erst erwerben müssen. Dies steht in entscheidendem Gegensatz zur her-
kömmlichen verhängnisvollen Auffassung – der Mensch weiß von Anfang an nicht
(bis 18 Jahre), was für ihn gut ist – also muß er ‚erzogen‘ werden, damit er lernt, was
für ihn gut ist.”
Das Papier, aus dem ich zitiert habe, formulierte eine politische Po-
sition. Es bezog sich dabei allerdings auf Argumente, die in diesen

39
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Jahren zwischen Pädagogik und Antipädagogik auf theoretischem


Felde ausgetragen wurden. In den 70er Jahren waren die grundlegen-
den Schriften der Antipädagogik erschienen (von Schoenebeck; von
Braunmühl). Anfang der 80er Jahre gab es dann einige Veröffentli-
chungen namhafter Vertreter der Pädagogik, in denen diese sich mit
der Antipädagogik auseinandersetzten. Und es gab wiederum Repli-
ken der Antipädagogen auf diese Schriften. Ich selbst habe mich
1989 in einer kleinen Broschüre mit dieser Kontroverse befasst (Se-
sink 1989).

2.2.2 Die antipädagogische Grundposition und


die pädagogische Gegenposition
Es ist heute nicht der Raum, um alle wichtigen Argumente und Ge-
genargumente zu erörtern. Daher möchte ich mich auf das konzen-
trieren, was Antipädagogen als ihre eigene Grundposition bezeich-
nen. Denn hierauf bezogen sich zugleich in der Hauptsache die
Gegenpositionen aus dem Kreise der Pädagogen.
Der erste Kernsatz der Antipädagogik, Erziehung schlechthin sei
Gewalt, wird von den Pädagogen keineswegs rundweg bestritten. So
sagt etwa H.J. Heydorn, dessen Kritische Bildungstheorie für uns
hier in Darmstadt eine besondere Rolle spielt:
„Erziehung ist das uralte Geschäft des Menschen, Vorbereitung auf das, was die Ge-
sellschaft für ihn bestimmt hat, fensterloser Gang! Mit der Erziehung geht der
Mensch seinen Weg durch das Zuchthaus der Geschichte. Er kann ihm nicht erlas-
sen werden. Im Begriff der Erziehung ist die Zucht schon enthalten, sind Einfügung,
Unterwerfung, Herrschaft des Menschen über den Menschen eingeschlossen, be-
wußtloses Erleiden.” (Heydorn 1970, S. 9)
Die Gewaltsamkeit von Erziehung wird zugestanden. Aber daraus
leitet sich keine Antipädagogik ab. Die pädagogische Position dazu
ist vielmehr die: Erziehung schlechthin mag Gewalt sein. Aber: Sie ist
notwendige Gewalt. Es gibt zu ihr keine Alternative. Sie kann, wie
Heydorn sagt, dem Menschen nicht erlassen werden.

40
Antipädagogik

Die antipädagogische Grundposition lautet:


„Das Kind ist … fähig, von Geburt an das eigene Beste selbst zu spüren.” (Schoene-
beck 1985, S. 19)
Von Pädagogen wird dagegen eingewandt:
Man kann „nicht unterstellen, daß alles, was das Kind äußert, vernünftig ist” (Oel-
kers 1983, S. 547).
Es ist eine problematische „Annahme, jedes Kind – oder auch jeder Erwachsene
– kenne jederzeit seine wahren Interessen. … Das wahre Interesse … bedarf der Auf-
klärung, der Reflexion, der Zukunftsperspektive. Und es bedarf des Diskurses mit
den Menschen, die mit diesem Interesse verbunden und von ihm unmittelbar be-
troffen sind.” (Flitner 1985, S. 102)
Die Behauptung, dass es zur Erziehungsgewalt keine Alternative ge-
be, ist also gegründet in einer Gegenposition zur antipädagogischen
Grundposition. Erziehung ist nötig, weil Kinder erst und nur durch
Erziehung zu dem werden können, was sie werden müssen: überle-
bensfähige Mitglieder einer menschlichen Gemeinschaft. Nötig ist
Fremdbestimmung, so die pädagogische Position, weil Selbstbestim-
mung nicht von Lebensbeginn an möglich ist.
Mit diesem Problem also, dieser Kontroverse zwischen Antipäd-
agogik und Pädagogik über die Selbstbestimmungsfähigkeit der Kin-
der, möchte ich mich jetzt weiter beschäftigen.
Wenn wir uns diese beiden Positionen ansehen, werden wir zwei-
erlei feststellen können:
• Sobald an die praktischen Konsequenzen gedacht wird, die sich
aus einer kompromisslosen Befürwortung der antipädagogischen
Position ergeben, wird den meisten von uns zumindest mulmig
werden und die pädagogische Position weitaus plausibler erschei-
nen. Denken wir nur an die Forderungen, die in dem Entwurf
eines Kinderprogramms für die Grünen enthalten waren: unbe-
schränkte Freizügigkeit für Kinder, politische Gleichstellung mit
den Erwachsenen, Recht auf sexuelle Selbstbestimmung auch im
Umgang mit Erwachsenen undsoweiter.
• In sich allerdings erscheint die antipädagogische Position wider-
spruchsfreier. Basierend auf der Prämisse, dass Selbstbestim-
mungsfähigkeit sozusagen zur anthropologischen Grundausstat-
41
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

tung gehört, ergibt sich die einfache Forderung, ihr Raum zu


geben. Es ist ja alles schon da, was benötigt wird. Dagegen
erscheint die pädagogische Position, so plausibel sie uns für die
Praxis erscheinen mag, mit einem kaum lösbaren logischen
Widerspruch behaftet: Wie soll aus Fremdbestimmung Selbstbe-
stimmung werden können? Wie soll aus Zwang und Unfreiheit
Freiheit erwachsen? Wie es in Kants berühmtem Satz über das
Grundproblem der Erziehung heißt: Wie kultiviere ich die Frei-
heit bei dem Zwange?
Man könnte also sagen: Den Theoretiker würde die antipäd-
agogische Position sehr entlasten. Woher die vehemente Abwehr der
Pädagogen gegen die Antipädagogik? (Denn vehement ist diese Ab-
wehr wirklich.) Hängen sie denn so sehr an ihrem grundlegenden
Theorieproblem, dass sie die einfache Lösung, die die Antipädagogik
ihnen anbietet, nicht akzeptieren können? Oder sind sie nur das
Sprachrohr der Erwachsenengeneration, die ihre Macht über die
Kinder nicht aufgeben will?
Wenn ich so manches von Pädagogen gegen die Antipädagogik
vorgebrachte Argument lese, sehe ich mich unversehens auf die Seite
der Antipädagogik verschlagen. Eine ganze Reihe dieser Argumente
leuchtet mir nicht nur nicht ein. Ich halte sie auch für grundlegend
falsch. Sie begründen eine Pädagogik, die ich nicht vertreten könnte.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben.
Michael Winkler hat 1982 ein Buch geschrieben mit dem Titel
„Stichworte zur Antipädagogik”. Darin setzt er der antipäd-
agogischen Grundposition die Behauptung gegenüber, der kindliche
Naturzustand, also der Zustand, in dem ein Mensch zur Welt kom-
me, bestehe lediglich in einem „ungerichteten Drang”, einem „bloß
animalischen Bedürfnis nach Tätigkeit” (Winkler 1982, S. 175). Das
Neugeborene verfüge über eine „individuelle Ausstattung”, die sich
in „Temperament”, „Aktivität” äußere, aber der gesellschaftlichen
Realität „in ihrer ursprünglichen Bestimmungs und Mittellosigkeit”
unvermittelt gegenüberstehe. (Winkler 1982, S. 18) Erst durch die

42
Antipädagogik

pädagogische Handlung werde der kindlichen Aktivität Inhalt, näm-


lich gesellschaftlicher und humaner Inhalt vermittelt. Subjektivität,
das heißt die Fähigkeit, sein Leben und Handeln in dieser Welt selbst
zu bestimmen und zu gestalten, könne sich erst auf diesen päd-
agogisch vermittelten Inhalt beziehen.
„Die Pädagogik unterstellt Subjektivität als eine Möglichkeit, der das Erziehungs-
handeln erst Wirklichkeit verschaffen muß. Darin nimmt sie Erkenntnisse und Ein-
sichten der Psychologie und Psychoanalyse vorweg, die im menschlichen Entwick-
lungsprozeß eine Auflösung der Objektrolle des Kindes und eine zunehmende
Fähigkeit zu selbstständigem, absichtsvollem Handeln entdecken.” (Winkler 1982,
S.19)
Ich bezweifle, dass dies eine korrekte Wiedergabe der „Erkenntnisse
und Einsichten der Psychoanalyse” ist. Aber das muss hier nicht zur
Debatte stehen. Es geht um Winklers eigene Position, für deren Gel-
tung er sich lediglich auf die Autorität der genannten Disziplinen be-
ruft.
Die Selbstbestimmungsfähigkeit, für die er den Begriff der Sub-
jektivität gebraucht, hängt bei ihm ganz entscheidend ab von der
Ausbildung der Geistigkeit oder der Vernunft. Diese stellt er dem
Naturzustand des Kindes als „ungerichtetem Drang” und „bloß ani-
malischem Bedürfnis” gegenüber, dem Naturzustand einer „ur-
sprünglichen Bestimmungs und Mittellosigkeit”. Indem er so Ver-
nunft und Natur gegenübersetzt, kommt alles, was den Menschen
ausmacht, was nämlich seinem Drang Richtung gibt, was ihn aus der
bloßen Animalität heraushebt, was seiner Existenz Bestimmung ver-
leiht und ihn mit den nötigen Mitteln zu deren Verwirklichung aus-
stattet, aus dem Geist; und die menschliche Natur sinkt herab zur
bloß animalischen Grundlage. Hören wir noch einmal, was er selbst
dazu sagt:
„Es bedeutet aber, daß im Begriff der Subjektivität der des Bewußtseins mitgedacht
werden muß. Subjektivität hängt nämlich von den kognitiven Akten ab, durch wel-
che sich die Menschen sowohl der gegenständlichen Welt als auch ihrer eigenen Ver-
fasstheit versichern. ... Daher hängt Subjektivität von Lernprozessen ab, in denen die
wesentlichen Voraussetzungen menschlicher Existenz zum jeweiligen historischen
Zeitpunkt angeeignet werden.” (Winkler 1982, S. 19f.)

43
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Gemeint sind die geistigen und daher intellektuellen Voraussetzun-


gen.
Mit dieser gegen die Antipädagogik gerichteten antinaturalisti-
schen Position wird eine Pädagogik begründet, die im Kinde, wie es
auf die Welt kommt, lediglich ein bestimmungsloses Potenzial zur
Menschwerdung sieht. Alle auf das Menschsein gerichtete Aktivität
dagegen muss demzufolge von der Erziehung ausgehen. Die Erzie-
hung ist es, welche Richtung und Bestimmung, das heißt Sinn in die
Entwicklung eines Menschen bringt. Und nur soweit der einzelne
Mensch im Verlaufe seiner Entwicklung das in sich aufnimmt, was
ihm durch die Erziehung im wörtlichen Sinne bei-gebracht wird,
wird er auch zur Selbstbestimmung fähig. Diese Selbstbestimmung
ist demzufolge nichts anderes als internalisierte Fremdbestimmung.
Der irgendwann einmal ausgebildete individuelle Geist erscheint als
internalisierte Instanz der Gesellschaft. Erziehung ist das Einpflanzen
dieser Instanz. Sicherlich – das ist eine Lesart der Psychoanalyse,
wenn man an die Konstruktion von Es und Über-Ich denkt. Aber
doch eher eine schlichte. Die Weiterentwicklung der Psychoanalyse
in diesem Jahrhundert hat gezeigt, dass in Freuds Theorie doch we-
sentlich differenziertere Bestimmungen des Verhältnisses von innerer
Natur eines Einzelmenschen und objektivem Geist einer gesellschaft-
lichen Kultur stecken.
Die von Winkler dargelegte Begründung der Erziehung aus einer
antinaturalistischen Anthropologie gibt der Erziehung eine grund-
sätzliche Legitimation für Gewalt gegen die kindliche Natur.
Gegenüber einer solchen Pädagogik – das muss ich ganz klar sagen –
wäre ich Antipädagoge. Gegenüber einer solchen Pädagogik wären
im übrigen nicht wenige meiner Kolleginnen und Kollegen Antipäd-
agogen.

2.2.3 Was heißt Selbstbestimmung?


Sehr viel, wenn nicht das Entscheidende, hängt am Verständnis von
Selbstbestimmung. Selbstbestimmung hat nämlich eine formale, so-

44
Antipädagogik

zusagen technische Seite. Und sie hat eine inhaltliche Seite, die ihren
Sinngehalt betrifft. Die formale, technische Seite von Selbstbestim-
mung bezieht sich auf die Frage, was jemand alles können muss, um
über seine Lebensführung unter gegebenen Lebensbedingungen
selbst zu bestimmen. Diese Art von Selbstbestimmungsfähigkeit ist
gemeint im Rechtsbegriff der Mündigkeit. Die inhaltliche Seite be-
zieht sich auf die Frage, welchen Gehalt denn die Selbstbestimmung
habe, also woher die Bestimmungen kommen, woher das Sich-selbst-
Bestimmen seine Gehalte nimmt. Der pädagogische Begriff der
Mündigkeit schließt die Fähigkeit, diese Frage zu reflektieren und auf
sie eine eigene Antwort zu finden, mit ein.
Winkler nimmt eine solche Unterscheidung nicht vor. In seinem
Begriff der Subjektivität fällt das beides in eins. Erstens kann das neu-
geborene Kind sich schon rein technisch nicht selbst bestimmen: Es
ist völlig hilflos und abhängig. Wenn man es, wie es im Pink-Floyd-
Song hieß, sich selbst überließe („leave the kids alone”), dann könnte
es nicht überleben. Im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen ver-
fügt es noch nicht über das Wissen und die Fähigkeiten, die man un-
ter gegebenen gesellschaftlichen Lebensbedingungen braucht, um
durchzukommen. Diese Feststellung ist banal. Und selbstverständ-
lich wird sie auch von den Antipädagogen überhaupt nicht bezwei-
felt. Es ist absurd, sie als Einwand gegen die Antipädagogik vorzu-
bringen. Zweitens aber verbindet Winkler damit die Behauptung,
Kinder kämen „bestimmungs- und mittellos” auf die Welt. Und das
ist der entscheidende Punkt, an dem die Antipädagogik eine Gegen-
position einnimmt. Antipädagogen geht es darum, dass das Kind –
im Gegensatz zu Winklers Auffassung – keineswegs „bestimmungs
und mittellos” auf die Welt komme, dass sein Drang keineswegs nur
„animalisch” und „ungerichtet” sei. Nein, das Kind, sagen sie,
„spürt” in sich, was sein „Bestes” ist; und es habe auch schon die Mit-
tel, dem Ausdruck zu verleihen. Das Problem sei nur, dass die Erzie-
her oft, zu oft nicht fähig sind, diese Äußerungen wahrzunehmen, sie

45
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

aufzunehmen und die Kinder bei ihrer Verwirklichung zu unterstüt-


zen.
Denn Unterstützung brauchen sie. Aus eigener Kraft sind die
Kinder selbstverständlich nicht in der Lage, sich im Leben zu be-
haupten und das, was sie als ihr „Bestes” in sich „spüren”, zur Gel-
tung zu bringen.
Was damit eingeführt wird, ist die Unterscheidung von Gehalt
und Genese der menschlichen Bestimmung auf der einen sowie Gel-
tung der menschlichen Bestimmung auf der anderen Seite. Die
menschliche Bestimmung – so die antipädagogische Position – brin-
gen die Kinder mit. Sie tragen sie in sich. Und dies ist kein bloß pas-
sives Mitbringen. Sondern sie verleihen dem auch Ausdruck. Sie set-
zen es um in Aktivität. Herkunft oder Genese und Gehalt der
menschlichen Bestimmung liegen also im Kinde selbst. Sie brauchen
nicht die Erwachsenen, damit diese ihnen sagen, wozu sie auf der
Welt sind. Sondern sie brauchen die Erwachsenen, damit sie ihnen
helfen, das auch in dieser Welt zur Geltung zu bringen, was sie an
Sinnbestimmung mitbringen.
Mit der Frage nach den Bedingungen, unter denen ein heran-
wachsender Mensch die Fähigkeit entwickeln kann, seinen „eigenen
Sinn” in der Welt zur Geltung zu bringen, wird das relevant, was die
pädagogischen Kritiker gegen die antipädagogische Grundposition
einwenden: das Gefälle zwischen Erwachsenem und Kind in Hin-
sicht der Fähigkeiten, die zur Verwirklichung ihrer Lebensansprüche
in einer gegebenen sozialen und physischen Umwelt benötigt wer-
den. Und in dieser Hinsicht erkennen die Antipädagogen auch ein
solches Gefälle an.
Wenn jedoch die Kritiker der Antipädagogik diese „Asymmetrie”
des Erwachsenen-Kind-Verhältnisses als konstitutiv ansehen für die
Fähigkeit, eigenen Sinn wahrzunehmen, so verkennen sie den Dop-
pelsinn von „Wahrnehmen”, die mit der von mir angesprochenen
Differenz von Sinn-Gehalt und Sinn-Geltung zu tun hat. Wahrneh-
men heißt zum einen: anerkennen, was da ist, was da mit jeder Ge-

46
Antipädagogik

burt in diese Welt kommt. Und es heißt zum andern: sich dafür ein-
setzen, dass dieser Sinn, der jeder einzelne Mensch an und für sich ist,
in dieser Welt auch tatsächlich Geltung erlangen kann. Diese zweite
Weise der Wahrnehmung ist auf die erste Form als ihr Fundament
angewiesen. Wer ein Kind nicht in seinem Eigensinn wahrnehmen
kann, der kann sich auch nicht für die Wahrnehmung seines Lebens-
sinns einsetzen. Das Wahrnehmen im zweiten Sinne bedarf aber dar-
über hinaus des Sich-Auskennens in den realen Bedingungen des Le-
bens, die jeweils gegeben sind; es bedarf des Sich-Auskennens in den
noch unerschlossenen Möglichkeiten, welche in diesen Bedingungen
schlummern. Und es bedarf einer Reihe von praktischen Fähigkeiten,
um sich in dieser Welt und unter diesen Bedingungen behaupten
und durchsetzen zu können. Das alles bringen Kinder nicht mit. Und
das alles können sie auch nicht ohne Hilfe entwickeln und ausbilden.
Das bedeutet, dass die Ausbildung der Fähigkeiten, den eigenen
Sinn in der Welt zur Geltung zu bringen, abhängig ist von der Aus-
bildung der Fähigkeiten, sich praktisch und geistig bewusst zu seiner
natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt zu verhalten. Ob ein
Mensch diese Fähigkeiten tatsächlich ausbilden wird, ist in seiner na-
türlichen Ausstattung nicht schon bestimmt. Dies hängt vielmehr
davon ab, wie die Gesellschaft, in die er geboren wird, ihn aufnimmt,
und das heißt auch, ob und wieweit sie es ihm ermöglicht, diese Fä-
higkeiten auszubilden. Das setzt auf der Seite der Gesellschaft voraus,
dass sie es tatsächlich will, dass dieser Mensch sich aus eigenem Sinn
entwickelt.
Doch ist damit die Bedeutung des Wahrnehmens noch nicht hin-
reichend bestimmt. Bisher lief meine Argumentation noch auf eine
antipädagogisache Position hinaus. Diese besagt, dass das Wahrneh-
men hinsichtlich der Genese und des Gehalts von menschlicher Be-
stimmung oder von Sinn ein passiver Akt des Aufnehmens dessen ist,
was das Kind aktiv äußert. Das Kind sagt dem Erwachsenen sozusa-
gen, wo‘s langzugehen hat; und die Aufgabe des Erwachsenen ist
dann, ihm seine Kraft, sein Wissen, seine Fähigkeiten zu leihen und

47
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

zur Verfügung zu stellen, diesen Weg auch tatsächlich zu gehen, bis


das Kind diese Kraft, dieses Wissen und diese Fähigkeiten selbst in
sich ausgebildet hat.
Die Behauptung, die darin liegt, ist die: Die menschliche Natur
spricht sich selbst im Kinde hinreichend aus. Und zwar nicht nur
hinsichtlich dessen, wie sie jeweils ist. Sondern – und das ist wichtiger
– auch hinsichtlich dessen, wozu sie in sich bestimmt sei. In der
menschlichen Natur als Natur, das heißt vor aller geistigen Reflexion,
soll demzufolge schon der „Bauplan” einer menschlichen Welt und
Gemeinschaft angelegt sein. (Übrigens eine Formulierung, die so von
Maria Montessori stammt. Sie bezieht sich dabei allerdings auf eine
vorgängige göttliche Bestimmtheit des Kindes. Ihre Position ist eher
religiös als naturalistisch.)
Ich werde auf die Bedeutung der „Natur” für Bildung und Erzie-
hung zu einem späteren Zeitpunkt noch ausführlicher zu sprechen
kommen. Hier, in der Befassung mit der Kontroverse um die An-
tipädagogik möchte ich es erstmal mit einem Hinweis auf meine Po-
sition bewenden lassen: Der Gehalt menschlicher Bestimmung liegt
in jedem einzelnen Menschen. Aber er verweist auf eine Beziehung;
auf eine Beziehung zur äußeren Welt und zu den anderen Menschen.
Und insofern verweist die Bestimmung des einzelnen Menschen auf
ein außer ihm Liegendes, zu dem es die Vermittlung suchen muss.
Diese Vermittlung zu suchen, dies ist wohl der ursprüngliche Lebens-
drang eines neugeborenen Kindes. Es bringt den Bauplan nicht ein-
fach mit sich. Sondern es sucht nach jener Verbindung zur Welt und
zu den anderen Menschen, aus der erst dieser Bauplan entwickelt
werden kann. Erst in der Vermittlung wird die Bestimmung des ein-
zelnen Menschen in ihrem Gehalt jeweils konkretisiert und aktuali-
siert. Hier liegt für mein Verständnis der Grund für Erziehung und
daher für Pädagogik.
Ohne dass ich jetzt auf die Antipädagogik noch weiter eingehe,
werde ich anschließend versuchen, einen vorläufigen Erziehungsbe-
griff zu formulieren. Die weiteren Vorlesungen werden diesen Begriff

48
Antipädagogik

dann immer weiter anreichern. Am Ende wird keine Definition ste-


hen, wohl aber – so hoffe ich – für Sie ein Umriss erkennbar werden
dessen, was Erziehung ist oder als was sie sich uns zeigt, wenn wir
über das nachdenken, was wir als Erziehung zu kennen glauben.

Musik:
New Model Army – A Liberal Education (1982).
Vom Album „The independent Story“ (1984)

2.3 Ihr habt eine ewige Kette zerbrochen …”


Nehmt uns unsere Geschichte, nehmt uns unsere Helden,
nehmt uns unsere Werte,
und lasst uns zurück mit nichts.
Wir lebten im Paradies wie herumtollende Kinder.
Wir lehnten uns nur gegen den Baum, und der Apfel kam heruntergefallen.
Ihr habt uns gegeben, wonach wir fragten; aber nie, wonach uns verlangte.
Wir waren nur Kinder.
Wie konntet Ihr so dumm sein?
Wir gingen zu den Mauern aus Stahl, welche die Heilige Stadt schützten.
Wir flüsterten nur zu uns selbst, und die Mauern stürzten ein.
Wir wollten keinen Sieg. Wir wollten nur kämpfen.
Ihr habt bloß aufgegeben. Ihr gingt weg und verdarbt jedes Spiel.
Ihr habt eine ewige Kette zerbrochen. Und niemand achtet Euch für Eure Schwäche.
Nehmt uns unsere Idole; nehmt uns unseren Glauben; nehmt uns unseren Hass
und stoßt uns in diese Leere.
Dann sagt: Seid ihr selbst; macht, was ihr wollt. Verwirklicht Euch etwas mehr.
Es ist Euer Recht, zu tun, was Euch gefällt. Denn wir können uns wirklich nicht dau-
ernd mit Euch befassen.
Wir wollten keinen Sieg. Wir wollten nur kämpfen.
Aber Ihr würdet nicht kämpfen. Ihr sagtet: Es ist nicht nett zu kämpfen.
Ihr gingt weg und verdarbt jedes Spiel.
Ihr habt eine ewige Kette zerbrochen. Und niemand achtet Euch für Eure Schwäche.
(New Model Army, A Liberal Education)

Dieser Song der Gruppe New Model Army aus dem Jahre 1982 ent-
hält auf den ersten Blick so etwas wie eine Gegenposition zur Bot-
schaft des Pink-Floyd-Songs (bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass
auch im Pink-Floyd-Song gleich zu Anfang eine Situation des Verlas-

49
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

senwerdens angesprochen wird.): Nicht: Lasst die Kinder in Ruhe;


leave the kids alone. Sondern: Ihr habt euch abgewendet, ihr habt uns
in Ruhe gelassen. Ihr wart zu schwach, Euch mit uns auseinanderzu-
setzen. Ihr habt uns keine Chance gegeben, uns mit Euch auseinan-
derzusetzen. Und für diese Schwäche verachten wir Euch: No one re-
spects you for your weakness.
Wir brauchen das Gegenüber. Wir brauchen den Kampf mit Eu-
rem Widerstand: We wanted to fight. Nicht um Euch zu besiegen:
We didn‘t want a victory. Aber um sagen zu können: Was wir be-
kommen, ist uns nicht in den Schoß gefallen; das haben wir uns
selbst erkämpft. Die Äpfel sind nicht einfach vom Baum gefallen, nur
wenn wir uns angelehnt haben. Die Mauern sind nicht eingestürzt
davon, dass wir mit uns selbst gesprochen haben.
Ihr habt, indem Ihr Euch der Erziehungsaufgabe entzogen habt,
eine ewige Kette, eine Kette zwischen den Generationen zerbrochen:
You broke an everlasting chain. Und damit habt ihr uns nicht in die
Freiheit entlassen, sondern ins Leere gestoßen.
Befassen wir uns jetzt mit dieser „ewigen Kette” zwischen den Ge-
nerationen, genannt Erziehung.

2.4 Bestimmungen des Erziehungsbegriffs


2.4.1 Über die fehlende Einheit des Erziehungsbegriffs
Ich war vor einiger Zeit auf einer Tagung der Kommission Erzie-
hungs und Bildungsphilosophie der Deutschen Gesellschaft für Er-
ziehungswissenschaft. Thema war nichts Geringeres als der Erzie-
hungsbegriff. Zum ersten ist natürlich schon die Tatsache bemer-
kenswert, dass der Erziehungsbegriff Thema einer solchen Tagung
ist; denn das zeigt, dass dieser Begriff nicht etwa etwas Klares und Ge-
klärtes in der deutschen Pädagogik ist, sondern etwas zu Klärendes,
ein theoretisches Problem. Zum zweiten wurde aber auch deutlich,
dass zumindest für einige der dort Anwesenden eben diese Tatsache,

50
Antipädagogik

dass der Erziehungsbegriff ein ungeklärtes Problem ist, etwas Anrü-


chiges darstellte. Ihrer Auffassung nach sollte die Pädagogik über ei-
nen klaren Erziehungsbegriff verfügen, an den sich alle in der wissen-
schaftlichen Diskussion halten können. Es wurden also Vorschläge
gemacht, wie der Erziehungsbegriff gefasst werden sollte. Und mit
diesen Vorschlägen war die Hoffnung verbunden, wir, die anderen
Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Tagung, würden dem zustim-
men, uns die vorgeschlagene Begriffsbestimmung zu eigen machen;
und das Problem unklarer Begriffsbildung sei nun gelöst.
Wir – das heißt die anderen Anwesenden – haben diesen Vor-
schlägen natürlich nicht zugestimmt, sie uns nicht zu eigen gemacht;
und statt dass der Begriffsvielfalt ein Ende gesetzt wurde, wurde sie
nur um einen weiteren Definitionsversuch vergrößert.
Dass wir dem nicht zugestimmt haben, war kein Trotz, das kann
ich Ihnen versichern. Es liegt einfach in der Natur der Sache: Der Er-
ziehungsbegriff ist ebenso wie andere zentrale Begriffe der Pädagogik
nicht ein Begriff, den man von der Theorie her willkürlich irgendwie
definieren kann, nur um eine einheitliche Sprachregelung zu schaf-
fen. Denn indem über Erziehung gesprochen wird, wird über etwas
gesprochen, das erstens eine Wirklichkeit hat, und zwar eine sich
ständig verändernde und in sich sehr differenzierte Wirklichkeit; und
das sich zweitens auch bereits einen sprachlichen Ausdruck gegeben
hat, nämlich im Reden der Menschen über Erziehung. Der Erzie-
hungsbegriff hat seine Bestimmungen bereits erfahren, wenn Theo-
retiker ihre Versuche starten, ihn zu bestimmen. Allerdings eben
nicht in Gestalt einer wissenschaftlichen oder theoretischen Definiti-
on, sondern in Gestalt des alltäglichen MiteinanderRedens der Men-
schen über Erziehung. Die Begriffsvielfalt im allgemeinen Reden
über Erziehung, die sich auch noch in der pädagogischen theoreti-
schen Diskussion abbildet, ist nicht einfach ein Mangel an Klarheit,
dem abzuhelfen ist; sondern zu verstehen als Ausdruck der geschicht-
lichen Veränderungen und Differenzierungen der Erziehungswirk-
lichkeit selbst.

51
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Die Realität des Begriffs „Erziehung“ ist also zweierlei:


• erstens die Gesamtheit bestimmter Ereignisse und Handlungen,
nämlich derjenigen Ereignisse und Handlungen, die die Men-
schen als Erziehung bezeichnen;
• und zweitens der Redezusammenhang über diese Ereignisse und
Handlungen.

Wenn wir über Erziehung sprechen wollen, dann muss klar sein: Re-
den wir über diese zwiefache Wirklichkeit der Erziehung? Oder wol-
len wir über etwas reden, das als Erziehung von irgendjemandem –
qua welcher Autorität eigentlich – definiert wurde? Entschieden wir
uns für das zweite (wie die Kollegen, von denen ich berichtete, es sich
wünschen würden), dann würden wir folgendes tun: Wir würden der
geschichtlichen, gesellschaftlichen, differenzierten Wirklichkeit von
Erziehung einen von irgendeiner Autorität festgesetzten einheitli-
chen Terminus „Erziehung” entgegensetzen, mit der Absicht, das Re-
den über das erste durch das Reden über das zweite zu ersetzen. Das
aber würde bedeuten: der Wirklichkeit ihr Recht auf Geschichte, Ge-
wordenheit, Veränderlichkeit, Differenziertheit, auch Widersprüch-
lichkeit abzusprechen. Das ist nicht nur, wie die Kollegen meinten,
eine Frage der Vereinfachung von wissenschaftlicher Diskussion; es
ist der Anspruch, die Wirklichkeit selbst zu vereinfachen und das Re-
den über sie zu kanalisieren. Und das heißt: ihr Gewalt anzutun. Sie
zu „erziehen” gewissermaßen: dass sie so werde, wie der Begriff es
vorschreibt.

2.4.2 Drei Bestimmungen des Erziehungsbegriffs


Und damit habe ich mich auch schon auf einem Umweg an eine ei-
gene Bestimmung des Erziehungsbegriffs herangeschlichen. Erzie-
hung nenne ich den fremdbestimmten Anteil an der Entwicklung ei-
nes Menschen aus seinem eigenen Sinn. Auf die einzelnen Teile
dieser Bestimmung möchte ich jetzt nacheinander eingehen.

52
Antipädagogik

1. Bei Erziehung geht es um die Entwicklung eines Menschen.


S. Bernfeld hat 1924 geschrieben, Erziehung sei die gesellschaftliche
Antwort auf die Entwicklungstatsache. Was ist „die Entwicklungstat-
sache”?
„Entwicklungstatsache” meint, dass Menschen nicht einfach das
sind, was sie sind; sondern auch das, was sie werden. beziehungsweise
sie werden erst, was sie sind. Ein Kind als Kind zu sehen, heißt, in
ihm auch den künftigen Menschen zu sehen, der aus ihm wird. Nicht
unbedingt: einen bestimmten Menschen, der aus ihm werden soll
(auch so wird Erziehung verstanden), sondern zu sehen, dass dieser
Mensch noch einen langen Entwicklungsweg vor sich hat. Das lädt
zu Hoffnungen ein. Und zu Befürchtungen. Je nachdem.
Allerdings: Auch ein Tierjunges oder eine junge Pflanze haben
eine Entwicklung vor sich. Wo ist der Unterschied? Wer keinen Un-
terschied sieht, für den ist es kein Problem, den Erziehungsbegriff
auch auf Pflanzen und Tiere zu übertragen. Aber in der Pädagogik
wird mit Erziehung eine Entwicklung angesprochen, wie sie nur ein
Menschenkind durchlaufen kann.
Aus zwei Gründen:
Erstens: Die Entwicklung ist nicht von der Natur vorgezeichnet in
so etwas wie einem biologischen Bauplan. Das gibt es auch; aber es
betrifft nur die Seite des Menschen und seiner Entwicklung, die wir
als (biologische) Reifung bezeichnen. Die Entwicklung, um die es bei
Erziehung geht, ist die Entwicklung zum „wirklichen Menschsein”.
Und da wir, um damit irgendetwas anfangen zu können, wissen müs-
sen, was denn wirkliches „Menschsein” ist, ist auch klar, dass mit die-
ser Bestimmung etwas angesprochen wird, worin unser Selbstver-
ständnis als Menschen berührt ist.
Was heißt es für uns: Mensch zu sein? Auf diese Frage geben wir
praktisch eine Antwort in dem, was wir tun, wenn wir erziehen. Aber
auf diese Frage müssen wir auch in irgendeiner Weise schon eine
Antwort wissen, wenn wir erziehen. Diese Antwort ist uns vielleicht
nicht so sehr bewusst. Wir könnten keine theoretische Abhandlung

53
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

darüber schreiben. Aber wenn wir erziehen, haben wir bereits eine
Vorstellung davon, in welche Richtung die Entwicklung dieses Men-
schen gehen soll. Keine ganz genaue. Aber es bleibt auch nicht völlig
offen. Wir kümmern uns drum. Es ist uns nicht egal. Eben das heißt
Erziehung.
Und weiterhin ist damit schon ein zweites angesprochen: Damit
ein Mensch sich als und zum Menschen entwickeln kann, bedarf es
der Mitwirkung anderer Menschen. Diese Entwicklung geschieht
nicht von allein und nicht allein aus eigener Kraft eines Menschen.
Erziehung ist eine soziale Handlung. In ihr teilen Menschen sich ge-
genseitig mit, was es für sie heißt, als Mensch in menschlicher Ge-
meinschaft zu leben. Und was der einzelne Mensch dafür braucht, an
Fähigkeiten, Kenntnissen undsoweiter Und welchen Beitrag seiner
Mitmenschen dieser Mensch für seine Entwicklung erwarten kann:
welche Antwort der Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache.
Es geht also um die Entwicklung des einzelnen in seinem
Menschsein. Anders ausgedrückt: Wir können über die Entwicklung
eines einzelnen Menschen nichts sagen (und nichts dafür tun), ohne
etwas dazu zu sagen, was sein Menschsein ausmacht.
Zugleich aber ist diese Entwicklung des einzelnen in gesellschaft-
liche Bezüge eingebettet. „Tatsache” ist nicht nur die Entwicklung
des einzelnen, sondern ebenso die Entwicklung der Gesellschaft; die
sich eben auch vollzieht über die Entwicklung der vielen und jedes
einzelnen. Das gesellschaftliche Zusammenleben gehört zum
Menschsein. Und die Art des Zusammenlebens ist eine Art des
Menschseins. Wie Gesellschaften ihr Zusammenleben regeln, drückt
daher aus, was es für sie heißt, als Menschen zusammen zu leben. Er-
ziehung ist selbst ein Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenle-
bens, eine Weise des sozialen Umgangs von Menschen miteinander.
Hier insbesondere der älteren mit der jüngeren Generation. Und Er-
ziehung fördert die Entwicklung des einzelnen Menschen als Mo-
ment der gesellschaftlichen Entwicklung. Kinder haben nicht nur
eine Zukunft; sie sind auch die Zukunft der Gesellschaft.

54
Antipädagogik

Diese Einsicht kann sich übrigens durchaus vertragen mit mörde-


rischen Entwicklungsperspektiven, wie die Tatsache zeigt, dass gera-
de die Nazis sich dieser Bedeutung von Erziehung in besonders ho-
hem Maße bewusst waren. Hitler selbst sagte: „Wer die Jugend hat,
hat die Zukunft.” Im nationalsozialistischen Erziehungssystem ka-
men jene gesellschaftlichen Entwicklungsabsichten der Nazis beson-
ders deutlich zum Ausdruck, die sie als „nationalsozialistische Revo-
lution” bezeichneten.
Deshalb ist noch etwas wichtig, um den pädagogischen Erzie-
hungsbegriff doch von solchen Interpretationen, wie er sie im natio-
nalsozialistischen Erziehungsbegriff erfahren hat, abzusetzen:

2. Es geht um eine Entwicklung aus eigenem Sinn.


Die nationalsozialistische Erziehung hat den Satz über die Zukunft,
die der hat, der die Jugend hat, im Sinne einer Instrumentalisierung
der Erziehung für die nationalsozialistischen Pläne zum Umbau der
Gesellschaft verstanden. Ihr ging es um eine Erziehung, die eher als
Zucht zu verstehen war.
Wenn wir uns heute von der nationalsozialistischen Erziehungs-
vorstellung absetzen, dann kann dies zweierlei bedeuten. Und wir
müssen uns darüber klar sein, in welcher Weise wir uns davon abset-
zen.
Zum ersten sind es die Erziehungsziele der Nazis, von denen wir
uns absetzen, weil sie uns heute inhuman, barbarisch, menschenver-
achtend erscheinen. Wir sehen sie in einem anderen Lichte als die
Generation der damaligen Erwachsenen, aus meiner Sicht die
Mütter- und Vätergeneration; aus Ihrer Sicht eher die Generation Ih-
rer Großeltern. Wir sehen sie anders aufgrund der historischen Er-
fahrungen mit dem nationalsozialistischen Grauen. Und wir sehen
sie anders, weil sich unser Menschenbild doch sehr grundlegend ge-
ändert hat. Mit anderen Worten: Wir finden die Ziele schlecht, wel-
che die nationalsozialistische Erziehung der Entwicklung der jungen
Menschen setzte. Damit setzen wir uns aber noch nicht davon ab,

55
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

dass überhaupt der Entwicklung der jungen Menschen Ziele von der
Erwachsenengeneration gesetzt werden, dass der Sinn von Erziehung
durch die Erwachsenen bestimmt wird. Wir würden nur für bessere,
schönere, humanere Ziele plädieren.
Die Absetzung von der nationalsozialistischen Erziehungsidee
kann aber weitergehen. Aus meiner Sicht muss sie weitergehen. Der
Sinn der Entwicklung eines Menschen, so die weitergehende Positi-
on, kann/darf überhaupt nicht, weder im guten noch im schlechten
oder bösen, von außen gesetzt werden. Er muss – und das meine ich
mit der Formulierung: aus eigenem Sinn – im jeweiligen Menschen
selbst gefunden werden. Er selbst, jeder einzelne Mensch selbst, ist
der Sinn, um den es in Erziehung geht. Sein eigenes Menschsein ist
der Sinn, nicht sein Dasein für irgendeinen außerhalb von ihm lie-
genden Sinn: kein geschichtlicher Sinn, kein religiöser Sinn, kein ge-
sellschaftlicher Sinn, kein völkisch-rassischer Sinn, keine Idee, nichts
dergleichen, sofern es nicht Momente seines eigenen Sinns sind.
Dieser Mensch ist einzelner Mensch. Und als solcher kann sein
Sinn niemals in einem Allgemeinen ganz aufgehen. Das Allgemeine,
sei es geschichtlicher, religiöser, idealer Sinn der menschlichen Exi-
stenz muss vielmehr immer den einzelnen Menschen in seiner Ein-
zigkeit mit „berücksichtigen”, und zwar substantiell, nicht bloß als
Bedingung, auf die man sich halt wohl oder übel einlassen muss,
wenn man realistisch ist.
Wenn von Entwicklung aus eigenem Sinn die Rede ist, wird also
ein zentrales Problem der Pädagogik angesprochen, das Problem, wie
sich die Einzigkeit des Individuums zu seiner Allgemeinheit als ge-
sellschaftliches Wesen verhält, kurz formuliert: das Verhältnis von
Einzelnem und Allgemeinem als Verhältnis von Individuum und
Gesellschaft. Denn die Erziehung ist eine soziale Handlung und eine
soziale Funktion; sie hat eine Aufgabe für die Gesellschaft zu erfüllen.
Und zugleich ist ihr aufgetragen, die Entwicklung des einzelnen in
und zu seinem Menschsein zu fördern, also eine Aufgabe für das In-
dividuum wahrzunehmen.

56
Antipädagogik

Wir kennen alle die typisch pädagogische Einstellung, dass Kin-


der noch nicht wissen können, was für sie gut ist. Und deshalb wir
beziehungsweise die Erwachsenen bestimmen müssten, wo es lang-
geht. „Es ist zu ihrem eigenen Besten”, heißt es dann. Und wenn das
nicht nur Rhetorik ist, sondern wirklich ernst und aufrichtig ge-
meint, dann soll gesagt sein, dass man den Kindern nichts von außen
überstülpen will, was mit ihnen selbst in ihrem Eigenen gar nichts zu
tun hätte, sondern dass es nur eben so ist, dass wir besser zu wissen
glauben, was dies ihr Eigenes in seinem Wesen eigentlich ausmacht,
besser, als es die Kinder wissen können. (Eben dagegen richtet sich ja
die Antipädagogik.)
Es ist also noch gar nicht so klar, was es eigentlich genau bedeutet
zu sagen, es gehe der Erziehung um Entwicklung aus eigenem Sinn.
Für die Antipädagogik bedeutet es, dass erzieherische Einmischung
zu unterbleiben hat. Für sie kann überhaupt nur das Kind selbst „wis-
sen” oder spüren, was für es gut ist, wohin seine Entwicklung gehen
soll. Erwachsene haben diese spontan verlaufende Entwicklung ledig-
lich zu begleiten und zu unterstützen. Für die Pädagogik dagegen gilt
genau dies nicht: dass Entwicklung „von selbst” verläuft, und zwar
„richtig” verläuft. Die Entwicklung, um die es der Erziehung geht, ist
nach pädagogischer Auffassung keine spontane Entwicklung allein
aus dem eigenen Vermögen und aus eigener Einsicht, sondern ver-
langt nach einer Bestimmung des Eigensinns menschlicher Entwick-
lung, die nicht ohne Beziehung und Vermittlung auskommt und da-
her nicht von den Kindern allein vorgenommen werden kann. Wie
immer die Erwachsenen nun beteiligt sind an der Bestimmung von
Sinn, es kommt unausweichlich ihre Macht und Autorität ins Spiel;
auch wenn der Erwachsene sich als Antipädagoge versteht und be-
hauptet, er spreche nur für sich, wenn er dem Kind zum Beispiel et-
was verbietet. In der Pädagogik spricht man daher von einer funda-
mentalen Asymmetrie im Erziehungsverhältnis.

57
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Woher wollen nun aber PädagogInnen vom „eigenen Sinn” eines


Kindes wissen; woher nehmen sie ihn; wie kann er zur Orientierung
für Erziehung werden?

Ich möchte hier nur zwei alternative Ansätze angeben:


Erstens die rationalistische Position. Dies war die Position, die wir
bei Michael Winkler, dem Anti-Antipädagogen, gefunden haben.
Der Sinn menschlicher Entwicklung erschließt sich demnach allein
der Vernunft. Der Mensch ist ein Vernunftwesen. Dies ist es, was ihn
als Menschen auszeichnet. Seine Bestimmung ist daher die Entwick-
lung der Vernunft aus ihrem eigenen Vermögen und hin zur Fä-
higkeit, die Welt nach vernünftigen Prinzipien zu gestalten. Mensch-
sein heißt Vernünftigsein.
Kein Mensch aber kommt mit bereits ausgebildeter Vernunft auf
die Welt. Am Anfang ist der Mensch nicht schon vernünftig; sein
Zustand ist vorvernünftig. Daher muss er noch geführt, geleitet wer-
den, solange seine Vernunft ihm nicht die Selbstbestimmung ermög-
licht. Erziehung ist ein schrittweises Abgeben der Führung an die
Vernunft selbst. In der ersten Lebensphase bedarf es demnach der
stellvertretenden Vernunft eines andern, des Pädagogen. Erst wenn
die eigene Vernunft hinreichend ausgebildet ist, mit dem Ausgang
der Jugend, kann ein Mensch aus der pädagogischen Vormundschaft
in die selbstständigkeit entlassen werden. Dann ist er „mündig”.
Die Ausbildung der Vernunft wiederum ist ebenfalls kein sponta-
nes Geschehen, sondern vollzieht sich in der Auseinandersetzung mit
der sozialen und kulturellen Welt, in die ein Mensch hineingeboren
wird. Schon der Sprache, des Mediums der Artikulation der Ver-
nunft, kann ein Mensch nur mächtig werden, indem er sie erlernt
von anderen Menschen. Aufgabe der Erziehung ist es also, das Kind
„zur Vernunft zu bringen”.
Diese Position, so plausibel sie erscheinen mag, birgt ihre Proble-
me. Ein Problem ist das Verhältnis von Vernunft und Verstand. Wir
wissen alle, dass ein scharfer Verstand, das heißt ein Geist, der in sich

58
Antipädagogik

logisch und formal schlüssig zu argumentieren weiß, nicht vor Inhu-


manität schützt. Wir sehen außerdem, dass heute die reine Verstan-
destätigkeit in Gestalt der Computertechnologie in zunehmendem
Maße maschinisiert und automatisiert werden kann. Es mag so etwas
wie Künstliche Intelligenz geben. Aber hieße das, dass es auch so et-
was wie künstliche Vernunft geben könne?
Vernunft bringt nämlich einen zusätzlichen Maßstab für die Ver-
standestätigkeit ins Spiel, und zwar eben jenen Maßstab, der auch für
die Entwicklung eines Menschen im pädagogischen Erziehungsbe-
griff angesetzt wird: die Qualität des Menschseins. Nur wer behaup-
tet, das Menschliche gehe vollständig im Verstandesmäßigen auf,
könnte sich, was den Erziehungsauftrag betrifft, mit der Ausbildung
des Verstandes begnügen.
Wenn von Vernunft gesprochen wird, ist aber mehr gemeint als
Verstand. Das gilt alltagssprachlich ebenso wie philosophisch. Ver-
nunft heißt, dass der Verstand in die Pflicht genommen wird. Ver-
nunft heißt eigene Einsicht in einen Sinnzusammenhang, und zwar
nicht in irgendeinen Sinnzusammenhang, sondern in jenen Sinnzu-
sammenhang, der menschliches Zusammenleben konstituiert. Dieser
Sinn erschöpft sich nicht in Logik und formaler Schlüssigkeit. Er be-
zieht sich auf etwas, das der menschlichen Existenz auf eine einsich-
tige Weise substantiell, wesentlich zugehört oder innewohnt. Die
Vernunftorientierung weist also über den Verstand hinaus. Aber wo-
hin? Das will ich hier vorläufig noch offenlassen.
Ein zweites Problem, das die Konzentration auf die Vernunft mit
sich bringt, ist das Verhältnis der sich bildenden Vernunft zur Natur
eines Menschen. Wenn die Vernunft die Orientierung für Erziehung
abgibt, dann ist das Kind am Anfang seines Lebens im eigentlichen
Sinne noch kein Mensch, sondern erst ein potentieller Mensch. Ver-
nunft wäre Überwindung des Naturzustands eines Menschen, Über-
windung des Mangels an Menschsein. Das Kind wäre Noch-nicht-
Mensch, hätte noch kein Eigenrecht, sondern würde es erst in dem
Maße erwerben, in dem es zur Vernunft kommt. Dazu ist Disziplin

59
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

nötig, Disziplinierung der Natur des Kindes. Wie aber soll ein
Mensch zu geistiger Freiheit finden, dessen Natur dem Zwang der
Disziplinierung unterworfen wurde? Und was ist mit den Menschen,
deren intellektuelle Voraussetzungen von Natur aus eine Entlassung
in die selbstständigkeit nicht zulassen, die weiterhin unter Betreuung
bleiben müssen? Gilt für sie der Erziehungsbegriff nicht? Oder nur
eingeschränkt?

Zweitens die naturalistische Position: Diese Position behauptet, der


Sinn der Entwicklung eines Menschen sei ihm in seiner Natur vorge-
geben. Deshalb müsse die Erziehung auf die Natur achten und sich
nach ihr richten. Diese Orientierung an der Natur werden Sie vor al-
lem in reformpädagogischen Ansätzen finden, wo eine „Pädagogik
vom Kinde aus” und das meint: von der kindlichen Natur aus, gefor-
dert wird.
Darin liegt ebenfalls ein Problem. Überließe man nämlich die
Entwicklung eines Menschen der Natur, wäre nicht einmal das bloße
Überleben gesichert, geschweige denn eine Entwicklung gewährlei-
stet, die es dem betreffenden Menschen ermöglicht, zu einem Mit-
glied der menschlichen Lebensgemeinschaft zu werden. Wenn aber
die Natur den Sinn der Erziehung vorgibt, weshalb sorgt sie dann
nicht selbst dafür, dass sich ihr Sinn erfüllt? Warum sorgt sie dann
nicht wie bei Pflanzen und Tieren dafür, dass die natürliche Entwick-
lung von selbst ihren Lauf nimmt? Indem sie die Menschen nicht mit
einem entsprechenden biologischen Entwicklungsprogramm oder
mit den nötigen Instinkten ausstattet, überantwortet sie es dem
menschlichen Geist, herauszufinden, was sie – angeblich – will. Da-
mit aber kommt doch wieder die Vernunft ins Spiel, die sich nun al-
lerdings als Sprecherin der Natur versteht. Nur: So viele Ansätze sich
auf die menschliche Natur berufen, so viele Varianten gibt es in der
Interpretation dessen, was eine naturgemäße Erziehung sei. In der
Waldorf-Pädagogik sagt uns die Natur etwas anderes über die

60
Antipädagogik

menschliche Entwicklung als bei Rousseau und wieder etwas anderes


in der Montessori-Pädagogik.
Was ist daraus zu folgern?
Erziehung befindet sich in einem Dilemma. Sie versteht sich als
etwas anderes denn als Zucht. Sie hat die Menschwerdung eines
Menschen im Sinne, der das, was er ist, aus sich selbst sein soll, ohne
es allein aus sich heraus werden zu können. Es ist der eigene Sinn ei-
nes Menschen, der sich in seiner Entwicklung verwirklichen soll, und
doch muss dieser Sinn von anderen Menschen wahrgenommen und
angenommen werden, um die Erziehung orientieren zu können.
Mit anderen Worten:
3. Entwicklung aus eigenem Sinn enthält Fremdbestimmung.
Erziehung wäre überflüssig, wenn die Entwicklung eines Menschen
aus seinem eigenen Sinn sich aus seiner eigenen Kraft und von allein
vollzöge. Die Unausweichlichkeit der erzieherischen Einmischung
hat mehrere Gründe:
Da der eigene Sinn erst bestimmt werden muss (und sich nicht
von selbst versteht und zur Geltung bringt), bedarf es der Vernunft,
um seiner einsichtig zu werden. Solange die Vernunft eines Men-
schen noch nicht ausgebildet ist, kann die Sinnbestimmung der Er-
ziehung nur von den erziehenden Menschen vorgenommen werden.
Auch wenn sie sich bemühen, dem Heranwachsenden keinen frem-
den Sinn überzustülpen, liegt hier grundsätzlich ein Moment der
Fremdbestimmung vor.
Der eigene Sinn ist der Sinn eines in Gemeinschaft lebenden
Menschen. Es gibt keinen menschlichen Lebenssinn jenseits von Ge-
meinschaft. Das heißt aber: individueller Sinn muss sich mit den vie-
len individuellen Sinnhorizonten der anderen Menschen und mit
dem gemeinsamen Sinnhorizont einer Gemeinschaft vermitteln. Das
kann nicht ohne Auseinandersetzung abgehen: Gegen die alleinige
Geltung des individuellen Sinns eines einzelnen werden andere Sinn-
horizonte in Geltung gebracht. Das Ergebnis ist nicht Friede, Freude,

61
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Eierkuchen, sondern bedeutet für jeden einzelnen auch Verzicht, Zu-


rückstecken. Bestenfalls freiwillig, aber nicht aus freien Stücken.
Auch wenn die Fremdbestimmtheit als notwendig angesehen wird,
bleibt sie eine Fremdbestimmtheit. Und bevor ihre Notwendigkeit
eingesehen werden kann, muss sie schon praktisch akzeptiert worden
sein. Das heißt: Vieles von dem, was sich in der Entwicklung eines
Menschen tut, kommt nicht aus ihm, aus seiner Selbstbestimmung,
sondern von außen: von der Gesellschaft, von anderen Menschen.
Pädagogische Vermittlung ist immer das Sich-Einlassen auf die
Bestimmung des andern, von der wiederum ich mich bestimmen las-
sen muss – ohne mich ihr zu unterwerfen.
Die Notwendigkeit, Fremdbestimmtheit anzuerkennen bezie-
hungsweise bestimmend auf einen anderen einzuwirken, ist Aus-
druck der Tatsache, dass kein Mensch allein auf der Welt ist. Mit Er-
ziehung antwortet, so hieß es, die Gesellschaft auf die Entwicklungs-
tatsache. Ohne die Antwort der Gesellschaft aber wird Entwicklung
gar nicht zur Tatsache.

62
Dritte Vorlesung
Erziehung II: Schwarze Pädagogik

3.1 Johann Sebastian Bach und die Moderne


3.2 „Schwarze Pädagogik“
3.3 Historische Hintergründe
3.4 Das „pädagogische Jahrhundert“
3.5 Das antinaturalistische Motiv: Emanzipation

Musik:
Johann Sebastian Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 3,
G-Dur (BWV 1048). 1. Satz: Allegro Moderato

3.1 Johann Sebastian Bach und die Moderne


Sie hörten das dritte Brandenburgische Konzert von Johann Sebasti-
an Bach. Bach lebte von 1685 bis 1750.
Bachs musikalisches Werk übt bis heute eine spezielle Faszination
aus auf Menschen, die ein besonderes Interesse an den formalen
Aspekten von Musik haben. Selbstverständlich gehört zur Faszina-
tion an Musik, auch an Bach, immer weitaus mehr als dieses eher in-
tellektuelle Interesse an der Form. Aber indem Bachs Kompositionen
dem intellektuellen Interesse besondere Nahrung geben, kann hier
auch der Geist aktiv an den Vergnügungen teilhaben, welche die Mu-
sik Leib und Seele bereitet.
Ein bekanntes Beispiel für diese Faszination ist Douglas R. Hof-
stadter. Hofstadter ist weltweit berühmt geworden durch ein dickes,
über achthundert Seiten umfassendes Buch, das den Titel trägt: „Gö-
del – Escher – Bach. ein Endloses Geflochtenes Band“. Bach kommt

63
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

also im Titel vor. Escher ist der Name eines bildenden Künstlers. Er
ist besonders bekannt geworden durch Lithographien wie „Treppauf,
Treppab“, die paradoxe Verschlingungen zeigen, welche auf beson-
deren Varianten optischer Täuschungen beruhen. Gödel schließlich
ist der Name eines Mathematikers, der bewiesen hat, dass kein for-
males System, also auch kein mathematisches System sich selbst be-
gründen kann.
Jetzt werden viele von Ihnen wahrscheinlich von diesem Buch
noch nichts gehört haben und sich nicht vorstellen können, worum
es dabei gehen soll. Es ist im weitesten Sinne ein Buch über Künstli-
che Intelligenz und über viele Fragen, vor allem logischer Art, die sich
mit diesem Projekt, der Künstlichen Intelligenz, verbinden. Bach war
ein Komponist und Musiker des 18. Jahrhunderts. Das ist lange her.
Die Künstliche Intelligenz ist ein Projekt des ausgehenden 20. Jahr-
hunderts, das ins 21. Jahrhundert reicht. Seine Realisierung steht in
den Sternen. Für Hofstadter jedoch besteht zwischen Bachs Musik
und der Künstlichen Intelligenz ein innerer Zusammenhang. Dieser
Zusammenhang lässt sich mit dem Begriff „Formales System“ be-
zeichnen.
Ein Formales System ist ein rein nach den formalen Regeln der
Logik konstruiertes System. Computerprogramme sind zum Beispiel
Formale Systeme. Künstliche Intelligenz ist als Formales System ge-
dacht. Aber auch die Bachsche Musik lässt sich – wenn man ihre for-
malen Strukturen untersucht – als Konstruktion Formaler Systeme
ansehen. Das gilt zwar in einem gewissen Sinne für alle Musik. Aber
bei Bach lässt sich die Regelhaftigkeit der Musik besonders gut her-
ausarbeiten. Und zugleich entsteht bei Bach aus diesen Regeln eine
Komposition mit so komplexen Strukturen, dass eben – wie ich sagte
– für Menschen wie Hoftstadter zu dem emotionalen Vergnügen,
welches das Hören der Musik auslöst, noch das intellektuelle
Vergnügen tritt, welches die Analyse ihrer formalen Strukturen berei-
tet. Bachs Musik hat etwas Konstruktivistisches.

64
Schwarze Pädagogik

Der rationalistische, konstruktivistische Zug in Bachs Musik lässt


diese als höchst modern erscheinen. Es ist jedoch Musik des 18. Jahr-
hunderts. Und es ist die Modernität des 18. Jahrhunderts, die in ihr
musikalischen Ausdruck findet. Wenn Hofstadter eine innere Ver-
bindung aufdeckt zwischen der Idee der Künstlichen Intelligenz und
den Strukturen der Bachschen Musik, dann kann man dies als Erweis
eines Avantgardismus dieser Musik ansehen, die ihrer Zeit sozusagen
weit voraus war. Man kann aber auch umgekehrt dies als Erweis der
Antiquiertheit der Idee der Künstlichen Intelligenz interpretieren
und die These vertreten, dass die Idee der Künstlichen Intelligenz so-
zusagen noch den Geist des 18. Jahrhunderts atmet.
Ich denke, dass an beiden Interpretationen etwas dran ist. Das 18.
Jahrhundert ist das Jahrhundert, von dem mit der größten Berechti-
gung gesagt werden kann, dass es die Geburtszeit der Moderne sei.
Das Wesen der Moderne kommt jedoch erst jetzt, vor dem Übergang
in das 21. Jahrhundert, in seiner ganzen Konsequenz in Ideen und
Projekten wie der Künstlichen Intelligenz oder Virtuellen Realität
zum Vorschein, welche die Welt der Menschen in technisch generier-
te Formale Systeme zu überführen trachten.
Was aber ist dieses „Wesen der Moderne“, von dem ich soeben
sprach?
Dies will ich erläutern. Und ich will es tun, indem ich eine Cha-
rakterisierung des 18. Jahrunderts aufgreife, die aus jenem Jahrhun-
dert selbst stammt: Es sei das „pädagogische Jahrhundert“. Moderni-
tät und Pädagogik gehören nämlich aufs engste zusammen. Und so
geleitet uns die Frage, wieso denn ausgerechnet die Bachsche Musik
als eine Musik des 18. Jahrhunderts in eine Nähe zu Ideen führt, die
eher Science Fiction zu sein scheinen, endlich zur Pädagogik.

3.2 Schwarze Pädagogik


Ich möchte Sie einstimmen in die heutige Thematik mit einigen Aus-
zügen aus einem Buch, das Katharina Rutschky 1977 herausgegeben
65
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

hat. Es handelt sich um eine Sammlung von Texten aus pädagogi-


schen Schriften quer durch die letzten zweihundert Jahre hindurch.
Enthalten sind Auszüge aus Erziehungsratgebern für Eltern und Leh-
rer, aus pädagogischen Enzyklopädien, aus Schriften zur Theorie der
Pädagogik. Die Schriften stammen teils von heute unbekannten Ver-
fassern, teils sind es wohlbekannte, renommierte Namen, die dort
auftauchen; Namen, die sich mit der Geschichte der Wissenschafts-
disziplin Pädagogik verbinden. Die Sammlung gibt daher sowohl ei-
nen Einblick in das jeweilig vorherrschende Erziehungsdenken der
betreffenden Zeit als auch in Motive, die sich durch die Geschichte
der Theoriebildung der Pädagogik ziehen.
„Was nun den Eigensinn betrifft, so äußert sich derselbe als ein natürliches Mittel
gleich in der ersten Kindheit, sobald die Kinder ihr Verlangen nach etwas durch Ge-
bärden zu verstehen geben können. Sie sehen etwas, das sie gern haben möchten; sie
können es nicht bekommen, sie erbosen sich darüber, schreien und schlagen um
sich. Oder man gibt ihnen etwas, das ihnen nicht ansteht; sie schmeissen es weg und
fangen an zu schreien. Dies sind gefährliche Unarten, welche die ganze Erziehung
hindern und nichts Gutes bei den Kindern aufkommen lassen. Wo der Eigensinn
und die Bosheit nicht vertrieben werden, da kann man unmöglich einem Kinde eine
gute Erziehung geben. Sobald sich also diese Fehler bei einem Kinde äußern, so ist
es hohe Zeit, dem Übel zu wehren, damit es nicht durch die Gewohnheit hartnä-
ckiger und die Kinder ganz verdorben werden.
Ich rate also allen denen, die Kinder zu erziehen haben, daß sie die Vertreibung
des Eigensinns und der Bosheit gleich ihre Hauptarbeit sein lassen und so lange dar-
an arbeiten, bis sie zum Ziel gekommen sind. Man kann, wie ich oben bemerkt habe,
unmündigen Kindern nicht mit Gründen beikommen; also muß der Eigensinn auf
eine mechanische Weise vertrieben werden, und hierfür gibt es kein anderes Mittel,
als daß man den Kindern den Ernst zeigt. Gibt man ihrem Eigensinn einmal nach,
so ist er das zweitemal schon stärker und schwerer zu vertreiben. Haben die Kinder
einmal erfahren, daß sie durch Erbosen und Schreien ihren Willen durchsetzen, so
werden sie nicht ermangeln, dieselben Mittel wieder anzuwenden. Endlich werden
sie zu Meistern ihrer Eltern und Aufwärterinnen und bekommen ein böses, eigen-
sinniges und unleidliches Gemüt, wodurch sie hernach ihre Eltern, als wohlverdien-
ten Lohn der guten Erziehung, solange sie leben, plagen und quälen. Sind aber die
Eltern so glücklich, daß sie ihnen gleich anfangs durch ernstliches Schelten und
durch die Rute den Eigensinn vertreiben, so bekommen sie gehorsame, biegsame
und gute Kinder, denen sie hernach eine gute Erziehung geben können. Wo einmal
ein guter Grund der Erziehung gelegt werden soll, da muß man nicht nachlassen zu
arbeiten, bis man sieht, daß der Eigensinn weg ist, denn dieser darf absolut nicht da
sein. Es bilde sich niemand ein, daß er etwas Gutes in der Erziehung wird tun kön-
nen, ehe diese zwei Hauptfehler behoben sind. Er wird vergeblich arbeiten. Hier
muß notwendig erst das Fundament gelegt werden.

66
Schwarze Pädagogik

Dieses sind also die zwei vornehmsten Stücke, auf die man im ersten Jahr der
Erziehung sehen muß. Sind nun die Kinder schon über ein Jahr alt, wenn sie also
anfangen etwas zu verstehen und zu sprechen, so muß man auch auf andere Dinge
denken, doch nicht anders als mit der Bedingung, daß der Eigensinn der Hauptvor-
wurf aller Arbeit sei, bis er völlig beseitigt ist.“
(Aus: J. Sulzer, Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder, 1748, Zit.
n. Rutschky, S. 173ff.)
Katharina Rutschky hat die Pädagogik, die hier zum Vorschein
kommt, „Schwarze Pädagogik” genannt. Ich habe Ihnen eine Passage
vorgelesen, die noch harmlos ist. In der Textsammlung befinden sich
pädagogische Anweisungen, die an physische Folter nicht nur gren-
zen und die voller seelischer Grausamkeit sind. Was sich da zeigt, ist
eine ganz, ganz dunkle, ja bösartige Seite der Pädagogik. Eine Seite,
die keineswegs aus der Welt ist, auch wenn sie heute in der pädagogi-
schen Literatur nicht mehr zum Ausdruck kommt. Worum es immer
wieder geht: den eigenen Willen des Kindes und damit seinen Wider-
stand gegen die erzieherischen Absichten der Eltern und Erzieher zu
brechen; es gefügig zu machen. Es ist die Frage, woher das für uns
heute kaum glaublich gute Gewissen dieser offenen Grausamkeit
kommt. Und ob solche Grausamkeit – wenn auch vielleicht in ver-
hüllterer Gestalt – wirklich zu aller Pädagogik dazugehört, wie ja die
Antipädagogik behauptet.
Wogegen richtet sich die pädagogische Grausamkeit? Auf den er-
sten Blick: gegen das Kind; genauer: gegen dessen „Eigensinn”, Un-
gehorsam. Der Kampf gegen den kindlichen Eigensinn wird aller-
dings im Namen des Kindes geführt. Er soll zu seinem Besten sein.
Er ist daher nicht vergleichbar dem Kampf, der auf bloße Unterwer-
fung oder gar Vernichtung des Gegners zielt. Wogegen genau der
Kampf geführt wird, das wird sehr deutlich im folgenden Zitat:
„Die wahre Liebe stammt aus dem Herzen Gottes, dem Quell und Urbild alles Va-
tersinnes (Eph. 3,15), ist durch die Liebe des Erlösers ab- und vorgebildet und wird
durch den Geist Christi in den Menschen erzeugt, genährt, erhalten. Durch diese
von oben stammende Liebe wird die natürliche elterliche Liebe gereinigt, geheiligt,
geklärt und gestärkt. Diese geheiligte Liebe hat vor allem das dem Kinde gesteckte
Ziel, das Gedeihen des inwendigen Menschen, das Geistesleben desselben im Auge,
seine Befreiung von der Macht des Fleisches, seine Erhebung über die Ansprüche des
bloß natürlichen Sinnenlebens, seine innere Unabhängigkeit von der es umfluten-

67
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

den Welt. Sie ist darum von früh an schon darauf bedacht, daß das Kind lerne, sich
selbst zu verleugnen, zu überwinden und zu beherrschen, daß es nicht blindlings den
Trieben des Fleisches und der Sinnlichkeit folge, sondern dem höheren Willen und
Triebe des Geistes. Diese geheiligte Liebe kann darum auch ebensowohl hart sein als
mild, ebenso versagen als gewähren, jedes zu seiner Zeit, sie versteht auch durch We-
hetun wohlzutun, sie kann auch schwere Verleugnungen auferlegen, wie ein Arzt,
der auch bittere Arzneien verordnet, wie ein Chirurg, der wohl weiß, daß der Schnitt
seines Messers schmerzt, aber er schneidet doch, weil es die Rettung des Lebens gilt.
»Du hauest ihn (den Knaben) mit der Rute; aber du errettest seine Seele von der
Hölle.« In diesem Wort malt Salomo das Hartseinkönnen der wahren Liebe. Es ist
nicht die harte stoische oder einseitig gesetzliche Strenge, die Gefallen an sich selber
hat und lieber den Zögling opfert, als daß sie einmal von ihrer Satzung wiche; nein,
sie läßt ihr herzliches Wohlmeinen bei allem Ernst doch immer wieder in Freund-
lichkeit, Erbarmen, hoffender Geduld, wie die Sonne durch Wolken, hindurch-
leuchten. Sie ist bei aller Festigkeit doch frei und weiß immer, was sie tut und warum
sie es tut.“
(Aus: K. A. Schmid [Hrsg.], Enzyklopädie des gesamten Erziehungs und Unter-
richtswesens, l887, zit. n. Rutschky, S. 25 f.)

Eine Seite im Kind soll bekämpft werden zugunsten der anderen Sei-
te. Das „Fleisch” wird bekämpft zugunsten des Geistes. Natur wird
bekämpft im Namen der Vernunft. Die Natur des Kindes, das
„Fleisch”, erscheint als das feindliche Gegenüber der Erziehung; da-
gegen die Vernunft im Kinde als ihr Bündnispartner.
Etliche Texte in Katharina Rutschkys Sammlung befassen sich
zum Beispiel mit der Frage, wie dem kindlichen Bewegungsdrang be-
gegnet werden, wie die Kinder zum Stillsitzen gebracht werden kön-
nen. Es werden etwa trickreiche Konstruktionen vorgeschlagen,
durch die Kinder mechanisch an ihren Platz in der Schulbank fixiert
werden. Die natürliche Bewegung, der eigene Bewegungsrhythmus
der Kinder soll unterbunden werden, um ihnen stattdessen die Ab-
folgen von Stillsitzen und Sichbewegendürfen aufzunötigen, welche
der Unterrichtsplan vorsieht. Dies alles geschieht im Namen der Päd-
agogik.
An dieser Stelle wird es nun allerdings nötig, über die moralische
Empörung, die uns heute erfasst, wenn wir so etwas lesen oder hören,
hinauszukommen. Denn wir wollen ja verstehen; verstehen, was die
Pädagogik damals in diese Frontstellung zum Kind trieb.

68
Schwarze Pädagogik

3.3 Historische Hintergründe


Und damit kommen wir auch zurück zu der Modernität des 18. Jahr-
hunderts, der u.a. die Bachsche Musik zugehört. Die Texte der
Schwarzen Pädagogik stammen aus den letzten zweihundert Jahren.
Und dies ist kein Zufall. Warum aus dieser Zeit?
Man kann sagen, dass seit dieser Zeit etwa Erziehung ein öffent-
liches, das heißt in Journalen und Büchern für die „breite Öffentlich-
keit” behandeltes Thema ist. Dies kann als Indiz gewertet werden,
dass sich seitdem Erziehung nicht mehr von selbst versteht. Dass sie
etwas ist, worüber man sich auseinandersetzt. Was also auch keine
reine Privatangelegenheit mehr ist. Erziehung ist seitdem etwas, wor-
über man sich Gedanken macht, das nicht einfach nebenher passiert,
sondern an das man wohlüberlegt und planvoll herangeht. Die Ge-
sellschaft beginnt, sich der Erziehung als einer ihrer Grundlagen zu
besinnen. Und indem sie über Erziehung debattiert und versucht, die
„richtige” Form der Erziehung zu bestimmen, versucht sie, eine ihrer
eigenen wesentlichen Grundlagen sozusagen „in den Griff zu bekom-
men”. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Zeitraum von zwei-
hundert Jahren auch in etwa zusammenfällt mit der Geschichte der
theoretischen Reflexion über Erziehung und Pädagogik.
Für Erziehung ist es seit diesem Zeitpunkt nicht mehr damit ge-
tan, dafür zu sorgen, dass die Kinder irgendwie groß werden, dass sie
in die häuslichen und außerhäuslichen Pflichten und Aufgaben hin-
einwachsen, indem man sie beizeiten mitmachen lässt. Sondern seit
diesem Zeitpunkt hat sich Erziehung die bewusste, zielgerichtete
Formung dieses Menschen zur Aufgabe gemacht. Und diese Aufgabe
bringt Erziehung, jedenfalls so, wie sie sich versteht, in eine Frontstel-
lung gegen die Natur. Erziehung, das ist damit ganz deutlich, wird
keineswegs in Analogie zum Wachsenlassen einer Pflanze oder zur
Pflege eines Tierjungen verstanden. Eher in Analogie zur landwirt-
schaftlichen Zucht oder zur Abrichtung, die sich ja ebenfalls die ziel-
gerichtete Formung des vorgefundenen Natur„materials” im höhe-
ren menschlichen Interesse vornehmen.
69
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Was hat sich denn vor zweihundert Jahren im gesellschaftlichen


Leben so geändert, dass seitdem dieses andere, dieses neue Denken
und Nachdenken über Erziehung in der breiten Öffentlichkeit in
Gang gekommen ist?
Sie werden vielleicht schon in anderen Zusammenhängen etwas
gehört haben über „Moderne” und „Postmoderne”. „Postmoderne”,
das soll die Zeit sein, in der wir jetzt und in der nächsten Zukunft le-
ben. Moderne ist die Zeit davor, eine Zeit, die wir jetzt angeblich im
Begriff sind, hinter uns zu lassen. Die Zeit, die mit Moderne gemeint
ist, fällt ebenfalls in etwa zusammen mit diesem Zeitraum von zwei-
hundert Jahren. In marxistischer Terminologie ist dies die Zeit der
Bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer kapitalistischen Ökonomie. In
anderer Terminologie ist dies das Industriezeitalter. Fassen wir all
dies zusammen, so können wir vorerst schlussfolgern: Erziehung, wie
wir sie in den Texten der „Schwarzen Pädagogik” dokumentiert fin-
den, ist ein Phänomen der Moderne, ein Phänomen der Bürgerlichen
beziehungsweise Kapitalistischen Gesellschaft, ein Phänomen des In-
dustriezeitalters. Ihre Frontstellung gegen Natur müsste demnach zu
diesen Epochen-Charakterisierungen passen.
Vor ungefähr zweihundert Jahren, also gegen Ende des 18. Jahr-
hunderts, gab es einige folgenschwere Umwälzungen, die es rechtfer-
tigen, vom Beginn einer neuen Epoche zu sprechen, die bis heute an-
dauert, wobei umstritten ist, ob wir uns jetzt am Ausgang dieser
Epoche und Eintritt in eine andere, neue Epoche befinden, ob man
die nun Postmoderne nennt oder sonstwie.
Die Umwälzungen, von denen ich spreche, sollen kurz benannt
werden. In allen vier Umwälzungsphänomenen wirkt ein generelles
Motiv: die Emanzipation von schicksalhaftem Verhängnis, von Fü-
gung; die Entdeckung der eigenen Kraft zur Gestaltung der Welt.

70
Schwarze Pädagogik

3.3.1 Produktionstechnische Umwälzungen


(Beginn der Industriegesellschaft)
Der Ausgang des 18. Jahrhunderts ist die Geburtszeit der Großen In-
dustrie. Diese hat sich mit ihren riesigen Maschinensystemen und
Fabrikanlagen zwar erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts wirklich
durchgesetzt. Aber die Voraussetzungen wurden damals geschaffen.
Es begann bereits die Ablösung der bis dahin dominanten Agrarwirt-
schaft sowie des Handwerks durch industrielle Produktionsweisen.
Bis ins 18. Jahrhundert lebten die meisten Menschen in fast
völliger Abhängigkeit von den Bedingungen, welche die Natur ihnen
setzte. Die Masse der Bevölkerung bestritt ihren Lebensunterhalt
durch Landarbeit. Ihr Lebensrhythmus war entsprechend diktiert
vom natürlichen Rhythmus der Jahreszeiten und der davon abhängi-
gen jahreszeitlichen Abfolge der jeweils nötigen Verrichtungen in der
Bestellung der Äcker und der Versorgung des Viehs. Der Ertrag ihrer
Arbeit bestimmte sich weitgehend durch die Gunst oder Ungunst
wechselnder klimatischer Bedingungen. Selbstverständlich entwi-
ckelte sich auch die Technik der Landarbeit im Verlaufe der Jahrhun-
derte weiter. Im 18. Jahrhundert wurde nicht mehr mit denselben
Werkzeugen und denselben Verfahrensweisen das Land bestellt wie
fünfhundert oder tausend Jahre zuvor. Aber diese Veränderungen
vollzogen sich so langsam, dass sie im Verlaufe eines Menschenlebens
kaum spürbar wurden und die Kinder im großen und ganzen auf die-
selbe Weise und mit denselben Mitteln ihre Arbeit taten wie schon
ihre Eltern und Großeltern.
Das städtische Leben dagegen vollzog sich bereits in einer größe-
ren Unabhängigkeit von der Natur. Während in der Landarbeit die
Natur die entscheidende Produktivkraft war, beruhte die handwerk-
liche Produktion im entscheidenden Maße auf dem Können der ar-
beitenden Menschen. Auch der Rhythmus des städtischen Lebens
war daher nicht so vollständig bestimmt vom Jahreszeitenwechsel.
Zwar lässt sich auch hier sagen, dass das Leben der Menschen in letz-
ter Instanz von begrenzenden Naturbedingungen bestimmt war, hier

71
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

von den Grenzen, welche die eigene, innere Natur der Arbeit setzte.
In seinem eigenen leiblichen Vermögen fand der Handwerker die
Naturbedingtheit vor, welche die Möglichkeiten begrenzte, die sich
der Produktivität seiner Arbeit eröffneten. Dennoch konnte sich in
den Städten ein anderes Selbstbewusstsein der Arbeit entwickeln,
weil es hier nicht so sehr die äußere, übermächtige Natur war, welche
die Bedingungen setzte, sondern die eigene, innere Natur, die sich
immerhin durch Lernen, Schulung und Einsicht zu höheren Vermö-
gen formen ließ.
Die Städte waren daher die Orte, an denen sich noch unter feu-
dalen Gesellschaftsbedingungen die Keime einer neuen Produktions-
weise und einer neuen Gesellschaftsform entwickeln konnten. Dies
war ein langer, jahrhundertedauernder Prozess. Im 18. Jahrhundert
jedoch gewann die neue, industrielle Produktionsweise ein solches
Gewicht, dass die feudalen Gesellschaftstrukturen sich als unerträgli-
che Fesselung der wachsenden Produktivkräfte erwiesen. Die land-
wirtschaftliche Produktion verlor relativ an Bedeutung gegenüber
der Güterproduktion des sich entfaltenden industriellen Sektors. Im-
mer mehr Menschen wanderten vom Land ab in die Städte, wo die
Manufakturen und Fabriken ihnen Arbeit gaben. Ein immer größe-
rer Teil des durch menschliche Arbeit produzierten Reichtums be-
stand aus den Waren, welche hier hergestellt wurden.
Technisch emanzipierte sich die Arbeit beziehungsweise Produk-
tion von den einschränkenden Bedingungen der Bindung an die äu-
ßere oder auch innere Natur: erstens durch Emanzipation von der
menschlichen Hand, weitergehend überhaupt von den Beschränkun-
gen, welche die leibliche Beteiligung der Menschen an der Produkti-
on setzte. Menschliche Arbeitskraft wurde von Maschinen zunächst
unterstützt und erweitert, in zunehmendem Maße jedoch auch ver-
drängt. Auch die Naturstoffe und -materialien wurden – durch Ent-
wicklung insbesondere der chemischen Industrie – Schritt für Schritt
ersetzt durch künstlich hergestellte Stoffe und Materialien. Was der
Mensch zu leisten vermochte, war immer weniger abhängig davon,

72
Schwarze Pädagogik

was die Natur ihm erlaubte und gab. Es war auch immer weniger ab-
hängig von dem, was seine Hand, was sein Leib zu leisten vermag.
Technischer Fortschritt beruhte auf geistigem Fortschritt. Natur
wurde zur Rohstoffquelle und zur Verfügungsmasse. Kunststoffe tra-
ten an die Stelle von Naturstoffen; die Fabrikhalle an die Stelle des
ländlichen Naturraums; Maschinen an die Stelle der leiblichen
menschlichen Arbeitskraft.

3.3.2 Ökonomische Umwälzungen (Beginn des Kapitalismus)


Mit dem wachsenden Gewicht der nichtlandwirtschaftlichen Pro-
duktion gewann auch der Markt als Ort der Verteilung, das heißt als
der Ort, an dem die Produkte an ihre Konsumenten gelangen, an Be-
deutung. Während in der feudal verfassten Landwirtschaft weiterhin
die unmittelbare Selbstversorgung sowie die Ablieferung der Produk-
te an die Feudalherrschaft die Regel waren, also der Übergang von
der Produktion zur Konsumtion in der Hauptsache nicht durch den
Markt vermittelt war, dominierte in den wachsenden Industriesekto-
ren die profitorientierte Marktwirtschaft. Deren Arbeitskräftebedarf
konnte schließlich nur gedeckt werden, indem die feudalen Be-
schränkungen der Freizügigkeit, also insbesondere die feudale Leib-
eigenschaft aufgehoben wurde.
Unter Bedingungen der Leibeigenschaft war ein riesiger Teil der
Bevölkerung rechtlich sozusagen Zubehör des feudalen Landbesitzes.
Die unfreie Landbevölkerung war „an die Scholle gebunden“, das
heißt durfte nicht aus freien Stücken den Wohnort wechseln – etwa
um bessere Arbeit zu finden. Ein adliger Grundbesitzer erbte mit
dem Land auch die Leute, die dazu gehörten. Die feudale Leibeigen-
schaft begründete insofern eine rechtliche Verklammerung von Land
und Arbeit und somit von Natur und Mensch.
Diese Verklammerung hinderte die Menschen daran, dorthin zu
gehen, wo die Produktion expandierte. Sie war verantwortlich für
den Mangel an Arbeitskräften in den industriellen Regionen. Durch
die preußischen Reformen Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die

73
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Leibeigenschaft aufgehoben und der Landbevölkerung das Recht der


Freizügigkeit zugestanden.
Damit konnte eine nunmehr freie Lohnarbeiterschaft entstehen,
die nicht mehr durch den Geburtsstand gezwungen war, für einen
bestimmten Feudalherrn zu arbeiten, wohl aber gezwungen war, ihre
Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt in Konkurrenz zu anderen Lohn-
arbeitern anzubieten. Es entstanden die beiden Hauptklassen der Ka-
pitaleigner (Unternehmer) und Lohnarbeiter.
In der Ökonomie fand im Zusammenhang damit eine tiefgreifen-
de Entwertung der Natur statt. Wo früher der Reichtum der Natio-
nen ganz wesentlich von ihren Naturschätzen und der Qualität des
Ackerbodens, vom Klima undsoweiter bestimmt gewesen war, grün-
det sich der Reichtum von nun ab immer mehr auf die Leistungen
der menschlichen Arbeit. Im ökonomischen Wert gilt schließlich nur
noch die Arbeit, Natur dagegen gar nichts mehr. Ökonomisch wird
Natur zur externen Größe.

3.3.3 Politische Umwälzungen


(Beginn der Bürgerlichen Gesellschaft)
In der Politik suchte sich ein neues bürgerliches Selbstbewusstsein die
entsprechende Verfassung. Der Bürger war ursprünglich der gewe-
sen, der innerhalb der Mauern einer Burg lebte; der Stadtbewohner,
der sich durch Mauern vom Land und damit auch vom dort vorherr-
schenden Feudalsystem abgrenzte. In der Stadt hatten immer schon
andere Regeln gegolten. „Stadtluft macht frei”, hatte es im Mittelal-
ter geheißen. Wem es gelungen war, sich in einer Stadt niederzulas-
sen, der war damit aus dem feudalen Herrschaftssystem in gewisser
Weise herausgelöst; lebte in einer bürgerlichen Enklave inmitten ei-
ner feudalen Umgebung. In der bürgerlichen Gesellschaft wurde der
Bürger zum Regelfall. Unterschiede von Geburt sollten keine Gel-
tung mehr haben. Unterschiede sollten sich allein auf die Unterschie-
de der Leistung gründen, zu der alle die gleichen Chancen haben
müssten. Von Rechts wegen sollte jeder jedem gleichgestellt sein.

74
Schwarze Pädagogik

Und alle sollten frei sein, sich auf selbst bestimmte Weise am gesell-
schaftlichen Leben zu beteiligen. Die Demokratie hob alle Standes-
unterschiede auf, die von einer fiktiven absoluten Macht geschaffen
wurden.
Die zunehmende ökonomische Bedeutung der neuen bürgerli-
chen Klasse gegenüber den alten feudalen Ständen führte daher im
18. Jahrhundert zu tiefgreifen Veränderungen in den gesellschaftli-
chen und politischen Verfassungen der ökonomisch fortgeschritte-
nen Länder. Rechtliche Gleichheit, das heißt Abschaffung der Un-
gleichheit von Geburt (Natur), Freiheit von feudalen Bindungen –
dies waren Forderungen des Bürgertums, die sich letztlich nur durch
eine Revolutionierung der gesellschaftlichen und politischen Verfas-
sung umsetzen ließen. Das herausragende Ereignis dieser Zeit war die
Französische Revolution von 1789; auch wenn es einige Jahrzehnte
dauerte, in Deutschland sogar bis zum Jahr 1918, bis die Demokratie
sich als die der Bürgerlichen Gesellschaft gemäße Staatsform durch-
setzte.

3.3.4 Geistig-kulturelle Umwälzungen (Beginn der Moderne)


Kulturell wurde maßgeblich, dass es die Kraft des Geistes sein sollte,
durch die Menschen sich zu Menschen fortan bestimmen. Der
Mensch wurde „Subjekt”: der, der allem zugrundeliegt (lat. subiec-
tum: das Zugrundeliegende), auf den alles zurückführbar ist; Herr
seiner selbst. Und Herr der Natur, sowohl der äußeren als auch der
inneren. Der Gedanke der Autonomie, der Fähigkeit und des Rechts,
sich die Gesetze und Regeln des Handelns selbst zu geben, wurde
maßgeblich.
Diese Umwälzungen hatten eine mehrhundertjährige Vorge-
schichte. Sie setzten bereits ein mit dem Beginn der Neuzeit, das
heißt im Jahrhundert der Entdeckung Amerikas und mit der Renais-
sance. Ihren Durchbruch erfuhren sie allerdings erst in der zweiten
Hälfte des 18. Jh.. Dabei verlief die Entwicklung durchaus asynchron
in den Ländern. Führend waren England, Frankreich und die Verei-

75
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

nigten Staaten von Amerika. Deutschland brauchte rund hundert


Jahre, um seinen ökonomischen und politischen Rückstand aufzuho-
len. Auf geistig-kulturellem Gebiet dagegen waren es gerade deutsche
Philosophen, welche dem neuen Selbstbewusstsein als Subjektbe-
wusstsein Ausdruck verliehen (Kant, Fichte, Hegel, Schelling).

Bevor ich nun wieder auf die Pädagogik zu sprechen komme, hören
Sie wieder Bach, den 2. und 3. Satz des 3. Brandenburgischen Kon-
zerts, von dem Sie eingangs den ersten Satz hörten. Diesmal alledings
in einer merkwürdigen Variante. Achten Sie auf den Begleittext, den
ich der Plattenhülle entnommen habe.

Musik:
Johann Sebastian Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 3, G-Dur
(BWV 1048). 2. Satz: Adagio (Kadenz). 3. Satz: Allegro.
Walter Carlos am Moog-Synthesizer

Diese Schallplatte ist ein absolutes Novum. Sie ist weder eine „Dreißigzentimeterste-
reoklassiklangspielplatte“ noch eine simple „dufte Popscheibe“. Wer also dem gewal-
tigen Thomaskantor nur in mystischer Klausur und enger Mensur begegnen mag,
als „Wort Gottes“-Ersatz auf Originalinstrumenten, der zucke zurück. – Wer da an-
dererseits glaubt, ein maniriertes, oberflächliches „Dubdadeduuuhh“ Geriesel als
wohltuend entspannende Ohren und Seelenspülung rezeptfrei zu beziehen, auch der
sei gewarnt. Hier wütet kein drummer, zwitschern keine shugarbabies, seufzt kein
melancholisch gestreicheltes Becken. Die Bach-„Titel“ sind genau nach der Origi-
nalPartitur aufgenommen. Wer jedoch aufgeschlossen genug ist, musikalisches Neu-
land zu betreten, mit Bach in neue Klangdimensionen vorzustoßen, wer Experimen-
te nicht scheut und Musik oder fantastische Stereotechnik oder beides zusammen
liebt, den können wir entwarnen. Mehr noch: wir können ihm ein einmaliges Aben-
teuer, eine galaktische Klangraumfahrt anbieten bis an die – bei uns leider so ferne
– Grenze zwischen „E“ und „U“, wo das Ernsthafte unterhaltend wird und umge-
kehrt. Auf denn, folgen wir J. S. Bach auf seinen Abenteuern im Land der Elektro-
nen. It's exciting! It's revolution! It's an exciting revolution! …
Glanzstück der Platte ist unstreitig das Brandenburgische Konzert Nr.3 in G-
dur. Die Bezeichnung der Originalbesetzung lautet: „Tre Violini, tre viole, e tre Vio-
loncelli col Basso per il Cembalo“, also neunstimmiges Streichorchester + Cembalo.
Hierbei wechseln häufig Sologruppen mit dem Tutti ab. Als Überleitung vom 1.
zum 2. Satz schrieb Bach nur eine „phrygische“ Kadenz (2 Akkorde), die dem Cem-
balospieler Gelegenheit zur Improvisation gab. In der Konzertpraxis unterbleibt dies
zumeist, hier aber ziehen Walter Carlos und Benjamin Folkman alle Register ihres
Wunderapparates und bringen eine hinreißende Demonstration seiner wie ihrer Fä-

76
Schwarze Pädagogik

higkeiten zuwege: die faszinierende Mischung von „modern sound“ und barockem
Stilgefühl. Der 3. Satz ist ein überschäumender Kehraus – der Genius Bachs und die
Elektronen sprühen nur so. Befreit von der Erdenschwere des großen Orchesters,
ungehemmt von gravitätsbefrachteter Leiblichkeit und sprödem, widerstandsetzen-
dem Material offenbart Bachs Musik bei klarster Linienführung aller Stimmen ein
wesentliches Merkmal, das gerade die Jazz und Unterhaltungsmusik unserer Tage …
an ihr fesselt: „Bach swingt“!
Ich möchte Sie besonders auf eine Textstelle des Begleittextes auf-
merksam machen: „Befreit von der Erdenschwere des großen Orche-
sters, ungehemmt von gravitätsbefrachteter Leiblichkeit und sprö-
dem, widerstandsetzendem Material offenbart Bachs Musik …“
In der herkömmlichen Aufführungspraxis muss sich die Form am
Material verwirklichen. Am Klang von Orchesterinstrumenten hat
das Material Anteil, aus dem sie sind: Holz, Haare, Metall, Därme.
Der Musiker arbeitet sich an diesem Material ab, müht sich, ihm sei-
nen spezifischen Klang zu entlocken, das Instrument zum Singen zu
bringen. Musik ist – ihrer technischen Seite nach betrachtet – noch
weitgehend Handwerk; gebunden an die Möglichkeiten, welche das
Naturmaterial bietet, und an die Fähigkeiten und Begabungen, die in
der Leiblichkeit des Musikers schlummern. Das 18. Jahrhundert ist
das Jahrhundert, in dem das Handwerk von der industriellen Pro-
duktionsweise abgelöst wird; in dem die Produktion sich „befreit von
der Erdenschwere“ der Landarbeit, nicht weiter „gehemmt“ von der
Leiblichkeit der arbeitenden Menschen „und sprödem, widerstand-
setzendem Material“. Maschinen und Kunststoffe treten ihren Sie-
geszug an.
Eine solche Wende vollzieht sich jetzt auch in der Musik. Sound-
und Rhythmus-Maschinen beginnen Ende der 60er Jahre in die Mu-
sik einzudringen; synthetische Klänge verdrängen zunehmend die
Klangwelt der herkömmlichen Musikinstrumente. Sie werden nicht
mehr der Natur entlockt, sondern frei konstruiert. In der Tat: Das ist
in einem gewissen Sinne die Wiederholung des 18. Jahrhunderts auf
dem Gebiete der musikalischen Produktion. Die Form emanzipiert
sich vom Material.

77
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

3.4 Das „pädagogische Jahrhundert“


Im Zusammenhang dieser Emanzipation, deren historischer Ort das
18. Jahrhundert war, ist nun auch die Erziehung zu sehen. Erziehung
ist seitdem nicht mehr die Hege und Pflege eines sich von selbst voll-
ziehenden Entwicklungsprozesses; nicht mehr bloß die Einpassung
in vorhandene Strukturen von Herrschaft, häuslicher Ordnung und
Arbeit. Sondern Erziehung heißt jetzt: aus einem Menschen etwas
machen; genauer: nicht lediglich „etwas“, sondern im vollen Sinne
erst einen „Menschen“ machen.
Wir haben Auszüge aus Texten der Schwarzen Pädagogik gelesen.
Man mag denken, dies seien Verirrungen gewesen; Auswüchse päd-
agogischen Denkens.
Deshalb möchte ich jetzt einen Autor zu Worte kommen lassen,
der zu den ganz Großen der Geistesgeschichte zählt und dessen Den-
ken bis heute als richtungweisend nicht nur für die Philosophie, son-
dern für das moderne wissenschaftliche Selbstverständnis insgesamt,
also auch der Naturwissenschaften, gilt: Immanuel Kant. Als Kant
um 1800 herum an der Universität Königsberg Philosophie lehrte,
gehörte es zu seinen Aufgaben, im Wechsel mit anderen Philosophie-
professoren immer wieder auch eine Vorlesung über Pädagogik zu
halten.
In seiner Pädagogik-Vorlesung sagte Kant:
„Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die
Erziehung aus ihm macht.“ (Kant 1803, S. 699)
Und damit gar nicht erst das Missverständnis aufkommen konnte, es
sei hier eine Erziehung durch die Natur oder durch Gott gemeint,
fährt er fort:
„Es ist zu bemerken, daß der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch
Menschen, die ebenfalls erzogen sind.“ (ebenda)
Der Satz, dass der Mensch nur Mensch werden könne durch Erzie-
hung, heißt also zugleich, dass der Mensch nur Mensch werden kön-
ne durch den Menschen.

78
Schwarze Pädagogik

Kant bringt damit das bürgerliche Selbstverständnis seiner Zeit


zum Ausdruck: Wir sind, was wir aus uns machen. Nicht etwa Gott
macht uns zu Menschen. Auch die Natur macht uns nicht zu Men-
schen. Wir werden nicht als Menschen geboren, sondern im Zustand
der „Wildheit“.
„Wildheit ist die Unabhängigkeit von Gesetzen. Disziplin unterwirft den Menschen
den Gesetzen der Menschheit, und fängt an, ihm den Zwang der Gesetze fühlen zu
lassen. Dieses muß aber frühe geschehen. So schickt man z.E. Kinder anfangs in die
Schule, nicht schon in der Absicht, damit sie dort etwas lernen sollen, sondern damit
sie sich daran gewöhnen mögen, still zu sitzen, und pünktlich das zu beobachten, was
ihnen vorgeschrieben wird, damit sie nicht, in Zukunft, jeden ihrer Einfälle würklich
auch und augenblicklich in Ausübung bringen mögen.
Der Mensch hat aber von Natur einen so großen Hang zur Freiheit, daß, wenn
er erst eine Zeitlang an sie gewöhnt ist, er ihr alles aufopfert. Eben daher muß denn
die Disziplin auch, wie gesagt, sehr frühe in Anwendung gebracht werden, denn
wenn das nicht geschieht, so ist es schwer, den Menschen nachher zu ändern. Er folgt
dann jeder Laune. Man sieht es auch an den wilden Nationen, daß, wenn sie gleich
den Europäern längere Zeit hindurch Dienste tun, sie sich doch nie an ihre Lebens-
art gewöhnen. Bei ihnen ist dieses aber nicht ein edler Hang zur Freiheit, wie
Rousseau und andere meinen, sondern eine gewisse Rohigkeit, indem das Tier hier
gewissermaßen die Menschheit noch nicht in sich entwickelt hat. Daher muß der
Mensch frühe gewöhnt werden, sich den Vorschriften der Vernunft zu unterwerfen.
Wenn man ihm in der Jugend seinen Willen gelassen und ihm da nichts widerstan-
den hat: so behält er eine gewisse Wildheit durch sein ganzes Leben. Und es hilft de-
nen auch nicht, die durch allzugroße mütterliche Zärtlichkeit in der Jugend ge-
schont werden, denn es wird ihnen weiterhin nur desto mehr, von allen Seiten her,
widerstanden, und überall bekommen sie Stöße, sobald sie sich in die Geschäfte der
Welt einlassen.“
(Kant 1803, S. 698)
Was Menschsein ist, dies kann allein die Vernunft bestimmen; sie,
die Vernunft, ist das Vermögen der Autonomie, der Selbstbestim-
mung des Menschen. Deshalb erscheint die Vernunft auch als jene
geschichtlich revolutionäre Kraft, die sich gegen die feudalen Ver-
hältnisse wendet, Verhältnisse, unter denen nicht die Vernunft re-
giert, sondern andere Mächte das Leben bestimmen. Es ist das 18.
Jahrhundert, in welchem die Vernunft sich gegen diese anderen
Mächte durchzusetzen anschickt; das Jahrhundert der Aufklärung,
das „pädagogische Jahrhundert“. Denn dies sei die große, geschicht-
liche Mission der Pädagogik beziehungsweise der Erziehung: dass sie

79
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

die Menschheit zur Vernunft bringe, daher zur Selbst-Bestimmung


und damit zur Vollendung ihrer wahren Menschlichkeit.
Es sei diese Hoffnung, die in die Erziehung zu setzen sei,
„daß jede folgende Generation einen Schritt näher tun wird zur Vervollkommnung
der Menschheit; denn hinter der Edukation steckt das große Geheimnis der Voll-
kommenheit der menschlichen Natur. Von jetzt an kann dieses geschehen. Denn
nun erst fängt man an, richtig zu urteilen, und deutlich einzusehen, was eigentlich
zu einer guten Erziehung gehöre. Es ist entzückend, sich vorzustellen, daß die
menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und
daß man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist. Dies
eröffnet uns den Prospekt zu einem künftigen glücklichern Menschengeschlechte.“
(Kant 1803, S. 700)
Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem die Einsicht sich
endlich Bahn brach, dass es die Vernunft sei, in welcher die Bestim-
mung des Menschen gründe. Und deshalb ist dieses Jahrhundert
auch das Jahrhundert, in dem diese Einsicht zurückgewandt werden
kann auf die Selbstformung des Menschen, also die Vernunft – wir-
kend durch die Erziehung – sich selbst der menschlichen Entwick-
lung zugrundelegt. Deshalb kann dieses Jahrhundert sich als das
„pädagogische Jahrhundert“ bezeichnen: Es ist das Jahrhundert der
beginnenden Selbstbegründung der Vernunft:
„Daher ist die Erziehung das größeste Problem, und das schwerste, was dem Men-
schen kann aufgegeben werden. Denn Einsicht hängt von der Erziehung, und Erzie-
hung hängt wieder von der Einsicht ab.“ (Kant 1803, S. 702)
Diese Einsicht der Vernunft in ihre geschichtliche Mission und in die
daraus resultierende Aufgabe der Erziehung ist eine Einsicht, die ge-
schichtlich erst spät auftrat.
„Welch große Kultur und Erfahrung setzt … nicht dieser Begriff [der Erziehung]
voraus? Er konnte demnach auch nur spät entstehen, und wir selbst haben ihn noch
nicht ganz ins reine gebracht.“ (Kant 1803, S. 703)
Inzwischen sind rund zweihundert Jahre vergangen, in denen die
Pädagogik reichlich Zeit hatte, mit dem Begriff der Erziehung und
das heißt mit sich ins reine zu kommen. Man wird nicht behaupten
können, dass ihr dies gelungen ist. Und es ist die Frage, ob ihr dies
überhaupt soweit gelingen kann, dass sie schließlich einen in sich wi-
derspruchsfreien Begriff von der Erziehung gefunden haben werde,
80
Schwarze Pädagogik

der eine ebenso in sich widerspruchsfreie Praxis der Erziehung be-


gründen könne.
Denn der Kantische Selbstbegründungszirkel der Vernunft (Ein-
sicht hängt von Erziehung, und Erziehung hängt wieder von Einsicht
ab) hat schon ihm selbst die Frage aufgeworfen, wie in diesen Zirkel
hineingefunden werden könne. Das neugeborene Kind verfügt noch
nicht über die Vernunft, die Kant hier meint. Deshalb muss die Er-
ziehung zur Vernunft es erst bringen.
Aber das setzt voraus, dass die erziehenden Personen selbst von
nichts anderem geleitet werden als von Vernunft, dass ihre Erziehung
bereits von nichts anderem geleitet wurde als von Vernunft und so
zurück durch alle Erzieher-Generationen hindurch bis an den An-
fang der Menschheit. Kant selbst hatte aber darauf hingewiesen, dass
die Entdeckung der Vernunft als der allein legitimen geschichtsbil-
denden Macht erst spät, nämlich erst in seinem, dem 18. Jahrhundert
erfolgte. Weshalb er auch die faktische Unvollkommenheit aller real
existierenden Pädagogik zugeben muss und sich für die Realisierung
ihrer idealen Bestimmung ein „Wesen höherer Art“ als Erzieher vor-
stellen muss:
„Wenn einmal ein Wesen höherer Art sich unserer Erziehung annähme, so würde
man doch sehen, was aus dem Menschen werden könne.“ (Kant 1803, S. 699)
Ein solches „höheres Wesen“ außerhalb oder oberhalb der Mensch-
heit jedoch kann nicht angerufen werden. Kant selbst hat gesagt: Nur
durch Menschen können Menschen erzogen werden. Die Menschen
selbst also müssen sich – durch Erziehung – zu immer höheren We-
sen entwickeln. Der Selbstbegründungszirkel der Vernunft ist daher
– bezogen auf die Erziehungsrealität – nur eine regulative Idee, etwas,
zu dem hin die Erziehung sich vervollkommnen solle, ohne dass zu
sagen sei, wie und wodurch denn letztlich die Unvernunft tatsächlich
aus der Welt zu vertreiben sei.
So entsteht eine spezifische Differenz zwischen Erziehungsidee
und Erziehungsrealität. Eine Erziehungsrealität, die – jedenfalls vor-
läufig – nicht von idealen Erziehern bestimmt wird, vermittelt kei-

81
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

neswegs nur die Ansprüche der Vernunft. Faktisch ist sie erst einmal
Vollzug eines asymmetrischen Verhältnisses, innerhalb dessen die Er-
ziehenden die Macht haben, ihre Vorstellungen von einer „richtigen“
und „guten“ Entwicklung gegenüber den Erzogenen durchzusetzen.
Die Idee der Erziehung, wie sie in Kants Selbstbegründungszirkel der
Vernunft enthalten ist, dient der Legitimation dieser Asymmetrie,
daher der Legitimation der Macht und – gegebenenfalls – der Ge-
walt, die sich darin manifestiert.
Und damit sind wir wieder bei der Schwarzen Pädagogik. Denn
eben dies ist ihr Kennzeichen: dass sie in ihrer Grausamkeit gegen die
kindliche Natur sich – ganz im Kantischen Sinne – auf die Vernunft
beruft.
„Wir“, die Menschen, sind nur, was wir aus uns machen – das ist
die Botschaft des im 18. Jahrhundert aufsteigenden modernen
bürgerlichen Selbstbewusstseins. Fähigkeit und Legitimation der
Selbstbestimmung liegen im Vermögen der Vernunft. Nur dass die-
ses „Wir” und „uns” in der Erziehung auseinandergelegt sind in:
„Wir Erwachsene, Erzieher” machen aus „uns”, sprich: unseren Kin-
dern, etwas. „Wir” sind die Subjekte der Erziehung. Und die Kinder
sind ihre Objekte.
Weil aber dies der Subjekthaftigkeit des Menschen widerspricht,
muss diese simple SubjektObjektStruktur modifiziert werden. Wir,
die Subjekte der Erziehung, suchen uns in den Objekten, den Kin-
dern, einen Bündnispartner: die Vernunft. Soweit Kinder vernünftig
sind, sind sie Subjekte; und damit unsere Partner bei der Erziehung.
Objekt der Erziehung bleibt dann die Natur im Kinde. So dass das
Erziehungsgeschäft letztlich gar nicht so sehr eine Polarisierung von
Erwachsenen und Kindern intendiert als vielmehr eine Polarisierung
von Vernunft und Natur, die durch das Kind selbst hindurchgeht
und die durch Erziehung herausgeholt und verstärkt wird. Wenn Sie
sich an die Texte der Schwarzen Pädagogik erinnern, werden Sie fest-
stellen, dass genau dies ein geradezu als tückisch erscheinender We-
senszug dieser Pädagogik ist, dass sie in ihrer Grausamkeit gegen das

82
Schwarze Pädagogik

Kind dieses zugleich auf die eigene Seite zieht und damit in es selbst
den Zwiespalt bis hin zur Selbstverachtung, zum Selbsthass einsenkt.
„Es ist ganz natürlich, daß die Seele ihren Willen haben will, und wenn man nicht
in den ersten zwei Jahren die Sache richtig gemacht hat, so kommt man hernach
schwerlich zum Ziel. Diese ersten Jahre haben unter andern auch den Vorteil, daß
man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren al-
les, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den
Willen benehmen, so erinnern sie sich hernach niemals mehr, daß sie einen Willen
gehabt haben und die Schärfe, die man wird brauchen müssen, hat auch eben des-
wegen keine schlimmen Folgen.
Man muß also gleich anfangs, sobald die Kinder etwas merken können, ihnen
sowohl durch Worte als durch die Tat zeigen, daß sie sich dem Willen der Eltern un-
terwerfen müssen. Der Gehorsam besteht darin, daß die Kinder 1. gern tun, was ih-
nen befohlen wird, 2. gern unterlassen, was man ihnen verbietet, und 3. mit den Ver-
ordnungen, die man ihrethalben macht, zufrieden sind.“
(Aus: J. Sulzer, Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder, 1748, Zit.
n. Rutschky, S. 173 ff.)

3.5 Das antinaturalistische Motiv: Emanzipation


Der widerspenstige Eigensinn der Kinder, gegen den die Schwarze
Pädagogik sich richtet, das ist also der Eigensinn ihrer Natur gegen
den Fremdsinn der Erziehung, der aber zugleich doch nicht das ganz
Fremde, nur von außen Kommende, sondern der Sinn der Vernunft
sein soll. In einer solchen Gegenübersetzung bis hin zur Feindlich-
keit, bis hin zum Krieg zwischen Kind und Erwachsenem, zwischen
Natur und Vernunft, ist der Sinn, den die Vernunft in die Entwick-
lung eines Kindes bringen und der humaner Sinn sein soll, ohne ir-
gendeine positive Beziehung zum „Eigensinn” der kindlichen Natur.
Nicht nur in den Texten der Schwarzen Pädagogik, deren Autoren
größtenteils nicht gerade pädagogische Theoriegeschichte geschrie-
ben haben, sondern auch bei Kant haben wir diese Entgegensetzung
von Natur (als „Wildheit“ und „Rohigkeit“) und Vernunft gesehen.
Um Ihnen zu zeigen, dass hier ein grundlegendes Problem be-
steht, das nicht einfach mit der Empörung über die Verirrungen der
Schwarzen Pädagogik erledigt ist, möchte ich nun einen zweiten gro-
ßen deutschen Philosophen anführen, nämlich Hegel, bei dem sich

83
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

ebenfalls diese Abwehr des kindlichen Eigensinns im Namen der


Vernunft findet.
Eltern, sagt er, hätten die Aufgabe, durch „Zucht ... den Eigenwillen des Kindes zu
brechen, damit das bloß Sinnliche und Natürliche ausgereutet werde” (Werke 7, S.
327). Denn „dies ist der Hauptzweck der Erziehung, daß diese eigenen Einfälle, Ge-
danken, Reflexionen, welche die Jugend haben und machen kann, und die Art, wie
sie solche aus sich haben kann, ausgereutet werde” (Werke 4, S. 332). Indem die El-
tern gegenüber den Kindern „das Allgemeine und Wesentliche ausmachen” (Werke
7, S. 327), das heißt die Vernunft verkörpern, haben sie diesen gegenüber den An-
spruch der „Autorität” auf Gehorsam: „Der Gehorsam ist der Anfang aller Weisheit;
denn durch denselben läßt der das Wahre, das Objektive noch nicht erkennende und
zu seinem Zwecke machende, deshalb noch nicht wahrhaft selbstständige und freie,
vielmehr unfertige Wille den von außen an ihn kommenden vernünftigen Willen in
sich gelten und macht diesen nach und nach zu dem seinigen” (Werke 10, S. 81).
Der „Eigenwille [des Kindes, W. S.] muß durch die Zucht gebrochen – dieser Keim
des Bösen durch dieselbe vernichtet werden” (Werke 10, S. 82). Wobei Hegel an-
scheinend auch brutalere Formen der Züchtigung berechtigt zu sein scheinen, wenn
er sagt, man solle nur „nicht meinen, bloß mit Güte auszukommen” (Werke 7, S.
327).
Wo ist da noch ein Unterschied zur Schwarzen Pädagogik? Hegel hat
ebenso wie Kant sicherlich seinen Einfluss in der deutschen Päd-
agogik. Und zwar bis hinein in die Bildungstheorie H.J. Heydorns,
welche sowohl für meine eigene wissenschaftliche Bildungsgeschichte
als auch generell für die in Darmstadt vertretene pädagogische Tradi-
tion eine große Rolle gespielt hat und noch spielt. Mit dem Namen
Heydorn verbindet sich die junge und besonders hier in Darmstadt
gepflegte Tradition einer „Kritischen Bildungstheorie“. „Kritische
Bildungstheorie“ ist eine pädagogische Theorie, welche es sich zur
Aufgabe macht, die existierende Erziehungs- und Bildungsrealität
nicht etwa an irgendwelchen schönen Idealen zu messen und dann
womöglich zu verwerfen; sondern die versucht, die historisch-gesell-
schaftlichen Bedingungen der Entstehung solcher Ideen und somit
auch die Schattenseiten auszuleuchten, die zu ihrer Verwirklichung
dazugehören.
Rose Boenicke, ehemals Privatdozentin an unserem Institut, heu-
te Professorin in Heidelberg, hat sich in ihrer Habilitationsschrift kri-
tisch mit Heydorns Gesamtwerk auseinandersetzt. Unter anderem
geht es darin auch um Heydorns Bestimmung des Vernunft-Natur-

84
Schwarze Pädagogik

Verhältnisses. Ich möchte eine längere Passage aus Boenickes Schrift


zitieren:
Die Entdeckung der Vernunft sei für Heydorn
… Entdeckung der Naturferne des Menschen. In diesem Sinne wird Natur für Hey-
dorn zum Signum der nicht vollends zu sich selbst gekommenen Vernunft. Sie ist
das schlechthin Entgegengesetzte: „der Mensch ist ... das Gegenteil von Natur” ….
Sie ist Bedrohung, Rohstoff, im Menschen selbst ein ungeformter Rest, eine Verhaf-
tung, die aufzulösen identisch wäre mit seiner Bildung. Programmatisch entwickelt
er diese Vorstellung im Anschluß an Kant als das Ziel, „daß alle Naturanlagen voll-
ständig entwickelt werden, frei von Instinkt, von der Tierheit, als produktives Be-
wußtsein, als schöpferische Entwicklung aller Organe. Die Vernunft kennt keine
Grenzen ihrer Entwürfe, der Mensch soll alles aus sich selber hervorbringen, er soll
glücklich werden.“ …
Diese Aussicht auf Befreiung vom Naturzwang ist das Resultat einer langwäh-
renden Herrschaftsgeschichte, die identisch mit der Perfektionierung der Mittel zur
Naturbeherrschung ist. Natur erscheint bei Heydorn als das, was von Anbeginn an
dem Projekt einer vernunftgeleiteten menschlichen Geschichte entgegensteht und
an deren Widerstand diese Geschichte sich entfaltet. Aus zwei Motiven speist sich
bei Heydorn die beständige Vervollkommnung der Herrschaft über Natur, einmal
dem der Machtakkumulation durch Verfügung über natürliche Ressourcen, ande-
rerseits aus einem Befreiungsmotiv – Natur ist Zwang, Einschränkung, Gefahr, De-
mentierung der Vernunft. In dem Bedürfnis nach Schutz vor der Natur als Gefah-
renquelle und nach Aneignung der Natur als Quelle von Reichtum konvergieren die
Interessen von Herrschenden und Beherrschten. Natur erscheint ihm schließlich im
Zuge der Industrialisierung als summarisch abschaffbar, Naturgeschichte als beend-
bar und damit das als naturwüchsig begriffene, vor keinem Vernunftanspruch legi-
timierte Herrschaftsverhältnis. …
Geschichte ist unter diesem Aspekt für Heydorn über lange Zeiträume hinweg
Fortschrittsgeschichte, sie entwickelt sich über die Opposition zur Natur. Der
Mensch steht mit der „Entdeckung der Vernunft” außerhalb des Naturzusammen
hanges, dieses „Licht, das der Mensch in sich selbst entdeckt” …, bedarf aber eines
langen Prozesses, um die Realität zu erleuchten: „Erst mit dem Bewußtsein von sich
selbst wird der Mensch als Menschheit zu seinem eigenen Schöpfer, der er, ohne es
zu wissen, immer gewesen ist, entkommt er der Natur, einer blinden Verhaftung.”
… Die Chance ist vorhanden, Naturhaftes ganz hinter sich zu lassen: „Der entschei-
dende Weg zur Mündigkeit wird über die Auseinandersetzung des Menschen mit
der Natur geöffnet. (...) Am Ende des Kampfes winkt eine Aussicht, frei zu sein” …,
frei auch von der Determination durch die Natur. Diese Aussicht, so Heydorn, läßt
sich nur über das „Ende von Naturauslieferung” … verwirklichen, über die Mittel
zur Naturbeherrschung begreift sich der Mensch in seiner Sonderstellung. „Indem
die Natur über ihre rationale Bestimmbarkeit erkannt wird, wird diese Erkenntnis
auf den Menschen zurückgeworfen. Das primäre gesellschaftliche Bildungsinteresse
wird als Beherrschung der Natur erkennbar, aber mit diesem Interesse geht ein an-
deres auf. Der Mensch beginnt sich selbst zu ent decken. (...) Mit der Wendung von
der Natur zum Menschen wird die Beendigung der Naturgeschichte des Menschen
angekündigt.” …

85
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Durchgängig wird am Verhältnis zur Natur von Heydorn das Moment von
Kampf und Herrschaft hervorgehoben mit der Perspektive, die Naturgeschichte des
Menschen im Akt einer abschließenden Unterwerfung und Verwandlung der Natur,
„der revolutionären Überwindung der Natur durch den Menschen” …, zu beenden:
„Der elementare Kampf des Menschen mit der Natur geht seinem Ende zu” …. Die
Geschichte dieses Kampfes ist die Bildungsgeschichte der Gattung Mensch. Sie ist
unhintergehbar eine der Naturentfremdung. „Naturtrieb und Reflexion”, schreibt
Heydorn in seiner Marx-Interpretation, „sind unter der Bedingung der Entfrem-
dung auseinandergerissen, müssen auch, solange diese anhält, über den Bildungspro-
zeß ihren Widerspruch austragen, einander vermissen, da die Natur nicht zufällt,
sondern erst über die Stadien einer wachsenden Vergewaltigung wiedergewonnen
werden kann.” … „Ein Weg führt über die Verhaftung, über einen Prozeß, mit dem
wir die Ketten lösen, die natürliche Gewalt überwältigen. Erst mit der Vollendung
dieses Prozesses kann der Mensch sein eigener Zweck werden.” … Dies erst, so Hey-
dorn, wäre Mündigkeit: Sie ist „Befreiung des Menschen durch den Sieg über die
Natur”. … Dies ist die Bedingung, daß Natur, „als Dingheit überwunden, ihren Wi-
derspruch aufgibt. Das Verinnerlichte hebt an zu neuer, versöhnender Gestalt” …
Natur ist menschlich geworden, dem Menschen anverwandelt.
(Boenicke 2000, S. 122-124)
Heydorns Bildungstheorie ist von einer nahezu emphatischen Hu-
manität geprägt. Und doch findet sich auch bei ihm diese kompro-
misslose Fronstellung gegen die Natur, auch gegen die innere Natur
des Menschen. Emanzipation ist das Motiv dieses Antinaturalismus:
Emanzipation von den Fesseln, welche die Natur der Entwicklung
der Menschen auferlegt; von schicksalhaftem Verhängnis; von gesell-
schaftlichen Verhältnissen, in denen der Geburtsstand entscheidet
über die Lebens-Chancen.
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass hier auf einen Bildungs-,
nicht auf einen Erziehungstheoretiker Bezug genommen wurde, ob-
wohl es ja um den Erziehungsbegriff geht und der Bildungsbegriff
erst später auf dem Programm steht. Kennzeichnend für den Erzie-
hungsbegriff ist das Moment der Fremdbestimmung; für den Bil-
dungsbegriff hingegen – das nehme ich hier vorweg – das Moment
der Selbstbestimmung.
Nun wird sich trotz dieser eigentlich so deutlich erscheinenden
Unterscheidung schon gezeigt haben: Der pädagogische Erziehungs-
begriff kommt nicht ohne den Bildungsbegriff und das heißt ohne
die Aussichtnahme auf Selbstbestimmung aus. Und an dieser Stelle,
wo es um das Verhältnis der Erziehung zur menschlichen Natur geht,

86
Schwarze Pädagogik

wird dies ganz besonders deutlich. Die Erziehung wird einem Bil-
dungsziel unterstellt, dem Ziel der Bildung der Vernunft zur Mün-
digkeit. Erziehung bezieht ihre Legitimation aus der Aussicht auf Bil-
dung.
Vernunft kann nicht erzogen werden; sie kann nur gebildet wer-
den. Aber um sie bilden zu können, muss die Natur des Menschen
diszipliniert, unter Kontrolle gebracht werden. Die Absicht, einen
Menschen durch die Vernunft und nicht durch seine Natur das wer-
den zu lassen, was er sein kann, bringt Erziehung in dieses Oppositi-
onsverhältnis gegen die Natur. Weil Bildung intendiert ist, wird Er-
ziehung gewaltförmig, so ließe sich die zugrundeliegende Paradoxie
ausdrücken. Ich wiederhole an dieser Stelle ein Zitat Heydorns, das
ich schon in der vorigen Vorlesung im Zusammenhang mit der an-
tipädagogischen Frage nach der Gewaltförmigkeit und Notwendig-
keit der Erziehung vorgetragen hatte:
„Erziehung ist das uralte Geschäft des Menschen, Vorbereitung auf das, was die Ge-
sellschaft für ihn bestimmt hat, fensterloser Gang! Mit der Erziehung geht der
Mensch seinen Weg durch das Zuchthaus der Geschichte. Er kann ihm nicht erlas-
sen werden. Im Begriff der Erziehung ist die Zucht schon enthalten, sind Einfügung,
Unterwerfung, Herrschaft des Menschen über den Menschen eingeschlossen, be-
wußtloses Erleiden.” (Heydorn 1970, S. 9)
Erziehung, so verstanden, ist für Heydorn die Bedingung der Mög-
lichkeit von Bildung. Und deshalb, um der Bildung willen, kann sie
dem Menschen nicht erlassen werden.
Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Zusammenhang von Erzie-
hung und Bildung doch immerhin eine überraschende Entdeckung
ist, sind wir es doch in der Pädagogik eher gewöhnt, Bildung als Ent-
wicklung aus Freiheit zu betrachten und Erziehung als deren unfreie
Vorgeschichte. Dass der Zwangs- und Gewaltcharakter von Erzie-
hung aber möglicherweise gerade daher rühren könnte, dass Bildung
ihr folgen und sie begleiten soll, ist nicht unbedingt der naheliegend-
ste Gedanke.
Nun machen Sie sich aber keine Sorgen. Ich bin jetzt keineswegs
umgeschwenkt, um das Hohelied der erzieherischen Gewalt gegen

87
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

die Natur mitzusingen. Noch sind wir unterwegs im Thema; und der
Ausgang sollte vorläufig noch offen sein – jedenfalls für Sie. Das letz-
te Wort ist keinesfalls gefallen. Ganz kurz möchte ich Sie jetzt vorbe-
reiten auf das, was in der nächsten Vorlesung folgt.
Die Schwarze Pädagogik hat sich gegen den „Eigensinn” der
menschlichen Natur gewandt. Dies geschah im Namen der Ver-
nunft. So auch begründeten sich Kants Propagierung der Disziplin
gegen die „Rohigkeit“ und „Wildheit“ des unerzogenen Kindes, He-
gels Abwehr des Eigensinns und Heydorns Misstrauen gegen jede
Pädagogik, die sich auf die Natur des Kindes beruft.
Wenn ich Ihnen nun sage, dass ich im Jahre 1988 eine Habilita-
tionsschrift eingereicht habe, die den Titel trug: „Der Eigensinn des
Lernens”. Untertitel: „Die Dialektik der menschlichen Natur und ihr
Bildungsschicksal in Familie, Schule, Arbeit und Staat”, dann wer-
den Sie sich darauf sicher den zutreffenden Reim machen können,
dass ich gegen die bisher referierten Positionen gerade auf einem „Ei-
gensinn” der menschlichen Natur beharre, der im Namen der Bil-
dung nicht etwa „auszureuten” wäre, wie Hegel verlangte, sondern
den es in Bildung zu entfalten gälte.
Über diesen „Eigensinn” der menschlichen Natur soll in der
nächsten Vorlesung etwas gesagt werden.

88
Vierte Vorlesung
Leiblichkeit und Vernunft

4.1 Rhythmus
4.2 Mutter Natur?
4.3 Selbstsein der Natur (Böhme)
4.4 Natalität (Arendt)

Musik:
Guem et Zaka – L‘Abeille (1978).
Vom Album „Guem et Zaka“ (1978)

4.1 Rhythmus
Was uns in der Musik wohl am unmittelbarsten ergreift, ist der
Rhythmus. Tanzen und Trommeln stehen am Anfang der Musik.
Der Rhythmus ergreift uns, indem er unseren Leib ergreift. Er setzt
sozusagen, ohne dass wir etwas dazutun, unseren Leib in Bewegung.
Läßt ihn sich mitbewegen, sich ihm hingeben, mit ihm in der Bewe-
gung verschmelzen. Indem der Rhythmus einer Musik unseren Leib
ergreift, ohne irgendeinen Umweg über unser Herz und unseren Ver-
stand, ergreift er uns da, wo wir am meisten Natur sind. Rhythmus
ist die Bewegung der Natur, in die wir leiblich hineingehören. In der
Bewegung der Natur, könnte man daraus folgern, liegen die
Ursprünge unserer Musik.
Von welcher Natur spreche ich aber, wenn ich über den Rhyth-
mus ihrer Bewegung spreche?
Rhythmen finden wir in der Natur vor. Der Tag-Nacht-Rhyth-
mus; der Rhythmus der Jahreszeiten. Es gibt auch die Melodie des

89
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Windes, die Melodie eines Baches. Das ist die Musik der Natur, die
außer uns ist; eine Musik, die sich uns mitteilt (wir machen sie nicht)
und doch erst in unserer Wahrnehmung zur Musik wird; Musik der
Natur, die wir aufnehmen, gestalten – und so zu einem kulturellen
Phänomen werden lassen.
Was erfahren wir, wenn wir von einem Rhythmus erfasst werden?
Wir erfahren eine Resonanz. Wie der Gitarrenkörper in Resonanz ge-
rät, wenn eine Saite angeschlagen wird, so gerät unser Leib in Reso-
nanz, wenn er einen Rhythmus wahrnimmt. In ihm, im menschli-
chen Leib, schläft sozusagen der Rhythmus, der erweckt wird, wenn
die Trommel geschlagen wird. Nicht nur die Natur außer uns birgt
Musik. Ebenso, ja mehr noch ist es unsere innere Natur, der mensch-
liche Leib, dem Rhythmus innewohnt. Viele unserer ursprünglichen
und fundamentalen Lebensäußerungen und Bewegungen sind ganz
natürlich rhythmisch: der Herzschlag, der Atem, Laufen, Schwim-
men …
Erwacht dieser Rhythmus in einem Menschen zur Musik, dann
kann er sich seiner Umgebung mitteilen, zum Beispiel im Tanz oder
im Trommeln und meist in beidem zusammen. Denn der Tanz folgt
der Trommel; und auf der Trommel tanzen die Hände. Der Tanz der
Hände auf der Trommel setzt den Leib des anderen, des tanzenden
Menschen, in Bewegung. So vermitteln sich die Bewegungen, die
Rhythmen zweier Menschen; eine Vermittlung, die sicher keine päd-
agogische ist (außer im Tanzunterricht); und sehr nahe an der Natur.
Ich zitiere aus einem Buch von Jean-Martin Büttner. Titel: „Sän-
ger, Songs und triebhafte Rede. Rock als Erzählweise“. Er schreibt:
„Messungen in Discotheken haben ergeben, daß die häufigsten Rhythmen auf der
Tanzfläche dem menschlichen Puls entsprachen; Tanz den Herzschlag. Thomas
Verney … referiert die These, ‚daß die Urerinnerung an den mütterlichen Herz-
schlag auch viele unserer musikalischen Neigungen erklärt. Alle bekannten Trom-
melrhythmen […] entsprechen einem von zwei Grundmustern, entweder dem
schnellen Trappeln von Tierhufen oder dem gemessenen Schlag des menschlichen
Herzens […] In der ganzen Welt [überwiegt] der Herzschlag-Rhythmus, sogar bei
den noch heute existierenden Jägervölkern.‘“ (Büttner 1997, S. 399)

90
Leiblichkeit und Vernunft

Das Wort Rhythmus stammt aus dem Altgriechischen und hieß dort
soviel wie Bewegung, Fluss, Fließen; aber auch die Begrenzung der
Bewegung, ihre Teilung in gleiche Stücke; der Takt. Dieses Wort
wiederum ist lateinisch (tactus) und heißt Schlag. Der Schlag auf die
Trommel initiiert Bewegung, indem er sie teilt. Rhythmus ist ja nicht
das gleichförmige Mitfließen in einer Bewegung, sondern enthält die
Beendigung und Wiederaufnahme der Bewegung, die Unterbre-
chung und die Wiederholung. Und wenn man nun diesen Aspekt des
Rhythmus‘, den Takt, betrachtet, dann fällt etwas auf: Es kommt
Metrik ins Spiel. Der Takt eines Rhythmus‘ lässt sich nur in Zeitma-
ßen und Zählfolgen erfassen. Ausgerechnet da, wo wir unserer inne-
ren Natur am nächsten zu sein scheinen, taucht das Zeitmaß, die
Zahl und mit ihr die Mathematik auf, das heißt jene Disziplin, auf
der alle Naturwissenschaft und Technik beruhen. (Das gilt selbstver-
ständlich ebenso für Harmonie, Melodik undsoweiter; ich möchte
aber hier beim Rhythmus bleiben.)
Ich werde auf diese erstaunliche Nähe von Natur und Technik in
einer späteren Vorlesung noch einmal zurückkommen. An dieser
Stelle möchte ich nur aussprechen, was sich hier andeutet: dass die
Natur der Menschen nicht etwas der Technik ganz Fernes ist, son-
dern sich im Gegenteil eine Nähe zeigt, welche uns nötigt, über Na-
tur möglicherweise ganz anders zu denken, als viele von uns meinen,
wenn sie größte Naturnähe in größter Technikferne vermuten.
Meine These ist: Unsere innere Natur (und damit meine ich un-
sere Leiblichkeit) befindet sich in einem Resonanzverhältnis zur äu-
ßeren Natur. Musikalische Rhythmik ist ein direkt erfahrbares Bei-
spiel dafür.
Mit dem Musikstück zu Beginn der heutigen Vorlesung wollte
ich also zunächst bei Ihnen selbst eine leibliche Erfahrung auslösen,
welche sehr nahe an unsere innere Natur geht. Das war gedacht als
eine Heranführung an unser heutiges Thema: Leiblichkeit und Ver-
nunft.

91
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Allerdings geht es uns um innere Natur im Zusammenhang mit


Pädagogik und Erziehung. Also um solche Fragen: Wie geht Erzie-
hung mit der inneren Natur der Menschen um? Oder: Wie bezieht
Erziehung sich auf diese innere Natur? Man könnte auch fragen: Wer
macht in der Erziehung die Musik? Wer gibt den Takt an? Die Natur
– wie naturalistische Positionen meinen, zu denen ich auch die An-
tipädagogik rechne? Oder die Vernunft – wie rationalistische Positio-
nen verlangen, deren extreme Ausprägungen sich in der Schwarzen
Pädagogik finden?

4.2 Mutter Natur?


Wenn wir im Zusammenhang mit Erziehung von Natur sprechen,
muss unbedingt geklärt werden, was mit diesem Begriff gemeint ist.
Denn hier sind große Missverständnisse möglich. Wir sollten mit ei-
nem alltagssprachlichen Verständnis beginnen: Natur ist, was ohne
menschliches Zutun existiert.
Um eines gleich festzuhalten, damit die NaturwissenschaftlerIn-
nen unter Ihnen gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen: Wer
überhaupt nicht von Natur in diesem Sinne redet, das sind die Na-
turwissenschaften. Naturwissenschaftler reden über etwas ganz ande-
res als über das, was ohne menschliches Zutun existiert. Sie reden
über Experimente; sie reden über das, was im Labor geschieht; sie re-
den darüber, was sie aus dem gemacht haben, wozu sie das gezwun-
gen haben, wie Natur auf menschlichen Eingriff reagiert. Darüber,
was man aus ihr machen könnte. Sie nehmen die Natur auseinander
und reden über die Bruchstücke. Und wie man sie anders wieder zu-
sammensetzen könnte. Die Natur, von der sie reden, gibt es nicht,
außer man stellt sie her.
Die Naturwissenschaften sind einerseits Grundlagendisziplinen
der Technik. Ihre technische Anwendung ist möglich, weil sie ande-
rerseits selbst schon technisch strukturiert sind. Die Naturwissen-
schaften zeichnen sich nicht gerade durch ein kontemplatives Ver-
92
Leiblichkeit und Vernunft

hältnis zur Natur aus; eher durch ein sehr energisch zupackendes. Da
wird der Natur mit immer gewaltigeren Apparaturen zu Leibe ge-
rückt. Und längst herrscht ja wissenschaftliche Übereinstimmung,
dass die naturwissenschaftliche Beobachtung der Natur diese keines-
wegs unangetastet lässt. Eine Spur des beobachtenden Eingriffs steckt
noch im Ergebnis der Beobachtung.
Die technische Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse
hat uns nun die Ökologieproblematik eingehandelt. Darin steckt ein
wichtiger Hinweis: Es gibt eine Differenz zwischen der „Natur“ der
Naturwissenschaften und der Natur, die ökologisch zum Problem
wird. In der Ökologie-Diskussion wird in anderer Weise von Natur
gesprochen als in den Naturwissenschaften. Es ist die Rede von Na-
turzerstörung, von einer Entfremdung von der Natur, von wachsen-
der Naturferne (zu der gerade die Naturwissenschaften ja Erhebliches
beitragen). Ich möchte diese Rede von der Naturzerstörung aufgrei-
fen.
Was wird zerstört?
Sicher nicht die Natur, von der die Naturwissenschaften reden.
Die Natur der Naturwissenschaften kann gar nicht zerstört werden.
Noch die schlimmste Umweltkatastrophe oder die atomare Spren-
gung unseres Planeten wäre Bestätigung von Naturgesetzen. Sofern
Natur sich in solchen Gesetzen hinreichend fassen ließe, wäre sie un-
zerstörbar. Zerstört werden kann nur etwas, das einen wesentlichen
inneren Aufbau, einen inneren Zusammenhang hat.
Natur wird also in der Ökologie-Debatte als Zusammenhang ge-
sehen; als ein Zusammenhang, den wir für erhaltenswert ansehen,
weil er für uns etwas Wertvolles oder Sinnvolles darstellt; und zwar
etwas äußerst Sinnvolles: die menschliche Existenz einschließend,
nicht ausschließend.
Damit rücken wir selbst, als Menschen, als Gattung, als handeln-
de Wesen in diesen Zusammenhang ein. Wenn wir von Natur spre-
chen, dann sprechen wir also nicht über dieses und jenes Stück Na-
tur; dann sprechen wir nicht nur von der Natur da draußen. Oder

93
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

von unserer Anatomie. Sondern von unserem eigenen Eingebunden-


sein als natürliche Wesen in einen materiellen Lebenszusammen-
hang. Wir stammen aus diesem Zusammenhang. Und wir sagen Na-
tur dazu, weil es nicht ein von uns selbst hergestellter Zusammen-
hang ist. Weil wir nicht die Konstrukteure, sondern die Geschöpfe
dieses Zusammenhangs sind.
Ist dies die Natur, von der alltagssprachlich die Rede ist? Dasjeni-
ge, das existiert ohne menschliches Zutun? In einem gewissen Sinne:
ja. Denn diese Zusammenhänge, die als erhaltenswert angesehen
werden (man spricht auch von Ökosystemen oder ökologischen
Kreisläufen), sollen von Natur aus existieren. Wir haben sie nicht ge-
schaffen, sondern finden uns in ihnen vor. Andererseits werden sie ja
nur deshalb als erhaltenswert angesehen, weil sie menschliches Leben
in einer positiven Weise mit einschließen; also die Zutat Mensch ent-
halten. Und: Sie können sich nicht von selbst erhalten, wenn wir, die
Menschen, es nicht wollen. Spätestens seit wir die Macht haben, sie
zu zerstören (darum geht es ja in der Ökologieproblematik), existie-
ren sie nicht mehr einfach von Natur, sondern verlangen nach unse-
rem Zutun zu ihrer Erhaltung. Die Zutat Mensch impliziert ein
menschliches Zutun.
In den Naturwissenschaften vergewissern wir uns der Macht un-
seres Zutuns. Sie machen uns zu Konstrukteuren unserer Umwelt
und leisten einen entscheidenden Beitrag zu jener Emanzipation der
Menschheit von den Fesseln, welche unsere Herkunft aus Natur uns
auferlegt. Deshalb gehört ihre enorme Expansion auch in den Zu-
sammenhang der Umwälzungen der Moderne, von denen in der ver-
gangenen Vorlesung die Rede war. Der Geist der Naturwissenschaf-
ten und der Technik war nicht geprägt von dem Motiv, die Natur zu
erhalten, sondern: sich von ihr zu emanzipieren. Naturwissenschaf-
ten und Technik wollten vergessen machen, dass wir Geschöpfe aus
Natur sind. Dass wir Geborene sind. (Heute bemühen sie sich um
eine Wiedererinnerung.) Sie trennten uns von der Natur; durch-
schnitten die Nabelschnur, die uns mit ihr verband.

94
Leiblichkeit und Vernunft

Damit habe ich in Anspielung auf das Leitmotiv, das ich für diese
Vorlesung gewählt habe, in Anspielung an die Geburt eine Metapher
aufgegriffen, die im Reden von der Natur, wo sie als etwas zu Bewah-
rendes beschworen wird, häufig benutzt wird: die Metapher von der
„Mutter Natur“. In ihr wirkt ein „Bild von der Natur als der ernäh-
renden Mutter, dem Organismus, in den man hineinverwoben ist“
(Böhme/Böhme 1985, 34), wirken Vorstellungen von Mutterschaft,
Geburt und Kindheit, welche unseren Naturverlust als eine Art Mut-
terverlust erscheinen lassen.
Übrigens steckt die Metapher schon in den Worten selbst. Natur
stammt vom lateinischen Wort für Gebären (nasci) ab; und das Wort
Materie vom lateinischen Wort für Mutter (mater) bzw. Gebärmut-
ter (matrix). Verfolgen wir also ein wenig die Auslegungen des
Mensch-Natur-Verhältnisses, die mit dieser Metaphorik verbunden
sind.
Dass die menschliche Gattung eine Hervorbringung der Natur in
ihrem Evolutionsprozess ist, ist eine aus moderner Sicht triviale Fest-
stellung. Diese „Geburt“ der Gattung begründet allerdings noch kein
Verhältnis. Ein Verhältnis setzt Getrenntsein voraus. Alle Gattungen
sind Hervorbringungen der Natur; aber für keine andere von ihnen
bedeutet dies den Eintritt in ein Verhältnis zur Natur. Sie alle bleiben
Natur, ungetrennt von dieser.
Das Auftreten der menschlichen Gattung dagegen ist ausgezeich-
net durch die Konstitution eines Verhältnisses der Gattung zu dem,
woraus sie ist, zur Natur. Die Metapher der Geburt stimmt, soweit
sie eine Trennung unterstellt. Sie wird fragwürdig, soweit sie ihre
Vorstellungsbilder aus dem menschlichen Sozialleben nimmt. Natur
ist keine Mutter im sozialen Sinne. Wollte man diese Metapher auf
sie anwenden, so wäre über sie zu sagen, dass sie eine Mutter ist, die
von ihrer Mutterschaft nichts weiß, die gegen ihr Kind daher von ab-
soluter Gleichgültigkeit ist.
Natur ist da, aber nicht für ihr Kind. Ihr Kind nährt sich von ihr,
aber sie nährt nicht ihr Kind. Ihr Kind existiert für sie nicht als eige-

95
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

nes Wesen, um das sie sich zu sorgen hat. Diese Mutter sorgt sich um
gar nichts. Sie ist wie eine Mutter, die nichts weiß von ihrem Kind,
das neben ihr ruht, und es durch eine einzige unwillkürliche Körper-
drehung erdrücken könnte, ohne es zu bemerken.
Mutter Natur hat geworfen, aber nicht entworfen. Die Entbin-
dung des Kindes von der Mutter war daher alles andere als eine na-
türliche Geburt. Dieses Kind hat sich selbst entbunden. Die Geburt
der Menschheit fand statt, als diese begann, sich selbst zu entdecken,
sich als von der (übrigen) Natur getrennte Einheit zu begreifen, sie
sich außerhalb des Paradieses wiederfand, wo sie verurteilt war, selbst
für sich zu sorgen, das heißt zu arbeiten. Erst diese „zweite Geburt“
der menschlichen Gattung aus der Arbeit an ihren eigenen Lebensbe-
dingungen ließ auch die „erste Geburt“, die Geburt aus Natur, zur
„Geburt“ werden (Böhme/Böhme 1985, 146).
„Indem … die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anderes ist als die Erzeugung
des Menschen durch die menschliche Arbeit, also das Werden der Natur für den
Menschen, so hat er [der Mensch] also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis
von seiner Geburt durch sich selbst“. (Marx 1844, 546)
Weder liebt Mutter Natur ihr Kind, noch hasst sie es. Sie hat gar
kein Verhältnis zu ihm, denn sie „weiß“ von keinem Kind. Jedes
Kind aber braucht eine Mutter, die es liebt, die es versorgt, beschützt,
sich seiner Entwicklung annimmt. Es braucht diese Mutter um so
mehr, je geringer seine eigene Macht ist. Es nimmt sich von ihr, was
es bekommen kann, und liebt sie dafür. Es entsteht die Projektion
der guten Mutter Natur, die nährt, kleidet, behaust. Und mehr als
das: die Projektion einer guten Mutter Natur, welche sogar die selbst-
ständigkeit ihres Kindes, „die Ablösung des Kindes zu einem Selbst-
bewusstsein an und für sich, jenseits der Symbiose, selbst will.“ (Böh-
me/Böhme 1985, 143) In dieser Vorstellung verliert „Natur … nie-
mals ihren Charakter, freundliche nutritive Umgebung unseres um
Abgrenzung kämpfenden Einzelorganismus zu sein. Grundlegend
steht dieses Urvertrauen hinter aller philosophischen Teleologie der
Natur“ (Böhme/Böhme 1985, 158), das heißt hinter allen Vorstel-
lungen, die daran glauben, dass in der Natur selbst eine der Mensch-

96
Leiblichkeit und Vernunft

heit wohlgesonnene Kraft wirke, für welche diese Gattung die Krone
der Schöpfung sei.
„Daß Natur die ‚Intention‘ zugerechnet wird, den Menschen zu selbstbewußtem
Dasein sich entwickeln lassen zu wollen …, ist Reflex einer personalistisch stilisierten
Urverbundenheit der Mutternatur mit den Wegen ihres Kindes: Mensch.“ (Böhme/
Böhme 1985, 158)
Aber Mutter Natur bleibt tatsächlich gleichgültig. Sie gibt und
nimmt, sie bewahrt und vernichtet. Mal erscheint sie als gut, mal als
böse und mal als indifferent, ja abgewandt. All dies sind Projektionen
aus der kindlichen Abhängigkeit. Es sind Projektionen einer huma-
nen Idee in die Natur. Mutter Natur kann halt auch sehr böse sein.
Und dann gilt es, sie wieder gut zu machen. Arbeit ist die Wiedergut-
machung einer Natur, die aus sich allein nicht gut genug ist für dieses
Kind. In der geschichtlichen Entwicklung der Arbeit als „zweiter Ge-
burt“ wird die Absetzung von ursprünglicher Natur zur Praxis der
Emanzipation von den Launen, zur Lösung vom „Gängelband“ der
„Mutter Natur“ (Marx). Naturwissenschaften und Technik verschär-
fen dieses Motiv einer Abwendung von der nicht hinreichend guten
Mutter Natur. Es ist nun die Arbeit der Vernunft, welche das
menschliche Dasein von den Fesseln der Natur befreit und so als Ge-
burtshelfer der Gattung zum Werden ihrer selbst verhilft. Wie hatte
Kant gesagt: Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erzie-
hung. Und er kann nur erzogen werden von Menschen.
Unser Verhältnis zur Natur ist also von einer grundlegenden Am-
bivalenz durchzogen. Wir sind Wesen aus Natur, Geschöpfe der Na-
tur. Und alles, was gut für uns ist, misst sich an unserer leiblichen
Zugehörigkeit zu einer Welt, in die wir hineingeboren sind. Aber die-
se Welt ist nicht gut genug für uns (oder wir sind nicht gut genug für
sie): Sie ist nicht das Paradies (und war es auch nie). Natur ist auch
bedrohlich, unheimlich, überwältigend. In ihrem Schoße sind wir
keineswegs geborgen. Wir müssen uns mithilfe unserer Vernunft von
ihr emanzipieren und dürfen doch unsere Bindung an sie nicht ver-
gessen – wie die Ökologieproblematik zeigt.

97
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Die Frage ist: Wie können wir uns vernünftigerweise von der
nicht hinreichend guten Natur emanzipieren, ohne unsere Natür-
lichkeit zu negieren? Gibt uns vielleicht die Natur eine Idee ihrer
selbst, welche von der Vernunft aufgenommen und in menschliche
Praxis umgesetzt werden kann? Dann wäre die Emanzipation von der
Natur zugleich eine Emanzipation zur Natur.

Musik:
Guem et Zaka: Afrique Tango (1978).
Vom Album „Guem et Zaka“ (1978)

4.3 Selbstsein der Natur (Böhme)


In der Tat: Eine solche Idee gibt uns die Natur. Und diese Idee ist
der menschliche Leib. Er ist uns von Natur gegeben. Und er enthält
einen Anspruch an die Güte der Welt, der sich als humane Idee der
Natur fassen lässt.
Was ist Leib? Einleiten will ich meine Überlegungen mit der For-
mulierung von Gernot Böhme, Philosoph an der TU Darmstadt:
Leib sei die „Natur, die wir selbst sind” (Böhme 1992).
Die Dimension des Selbstseins der Natur durchzieht nicht nur
unser leibliches Selbstverhältnis, sondern ebenso unser Verhältnis zur
sogenannten äußeren Natur. Genauer: Selbstsein der Natur heißt:
selbst in Beziehung sein zur äußeren Natur. Diese begegnet uns nur
vermittelt über die leibliche Wahrnehmung. Wir haben keine Leiber-
fahrung, die nicht darin zugleich Erfahrung der äußeren Natur ist;
und wir haben keine Erfahrung der äußeren Natur, die darin nicht
zugleich auch Erfahrung der eigenen Leiblichkeit ist. Das Gesehene
vermittelt uns das Sehen, die Sichtbarkeit der Dinge das Sehvermö-
gen unseres Auges; und das Sehen ist uns nur möglich als Sehen von
etwas, unser Sehvermögen manifestiert sich als Sichtbarkeit der Welt.
Das Auge ist sonnenhaft; aber die Sonne ist auch augenhaft (Goethe).
98
Leiblichkeit und Vernunft

Wir sehen die Welt an und sehen, dass sie sich uns zeigt. Dass wir uns
der Welt zuwenden können, ist auch darin begründet, dass die Welt
uns zugewandt ist. Leiblichkeit ist eine Resonanzerfahrung. Wir wer-
den durch die Welt in „Schwingung” versetzt, und die Welt wird es
durch uns.
Karl Marx sprach, als er seinen Materialismus begründete, davon,
dass der „erste zu konstatierende Tatbestand … die körperliche Or-
ganisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis
zur übrigen Natur“ sei (Marx 1846, 20f.). Er sprach also von einem
Verhältnis der inneren, physischen zur äußeren Natur. Darin ist Be-
dürftigkeit und Kraft angelegt: Angewiesenheit auf eine der inneren
zuträgliche Qualität der äußeren Natur und Fähigkeit, sich zur Be-
schaffung und Aneignung des Benötigten in der äußeren Natur zu-
rechtzufinden. Die innere, physische Natur enthält also in der Be-
dürftigkeit der „körperlichen Organisation” einen Anspruch an die
äußere Natur, aber auch an ihre eigene andere Seite, an ihr Potenzial
an Fähigkeiten und Kräften, diesem Anspruch im Stoffwechselpro-
zess mit der äußeren Natur Geltung zu verschaffen. Eine solche An-
spruchshaltung ist nur der menschlichen Gattung zu eigen; denn nur
sie vermag durch ihr geistiges Vermögen die äußere Natur am Maß
ihrer inneren Natur zu messen und die verborgene Potenzialität der
Natur im Horizont ihrer eigenen Potenziale an Fähigkeiten und
Kräften zu erschließen.
Innere Natur, die menschliche Physis oder Leiblichkeit, ist somit
keinesfalls lediglich der biologische oder physikalische Körper. Der
Leib ist das Zentrum einer von ihm entworfenen idealen Struktur.
Diese ideale Struktur ist jene Natur des Menschen, wie sie in den
Paradiessehnsüchten, den Träumen vom goldenen Zeitalter, auch in
ökologischen Utopien einer herzustellenden Harmonie und Partner-
schaft von Mensch und Natur, des vollkommen Heimatlichwerdens
und Zuhauseseins des Naturwesens Mensch in einer humanen Natur
sich ausdrückt. Sie ist nicht bloße Bedürftigkeit, bloßes Getrieben-
sein des Inneren auf das Außen, des biologisch-physikalischen Kör-

99
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

pers auf die Welt; nicht bloße Funktionalität in einem biologisch-


ökologischen Systemgefüge, sondern das implizite Maß, das der
geschichtlichen Praxis der Menschen in der Organisation ihrer Welt-
bezüge immanent ist. Sie ist das Geltendmachen eines humanen Le-
bensanspruchs gegenüber der Natur im Ganzen.
Die spezifische leibliche Beziehung von äußerer und innerer Na-
tur ist aber einem Menschenwesen nicht einfach unmittelbar gege-
ben, indem es allein der Natur begegnet. Seine erste Begegnung mit
Natur ist die Begegnung mit der eigenen Mutter, und daher ist sie
immer schon zugleich eine soziale Begegnung. Es gibt keine Na-
turerfahrung vor dieser Sozialerfahrung. Deshalb bedeutet Leiber-
fahrung nicht, dass wir erfahren, in einem Körper – wie in einem Ge-
häuse sozusagen – auf diese Welt zu kommen. Sie bedeutet zu
erfahren, dass und wie wir als leibliche Wesen in einer leiblichen
Welt aufgenommen werden.
Die erste Leiberfahrung ist das Erfahren der eigenen Leiblichkeit
im Leibe der Mutter, der ja nicht irgendein äußerer Körper ist, son-
dern die den Leib des Kindes umfangende, ihn haltende und schüt-
zende, nährende Leiblichkeit der Welt. Auch nach der physischen
Trennung durch die Geburt wird dem Kind die Einheit seines Leibes
und dessen Willkommensein in der Welt durch die Leiblichkeit an-
derer Menschen, durch ihre Pflege, Behandlung und Versorgung ver-
mittelt. Das geschieht, noch bevor das Kind selbst sich als leibliche
Einheit weiß, die in eine Beziehung zur äußeren Welt tritt.
„Die Erfahrung des eigenen Leibes und die des Leibes des Anderen durchdringen
sich wechselseitig, sie bilden eine ‚Totalität, sie konstituieren eine Gestalt‘ (Merleau-
Ponty).“ (Meyer-Drawe 1984, S. 181)
Die Erfahrung der Leiblichkeit ist daher nicht einfach eine authenti-
sche Naturerfahrung vor aller sozialen Erfahrung. Sondern Erfah-
rung von Leiblichkeit ist eine sozial vermittelte Naturerfahrung – das
ist ganz wichtig: als Erfahrung der sozialen Zuwendung der Welt
zum eigenen Leib, als materielles Berührtsein von der Welt. Käte
Meyer-Drawe spricht von „Zwischenleiblichkeit“ (1984, S. 181).
Darin liegt Zuwendung und Bejahung. Erst dann kann das Kind die
100
Leiblichkeit und Vernunft

Welt erblicken, wenn es erfahren hat, selbst gesehen zu sein. Erst


dann kann es beginnen, die Welt zu begreifen, wenn es selbst begrif-
fen, also in seiner Leiblichkeit von der Welt empfangen und aufge-
nommen wurde. Wie es der englische Psychoanalytiker David
Woods Winnicott ausdrückte: „Ich werde gesehen, also bin ich.”
Zum Natursein gehört nun aber auch die andere Seite der Leib-
lichkeit, die sich im Schmerz und Leiden an der Welt manifestiert, in
Krankheit und Tod. Dass Menschen Wesen aus Natur sind, heißt
auch, dass sie im Natursein, auch im Selbstsein von Natur nicht ein-
fach harmonisch aufgehen, dass sie in einem gewissen Sinne auch aus
der Natur, die sie sind und die sie umfängt, herausgehen müssen.
Doch ist dies nicht wie in der Schwarzen Pädagogik oder bei Hegel
oder bei Heydorn zu verstehen als Unterdrückung, Überwältigung,
Zähmung, Fesselung der Natur. Noch das Herausgehen aus der Na-
tur ist nämlich ein leibliches. Denn der Leib selbst ist es, dessen Be-
dürfnisse das Herausgehen aus der Natur initiieren und dessen Fä-
higkeiten es ermöglichen.
Arnold Gehlen hat dies Herausgehen der Mängelstruktur des
physisch-biologischen Leibes zugeschrieben, der unzureichend einge-
passt sei in die natürliche Welt, in der er sich vorfindet. Die versuchte
technische Emanzipation von der Natur wäre nach Gehlen demnach
zu verstehen als eine Kritik am menschlichen Leib. Was ich heraus-
stellen möchte, ist demgegenüber die Mängelstruktur der äußeren
Welt angesichts der Ansprüche des menschlichen Leibes, also, dass
die versuchte technische Emanzipation zu verstehen ist als Kritik des
menschlichen Leibes an der Welt. Denn dies scheint mir wesentlich:
Die menschliche Leiblichkeit ist nicht eine irgendwie gegebene Vor-
handenheit des Leibes und seines Verhältnisses zur Welt. Sie birgt
vielmehr die implizite Norm oder Idee einer Welt, die zur vorhande-
nen Welt in Differenz steht. Anders ausgedrückt: Der Leib ist die
materielle Idee einer menschlichen Natur, die erst noch werden
muss, einer utopischen Natur, die anders als die jeweils gegebene in
vollkommener Weise der menschlichen Lebensform entspricht. Die

101
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

hier gemeinte Idee, die der Leib von der Natur in sich trägt, ist das
implizite Maß, das der Leib in der Organisation seiner Weltbezüge
anlegt. Mein Leib, sagt Merleau-Ponty, ist „wie ein natürliches Sub-
jekt, wie ein vorläufiger Entwurf meines Seins im ganzen” (Merleau-
Ponty 1966, 234).
Man könnte daher von einer intentionalen Paradiessehnsucht des
Leibes sprechen. Sie wirkt eine Struktur der Natur, in der wir uns im-
mer schon bewegen und bewegt haben, indem wir uns dessen be-
wusst werden, dass wir es tun. Alle Dinge der Natur erscheinen uns
von vornherein in diesen Zusammenhängen. Die wahrgenommene
Welt ist so wie ein Spiegel unseres Leibes. Unsere Wahrnehmungen
nehmen als wahr an, was unser Leib als wahr zu nehmen uns be-
stimmt, und verkünden uns im Wohlbefinden oder im Schmerz das
Urteil, das er über die Natur jeweils fällt, gemessen am impliziten
Maß der idealen Struktur: Die Natur ist oder sie ist nicht, was sie –
aus Perspektive des Leibes – sein soll und das heißt wie die Natur im
Menschen sich will.
Und noch einmal ist zu betonen, weil es gerade für die Pädagogik
so wichtig ist: Dieses Sich-Wollen der Natur ist sozial konstituiert,
nämlich durch das Wollen des anderen Menschen. Wie ich die Welt
außer mir wahrnehme, das sind Variationen und Modifikationen
dessen, was ich sah, als ich zum ersten Mal der Welt ins Antlitz blick-
te: damals sah ich den auf mir ruhenden Blick des anderen Men-
schen, der mich „hielt” (Winnicott 1990, 30) in der Anfangszeit mei-
nes Lebens. Ich sah diesem Menschen ins Auge, ins Gesicht. Und
damit sah ich auch, was dieser Blick erblickte: nämlich mich, meine
leibliche Gegenwärtigkeit im Arm oder auf dem Schoß dieses Men-
schen. Einen Blick, in dem sich, wenn er nicht gleichgültig ins Leere
sah, sondern wirklich mich in meiner Gegenwart wahrzunehmen be-
reit und fähig war, zugleich meine Herkunft und meine Zukunft,
meine ganze Lebensgeschichte zusammenfasste, wie sie gewollt, emp-
fangen und getragen wurde von diesem Menschen, durch den – wie
immer verwandelt – die Gemeinschaft aller Menschen mich auf-

102
Leiblichkeit und Vernunft

nahm. Wie er mich ansah, mit eben diesem transzendenten Blick


sieht mich seitdem die Welt an. Ich nenne diesen Blick transzendent,
weil er nicht nur sah, was jeweils da war. Sondern weitaus mehr. Er
enthielt Erinnerung und Hoffnung, vielleicht auch Sorge, gar Angst.
Wenn ich von der menschlichen Natur spreche, gibt es eigentlich
kein Innen und Außen, nicht einen Leib hier und eine Welt dort. Die
ganze Welt ist in mir, ich trage diesen Spiegel meiner selbst mit mir
herum, und meine leibliche Anwesenheit strukturiert die ganze Welt.
Was hier dem Leibe zugeschrieben wird, ist eine zwar orientieren-
de, nicht aber ziel- und zwecksetzende Sinngebung für die menschli-
che Weise des Lebens. Dieser Sinn ist nicht vom Ideenhimmel her-
zuholen. Er ist auch keine freie Setzung, sei es als zweckrationaler
Entwurf, als Lebensplan, als geschichtliche Strategie, als dezidierte
Gestaltungsabsicht. Er unterliegt allem, was Menschen tun; ist in die-
sem Sinne das Subjektive im Menschen; der immer schon eingenom-
mene Ausgangspunkt, der nicht verlassen werden, zu dem keine Di-
stanz eingenommen werden kann, um sich ihm in objektivierend
erkennender Absicht gegenüberzusetzen. Er entzieht sich der Reflexi-
on, bleibt im Dunkel und dennoch bewegender Grund. Ich meine,
dass „Eigensinn” ganz gut trifft, was hier herausgestellt werden soll:
Darin steckt das Orientierende und auch Fundierende von Sinn; dar-
in steckt der dem Leibe eigene Sinn für Sinn, die Sinnlichkeit; und
darin steckt die Eigensinnigkeit, mit der der Leib sich der Verfügung
entzieht.
Was ich hier zu formulieren versuche, ist übrigens eine Position
jenseits des traditionellen Gegensatzes von Idealismus und Materia-
lismus. Die Idee der menschlichen Natur, die dem Leib implizit ist,
ist keine Schöpfung des Geistes. Sie ist materiell, insofern sie leiblich
ist; und sie ist ideell, sofern sie darin ein Sollen enthält, das den je vor-
handenen Zustand des leiblichen Weltverhältnisses transzendiert. Sie
ist Aufgabe: das Selbstsein der Natur im Menschen als Aufgabe des
Selbstwerdens, das heißt des Von-selbst- und Zum-selbst-Werdens
der menschlichen Natur. Von-selbst-Werden, weil es sich um eine –

103
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

wenn auch geistig und technisch explizierte – Spontaneität der


menschlichen Natur in ihrer Ursprünglichkeit handelt. Zum-selbst-
Werden, weil eine materielle Welt, die der impliziten Norm mensch-
licher Leiblichkeit entspricht, nicht einfach da und geschenkt ist,
sondern durch Arbeit vernünftig entwickelt werden muss.
Der Eigensinn der menschlichen Natur manifestiert sich als eine
immanente Sehnsucht. Diese Sehnsucht ist nach außen gerichtet, auf
eine Verbindung mit der Welt. Sie ist alles andere als rein selbstbezo-
gen. Sie enthält ein Wollen, das sich an die Welt draußen als Sollen
richtet.
Der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker David Woods
Winnicott hat von einem „ererbten Potenzial“ gesprochen, das jedes
Kind mit auf die Welt bringe (Winnicott 1984, 55). In diesem „er-
erbten Potenzial“ liege eine „Tendenz“ zur Integration, und zwar in
zweifacher Weise:
erstens eine Tendenz zur Integration der verschiedenen Eigen-
schaften, Begabungen und Fähigkeiten, mit denen dieser Mensch auf
die Welt gekommen ist, zu einer personalen Einheit, so dass dieser
Mensch irgendwann wissen kann, was ihn ausmacht, was zu ihm ge-
hört, was ihm zu „eigen“ ist; zweitens eine Tendenz zur Integration in
die vorgefundene Umwelt, sodass dieser Mensch irgendwann wissen
kann, wohin er gehört.
Statt von Integration können wir auch von Vermittlung sprechen.
Dann gibt es – laut Winnicott – in jedem Menschen von Anfang an
ein natürliches Vermittlungsbegehren, ein Begehren, mit der Um-
welt in Kontakt zu treten, sich mit ihr auszutauschen, von ihr aufge-
nommen zu werden. Dazu muss die Umwelt ihrerseits auf das Kind
zukommen. Denn auch sie will ja, dass dieses Kind integriert werde.
Leiblichkeit impliziert also einen sozial vermittelten Zusammen-
hang von individueller Existenz und Weltzustand, der von menschli-
chem Sinn bewegt ist: menschliche Natur auf dem Wege zu sich
selbst; menschliche Natur im Prozess ihrer Bildung.

104
Leiblichkeit und Vernunft

4.4 Natalität (Arendt)


Jede Geburt ist eine Erschütterung der gesellschaftlichen Ordnung.
Sie ist das Einbrechen der Natur in eine Ordnung, die beansprucht,
vernünftig zu sein. Je nach Einstellung kann sich die Konfrontation
mit der Geburt als Bedrohung oder Verheißung darstellen. Wir ha-
ben gesehen, dass für die Schwarze Pädagogik die kindliche Natur
nur Bedrohung sein kann, eine Bedrohung, der man Einhalt gebieten
muss, und zwar mit allen Mitteln. Es gibt eine alte jüdische Erwar-
tung, die besagt, dass mit jedem Kind der Messias geboren werden
kann. Derselbe Gedanke findet sich übrigens auch bei Maria
Montessori, die vom Kind als Erlöser spricht. Anscheinend gibt es
beides: die Erwartung der Satansbrut, des schlechthin Bösen, Rose-
maries Babys, ebenso wie die Erwartung des Gottessohns.
In beiden Fällen wird die vorhandene Weltordnung in Frage ge-
stellt. Mit der Geburt bricht das unvorhersehbar Neue ein. Das Kind
ist die neue Initiative. Die Möglichkeit, dass alles ganz anders werde,
als es ist. Wir werden durch das Kind erlöst vom Bösen; oder es droht
die Vernichtung des Guten.
In der Schwarzen Pädagogik wird dies Neue, das durch die Natur
kommt, nur abgewehrt. Das Gute, das ist die Ordnung. Und Ord-
nung kommt von der Vernunft. Die Natur dagegen ist das Chaos, die
Zerstörung von Ordnung. Dass Natur eine eigene Vernunft in sich
haben könne, die es aufzunehmen lohnt, kann hier nicht in den Blick
kommen.
Das Gegenbild ist das von der Gottgleichheit des Kindes, welches
in seiner noch unverbogenen Natürlichkeit die reine Güte verkörpe-
re, den göttlichen „Bauplan”, wie Maria Montessori sagt.
Irgendwo dazwischen liegt die Einstellung der meisten Men-
schen, verteilt zwischen den Polen, mal mehr zur Seite der Befürch-
tung und Abwehr, mal mehr zur Seite der Hoffnung und des Gewäh-
renlassens.
Die Frage, ob in der Natur des Menschen eher das Gute oder das
Böse liege, unterstellt schon etwas. Sie unterstellt, dass sich in dem,
105
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

was die Kinder an natürlicher Ausstattung mitbringen, bereits das be-


finden könne, was wir als gut oder böse bewerten. Dies tun wir aber
im Hinblick auf einen menschlichen Lebenszusammenhang, der erst
entscheidbar macht, was gut und böse ist. Nicht die Natur an sich
kann also gut oder böse sein, sondern nur, was Natur beitragen kann
zur Gestaltung dieses Lebenszusammenhangs. Dies aber hängt nicht
einfach von der Natur ab, wie sie ist, sondern davon, wie wir Natur
in unseren Lebenszusammenhang aufnehmen. Nicht durch die Ge-
burt also kommt das Gute oder Böse in die Welt. Sondern in der
Antwort auf die Geburt entsteht Gutes und Böses.
Was durch die Geburt in die Welt kommt, ist zweierlei: ein An-
spruch und ein Vermögen. Das Kind braucht etwas und es bringt et-
was mit. Was es braucht, ist: dass seiner Sehnsucht geantwortet wird.
Dass sie eine Resonanz erfährt in der ungestillten, gleichwohl noch
lebendigen Sehnsucht der Erwachsenen. Dass diese daher bereit sind,
das Kind nicht nur aufzunehmen, sondern auch als ein neues Sinn-
zentrum der Welt zu akzeptieren. Dass diese Welt sich (nicht nur,
aber auch) um dieses Kind, um diesen neuen Menschen drehen mö-
ge. Dass sie seinen Eigensinn achten und ihm Raum geben.
Das Kind bringt aber auch etwas mit. Es bringt den Impuls zum
Neuen, zur Erneuerung mit. Sofern es die Erfahrung machen konnte,
dass seine Geburt eine positive Resonanz erfahren hat, wird es sich
seine „Geburtlichkeit” erhalten können. „Natalität” („Geburtlich-
keit”) ist ein Wort, das Hannah Arendt benutzt hat, als polaren Ge-
genbegriff zur „Mortalität” (Sterblichkeit). Hannah Arendt hatte ihn
geprägt als Antwort auf Martin Heideggers Betonung der Sterblich-
keit. Heideggers Kennzeichnung der menschlichen Existenz als eines
„Seins zum Tode“ setzt sie deren Kennzeichnung als eines Seins aus
Geburt entgegen. Die menschliche Existenz ist nicht nur „endlich“,
sie ist auch „anfänglich“.
Hannah Arendt schreibt:
„Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt
nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt,
selbst einen neuen Anfang zu machen, das heißt zu handeln. Im Sinne von Initiative

106
Leiblichkeit und Vernunft

– ein initium setzen – steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tä-
tigkeiten, was nichts anderes besagt, als daß diese Tätigkeiten eben von Wesen geübt
werden, die durch Geburt zur Welt gekommen sind und unter der Bedingung der
Natalität stehen.“ (Arendt 1981, S. 15f.)
Hinzuzufügen ist: Geburt darf hierbei nicht als ein rein biologischer
Vorgang gesehen werden. Geburt ist die Aufnahme der menschli-
chen Natur in einem einzelnen Menschenwesen durch die Gesell-
schaft. In diesem Sinne muss Geburt wirklich stattgefunden haben,
damit diese Kraft des Neuanfangens überhaupt in der Welt bleibt
und dort ihre Wirksamkeit entfalten kann. Wir nennen sie meist
Produktivität oder Kreativität, und sie enthält ein unvorhersehbares
Moment der Spontaneität. Worauf Hannah Arendt hingewiesen hat,
ist, dass diese Kraft etwas mit der Geburt zu tun hat, dass sie Aus-
druck von Natalität ist.
Es geht also nicht um den einmaligen Geburtsvorgang, wenn-
gleich dieser eine besondere fundamentale Bedeutung hat. „Geburt”
findet vielmehr darüber hinaus immer wieder statt. In jedem sponta-
nen schöpferischen Impuls bricht Natur ein und äußert sich Natali-
tät; und immer wieder ist eine Resonanz auf seiten der Gesellschaft
gefordert, damit dieser jeweilige Geburtsakt auch wirklich stattfinden
kann. Diese Resonanz ist Erziehung.

Wie steht es also mit dem Verhältnis von Leiblichkeit und Vernunft?
Ich hatte in der ersten Vorlesung die Unterscheidung gemacht
zwischen Verstand und Vernunft und gesagt, dass zur Vernunft eine
Bezugnahme auf etwas kommen muss, was über die immanenten
Maßstäbe des Verstandes, welche sich in formalen, logischen Bestim-
mungen erschöpfen, hinausgeht. Dieses Hinzukommende ist – so
meine These – jene Idee einer Natur, welche dem menschlichen Lei-
be inhärent ist. Diese Idee kommt mit der Leiblichkeit aus der Natur
und weist insofern zurück auf etwas, das der Bestimmungskraft der
Ratio vorausgeht. Diese Idee weist aber auch über die Natur, wie sie
von sich aus ist, ohne menschliches Zutun, hinaus. Indem die Ver-
nunft sie aufgreift, bindet sie sich in einer Weise zurück an die Na-

107
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

turherkunft des Menschen, an seine Geburtlichkeit, in der sie zu-


gleich über sie hinausgeht. Der leiblichen Idee einer menschlichen
Natur praktisch zu folgen, heißt, etwas dazuzutun, dass die Umwelt
der Menschen nicht nur bleibt, was sie von Natur aus ist, sondern
„humanisiert“ werde.
Mit jeder Geburt kommt erneut ein Mensch zur Welt, der in sei-
ner leiblichen Existenz der Vernunft Maß gibt. Niemals kann und
wird die Humanität der Welt allein an diesem einen Menschen ge-
messen werden können. Aber niemals kann und wird sie human sein,
wenn sie sich nicht an ihm misst.
Der einzelne Mensch, jeder einzelne Mensch, sagt Heydorn, „ist
die ganze Menschheit. … Außerhalb dieses Menschen gibt es keine
Wahrheit, kein Ziel, das seine Opferung rechtfertigt.“ (Heydorn
1970, S. 24f.) Wessen er bedarf und was er vermag, diese jeweilige
Naturmitgift ist in den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang auf-
zunehmen. Das heißt Vermittlung. Darin besteht die Aufgabe der
Erziehung.
Ich versuche abschließend ein Bild, das vielleicht etwas abenteuer-
lich ist. Vielleicht auch nicht.
Erziehung könnte das Trommeln sein, in dem der innere Rhyth-
mus des Kindes aufgenommen und erweckt wird; ein Trommeln, das
die Natur zum Tanzen bringt – und dass dies keine chaotische Bewe-
gung ist, ebensowenig wie das Trommeln chaotischer Lärm ist, ist
evident. Das wäre Erziehung als Resonanzerfahrung: eine Aufforde-
rung zum Tanz.
Wie sagte David Byrne, Sänger der Talking Heads, in einem Kon-
zert der Band:
„If you dance, you might understand the words better.“

108
Fünfte Vorlesung
Einzigkeit und Sozialität

5.1 Die Einzigkeit des Genies und


die gewöhnliche Austauschbarkeit
5.2 Einheit, Trennung, Vermittlung
5.3 Ich, Du und Wir
5.4 Nicht-Identität
5.5 Wahres und falsches Selbst (Winnicott)
5.6 Die Fähigkeit, allein zu sein

Musik:
Wolfgang Amadeus Mozart – Sinfonie Nr. 40 gmoll, KV 550
(1788). 1. Satz: Molto Allegro

5.1 Die Einzigkeit des Genies


und die gewöhnliche Austauschbarkeit
„Gott hat sich über uns lustig gemacht, indem er Mozart als gewöhnliches Wesen
unter uns treten ließ, ohne daß er wenigstens außergewöhnliche Gnadenzeichen an
sich gehabt hätte. Gott macht sich über uns lustig, das ist unerträglich. Man muß
Mozart zerstören.“ (Baudrillard 1989; zit. in Vita Heft 1, 1990)
Das Einzigartige eines Genies wie Mozart, sagt Baudrillard, ist nur
akzeptierbar, wenn es so klar außerhalb des Gewöhnlichen und Nor-
malen steht, dass es sozusagen kein Vertun gibt: dies ist die absolute,
singuläre Ausnahme. Deshalb können wir Mozart bewundern, fei-
ern, vor ihm auf die Knie fallen – er steht außerhalb unserer Welt;
und letztlich werden wir, wenn wir von ihm berührt werden, von et-
was berührt, was nicht von dieser unserer Welt ist.

109
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Dann können wir uns wieder dieser unserer Welt der Gewöhn-
lichkeit und Normalität zuwenden; und dort gibt es keinen Mozart
oder sonst irgendein Genie. Dort gibt es nur die Normal-Sterblichen,
wie man so schön sagt, Menschen wie Dich und mich; Menschen,
die man einordnen kann, die man verstehen kann, die erklärbar sind,
die in die Ordnung passen, der auch wir zugehören.
Das Fatale ist, nach Baudrillard: Man sieht es dem Genie nicht
an. Es sieht irgendwie aus wie jedermann. Es besteht Verwechslungs-
gefahr. Wenn Mozart aussieht wie irgendein Trottel von nebenan,
wenn er sich verhält wie ein nervtötender Spätpubertant, dann könn-
te ja auch im Trottel von nebenan etwas schlummern, wovon uns
nichts ahnt, dann könnte ja auch jede andere Nervensäge möglicher-
weise das Ausnahmerecht der Exzentrizität für sich geltend machen.
Wir könnten uns der gesellschaftlichen Normalität nicht mehr sicher
sein. Überall lauerte die Un-Normalität hinter der Fassade der Nor-
malität. „Gott macht sich über uns lustig, das ist unerträglich. Man
muß Mozart zerstören.“ Entweder gehört er ganz in den Olymp.
Oder er gehört ganz zu uns. Es kann nicht sein, dass das Genie einer
von uns ist. Denn das stellte unsere Gewöhnlichkeit in Frage. Sie
wäre plötzlich ein Problem. Eine Art Makel: Was ist denn aus unserer
eigenen Genialität geworden? Wo ist das Genie geblieben, das wir
hätten werden können?
Nein, es muss für uns wohl so sein: Das Genie ist die Ausnahme,
welche die Regel bestätigt. Es ist „Außenseiter“; denn es steht außer-
halb des Rahmens gesellschaftlicher Normalität. Wir sind diesseits
dieses Rahmens. Das Genie ist „außenseits“.
Immerhin, indem wir es anerkennen, indem wir es sogar bewun-
dern, anhimmeln, geben wir etwas zu. Wir geben zu, dass es ein Le-
ben geben könnte, das „außenseits“ ist, dass das Diesseitige des Nor-
mal-Sterblichen-Lebens nicht alles ist. Leider nur ist uns, die wir uns
diesseits aufhalten, diese „Außenseite“ der menschlichen Existenz
verwehrt. Dort zu sein, ist eine singuläre Gnade, die nur wenigen,
vereinzelten gewährt wird. Und vielleicht ist es ja auch irgendwie be-

110
Einzigkeit und Sozialität

ruhigend, wenn wir feststellen: Dort zu sein, mag Glück bedeuten,


hohes Glück; aber ein Glück, das doch meist nicht ohne Unglück zu
haben ist. Das Glück liegt in der Einzigkeit der Begabung, die diesen
Menschen in eine ganz außergewöhnliche Stellung zur Welt außer-
halb unserer gesellschaftlichen Ordnung bringt, in eine „Unmittel-
barkeit zu Gott“, wie Salieri in dem berühmten Mozart-Film von Mi-
los Forman sagt, um die wir ihn beneiden mögen. Das Unglück aber
liegt in der Einsamkeit, dem Mangel an Verständnis, das die gesell-
schaftliche Welt diesen Außenseitern entgegenzubringen vermag,
selbst wo sie sie feiert. Mit wem soll Mozart sprechen? Wer versteht
Mozart? Wer kann wissen, wie es in Mozart aussieht? So kann uns das
Genie doch auch irgendwie leid tun. Und irgendwie können wir
dann doch froh sein, zu den Normal-Sterblichen zu gehören, die mit
den anderen Normal-Sterblichen eine gemeinsame Sprache sprechen
und deshalb nicht einsam sein müssen.
Zugleich verkörpert das Genie auch für die Normal-Sterblichen
eine Hoffnung, die sie wohl für sich selbst nicht mehr hegen mögen,
damit keineswegs aber für die menschliche Existenz überhaupt auf-
geben möchten. Denn auch wenn Mozart „außenseits“ ist, irgendwie
keiner von uns, so repräsentiert er doch selbst in seiner Exzentrizität
eine menschliche Möglichkeit. Eine Möglichkeit, die vielleicht in ei-
nem anderen Menschen, dem man nahe steht, vielleicht gar im eige-
nen Kind erneut Realität werden könnte.
Die Einzigkeit des Genies erscheint als eine Einzigkeit, die je-
mand von Geburt hat oder nicht. Sie ist eine Mitgift von Natur oder
von Gott oder von sonstwoher, jedenfalls nicht von dieser Welt der
gesellschaftlichen Ordnung und Normalität. Einigen wenigen fällt
dies zu. Fast allen anderen nicht. In dieser Betrachtungsweise gibt es
ein Recht auf Einzigkeit, aber nur für ganz wenige vom Schicksal
Auserwählte. Sie werden durch das Schicksal gleichsam außerhalb
der gesellschaftlichen Ordnung gestellt. Alle anderen haben dieses
Recht nicht. Sie sind von Geburt aus oder vom Schicksal dazu be-
stimmt, normal und gewöhnlich zu sein.

111
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Wer normal und gewöhnlich ist, hat nichts Bedeutendes an sich,


was andere nicht auch haben. Was an ihm einzig ist, weil es sonst nie-
mand hat, ist etwas Unbedeutendes, Geringfügiges, Vernachlässigba-
res – wie zum Beispiel das merkwürdig geformte Muttermal am
Oberschenkel. Im Grunde sind die Normal-Sterblichen austausch-
bar. Ob es sie gibt oder nicht gibt, ist für die gesellschaftliche Welt
nicht von Belang.
Dagegen die Einzigen, die Genies. Ich lese Ihnen etwas vor aus
dem Editorial einer Zeitschrift namens Vita:
„Menschen können die Welt tatsächlich bewegen. … [Mehr noch als Politiker] prä-
gen Wissenschaftler und Entdecker, Philosophen und Religionsstifter, Komponi-
sten, Schriftsteller und Maler unser Denken und Fühlen. Es sind wenige hundert
Menschen, die über die Jahrhunderte hinweg Einfluß hatten und behielten, deren
Wirken auch in Zukunft noch Wirkung haben wird. Ihnen ist diese neue Zeitschrift
gewidmet. … Die erste Ausgabe … ist dem berühmtesten … aller Komponisten ge-
widmet, dem Musik-Genie Wolfgang Amadé Mozart.“ (Manfred Bissinger in Vita
Heft 1, 1990)
„Menschen können die Welt tatsächlich bewegen“ – das klingt doch
ermutigend. Also haben wir eine Chance? Es lohnt sich, sich einzu-
setzen? Oh nein, so ist es nicht gemeint. Bestimmte Menschen sind
es, die nicht ohne Einfluss bleiben auf den Gang der Welt. „Wenige
hundert“ sind es, „die über die Jahrhunderte hinweg Einfluß hatten“.
Mit anderen Worten: vielleicht zehn, zwanzig, höchstens dreißig pro
Jahrhundert. Das sind die Menschen, auf die es für den Gang der
Welt ankommt. Der Rest ist mehr oder weniger Staffage, über den
der Gang der Welt hinweggeht.
In einer solchen Betrachtungsweise wird das Neue, das in die
Welt kommt und ihr Richtung gibt, was „die Welt bewegt“, wird also
bedeutsames Schöpfertum auf wenige Ausnahmepersönlichkeiten
beschränkt. Indirekt wird damit allen anderen die Fähigkeit wie auch
das Recht bestritten, „die Welt zu bewegen“, als kreative Kraft in die-
ser Welt wirksam zu werden. Was sie, nämlich fast alle, in ihrer je-
weiligen Einzigkeit beizutragen hätten, wäre zu unbedeutend, als dass
ihm berechtigterweise Raum zu geben wäre. Diese weitaus meisten
sind nicht dazu da, die Welt zu bewegen, sondern dazu, von der Welt

112
Einzigkeit und Sozialität

bewegt zu werden, in der Bewegung mitzuschwimmen, möglichst


unauffällig, ohne sie zu stören.
Die Einzigkeit des Genies bestätigt nur die gewöhnliche Aus-
tauschbarkeit.

5.2 Einheit, Trennung, Vermittlung


Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist
eine der zentralen Fragen pädagogischen Denkens. Und eines der
zentralen Probleme pädagogischer Praxis: Wie ist es möglich, den
einzelnen Menschen einerseits in seiner Individualität ernstzuneh-
men, andererseits aber auch die Ansprüche der Gesellschaft an An-
passung und Einordnung zu ihrem Recht kommen zu lassen?
Man kann an die Beantwortung dieser Frage von zwei Seiten her-
angehen. Geht man von der Gesellschaft aus, dann steht die Auf-
rechterhaltung bestehender Sozialstrukturen im Mittelpunkt des In-
teresses. Seine Bestimmung erhält der einzelne Mensch dann durch
seine Stellung und Aufgabe in der Gesellschaft. In dieser Betrach-
tungsweise wird er zum Träger einer sozialen Funktion. Das heißt: Er
soll im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhangs, in den er hin-
eingenommen wird, funktionieren. Mathematisch ausgedrückt wäre
demnach die Bestimmung des Individuums eine Funktion der Ge-
sellschaft. Es kommt nicht darauf an, wer etwas tut, sondern nur dar-
auf, was er tut. Das „Wer“ ist austauschbar. Für die Einzigkeit des In-
dividuums wäre – jedenfalls innerhalb der gesellschaftlichen
Ordnung – kein Platz. Sie bliebe „außenseits“, wie ich eben formu-
lierte; „außerordentlich“. Würden wir Erziehung so verstehen, dann
wäre sie identisch mit dem, was wir Sozialisation zu nennen pflegen.
Sozialisation ist allerdings kein pädagogischer Begriff, sondern ein so-
ziologischer. (Geprägt vom französischen Soziologen Emile Durk-
heim. Es versteht sich, dass er für die pädagogische Fragestellung den-
noch eine nicht unbedeutende Rolle spielt; aber nicht als der Begriff,

113
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

lässtder das Ganze der Erziehung abzudecken vermag, sondern als ein
Begriff, der einen bestimmten Aspekt von Erziehung hervorhebt.)
Gehe ich nun von der anderen Seite an die Frage heran, dann ist
das Individuum und seine Einzigkeit der Ausgangspunkt. Erkenne
ich die Einzigkeit eines Menschen an, dann erkenne ich auch an, dass
dieser Mensch sich nicht fügen kann und lässt in den Ordnungszu-
sammenhang einer Gesellschaft. Nehme ich seine Individualität
kompromisslos ernst, dann gerate ich augenscheinlich in einen Ge-
gensatz zur Gesellschaft, zur Allgemeinheit. Das Genie lässt sich
nicht sozialisieren. Aus lauter Außenseitern lässt sich keine Gesell-
schaft formen. Die radikale Betonung der Einzigkeit führt zum An-
archismus. (Das Hauptwerk eines frühen Theoretikers der Anarchie,
Max Stirners, trägt den Titel „Der Einzige und sein Eigentum“.)
In der Theorie mag es möglich sein, sich für die eine oder die an-
dere dieser beiden radikalen Positionen zu entscheiden. In der Praxis
allerdings wird immer eine Art Mittelweg eingeschlagen: Es werden
Kompromisse geschlossen zwischen den Ansprüchen des Individu-
ums auf der einen Seite und denen der Gesellschaft auf der anderen
Seite. Das Individuum nimmt sich zurück und passt sich wenigstens
ein Stück weit an. Und auch die Gesellschaft nimmt sich zurück und
lässt der Individualität mehr oder weniger großen Raum.
Allerdings ist so das darin steckende Problem nicht wirklich ge-
löst. Denn damit werden ja zwei Welten postuliert: Die soziale Welt
der Ordnung und Funktionalität; und die persönliche, individuelle
Welt der Einzigkeit. Mal bewege ich mich in der einen Welt; mal in
der anderen. Ich schlüpfe sozusagen abwechselnd in zwei Häute. Bin
ich wirklich ganz ich, dann stehe ich in keiner Beziehung mehr zur
Gesellschaft und ihrer Ordnung; erfülle ich meine gesellschaftlichen
Aufgaben, dann bin ich nicht mehr wirklich ich.
Ist dies so? Entspricht dieses Entweder-Oder – entweder Indivi-
dualität oder Sozialität – unserer eigenen Empfindung?
Zu einem Teil, denke ich, ja. Wir alle werden wohl immer wieder
die Erfahrung machen, dass wir um des gesellschaftlichen Funktio-

114
Einzigkeit und Sozialität

nierens willen etwas tun, in eine Rolle schlüpfen, worin wir nicht
wirklich bei uns selbst sind. Und auch, dass es Situationen gibt, in de-
nen wir so mit uns selbst beschäftigt sind, dass wir völlig vergessen
können, dass es noch so etwas wie eine Gesellschaft um uns herum
gibt.
Aber ich vermute doch, dass ich nicht nur für mich spreche, wenn
ich sage, dass es auch das andere gibt: die Erfahrung, dass ich eine ge-
sellschaftliche Aufgabe oder Funktion wahrnehme, ohne mich selbst
aufgeben zu müssen; ja dass mich genau dies sogar so erfüllen kann,
dass ich gerade darin meine ganz persönliche Bestimmung entdecke.
Insofern wir das Wort „Beruf“ ganz ernst nehmen, also das darin
steckende Wort „Berufung“, wird in ihm genau dies ausgedrückt: die
Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Aufgabe um meiner selbst
willen.
Demnach gäbe es nicht die Ausschließlichkeit des Entweder-
Oder, des mal das eine, mal das andere. Sondern es gäbe die Möglich-
keit des Zusammenkommens von Individualität und Sozialität.
Solange wir aber nicht begreifen können, inwieweit dies Zusam-
menkommen möglich sein soll, wie von der Gesellschaft ein Weg zur
Individualität führt und umgekehrt vom Individuum ein Weg zur
Sozialität, könnte das, was wir annehmen, ja auch eine Selbsttäu-
schung sein, die uns lediglich den Schmerz der Unvereinbarkeit von
Individuum und Gesellschaft zu lindern oder zu betäuben helfen soll.
(Vertreter der radikalen Positionen, der rein gesellschaftlich-funktio-
nalen beziehungsweise der anarchistischen, würden die Annahme ei-
ner Vereinbarkeit sicherlich als Täuschung abtun.)
Wie also ist das, was wir doch für unsere Lebenspraxis meist an-
nehmen, erklärlich? Wie können wir es theoretisch fassen?
Meine These ist: Wenn wir so ansetzen, wie ich es vorhin getan
habe, nämlich entweder vom Individuum als erster Annahme ausge-
hen oder von der Gesellschaft, dann müssen wir unterstellen, dass es
eine entweder von außen (durch Gott) gestiftete innere Übereinstim-

115
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

mung von Individuum und Gesellschaft gibt; oder dass diese Über-
einstimmung einfach zufällig gegeben ist.
Denn denken wir einmal darüber nach:
Ausgangspunkt sei die Existenz einer gesellschaftlichen Ordnung.
Diese Ordnung müsste irgendwie in der Welt sein, ganz unabhängig
von den einzelnen menschlichen Wesen, die nach und nach geboren
werden. Wie kann sich die Gesellschaft in diesen Menschen jeweils
fortsetzen? Doch nur dann, wenn sie so beschaffen ist, dass die jeweils
geborenen Menschen (zufällig?) in sie hineinpassen. Und alle, die
nicht hineinpassen, ausgeschlossen werden. Was aber, wenn niemand
mehr in diese Ordnung hineinpasste? Was würde dann aus ihr?
Gehen wir von der anderen Seite heran. Prämisse sei die Existenz
der Individuen, vor jeder gesellschaftlichen Ordnung und Verbin-
dung miteinander. Wie kämen diese Individuen zu einander und zu
einem gemeinsamen Leben? Doch nur, wenn sie jeweils in sich be-
reits das, worin ihre Gemeinsamkeit bestünde, mitbrächten.
Das theoretische Problem ist: Sobald ich von einer der beiden Sei-
te als alleiniger Prämisse ausgehe, führt kein Weg zur anderen Seite.
Wir kommen so zu keiner Erklärung dessen, was wir doch zu erfah-
ren glauben.
Deshalb müssen wir anders ansetzen. Wir dürfen nicht von der
Getrenntheit von Individuum und Gesellschaft ausgehen, sondern
wir müssen von ihrer Einheit ausgehen. Das führt uns wieder zum
Leitmotiv dieser Vorlesung, der Geburt.
Die Geburt ist unzweifelhaft ein Trennungsvorgang. Die Durch-
trennung der Nabelschnur ist sozusagen die Manifestation dieser
Trennung in einem Akt von höchster Symbolkraft. Von jetzt ab exi-
stieren diese beiden Lebewesen, die vormals eine physisch-leibliche
Einheit waren, Mutter und Kind, als getrennte Wesen.
Dem Vorgang der Trennung geht eine Einheit voraus. Mutter
und Kind existieren keineswegs als ursprünglich getrennte Wesen,
die dann aus diesem ursprünglichen Getrenntsein irgendwie zuein-
ander finden müssen. Sondern sie existieren ursprünglich in einer

116
Einzigkeit und Sozialität

Einheit. Durch die Geburt werden sie voneinander getrennt. Dieses


Getrenntsein aber bewahrt die Erinnerung an die Herkunft aus einer
Einheit; und das Zueinanderkommen aus dem Getrenntsein erhält
dadurch ein Moment des Zurückgewinnens von etwas, das einmal
war, dann verloren, aber nie vergessen wurde.
Allerdings – wie wir bereits in vorhergehenden Vorlesungen gese-
hen haben, dürfen wir die Geburt nicht allein als einen biologischen
Vorgang betrachten, wenn wir begreifen wollen, welches ihre Bedeu-
tung für die Pädagogik ist. Auch ein Tierjunges wird im biologischen
Sinne von seiner Mutter getrennt. Aber es existiert danach nicht in
einer Getrenntheit, weil der Geburtsvorgang hier nicht den Verlust
der Einheit bedeutet. Denn Tiermutter und Tierjunges sind weiter-
hin gemeinsam in einer umfassenderen Einheit natürlicher Kreislauf-
zusammenhänge aufgehoben, als deren Teil sie existieren; dem ge-
genüber sie aber keine selbstständigkeit haben. Sie können nicht in
ein Verhältnis zu dieser Einheit treten, weil sie sie nie verlassen.
Dieses Aufgehobensein in einem umfassenderen natürlichen Le-
benszusammenhang, der einfach existiert ohne eigenes Zutun, ist für
menschliche Wesen nicht gegeben. Die Geburt hat daher für ein
Menschenwesen eine ganz andere Bedeutung. Der biologische Vor-
gang ist tatsächlich Verlust der umfassenden Einheit mit der Mutter,
die von Natur da ist: Die Geburt entlässt das Kind aus dieser natür-
lichen Einheit in eine neue, soziale Einheit. Das Mutter-Kind-Ver-
hältnis unmittelbar nach der Geburt ist die soziale Fortsetzung der
natürlichen Einheit, ohne dass die Gesellschaft einfach nur die Fort-
setzung der Natur wäre. Es enthält bewusstes Wollen dieses Kindes,
seine bewusste Aufnahme in die menschliche Gemeinschaft. Damit
auch ein aktives Verhältnis zur Zukunft dieses Kindes (was soll aus
ihm werden?) und eine Interpretation seiner Herkunft und ihrer Be-
deutung für seine Zukunft (was bringt es mit; was kann aus ihm wer-
den?).
Das Kind wird in diese nicht mehr von Natur aus, sondern nur
durch Zutun seiner Eltern vorhandene Einheit aufgenommen. Die

117
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

biologische Trennung ist deshalb noch keine psychische Trennung.


Es bleibt weiterhin Teil einer Einheit, ohne sich bloß als Teil zu emp-
finden. Es gibt noch keine Geschiedenheit zwischen Ich und Nicht-
Ich, zwischen dem Kind und der Welt, die es umsorgt. Was noch
aussteht, ist das, was in der vorigen Vorlesung als „zweite Geburt“ be-
zeichnet wurde, die „psychische Geburt“ dieses Menschen als eines
selbstständigen, sich von der übrigen Welt langsam lösenden, We-
sens mit eigenem Willen und eigenem Lebenssinn.
Seine Individualität ist daher hervorgegangen aus einer Einheit;
und zwar aus einer Einheit, in der es in seiner Individualität bereits
an- und aufgenommen wurde, aus einer Einheit, die seinen Weg in
die selbstständigkeit bereits vorsah.
Deshalb gibt es bereits eine wechselseitige Verwiesenheit von Ge-
sellschaft und Individuum. Sie muss nicht aus einer reinen Gesell-
schaftlichkeit oder aus einer reinen Individualität erst abgeleitet wer-
den – was nicht möglich wäre. Und deshalb können wir von
Vermittlung sprechen: dem Gewinnen einer Verbundenheit aus der
Getrenntheit, ohne dass diese Verbundenheit eine Einheit im Sinne
von Unterschiedslosigkeit wäre.

5.3 Ich, Du und Wir


Es gibt ein Grundproblem, das so wohl nur die Pädagogik als Wis-
senschaft hat. In Pädagogik geht es immer um die Entwicklung eines
einzelnen Menschen, um das Individuum. Der einzelne Mensch aber
ist nicht nur ein einzelnes Exemplar der Gattung. Denn ein Mensch
hat einen Namen. Mit dem Namen soll dieser Mensch da und kein
anderer angesprochen werden. Die Pädagogik als Praxis spricht die
Menschen mit Namen an. Die Pädagogik als Wissenschaft aber
spricht in Begriffen. Zum Beispiel im Begriff des Individuums. Da-
mit wird alles das ausgesprochen, was jedes Individuum zum Indivi-
duum macht, das heißt worin ein Individuum sich nicht vom ande-
ren unterscheidet, sondern Individuum ist wie jedes. Indem die
118
Einzigkeit und Sozialität

Pädagogik vom Individuum spricht, spricht sie nicht von diesem


Menschen dort und spricht auch nicht zu ihm; sondern sie spricht
über ihn als einen, über den man eigentlich nicht in allgemeinen Be-
griffen sprechen kann. Deshalb stößt die Pädagogik in Bezug auf ih-
ren Gegenstand, weil dieser kein Gegenstand ist, sondern eine erste
oder zweite Person Singular, ich oder du, an eine unüberschreitbare
Grenze. Sie muss ihren Gegenstand begrifflich sozusagen verfehlen,
wenn sie ihm gerecht werden will. Über diese Grenze kann sie spre-
chen; aber damit überschreitet sie sie nicht.
Einzigkeit ist das, was sich nicht verallgemeinern, also auch nicht
in Begriffen fassen, sondern eben höchstens mit Namen ansprechen
lässt. Das tut Erziehung. Indem sie diesen einzelnen und einzigen
Menschen anspricht, anerkennt sie seine Einzigkeit. Das ist wichtig.
Zugleich transzendiert sie aber auch seine Einzigkeit. Und auch das
ist wichtig. Denn sie bezieht ihn damit ein in eine Gemeinsamkeit,
in die Gemeinsamkeit eines Ich und Du, in die Beziehung zweier ein-
ziger Menschen, in der sie dadurch mehr als einzig sind. Diese Bezie-
hung aber muss ermöglicht werden. Das liegt nicht nur in der Macht
der einzelnen Menschen. Sondern sie brauchen ein Umfeld, in dem
sie sich aufeinander in ihrer Einzigkeit einlassen können, nämlich
nicht den jeweils anderen in einer bestimmten Funktion und Rolle
nur wahrzunehmen haben. Dass zum Beispiel Lehrer ihre Schülerin-
nen als Personen in ihrer jeweiligen Einzigkeit wahrnehmen können,
setzt voraus, dass ihnen zugestanden wird, sie nicht lediglich als aus-
tauschbare Trägerinnen von nachgefragter Lernleistung zu sehen.
Mit anderen Worten: Diese Gesellschaft muss es wollen, dass nicht
nur Genies, sondern alle Personen in ihrer Einzigkeit anerkannt wer-
den und zur Geltung kommen, wenn eine solche Beziehung in der
Schule möglich sein soll. Nur dann können auch Lehrerinnen und
Lehrer mehr sein als Träger einer gesellschaftlichen Funktion, mehr
sein als pädagogische Staatsfunktionäre: nämlich tatsächlich nament-
lich tätig sein.

119
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Hegel zum Beispiel hat bestritten, dass dies Aufgabe der Schule
sei.
Kinder müssten, sagt er, zu der „Einsicht“ gebracht werden, dass „die Welt als das
Substantielle, das Individuum hingegen nur als ein Akzidens zu betrachten ist – daß
daher der Mensch nur in der fest ihm gegenüberstehenden, selbstständig ihren Lauf
verfolgenden Welt seine wesentliche Betätigung und Befriedigung finden kann und
daß er sich deshalb die für die Sache nötige Geschicklichkeit verschaffen muß“ (Wer-
ke 10, S. 78).
„In der Schule ... verliert die Unmittelbarkeit des Kindes ihre Geltung; hier wird
dasselbe nur insofern geachtet, als es Wert hat, als es etwas leistet; hier wird es nicht
mehr bloß geliebt, sondern nach allgemeinen Bestimmungen kritisiert und gerichtet,
nach festen Regeln durch die Unterrichtsgegenstände gebildet, überhaupt einer all-
gemeinen Ordnung unterworfen, welche vieles an sich Unschuldige verbietet, weil
nicht gestattet werden kann, daß alle dies tun“ (Werke 10, S. 82). „Man darf ... die
Eigentümlichkeit der Menschen nicht zu hoch anschlagen. Vielmehr muß man für
ein leeres, ins Blaue gehendes Gerede die Behauptung erklären, daß der Lehrer sich
sorgfältig nach der Individualität jedes seiner Schüler zu richten, dieselbe zu studie-
ren und auszubilden habe. Dazu hat er gar keine Zeit. Die Eigentümlichkeit der Kin-
der wird im Kreise der Familie geduldet; aber mit der Schule beginnt ein Leben nach
allgemeiner Ordnung, nach einer allen gemeinsamen Regel; da muß der Geist zum
Ablegen seiner Absonderlichkeit, zum Wissen und Wollen des Allgemeinen, zur
Aufnahme der vorhandenen allgemeinen Bildung gebracht werden. Dies Umgestal-
ten der Seele – nur dies heißt Erziehung. Je gebildeter ein Mensch ist, desto weniger
tritt in seinem Betragen etwas nur ihm Eigentümliches, daher Zufälliges hervor“
(Werke 10, S. 71).
Dass Lehrer in der Schule „gar keine Zeit“ hätten, sich auf jeden ein-
zelnen Schüler einzulassen, ist für Hegel keineswegs nur ein pragma-
tisches Argument, dem man sozusagen noch ein „leider“ hinzuden-
ken könnte: „leider keine Zeit“. Vielmehr ist für ihn klar, dass die
Gesellschaft beziehungsweise ihr Staat den Lehrerinnen und Lehrern
hierfür auch gar keine Zeit geben sollen. Das „Umgestalten der See-
le“, an dessen Ende alles „Eigentümliche“ verloschen ist, dies, so sagt
er, „nur dies heißt Erziehung“.
Bei Hegel sehen wir, dass die Eigentümlichkeit der Individualität
etwas ist, was überwunden werden muss. Die Kinder bringen es mit
auf die Welt, und in der Familie gilt das Kind auch um seiner selbst
willen und nicht nur um dessen willen, was es zu leisten vermag.
Denn in der Familie wird das Kind geliebt, wie es eben ist, auch wenn
schon dort jene Zucht einsetzen soll, durch welche das bloße Liebes-
verhältnis zwischen Eltern und Kind in ein Erziehungsverhältnis um-
120
Einzigkeit und Sozialität

gewandelt wird. Der Widerstand, auf den die Erziehung trifft und
den sie in der Familie um der Liebe willen nicht vollständig brechen
wird, dieser Widerstand, den Hegel als „Eigensinn“ und „Eigenwille“
bezeichnet, könne um der Vollendung des Erziehungswerks willen in
der Schule nicht mehr geduldet werden. Dort müssten sie vielmehr
definitiv „ausgereutet“ werden.
Die Einzigkeit („Eigentümlichkeit“), das ist nämlich die Natur-
seite im Kinde. Erziehung aber soll das Kind zur Vernunft, das heißt
„zum Ablegen seiner Absonderlichkeit, zum Wissen und Wollen des
Allgemeinen, zur Aufnahme der vorhandenen allgemeinen Bildung“
bringen. Die „Natur“, gegen die Hegel die Erziehung gewendet wis-
sen will, das ist nicht die Natur der Naturwissenschaften, sondern die
sinnlich-materielle Welt, die uns als sinnlich-materiellen Wesen be-
gegnet. Und da ist es eben dieser Baum und nicht ein Baum, das
heißt nicht ein Exemplar der begrifflich definierten Kategorie, der
uns anrührt. Dieser Baum ist einmalig. Es ist der Baum, in dem ich
meinen Aussichtsplatz habe; in dessen Rinde ich meinen Namen ge-
ritzt habe. Und er kann in dieser Einmaligkeit erfahren werden, weil
er einem einmaligen Wesen, nämlich diesem bestimmten Menschen,
erfahrbar wird. In den naturwissenschaftlichen Kategorien hingegen
ist die Natur bereits zur Vernunft gebracht. Da ist es nur noch ein Ex-
emplar der Gattung, das gegebenenfalls gefällt wird. Und entspre-
chend kann ich den Tod dieses Baumes sozusagen ungeschehen ma-
chen, indem ich zum Ausgleich ein anderes Exemplar pflanze. So
mag ein einzelner Schüler in der Schule scheitern. Für eine Gesell-
schaft, der es nicht um seine Einzigkeit geht, kann verlustfrei ein an-
derer an seine Stelle treten, sofern nur die Absolventenquote stimmt.
So kommen wir immer wieder auf dieselbe Grundstruktur des Er-
ziehungsverhältnisses zurück. Der Eigensinn, die Natur, die Natali-
tät, die Einzigkeit – dies alles sind verschiedene Bezeichnungen für
das, was das Kind in das Erziehungsverhältnis einbringt und das dem,
was die PädagogInnen im Auftrag der Gesellschaft einbringen sollen,
nämlich sozialem Sinn, Vernunft, Ordnung, Integration, Allgemei-

121
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

nem …, gegenübersteht und vermittelt werden soll, aber nicht: geop-


fert.
Ein Kind stellt allein durch seine Ankunft die Ordnung der Ge-
sellschaft in Frage. Es stellt an diese Ordnung die Frage, ob und wie
sie seine Initiative („Natalität“; Arendt) aufnehmen kann, ob und
wieweit sie diesem Menschen in seiner Einzigkeit ein Zuhause geben
kann. Man kann es auch anders ausdrücken: Die Frage, in die die ge-
sellschaftliche Ordnung durch die Ankunft eines Kindes gestellt ist,
ist die Frage, die jeder Mensch als dieser einzigartige Mensch an seine
Welt ist (auch wenn er sie nicht explizit stellt). Diese Frage durch-
zieht die ganze Entwicklung eines Menschen. Seine Frage an die Ge-
sellschaft ist eine Frage, die nur dieser Mensch und niemand an seiner
Statt stellen kann. In jeder konkreten Frage, die ein Kind an seine El-
tern, Erzieher, Lehrer, Mitmenschen hat, wird die Frage an die Ge-
sellschaft unausgesprochen wiederholt, ob und wie sie diesen Men-
schen als den, der er ist, aufnimmt und zur Geltung kommen lässt.
Zugleich damit wird aber auch jeder einzelne Mensch in Frage ge-
stellt, in die Frage nämlich, die die Welt, in die er gestellt ist, an ihn
richtet: „Wer bist du?” „Ich bin” ist die Grundlage, auf der der ein-
zelne hierauf erst antworten kann, aber es ist nicht die (vollständige)
Antwort. Aus der Perspektive der ersten Person Singular ist jeder das
Zentrum der Welt. Aus der Perspektive der Gesellschaft gibt es so
viele Zentren, wie es Menschen gibt. Niemand kann daher die Welt
(Gesellschaft, Sache) als Mittel seiner rein selbstbezüglichen (egoisti-
schen) Zwecke instrumentalisieren, ohne sich seine soziale Lebens-
grundlage zu entziehen. „Ich“ zu sagen, ist nur einem Menschen
möglich, der mit „Du“ angesprochen und gemeint wurde. Die erste
Person Singular ist nur möglich, wenn und soweit die Gesellschaft sie
anerkennt, den einzelnen also in der zweiten Person Singular an-
spricht. Die Anerkennung gilt diesem Menschen, Dir, aber sie gilt
nicht exklusiv, sondern ist eine Anerkennung, die so jedem einzelnen
Menschen gelten muss. Wenn jeder Mensch ein Sinnzentrum seiner
Welt ist, so nur, indem er sich mit allen anderen Menschen in einer

122
Einzigkeit und Sozialität

Weise vermittelt, in der auch sie als je eigene Sinnzentren anerkannt


sind. Mit anderen Worten: Die Geltung der Einzigkeit eines Men-
schen kann nicht heißen Egoismus, sondern heißt Solidarität. Egois-
mus zerstört die Gesellschaftlichkeit, die erst ein „Ich bin” zulässt. So-
lidarität hingegen ist Ausdruck der sozialen Komplementarität des
„Ich bin”, das sich somit in ein „Wir sind” vermittelt. Solidarität aber
heißt, dass der einzelne im sozialen Zusammenhang nicht nur An-
sprüche hat, sondern auch Aufgaben. Individueller Anspruch und so-
ziale Aufgabe gehören zusammen. Für sich etwas zu lernen, schließt
ein, etwas für die Gesellschaft zu lernen – und umgekehrt. Der Ler-
nende muss sich daher auch sozial identifizieren, seine Stellung in der
Gesellschaft bestimmen, also Wissen und Fähigkeiten ausbilden, die
gebraucht werden.
Einzigkeit spricht sich aus in der ersten Person Singular, die sich
erweitert und aufgehoben weiß in der ersten Person Plural. „Ich bin”
und „Wir sind” sind die Grundlage, von der her Sinn und Bedeutung
erst erschließbar sind.
Nicht jeder ist Mozart. Aber jeder ist wie Mozart, wenn er wirk-
lich „Ich“ sagen kann, weil wir zu ihm „Du“ sagen … und dies auch
so meinen. „Jeder Mensch ist ein Künstler“, hat Josef Beuys gesagt.
Wir müssen dies nur in ihm auch sehen.

Musik:
Theodor W. Adorno – Stück für Streichquartett op. 2; Bewegt
(1925/26)

5.4 Nicht-Identität
Die Musik, die Sie eben hörten, ist von Theodor W. Adorno, einem
der berühmtesten und einflussreichsten deutschen Sozialphiloso-
phen. Adorno hat im Rahmen seiner Philosophie auch eine ästheti-
sche Theorie entwickelt, von der ich nicht viel verstehe. Schließlich

123
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

hat er sich ganz speziell auch mit Musiktheorie befasst, insbesondere


mit der atonalen Musik Schönbergs.
Und, wie Sie gehört haben: Er hat auch komponiert. Adorno hat-
te in seiner Jugend am Konservatorium in Frankfurt studiert und soll
ein ausgezeichneter Pianist gewesen sein. Das Stück, das Sie gehört
haben, hat er im Jahre 1926, also mit etwa 23 Jahren geschrieben.
Adorno hat dies nie ganz aufgegeben. Noch aus seinem letzten Le-
bensjahr, 1969, sind Kompositions-Arbeiten nachgelassen.
Dass für Adorno die Musik eine so große Bedeutung hatte, lässt
sich in Beziehung setzen zu der von ihm vertretenen Selbstkritik der
Philosophie, die sich im Begriff der „Negativen Dialektik“, dem Titel
eines seiner wichtigsten Werke, ausdrückt und noch spezifischer in
jener eigentümlichen Rede darin vom „Nicht-Identischen“. Das
Nicht-Identische ist jenes, was sich dem identifizierenden Denken
entzieht, was nicht in Begriffen sich erfassen und diesen subsumieren
lässt. Und dennoch ist es nicht das, vor dem das Denken schlicht zu
resignieren hätte. Denn noch seine Möglichkeit muss ja eine allge-
meine sein: Der Einzigkeit muss ja eine allgemeine Achtung entge-
gengebracht werden, die ihr als solcher, das heißt wiederum in ihrer
begrifflichen Allgemeinheit gilt. Jede Einzigkeit soll dieses Recht be-
anspruchen können.
Dieser Allgemeinheit, auf welche die Achtung der Einzigkeit ver-
wiesen ist, ist Ausdruck gegeben in ihrer allgemeinen, gesellschaftlich
besorgten Ermöglichung.
„… die Möglichkeit zur Versenkung ins Innere bedarf … [des] Äußeren. Solche im-
manente Allgemeinheit des Einzelnen aber ist objektiv als sedimentierte Geschichte.
Diese ist in ihm und außer ihm, ein es Umgreifendes, darin es seinen Ort hat.“
(Adorno 1966, S. 165)
Dass der „Versenkung ins Innere“ der Einzigkeit ein „Ort“ gegeben
ist, ist ein Ergebnis von Geschichte, einer Geschichte, in der dies Mo-
tiv der Achtung der Einzigkeit Geltung erlangt hat. Einfach ausge-
drückt heißt dies: die Achtung für die Individualität eines Menschen
ist eine historische Errungenschaft. Dass sie darin ihre Möglichkeits-

124
Einzigkeit und Sozialität

bedingung hat, das heißt dass sie ohne Gesellschaft nicht sein kann,
macht die „immanente Allgemeinheit des Einzelnen“ aus.
Ich will hier nicht weiter verfolgen, wie Adorno das „Nichtiden-
tische“ denkt. Es soll der Hinweis genügen, dass wir bei diesem der
Musik so nahe stehenden Philosophen ein zentrales Denkmotiv fin-
den, welches für die Ihnen hier von mir dargestellte Theorie der Päd-
agogik kennzeichnend ist. Weshalb Sie es, in vielfältigen Variationen
und Durchführungen als das Thema der Pädagogik in der Komposi-
tion dieser Vorlesung immer wieder zu hören bekommen (werden).

5.5 Wahres und soziales Selbst


Vielleicht kennen manche von Ihnen ein Buch von Alice Miller, ei-
ner schweizerischen Psychoanalytikerin, das heißt: „Das Drama des
begabten Kindes“ …. Kleingedruckt wird der Titel fortgeführt: …
„und die Suche nach dem wahren Selbst“. Wenn man Miller folgt,
scheint man sich unter dem „wahren Selbst“ die ursprüngliche Ge-
stalt eines Menschen vorstellen zu müssen, die dann durch Um-
welteinflüsse mehr oder weniger, manchmal bis zur Unkenntlichkeit
(zu einem „falschen Selbst“) verbogen wird. So ein Mensch sucht
dann – so erscheint es bei Miller – sein Leben lang nach seiner
ursprünglichen, unverfälschten, echten Gestalt („Suche nach dem
wahren Selbst“).
Alice Miller hat den Begriff des „wahren Selbst“ von jenem engli-
schen Psychoanalytiker übernommen, den ich schon mehrfach er-
wähnt habe und noch mehrfach erwähnen werde, weil er für meine
eigene Theoriebildung eine ganz besondere Rolle spielt: von David
Woods Winnicott.
In der Tat gebraucht Winnicott den Begriff „wahres Selbst“ oder
auch „zentrales Selbst“, um zu bezeichnen, was ein Mensch in seiner
Naturursprünglichkeit, also vor aller sozialen Formung ist (Winni-
cott 1984, 155f.). Aber: Bei Winnicott ist dieses „wahre“ oder „zen-
trale Selbst“ keine irgendwie fest umrissene Gestalt des Selbst, die
125
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

man suchen, finden und dann in seiner Lebenspraxis verwirklichen


kann! Eine integrierte Persönlichkeit geht zwar seiner Auffassung
nach aus dem wahren Selbst hervor. Aber sie ist nicht das wahre
Selbst.
Das wahre Selbst scheint mir ganz nah an dem, was Hannah
Arendt „Natalität“ nennt. Es ist die Quelle der „spontanen Impulse“
des Kindes. Es ist der Einbruch der Natur in die menschliche Ord-
nung. Quelle von Kreativität und Initiative. Ein in diese Welt von
Natur mitgebrachter Drang, sich mit der Welt zu vermitteln, in diese
Welt hinein zu wirken. Ein Drang zur „Konkretion“, das heißt zum
Zusammenwachsen mit dieser Welt (lat. concresci); eine Bereit-
schaft, sich insofern auch auf Erziehung einzulassen.
Das wahre Selbst kann daher vielleicht gesucht, aber keinesfalls
gefunden werden. Im Gegenteil. Es darf gar nicht gefunden werden,
weil Gefundenzuwerden eine Bedrohung darstellte. Würde es gefun-
den, würde es sozusagen dingfest gemacht, identifiziert, verlöre es ge-
nau das, was es ausmacht: eine Bewegungsquelle und Entwicklungs-
quelle zu sein, durch die das absolut Neue in diese Welt kommt.
Hierfür gibt es keine Empathie; dies ist das, was Menschen auch an
sich selbst nicht verstehen, sondern nur akzeptieren (oder ablehnen)
können. Ein Verhältnis dazu können sie nur in der Weise gewinnen,
dass sie es sein lassen, zulassen in seiner Unbegreiflichkeit, dass sie
„offen“ sind für die Überraschungen, die es für sie selbst und für die
anderen bereit hat. Das wahre Selbst ist also auch nicht das, was die
Individuen selbst kennen, aber in sich verborgen halten; sondern es
ist das, was überhaupt, sogar einem selbst, verborgen bleibt. Und
doch ist es auch das, was Menschen aneinander anzieht, insofern sie
spüren und irgendwie „wissen“, dass sich in allen kommunikativen
Äußerungen etwas Substantielles ausdrückt, das ihr individuelles und
Zusammen-Leben erst lebendig macht. Winnicott spricht auch von
„schweigender Kommunikation“ (Winnicott 1984, 241).
Miller hat Winnicotts Aussage, dass das wahre Selbst im Zustand
der Nicht-Kommunikation verharre, daher völlig missverstanden.

126
Einzigkeit und Sozialität

Sie meint, aus diesem Zustand müsse es herausgeholt werden. Nach


Winnicott jedoch ist es so, dass das wahre Selbst gar nicht kommu-
nizieren kann, weil es als absolut einzigartiges Lebenspotenzial des
einzelnen Menschen erstens keinen erschöpfenden Ausdruck finden
kann und zweitens in unüberbrückbarer Unterschiedenheit zu allen
anderen wahren Selbsten steht. Kommuniziert werden kann nur –
muss aber auch – vermittels des „sozialen Selbst“. (Der Ausdruck „so-
ziales Selbst“ stammt allerdings nicht von Winnicott, sondern aus der
Theorie des symbolischen Interaktionismus, von George Herbert
Mead).
Erfährt das von Natur mitgebrachte Potenzial eines Menschen
eine soziale Resonanz, kann es zur Einheit integriert werden und bil-
det dann den „Kern“ des Selbst oder das „zentrale Selbst“. Es ist nie
das gesamte ererbte Potenzial, das Resonanz erfährt; teils, weil nur
das gespiegelt werden kann, was sich auch äußert – es ist die Frage,
ob ein Mensch jemals all das an Potenzial aktualisieren kann, das in
ihm steckt; teils, weil die Umwelt nicht für alles wahrnehmungsfähig
oder aufnahmebereit ist, was aus diesem Potenzial kommt. Das „zen-
trale Selbst“ ist daher nur jener Teil der Möglichkeiten, die in einem
Menschen stecken, der von ihm geäußert und der sozial gespiegelt,
also wahrgenommen, aufgenommen und angemessen beantwortet
wurde. Das Selbst enthält darüber hinaus aber immer Elemente des
„Kompromisses“ mit der Umwelt, Prägungen, die nicht aus dem ei-
genen Potenzial resultieren, sondern Einlassungen auf die Umwelt
darstellen. Diese Einlassungen sind unumgänglich, wenn eine wirk-
liche Kommunikation, also wechselseitige Verständigung mit der
Umwelt stattfinden soll. So enthält das Selbst Anteile, die Winnicott
„gefügiges“ oder „falsches Selbst“ nennt.
Weil es in Bezug auf die Funktion des „gefügigen“ Selbst ent-
scheidende qualitative Differenzen gibt, die verschwinden, wenn
man es einheitlich als „falsches Selbst“ bezeichnet, ziehe ich es vor,
hierfür den Begriff des sozialen Selbst zu gebrauchen. Das soziale
Selbst kann alles mögliche sein: eine Rolle (oder eine ganze Reihe von

127
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Rollen), die wir spielen, um nicht ausgeschlossen zu werden; eine


Maske, hinter der wir uns verbergen, um nicht erkannt zu werden;
eine Mauer, hinter der wir uns verschanzen, um nicht vernichtet zu
werden; ein Panzer, durch den wir uns schützen; ein Gefängnis, aus
dem wir nicht herauskönnen. Winnicott bezeichnet dies alles als Fa-
cetten des „gefügigen Selbst“, weil sich das Selbst darin in irgendeiner
Weise den gesellschaftlichen Spielregeln gefügt hat. Im negativen Ex-
trem wird das „gefügige Selbst“ zum „falschen Selbst“. Das „falsche
Selbst“ ist die undurchdringliche Mauer, durch die das „ererbte Po-
tenzial“ von der sozialen Umwelt hermetisch abgetrennt ist – sei es,
um das „wahre Selbst“ vor den Übergriffen der Umwelt zu schützen,
sei es, um die soziale Umwelt vor den Übergriffen des „wahren
Selbst“ zu schützen.
Ohne soziales Selbst, also ohne Vermittlung zur sozialen Realität,
ist das „ererbte Potenzial“ isoliert; das heißt aber soviel wie: es hat kei-
ne Chance der Verwirklichung, es ist unwirklich, es ist gar nicht exi-
stent. Eine Quelle, der es nicht erlaubt wird, sich in die Landschaft
zu ergießen, die zugeschüttet ist, ist keine Quelle mehr. Das soziale
Selbst ist daher die Öffnung zur Wirklichkeit (die Öffnung der Quel-
le); die Wirklichkeit der menschlichen Selbstverwirklichung (das
Fließen der Quelle) ist aber dann zugleich bestimmt durch die soziale
Umgebung (das „Gelände“, durch das die Quelle fließt): alle seine
Formen, alles, was wir bewundern an Menschen, was wir an ihnen
genießen, ist nicht das reine „ererbte Potenzial“, sondern dessen sozi-
al gewordene Gestalt (und deswegen ist es nie alles). Es kommt aus
der individuellen menschlichen Natur und aus der menschlichen Ge-
sellschaft; es ist Verwirklichung „ererbten Potenzials“ und darin indi-
viduelle Aneignung sozialen Potenzials; und es ist als Verwirklichung
historisch gewordenen sozialen Potenzials Fruchtbarmachung „er-
erbten Potenzials“ (menschlichen Natur-Potenzials) für die Gesell-
schaft.
Die „Suche nach dem wahren Selbst“ kann nicht die Suche da-
nach meinen, den vollen Umfang seiner Möglichkeiten auszuschöp-

128
Einzigkeit und Sozialität

fen. Sie kann auch nicht die Wiedergewinnung einer ursprünglichen


Gestalt bedeuten, die verloren ging: Ein Fluss kann nicht seine Fluss-
gestalt aufgeben, um nur als Quelle zu existieren. Es gibt keinen Fluss
ohne Quelle; aber es gibt auch keine Quelle ohne Fluss. Die Suche
nach dem „wahren Selbst“ kann nur meinen: den Versuch, die Quel-
le freizulegen und sie frei sprudeln zu lassen, um dem Fluss Kraft zu
geben, der dennoch in eine Bahn finden muss.
Gibt es keine Vermittlung mehr zwischen wahrem Selbst und so-
zialem Selbst, das heißt: kann sich das wahre Selbst in keiner Weise
mehr im sozialen Selbst ausdrücken, wird das soziale Selbst zum rein
„falschen Selbst“. Das Selbst ist dann gespalten in ein wahres und ein
„falsches Selbst“, die nicht mehr zusammenhängen, nicht mehr „ko-
operieren“ (Winnicott), sondern beziehungslos nebeneinander exi-
stieren. Damit geht zugleich die Integration der Person verloren.
Denn das „soziale Selbst“ wird nicht mehr durch ein aus der Substanz
des wahren Selbst gespeistes Ich zusammengehalten. Es zerfällt in
Rollen, Personenbruchstücke, Anpassungsfragmente. Nach Ronald
D. Laing (der sich hierin auch auf Winnicott zurückbezieht und be-
ruft) zeigt sich ein solches Zerfallen des Selbst im Krankheitsbild der
Schizophrenie. (Vgl. Laing 1960)

5.6 Die Fähigkeit, allein zu sein


In bildungstheoretischer Sicht ist die Entwicklung der einzelnen Per-
son von einer fundamentalen Spannung bestimmt: Sie ist Entwick-
lung aus und zur Einzigkeit dieser bestimmten Person, und sie ist dies
im Medium des Sozialen und als Beitrag zum Sozialen. Ich möchte
Ihnen dies an einem Paradoxon verdeutlichen, das wiederum Winni-
cott formuliert hat: an der „Fähigkeit zum Alleinsein in der Anwesen-
heit anderer” (Winnicott 1984, 38). Was ist damit gemeint?
Mit Alleinsein meint Winnicott, dass ein Mensch ganz auf sich
selbst konzentriert oder in sich versunken ist, ohne auf seine weitere
Umwelt zu achten. Alleinsein ist für ihn eine wesentliche Eigenschaft
129
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

von Individualität, insofern es die Erfahrung beinhaltet, dass es etwas


am Leben jedes Menschen gibt, das er nicht mit anderen teilen kann,
eine Erfahrung, die ihm allerdings sozial ermöglicht werden muss.
„Die Fähigkeit des Menschen zum Alleinsein ist eins der wichtigsten Zeichen der
Reife in der emotionalen Entwicklung“ (Winnicott 1984, S. 36). Sie könne sich nur
auf der „Grundlage“ eines „Paradoxons“ entwickeln: der „Erfahrung, allein zu sein,
während jemand anderes anwesend ist“ (S. 38).
Gemeint ist eine bestimmte Weise der „Anwesenheit anderer”, die
nicht unbedingt ihre physische Präsenz verlangt. Es kann auch eine
Anwesenheit sein, die bloß gedacht oder empfunden ist. Wichtig ist,
dass es eine Weise der Anwesenheit ist, die nicht Störung des Allein-
seins ist, sondern erst die Möglichkeit des Alleinseins eröffnet: eine
Weise der Anwesenheit, in der die Gegenwart des andern verschwin-
det, vergessen werden kann und doch wirkt.
Daher ist Alleinsein alles andere als Einsamkeit. Einsam ist der
einzelne Mensch, der verlassen ist, der getrennt und isoliert ist von
den anderen, der ohne die Anwesenheit anderer auskommen muss.
Ein einsamer Mensch ist der Geborgenheit beraubt, derer er bedarf,
um wirklich alleinsein zu können. Deshalb hat ein einsamer Mensch
zu kämpfen mit seiner Einsamkeit. Er sucht die Verbindung. Er fühlt
sich verloren. Ohne Hoffnung, einen Weg aus der Einsamkeit zu fin-
den, droht Verzweiflung. Ein einsamer Mensch kann nicht allein
sein; auch wenn es so aussieht, als ob er dazu gezwungen sei.
Zum Alleinseinkönnen gehört die „Anwesenheit anderer“.
Winnicott bezieht seine Aussagen zunächst auf die frühkindliche
Entwicklung. Doch sind sie übertragbar auch auf spätere Entwick-
lungsstufen. Bezogen auf die frühe Kindheit ist folgendes gemeint:
Ein Kind kann durch die Anwesenheit einer anderen Person auf ver-
schiedene Weise betroffen werden: Die andere Person kann etwas er-
warten, verlangen oder fordern; und das Kind ist herausgefordert,
darauf zu reagieren. Oder die andere Person kann um das Kind eine
Art Schutzraum schaffen, eine Sicherheitszone, innerhalb derer das
Kind sich geborgen weiß, so dass es nicht auf irgendwelche Anforde-
rungen der Umwelt reagieren muss, sondern bei sich selbst und aus

130
Einzigkeit und Sozialität

sich selbst heraus sein kann. Im ersten Fall muss das Kind sich zusam-
mennehmen und im Interesse seiner Selbstbehauptung auf die Um-
weltforderung reagieren. Im zweiten Falle kann das Kind sich ent-
spannen und den Impulsen folgen, die spontan in ihm aufsteigen. Es
kann sich von seiner Umwelt ab und sich sich selbst zuwenden. Es
kann alleinsein. Aber dass es dies kann, ist Ausdruck einer Sicherheit
und eines Vertrauens, die sozial gestiftet sind, eben durch die Anwe-
senheit einer vertrauenswürdigen, sicherheitgebenden Person – in
der frühen Kindheit meist der Mutter.
Die Fähigkeit zum Alleinsein setzt also Sozialvertrauen voraus. Sie
ist nicht das Gegenteil von Sozialität, sondern basiert auf Sozialität.
Und zugleich ist das soziale Verhältnis, das hier zum Kind eingegan-
gen wird, eines, das das Alleinseinkönnen intendiert. Man könnte
auch sagen: Beides, das Alleinsein eines Menschen mit sich selbst und
das In-Gesellschaft-sein, fundieren sich wechselseitig, ohne dass das
eine im andern aufgelöst wird. Denn die Kraftquelle, aus der die Ge-
sellschaft lebt und sich ständig erneuert, ist die Kreativität der Indi-
viduen. Diese aber erschließt sich nicht von selbst, sondern nur dann,
wenn ihr Raum gegeben wird. Und dies Raumgeben ist eine soziale
Tat.
Damit aber ist deutlich, dass das Alleinsein-Können eine außer-
halb des einzelnen liegende Bedingung hat, eine soziale Bedingung.
Am Lebensanfang ist es die Mutter oder die ihre Stelle vertretende
Person, in deren Macht es steht, dass das Kind in Ruhe bei sich allein
sein kann. Diese Geborgenheit aber braucht der einzelne überhaupt:
dass er, ohne allein für sich sorgen zu müssen, was unmöglich wäre,
doch allein sein und nur sich selbst wahrnehmen, genießen, auspro-
bieren kann, seine eigene Spontaneität, das zur Vermittlung drängen-
de Leben in sich spüren kann, weil „die Gesellschaft“ ihn trägt. „Die
Gesellschaft“ aber, das ist keine Abstraktion, das sind die andern, die
für ihn sorgen, wie er – nach seinen Kräften – mit für sie gesorgt hat
und sorgen wird; die jetzt für ihn da sind, damit er für sich sein kann,
und die wissen, dass er für sich sein können muss, um auch für andere

131
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

da sein zu können; die ihn aber nicht nur brauchen in dem Sinne,
dass er etwas für sie tun kann, sondern die ihren Genuss an ihm ha-
ben, wie er für sich ist.
Das „soziale Selbst“ steht in Kommunikation mit der äußeren
Realität, mit den anderen Menschen. Es reagiert und passt sich an.
Ohne das „soziale Selbst“ ist ein Leben in der Welt nicht möglich.
Aber ohne einen nichtkommunizierbaren und nichtkommunizieren-
den Kern wäre auch das Leben des „sozialen Selbst“ (das dann „fal-
sches Selbst“ ist) nur mechanisch und daher unwirklich. Diesen Kern
muss sich ein Mensch bewahren können, und es ist eine der wichtig-
sten Qualitäten einer zur Menschlichkeit bestimmten Gesellschaft,
dass sie dieses „Heiligtum“ achtet und unangetastet lässt.
„Im Zentrum jeder Person ist ein Element des ‚incommunicado‘, das heilig und
höchst bewahrenswert ist. ... ich glaube, daß dieser Kern niemals mit der Welt wahr-
genommener Objekte kommuniziert, und daß der Einzelmensch weiß, daß dieser
Kern niemals mit der äußeren Realität kommunizieren oder von ihr beeinflusst wer-
den darf. ... Wenn auch gesunde Menschen kommunizieren und es genießen, so ist
doch die andere Tatsache ebenso wahr, daß jedes Individuum ein Isolierter ist, in
ständiger Nicht-Kommunikation, ständig unbekannt, tatsächlich ungefunden.“
(Winnicott 1974, S. 245)
Alleinsein also kann ein Mensch nur in Gegenwart anderer (ihre
Präsenz muss nicht physischer Art sein), die ihm Halt und Sicherheit
geben und es ihm erlauben, sich auf sich und in sich zu konzentrie-
ren, also in einem einfachen und nicht reaktiven Sinne zu „sein“. Der
nichtkommunizierende Kern des Selbst ist die Quelle, aus der die Fä-
higkeit zur kreativen Kommunikation mit der Welt (einer Kommu-
nikation, die nicht nur die äußere Realität widerspiegelt, sondern
selbst etwas in sie einbringt) überhaupt erst hervorgeht. Diese Quelle
einer lebendigen sozialen Auseinandersetzung und Entwicklung zu
erhalten, was nichts anderes heißt, als sie fließen zu lassen, muss ein
zentrales Anliegen der Gesellschaft selbst sein.
Was heißt dies für die Pädagogik?
Lassen wir jeden Menschen, dem wir als Pädagoginnen und Päd-
agogen begegnen, erfahren, dass diese Welt in Erwartung ist; in Er-
wartung seines ganz einzigartigen Beitrags.

132
Sechste Vorlesung
Eigenheit und Fremdheit

6.1 Das Fremde


6.2 Das Eigene
6.3 Eigensinn und Eigentum
6.4 Der Plan von der Abschaffung des Dunkels (Høeg)
6.5 Anerkennung

Musik:
Aisha Kandisha‘s Jarring Effects – Dunya; Fin Roh (1996).
Vom Album „Shabeesation“ (1996)

6.1 Das Fremde


Geräusche, Stimmen von einem Platz, der sicher nicht in Deutsch-
land ist. Fremdländisch, nicht ganz vertraut, anders. Auch die Musik:
ihre Harmonik, die Melodieführung; die Art des Gesangs – nicht das,
was so ganz der eigenen Kultur entspricht. Es klang nach Basar, oder?
Die Musik klingt arabisch. Ganz so fern ist uns heute das ja nicht
mehr. Wenn man beispielsweise in meiner Heimatstadt Duisburg
durch die Straßen mancher Viertel geht, gehören solche Klänge in-
zwischen zur alltäglichen Geräuschkulisse.
Die Gruppe, von der diese Musik stammt, ist in Marokko zu
Hause. Sie nennt sich „Aisha Kandisha‘s Jarring Effects”. Der Name
lässt sich ungefähr folgendermaßen übersetzen: „Aisha Kandisha‘s
verwirrende Wirkungen”. Zu der Namensgebung lese ich Ihnen die
Erläuterungen aus dem CD-Booklet vor:

133
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Es gibt eine Art Massenpsychose rund um eine Gestalt, genannt Aisha Kandisha.
Habt Ihr je davon gehört?
Wer ist Aisha Kandisha?
Sie ist eine Frau – ein Geist („spirit”) in Gestalt einer Frau. Praktisch jeder Ma-
rokkaner hat mir ihr Kontakt gehabt auf die eine oder andere Weise. Sie ist Legion,
sie ist vielgestaltig. Ich habe ein Buch, das sagt, dass vor etwa 25 Jahren 35.000 Män-
ner in Marokko mit ihr verheiratet waren. Viele Insassen von Ber Rechid, der psych-
iatrischen Klinik, sind mit ihr verheiratet …
Was genau geschieht, wenn Du sie erblickst?
Dann bist Du mit ihr verheiratet, das ist es. Du fängst an, Dich sehr fremdartig
(„strangely”) zu verhalten. Es gibt einige gut bekannte Ehemänner von Aisha Kandi-
sha in der Gegend von Tanger. Sie wandern an Bächen und Flußufern entlang in der
Hoffnung, ihre Stimme zu hören. Du kannst sie sehen auf ihren Wegen …
eine ansteckende Psychose …
Richtig. Und wenn sie Aisha Kandisha wiederfinden, dann machen sie auf der
Stelle Liebe mit ihr, egal, wer da noch ist.
Ich habe diese Musik auch ausgewählt, weil ich sie sehr gerne höre.
Das wiederum hängt damit zusammen, dass sie zwar etwas fremd
klingt, aber doch auch nicht so fremd, dass mir gar kein Zugang dazu
möglich wäre. Denn sie enthält eindeutig Einflüsse aus der westli-
chen PopMusik. Das ist keine arabische oder marokkanische Folklo-
re oder Ursprungsmusik. Sie ist, um es mal etwas platt auszudrücken,
grad so fremd, dass die Anziehung überwiegt. Denn das Fremde zieht
an. Es stößt ab, es befremdet – das ist das, was etwa als Problem des
Fremdenhasses aktuell ist. Aber es zieht auch an; es fasziniert. Diese
Ambivalenz sollten wir erst einmal festhalten.
Deshalb ist es auch nicht nur das Gefallen an der Musik, das die
Auswahl bestimmt hat. Der Name der Gruppe transportiert darüber
hinaus eine Botschaft, die mit der Faszination des Fremden
zusammenhängt. Wie der Name der Gruppe nämlich andeutet und
im Booklet-Text erläutert wird, werden der Gestalt, von der die Rede
ist, der mystischen Gestalt namens „Aisha Kandisha”, bestimmte ver-
wirrende Wirkungen („jarring effects”) zugeschrieben: Aisha Kandi-
sha macht die Menschen, die mit ihr in Berührung kommen, „ver-
rückt”, sie verwirrt sie, sie wirft sie aus der Bahn. Und noch mehr:
Das Verrücktsein besteht darin, nach Aisha Kandisha verrückt zu
sein, also danach verrückt zu sein, von ihr verrückt gemacht zu wer-
den. Von dem, was sie auslöst, der Verwirrung, dem Aus-der-Bahn-

134
Eigenheit und Fremdheit

Geworfenwerden, geht eine ungeheure Anziehungskraft, geht Faszi-


nation aus. Dem, der es erlebt hat, erscheint dies, verrücktgemacht zu
werden, als etwas Begehrenswertes. Und das führt uns in unser The-
ma.
Das Fremde ist nicht einfach das Unbekannte. Das Unbekannte
ist eine Größe x, die irgendwann bekannt wird. Solange sie unbe-
kannt ist, berührt sie mich nicht. Das Fremde jedoch berührt mich.
Es bringt „jarring effects” mit sich. „Berühren” ist noch zu schwach
ausgedrückt. Der Effekt ist aufrührend, aufwühlend. Das englische
„jarring” zielt auf die Disharmonie. „Jar” heißt auch so viel wie krei-
schen, quietschen, missklingen, kratzen, erschüttern, wehtun. Ich
kann darauf auf unterschiedlichen Ebenen meines Weltverhältnisses
reagieren. Jedenfalls muss ich reagieren, und wenn es die Flucht ist,
die ich ergreife.
Es kann meine Neugier wecken: etwas Neues zu erfahren,
kennenzulernen, erweitert meinen Horizont. Es kann etwas in mir
ansprechen, das bisher zu kurz kam. Das heißt: das Fremde bringt
mich mit etwas Neuem in mir selbst zusammen. Etwas bisher Ver-
borgenes, Verschüttetes kommt zum Vorschein. Ich fühle mich be-
reichert. Das Fremde kann mich aber auch ganz im Gegenteil be-
fremden, abstoßen: Ich will es gar nicht kennenlernen, ich will gar
nichts damit zu tun haben. Auch nicht mit den Seiten in mir, die es
anspricht.
Das Fremde scheint eine Ordnung oder Struktur in mir zu er-
schüttern. Diese Ordnung kann mein Weltbild sein. Oder auch mein
Selbstbild. Vielleicht ängstigt es mich, wenn mein Weltbild er-
schüttert wird, weil ich mich dann orientierungslos fühle. Vielleicht
ängstigt es mich, wenn mein Selbstbild erschüttert wird, das, was ich
für meine Identität halte, weil ich mich dann halt- und hilflos fühle,
von Zerfall, Vernichtung bedroht. Die Angst, sich selbst zu verlieren,
ist eine Todesangst. Aber vielleicht ist mein Welt- oder Selbstbild
längst brüchig geworden, und die Erschütterung durch das Fremde
kann als heilsam erfahren werden, weil es eben dies deutlich zu Tage

135
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

fördert und damit die Chance zu etwas Neuem eröffnet. Oder mein
Welt- beziehungsweise Selbstbild haben sich als Gefängnisse eta-
bliert, die mir die Freiheit des Denkens nehmen, meine Kreativität
blockieren; überhaupt mich nicht mehr lebendig sein lassen. Dann
kann die Erschütterung durch das Fremde geradezu befreiend wir-
ken.
Das Fremde könnte mich aus einer Bahn werfen, die ich partout
nicht verlassen will; oder aber, die zu verlassen in mir längst eine ge-
heime Sehnsucht bestand. Dann finde ich mich nachher vielleicht
auf seltsamen Wegen wieder – wie Aisha Kandisha‘s Ehemänner.
Anders als das bloß Unbekannte stiftet das Fremde jedenfalls Un-
ruhe. Ich bin genötigt, mich dazu zu verhalten. Und ich weiß – eben
weil es fremd ist – erstmal nicht, wie ich mich dazu verhalten soll.
Also kommt zur Unruhe die Unsicherheit. Das ist an sich weder et-
was Positives noch etwas Negatives. Es kommt darauf an, wonach
mir ist, was ich brauche; was diese Unruhe und Unsicherheit für
mich bedeuten.
Wenn etwas zu fremd ist – und das heißt also jetzt: wenn die Un-
ruhe und Unsicherheit, die etwas bei mir auslöst, mich überfordern
–, dann werde ich wohl versuchen, das Fremde als Fremdes auszu-
blenden. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten:
• Sich-abwenden; Abstand wahren; Distanz schaffen: Es ist weit weg;
es berührt mich nicht. Es geht mich nichts an.
• Ausgrenzen; Mauern errichten: Ich schütze mich vor ihm. Ich
wehre es ab. Ich sperre es ein.
• Ignorieren, Nicht-Wahrnehmen, Leugnen: Ich sehe es nicht; es exi-
stiert gar nicht.
• Integrieren, Angleichen, Vereinnahmen; Einordnen, Verstehen, Ent-
fremden: Seine Fremdheit ist unwesentlich. Sie lässt sich nehmen.
Es kann mir/uns anverwandelt werden.
• Stigmatisieren, Sanktionieren: Es darf nicht sein. Ich erlaube es
nicht.
• Vernichten: Ich lösche es aus. Ich mache es nicht-existent.

136
Eigenheit und Fremdheit

Dies alles beruhigt mich und gibt mir meine Sicherheit zurück.
Wenn wir jetzt, an dieser Stelle, uns kurz an die Schwarze Päd-
agogik erinnern, dann werden wir sehen, dass genau diese Verhal-
tensweisen jene sind, mit welchen die Schwarze Pädagogik auf das
Kind beziehungsweise seinen Eigensinn reagierte. Könnte das nicht
heißen, dass das Kind für diese Erziehung in seinem Eigensinn als
Fremder erscheint? Mit jeder Geburt, hatte ich in der vorigen Woche
gesagt, bricht Natur in die bestehende gesellschaftliche Ordnung ein.
Und damit etwas, das aller sozialen Ordnung fremd ist. Das Kind
durch Erziehung zur Vernunft zu bringen, könnte dies nicht auch in-
terpretiert werden als das Bestreben, dem Kind seine Fremdheit zu
nehmen? Es in die bestehende Ordnung, die es erst einmal stört, zu
integrieren?
Das Kind stört die gesellschaftliche Normalität. Es weiß noch
nicht, was gut und böse, was richtig und falsch ist. Denn es kennt die
Normen noch nicht, die in der Welt, in die es geboren wird, gelten.
Schlimmer noch: Es kennt nicht nur die jeweils gültigen Normen
nicht, es weiß überhaupt noch gar nichts von Normen, von Ord-
nung. Das erste also ist, dass es überhaupt daran herangeführt werden
muss, dass es so etwas gibt.

6.2 Das Eigene


Dem Fremden steht das Eigene gegenüber, sozusagen diesseits der
Grenze. Für das Eigene ist alles, was ihm nicht zugehört, das Fremde.
Wenn das Fremde selbst einen Anspruch auf Eigenheit erhebt, sozu-
sagen eigensinnig ist, fordert es das Eigene heraus, sofern dieses sich
dadurch bedroht fühlt. Es fordert die An-eignung heraus, also Maß-
nahmen, durch die etwas Fremdes in Eigenes überführt wird. Oder,
sofern dies nicht gelingen will, die Ausgrenzung. Im Extremfall die
Vernichtung.
Das Eigene ist der Bereich der Ruhe und Sicherheit, der Ord-
nung, in der ich mich auskenne. Der ich zugehöre, deren Teil ich bin.
137
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Es macht meine Identität aus. Hier weiß ich, wer ich bin. Werde ich
aus diesem Bereich verstoßen, dann werde ich selbst der Fremde. Jede
Erschütterung meiner Ordnung erschüttert daher meine Identität.
Der Fremde, der meine Ordnung erschüttert, bedroht mich selbst
mit Fremdheit. „Überfremdung” ist ein Stichwort, das auf diese
Angst verweist.
Umgekehrt gilt aber auch: Bin ich der Fremde, dann ist meine Ei-
genheit bedroht. Als Fremder setze ich mich Angriffen auf meine Ei-
genheit aus, die mir nicht gestattet wird.
Die Polarisierung von Eigenem und Fremdem bringt also eine
grundsätzliche Instabilität mit sich, eine Spannung, die nach Auf-
lösung drängt.
Die verschiedenen Reaktionsweisen des Eigenen auf das Fremde,
die ich vorhin benannt habe, stimmen in einem überein: Immer geht
es um die Bewahrung des Eigenen, wenn das Fremde nicht toleriert
werden kann. Die dargestellten Formen sind übrigens durchaus mit-
einander kombinierbar. So kann die Integration mit der Ver-
leugnung oder Unterdrückung dessen am Andern einhergehen, was
fremd bleibt. Oder die Ghettoisierung dient der Vernichtung. Oder
die Ausgrenzung soll dazu führen, dass der Andere sich von selbst an-
passt.
Das Kind kommt als Fremder in diese Welt. Wenn es dort fremd
bleibt, ist es dem Untergang geweiht. Denn es kann ohne soziale Ver-
mittlung, ohne Aufnahme in der Gemeinschaft nicht existieren.
Wenn es jedoch gänzlich dieser Welt angeeignet wird, wenn sein Ei-
gensinn gebrochen, seine Natur unterdrückt wird, dann ist es ebenso
vom Tode bedroht. Denn dann wird es zu einem funktionalen Ele-
ment dieser Ordnung ohne eigenes Leben.

Gehen wir einmal die Varianten der Nicht-Akzeptierung des Frem-


den als Varianten des Verhältnisses zwischen Erwachsenen oder Er-
ziehern und Kindern durch und betrachten sie nicht nur von der Sei-

138
Eigenheit und Fremdheit

te der Erwachsenen, sondern auch von der Seite der Kinder oder
Jugendlichen her:
• Sich-abwenden; Abstand wahren; Distanz schaffen: Kinder werden
von ihren Eltern verlassen. Oder im Stich gelassen. Eltern – eher
Väter als Mütter – fliehen vor der Verantwortung, die es bedeu-
tet, Kinder zu haben und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Und Kinder neigen dazu, die Schuld dafür bei sich zu suchen:
Ich war nicht gut genug für meinen Papa, meine Mama. Sie
haben es mit mir nicht ausgehalten. Deshalb sind sie fort.
Eltern setzen ihre Kinder aus. Harmloser und alltäglicher: Sie
schicken ihre Kinder weg: „Geht spielen!“ Oder weniger harmlos:
sie geben sie weg, zum Beispiel ins Internat. Aber Kinder suchen
auch von sich aus das Weite, gehen von sich aus auf Abstand, lau-
fen von zu Hause weg, reißen aus.
• Ausgrenzen; Mauern errichten: Kinder und Jugendliche werden
ausgegrenzt, weil sie stören. Man macht die Tür zu. Man errich-
tet Barrieren: Zutritt für Kinder verboten. Aber Kinder betonen
auch von sich aus ihre Andersheit, grenzen sich auch selbst aus
und ab von den Erwachsenen. Auch an den Türen zu Kinderzim-
mern hängen Schilder: Zutritt verboten.
Kinder und Jugendliche werden eingesperrt, schließen sich aber
auch selbst ein.
• Ignorieren, Nicht-Wahrnehmen, Leugnen: Kinder und Jugendliche
werden nicht wahrgenommen; ihre Bedürfnisse werden igno-
riert, übergangen, missachtet. Planungen, etwa im städtebauli-
chen Bereich, werden ohne Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse
vorgenommen. Aber sie versuchen auch von sich aus, nicht auf-
zufallen, verstecken sich, machen sich unsichtbar, wünschen sich,
gar nicht da zu sein, tot zu sein.
• Integrieren, Angleichen, Vereinnahmen; Einordnen, Verstehen, Ent-
fremden: Von Kindern und Jugendlichen wird Anpassung gefor-
dert. Aber sie versuchen auch von sich aus, sich anzupassen,
indem sie das in sich unterdrücken, was für die Erwachsenen

139
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

nicht akzeptabel ist, und versuchen, so zu sein oder zu werden


wie sie bis hin zur völligen Identifizierung: Ununterscheidbarkeit
von einem Elternteil oder anderen Vorbild.
Kinder und Jugendliche werden integriert, indem man sie in eine
bestehende Ordnung einführt. Aber sie unternehmen auch von
sich aus alle Anstrengungen, um hineinzukommen, im Spiel der
Erwachsenen „mitspielen“ zu dürfen, um dazuzugehören, um an-
genommen zu sein.
• Stigmatisieren, Sanktionieren: Bestrafen gehört zum pädagogi-
schen Alltagsritual. Bezieht sich die Strafe nicht mehr nur auf das
„Vergehen“ als „falsche“ Handlung, sondern auf die Person als
„falsch“, ist der Übergang zur Stigmatisierung gemacht. Oft
übernehmen Kinder dies Urteil für sich und schlußfolgern:
Nicht allein, was ich getan habe, ist falsch, sondern ich „bin
falsch“.
• Vernichten: Kinder und Jugendliche werden „missbraucht“ und
umgebracht. „Missbrauch“ ist ein schrecklich irreführendes
Wort. Jeder Gebrauch eines Kindes ist Missbrauch. Es gibt kei-
nen sozusagen angemessenen Gebrauch eines Kindes. Und jeder
Gebrauch eines Kindes heißt, seinen Wert als Gebrauchswert für
die Erwachsenen zu bestimmen, also ihm seine eigene Existenz
zu nehmen, es zu einem Zubehör, zu einem Mittel der Existenz
des Erwachsenen zu machen. Jeder Gebrauch eines Kindes ist so
gesehen eine Entwertung des Kindes in seinem Eigen-Sinn, eine
entwertende Vernichtung, ein psychischer Tötungs-Akt. So dass
Kinder dann oft keinen anderen Ausweg mehr wissen, als sich
selbst dieses wertlos gemachte Leben zu nehmen.
Sie sehen: Dies ist kein akademisches Thema. Wir sprechen hier
in Begriffen, die eine gewisse Logik haben. Aber es geht um die Logik
des Lebens; des Zusammenlebens von Menschen, wenn wir über Ei-
genheit und Fremdheit sprechen.

140
Eigenheit und Fremdheit

Alle Formen, in denen das Fremde nicht geachtet wird in seinem


Eigen-Sinn, implizieren Gewalt, direkte oder indirekte. Gewalt, die
dem Kind angetan wird oder die sich selbst anzutun man es nötigt.
Die Frage ist: Gibt es eine Alternative? Können das Eigene und
das Fremde vermittelt werden, ohne dass das Fremde negiert wird?
Dies ist bezogen auf das Kind die Frage, wie es gesellschaftlich wer-
den kann, ohne ganz zum Eigentum der Gesellschaft zu werden und
seine Individualität zu verlieren. Insofern knüpft das Thema Eigen-
heit und Fremdheit direkt an das Thema Einzigkeit und Sozialität
an.
Der Unterschied ist: Ich bin in der vorigen Vorlesung davon aus-
gegangen, dass am Anfang Einheit und Ungeschiedenheit sind;
durch die erste und zweite Geburt erfolgt eine Trennung, in zwei
Stufen: erst die biologische Trennung, dann die psychische Tren-
nung. Immer aber und bei aller erreichbaren selbstständigkeit bleiben
die Individuen sozusagen eingefasst und umfasst von der Einheit der
menschlichen Gemeinschaft. Deshalb ist Vermittlung möglich.
Am Ende aber war ich nicht bei der Einheit angekommen, son-
dern bei der Differenz, der Trennung, beim Alleinsein. Ich hatte ein
Zitat des englischen Psychoanalytikers Winnicott aufgegriffen:
„Im Zentrum jeder Person ist ein Element des ‚incommunicado‘, das heilig und
höchst bewahrenswert ist. ... ich glaube, dass dieser Kern niemals mit der Welt wahr-
genommener Objekte kommuniziert, und dass der Einzelmensch weiß, dass dieser
Kern niemals mit der äußeren Realität kommunizieren oder von ihr beeinflußt wer-
den darf. ... Wenn auch gesunde Menschen kommunizieren und es genießen, so ist
doch die andere Tatsache ebenso wahr, dass jedes Individuum ein Isolierter ist, in
ständiger Nicht-Kommunikation, ständig unbekannt, tatsächlich ungefunden.“
(Winnicott 1974, S. 245)
Damit wird deutlich, dass die soziale Vermittlung nicht Aufhebung
der Differenzen bedeuten muss, sondern im Gegenteil gerade auf der
Anerkennung und Achtung dieser Differenzen beruhen kann. Päd-
agogik, wenn es ihr um die Entwicklung des Individuums aus seinem
eigenen Sinn geht, muss sich um Vermittlung in diesem Sinne bemü-
hen.

141
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Heute frage ich etwas anders. Ich gehe von der Fremdheit und
Unvermittelbarkeit aus und frage nach der Möglichkeit ihrer Ak-
zeptanz, wenn doch Vermittlung um des gesellschaftlichen Lebens
willen sein muss.
Vermittlung ist sicherlich eine der zentralen Kategorien, in denen
die Aufgabe der Pädagogik gefasst wird. Es ist allerdings eine recht
abstrakte Kategorie. Und vielleicht fällt es leichter, zu verstehen, was
damit gemeint ist, wenn wir sagen: es geht darum, Beziehungen und
Zusammenhänge zu stiften:
• Menschen miteinander zusammenzubringen,
• Menschen mit Dingen und Sachverhalten bekannt und ver-
traut zu machen und Dinge und Sachverhalte Menschen
nahezubringen,
• Menschen in Strukturen und Ordnungen einzuführen, Ord-
nungen und Strukturen an Menschen anzupassen,
• Menschen zu sich selbst in Beziehung treten zu lassen …
Immer wird dabei das, was sich vermitteln soll, mit etwas
konfrontiert, das anders und zunächst einmal fremd ist. Sonst wäre
Vermittlung nicht nötig.
Das Andere soll nun mit dem Eigenen in einen Zusammenhang
gebracht werden, so dass es – ebenso wie das Eigene – Teil eines Ge-
meinsamen und seine ausschließliche Fremdheit aufgehoben wird.
Etwas am Andern muss es geben, wodurch es sich mit dem Eigenen
vermitteln und in etwas Gemeinsames integrieren lässt. Etwas am
Andern muss nicht fremd bleiben. Sonst wäre Vermittlung nicht
möglich.
Aber nicht alles am Andern lässt sich in Gemeinsamkeit überfüh-
ren. Immer bleibt etwas, das einzig ist und daher fremd bleiben muss.
Etwas, das sich nicht integrieren lässt. Das sich daher also der Aneig-
nung entzieht. Aus der Sicht des Eigenen ist dies eine Schranke, die
in der Andersheit des Anderen begründet liegt. Es darf anders sein,
soweit es einen anderen Stellenwert im Ganzen hat und eben da-
durch sich mit dem Eigenen zu einem übergreifenden Gemeinsamen

142
Eigenheit und Fremdheit

verbindet. Problematisch wird die Andersheit, wenn das Andere sich


diesem übergreifenden Gemeinsamen entzieht und außenseits bleibt.
Das Problem liegt, so scheint es also, beim Andern, das sich – in-
dem es sich der Integration entzieht – als Fremdes erweist. Aber auch
das Eigene enthält dies Einzige, Nicht-Integrierbare. Auch das Eige-
ne lässt sich nicht völlig ins Gemeinsame aufheben. Auch am Eige-
nen bleibt ein Moment der Fremdheit.

6.3 Eigensinn und Eigentum


Wie sich das Gesellschaftlichwerden des Individuums vollzieht, hat
also viel zu tun mit dem Verhältnis von Fremdem und Eigenem. Das
Fremde tritt nämlich meist auf als etwas die bestehende gesellschaft-
liche Ordnung, der man/frau zugehört, in Frage Stellendes. Infrage-
stellen ist an sich weder gut noch schlecht oder böse. Die Wissen-
schaft lebt zum Beispiel vom Infragestellen. Aber die Wissenschaft
verspricht auch, mehr oder weniger überzeugend oder glaubhaft, dass
sie Gegebenes nur in Frage stellt, um eine neue, noch bessere, noch
ordentlichere gedankliche Ordnung herzustellen. Und die Anwen-
dung der Wissenschaft würde dann entsprechend diese gedankliche
Ordnung in die Realität einpflanzen und so auch eine ordentlichere
praktische Ordnung schaffen.
Dies ist, wie gesagt, ein Versprechen der Wissenschaft: sie er-
schüttert bestehende gedankliche Ordnungen, um besser zu ordnen.
Ob die Wissenschaften heute dieses Versprechen tatsächlich noch in
überzeugender Weise geben können, ob das Vertrauen der Öffent-
lichkeit, dass die Wissenschaften zur Einlösung dieses Versprechens
überhaupt in der Lage sind, noch sehr groß ist, steht auf einem ande-
ren Blatt und soll hier jetzt nicht Thema sein.
Das Fremde dagegen erscheint eher als Bedrohung, weil es nicht
mit einem neuen, überzeugenden Ordnungsversprechen auftritt.
Deshalb wird es um der Aufrechterhaltung der bestehenden Ord-
nung willen abgewehrt. In dieser Konstellation erscheint die be-
143
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

stehende Ordnung als das Eigene, das gegen die Erschütterung durch
das Fremde verteidigt werden soll.
Was hier als das Eigene auftritt, ist das abgesicherte und geordnete
Eigene; das, was man unter seine eigene Kontrolle gebracht hat; aber
auch das, durch das man selbst kontrolliert wird. Durch Ordnung
machen wir uns die Welt verfügbar. Aber durch Ordnung werden
wir auch selbst verfügbar. Wir können eine Ordnung nicht benutzen,
ohne ihr anzugehören. Was unter unsere Kontrolle gebracht ist, ist
Eigenes im Sinne des Eigentums. Es gehört mir; ich habe Verfü-
gungsgewalt darüber. Insofern ist jede gesellschaftliche Ordnung
auch eine Eigentumsordnung.
Verstehen Sie diesen Begriff jetzt nicht zu eng. Es geht mir nicht
nur um das rechtliche Eigentum wie Eigentum an Grund und Bo-
den; Eigentum an Produktionsmitteln; Eigentum an sich selbst. Es
geht auch um das soziale Eigentum: also das, was eine Gesellschaft
oder gar die Menschheit insgesamt sich zu eigen gemacht und nach
ihren Interessen geordnet hat. Und noch weiter: Wenn ich von Ei-
gentumsordnung spreche, meine ich die Gesamtheit der Regelungen,
wie wer womit umgehen darf, worauf jemand zugreifen darf oder
nicht, worüber jemand verfügen darf und worüber nicht, wozu er
Zugang hat, wozu nicht undsoweiter.
Und dieser Eigentumsordnung gehören wir als Eigentümer oder
gesellschaftliche Miteigentümer an. Wir sind Nutznießer der Eigen-
tumsordnung, insofern wir an der Verfügung über die Lebensbedin-
gungen, die durch sie gesichert wird, teilhaben.
Doch wir sind auch selbst Eigentum der Gesellschaft, jedenfalls
soweit unsere Existenz im Zugehören zu dieser Ordnung aufgeht.
Denn wir müssen, um selbst verfügen zu dürfen, auch über uns ver-
fügen lassen. Zwischen Rechten und Pflichten besteht eine Art Kom-
plementärverhältnis. Gesellschaftliche Ordnung, betrachtet als Ei-
gentumsordnung, ist Ergebnis eines Auseinandersetzungsprozesses
zwischen Individuum und Gesellschaft; ein Ergebnis, in dem beide
Seiten bereits miteinander verwachsen und voneinander durchdrun-

144
Eigenheit und Fremdheit

gen sind. Weshalb eben die Ordnung, der man zugehört, als Eigenes
erscheint und Fremdes entsprechend abgewehrt wird.
Wenn Sie an die Schwarze Pädagogik zurückdenken, werden Sie
sich aber erinnern, dass das Eigene dort in einer ganz anderen Weise
charakterisiert wurde: nämlich als kindlicher Eigensinn und das heißt
als kindliches Beharren auf der Fremdheit gegenüber der bestehen-
den Ordnung, als Widerstand gegen die An-Eignung des Kindes
durch die Gesellschaft und deren Vernunft. Der Eigensinn ist jenes
Moment, das sich der Aneignung widersetzt, das sich der Vergesell-
schaftung widersetzt, das sich nicht recht sozialisieren lassen will; das
fremd und daher ordnungsgefährdend bleibt.
Sie sehen also, und es ist wichtig, sich dies begrifflich klarzuhal-
ten: das Eigene bedeutet etwas ganz Unterschiedliches, ja geradezu
Gegensätzliches, je nachdem, worauf es sich bezieht: Ob es sich auf
das Eigene bezieht, das jemand mitbringt, der von außen in eine be-
stehende Ordnung eindringt, wie der Fremdling von weither oder
das Kind; oder ob das Eigene das ist, was man sich im Laufe eines
Entwicklungs- und Auseinandersetzungsprozesses, genannt Erzie-
hung, angeeignet und dem man sich übereignet hat. Je nachdem, ob
es sich um eine Voraussetzung der Erziehung oder um ein Ergebnis
von Erziehung handelt.
Eigensinn als Voraussetzung von Erziehung bedeutet Differenz,
Getrenntsein; Sich-Entziehen. Eigensinn bedeutet auch Fremdheit
gegenüber dem Eigentum.
Eigentum als Ergebnis von Erziehung bedeutet Übereinstim-
mung, Integration, Dazugehören. Eigentum bedeutet auch Befrem-
dung über den Eigensinn.
Anarchistische Pädagogik wäre eine eigensinnige Pädagogik.
Schwarze Pädagogik ist eine eigentümliche Pädagogik.

145
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Musik:
Amïra Saqati – El Ghourba (1995).
Vom Album „Agdal Reptiles On Majoun“ (1995)

6.4 Der Plan von der Abschaffung des Dunkels


Ich erzähle Ihnen jetzt zusammengefasst eine Geschichte, die der
dänische Schriftsteller Peter Høeg („Fräulein Smyllas Gespür für
Schnee”) aufgeschrieben hat. Es ist die Geschichte von drei Kindern,
die in einem Internat untergebracht sind, dort versorgt, erzogen und
unterrichtet werden. Bestimmte Aspekte der Geschichte, die dem
Autor auf jeden Fall auch sehr wichtig waren, lasse ich hier aus, weil
sie einem anderen Thema zugehören. Die Geschichte spielt in
Dänemark in den 70er Jahren. In dem Internat sind vor allem Kinder
aus „besseren” Familien untergebracht; Kinder mit einem gewissen
Grad intellektueller Begabung; Kinder, deren Perspektive darin be-
steht, als Erwachsene einmal wertvolle und leistungsfähige Mitglie-
der der dänischen Gesellschaft zu sein. Die drei Kinder, deren Ge-
schichte erzählt wird, fallen aus diesem Rahmen. Sie sind Sonderfälle.
Und es ist ihnen lange rätselhaft, wie es überhaupt möglich war, dass
sie in dieses Internat aufgenommen wurden.
Die Person des Erzählers (die Geschichte ist in Ich-Form erzählt)
ist in Heimen aufgewachsen, mehrfach hat es Vergewaltigungsver-
suche von Erziehern gegeben. Er gilt als verhaltensgestört und wird
schließlich in diesem Internat aufgenommen. Er lernt dort ein etwas
älteres Mädchen kennen, dessen Mutter etwa ein Jahr zuvor gestor-
ben war; wenige Monate später hatte sich ihr Vater erhängt. Das drit-
te Kind ist ein Junge. Er ist jünger als die beiden. Er hat seine Eltern,
nachdem er jahrelang von ihnen gequält und misshandelt wurde, ge-
tötet.
Die Kinder verstehen nicht, warum sie dort sind. Sie vermuten,
dass dahinter ein geheimer Plan steht. Sie nehmen sich vor, ihn auf-
zudecken. Es gibt Anzeichen, Indizien, die sie zu entschlüsseln versu-
146
Eigenheit und Fremdheit

chen: Wie das Haus gebaut ist, ohne tote Winkel, so dass die Wege
der Schülerinnen und Schüler immer voll einsehbar sind; die Zeit-
struktur des Tagesablaufs, die ihnen vorgegeben ist; das System von
Strafe und Nachsicht oder Belohnung.
Zwischen den Kindern entwickelt sich eine zärtliche, liebevolle
Beziehung. Sie beginnen, einander zu schützen, aufeinander zu ach-
ten. Vor allem der Jüngste von ihnen scheint sehr gefährdet, ja verlo-
ren. Die älteren passen auf, dass er nicht ausrastet. Sie sprechen da-
von, später zusammenzuleben. Sie verbinden sich gegen das
Internats-System. Welcher Plan steckt hinter diesem System?
Eines Tages „kam das Zeichen.
Es kam in der Biologiestunde. Biehl [der Internatsleiter und zugleich Lehrer]
nahm den Darwinismus durch, das Überleben der am besten Geeigneten. „Er gilt
noch immer”, sagte er, „auch in der Gesellschaft, doch wird er dadurch gemildert,
dass wir die Folgen abwenden.”
Es gab eine Pause, nachdem er das gesagt hatte. Es war ein reicher Augenblick.
Er hatte niemand bestimmten angesehen, er wandte sich, so gesehen, nie an Ein-
zelpersonen. Vielleicht war ich trotzdem in diesem Augenblick derjenige, der ihn am
besten verstand.
Für die, die innerhalb waren, also die meisten, für die war es schwer zu begreifen,
was er meinte, für die war da vor allem die Freude darüber, dass sie innerhalb waren
und die am besten Geeigneten.
Bei denen, die außerhalb sind, füllt die Furcht und die Resignation beinahe alles
aus, das weiß man ja.
Verstehen kann man am besten, wenn man auf der Grenze ist.
Es war ein Gesetz, das verstand man. Es erwählte den einen, den anderen ver-
dammte es. Für die auf der Grenze aber bemühte man sich, die Folgen abzuwenden.
Für sie gab es eine Chance. Biehls Privatschule war diese Chance.
Dies kann man am besten verstehen, wenn man erklärtermaßen nur vielleicht
geeignet ist zum Überleben.
(Høeg 1995, S. 41)
„Innerhalb sein” – für die, die innerhalb sind, ist es eine Selbstver-
ständlichkeit. Sie wissen gar nicht mehr, was nötig war, um dorthin
zu gelangen. Sie haben es geschafft. Für die, die außerhalb sind, für
die Ausgegrenzten, Abgeschobenen, überwiegt die Resignation und
die Furcht vor den Folgen des Ausgegrenztseins, die Furcht vor dem
definitiven Absturz, dem Untergang. Wirklich ermessen, was es be-
deutet, sich darum bemühen zu müssen, nach innerhalb zu gelangen,
können nur die, die auf der Grenze sind, die eine Chance haben; de-

147
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

nen eine Chance gegeben wird, die auf dem Prüfstand stehen, unun-
terbrochen beweisen müssen, dass sie der Chance, die man ihnen
gibt, wert sind. Die immer in Frage gestellt sind, keine Gewissheit ha-
ben: Gehören sie nun dazu oder nicht? Lohnt es sich noch, es zu ver-
suchen, oder ist schon alles verloren, ist es aussichtslos?
Auf der Grenze zu sein, heißt, das als Lebenszustand zu haben,
was für die meisten von uns hier in diesem Saal nur eine vorüber-
gehende Erfahrung ist; eine Erfahrung zudem, die überwiegend mit
einem guten Ausgang verbunden war, denn sonst wären wir nicht
hier: die Prüfung. Jede Prüfung stellt uns auf diese Grenze. Es ist of-
fen, wohin wir geraten: nach innen oder nach außen. Wir hier gehö-
ren zu denen, die innerhalb sind, die soweit schonmal die Prüfung
beziehungsweise etliche Prüfungen bestanden haben. Da ist vor allem
die Freude, dass wir innerhalb sind und die am meisten Geeigneten.
Stellen Sie sich vor, das Geprüftwerden sei Ihr Lebenszustand; dann
können Sie vielleicht ermessen, was es bedeutet, nicht nur vorüber-
gehend auf der Grenze zu sein, zu denen zu gehören, die nur viel-
leicht geeignet sind. Und zwar nicht für diesen oder jenen Beruf.
Sondern für das Leben in dieser Gesellschaft überhaupt.
Was die drei Kinder in jenem Internat erfahren, ist diese ständige
Prüfung ihrer Berechtigung, dazuzugehören. Aber es ist noch mehr.
Das ist nicht der ganze Plan. Sie sind in dem Internat nicht nur, um
geprüft zu werden. Der ganze Plan, ist, das Nötige dafür zu tun, dass
sie diese Prüfung bestehen. Die Entdeckung der Kinder ist, worin
dies Nötige besteht:
„Es ist ein Komplott”, sagte er. „Alles ist berechnet. Sie haben die Leute gesammelt.
Jetzt sollen sie vernichtet werden.”
„Integriert”, sagte Katarina. „Sie wollen Kinder aus Fürsorgeheimen und
Jugendgefängnissen holen und sie zurück auf die öffentliche Schule führen. Integra-
tion. Das ist es, das ist der Plan.” (S. 204)
Was dem jüngeren der Kinder als Vernichtungsplan erscheint, ist ein
fortschrittliches pädagogisches Integrationsprojekt. Das vermeintli-
che Vernichtungslager ist eine Schule, die sich die Integration
benachteiligter Jugendlicher zum Ziel gesetzt hat.

148
Eigenheit und Fremdheit

Die Geschichte treibt auf die Katastrophe zu. Dem jüngeren der
Kinder erscheint, was es in dem Internat erlebt, als Wiederholung des
Martyriums, dem es durch seine Eltern ausgesetzt war. Er wird sich
dies auch diesmal nicht weiter gefallen lassen. Der Schulleiter wird
von den Kindern zur Rechenschaft gezogen.
„Wir wollten Gutes tun”, sagte er. …
„Wir wollten helfen”, sagte er. „Nicht nur den Kindern des Lichts. Auch euch
andere wollten wir führen. Aus dem Totenhaus ins Land der Lebenden. Wir wollten
alle in der dänischen Privatschule versammeln. Auch die, die Schlimmes erleiden
und ein Recht auf Licht haben.” …
„Was ist mit der Dunkelheit in den Menschen?” sagte Katarina.
„Das Licht wird sie zerstreuen”, sagte Biehl.
August neigte sein Gesicht hinunter zu Biehls Ohr. Sie sahen aus wie zwei Men-
schen, die vertraulich miteinander reden.
„Soviel Licht gibt es nicht auf der Welt”, flüsterte er. (S. 214f.)
Das also ist es: der Plan von der Abschaffung des Dunkels. Ein „ko-
lossaler” Plan, denn er soll die ganze Welt erfassen.
Sie müssen geglaubt haben, sie könnten … die Schule zu einer „Werkstatt der Son-
ne“ machen, wie er gesagt hat. Zu einem Laboratorium, das den Unterschied zwi-
schen den Gestörten und den Normalen aufhebt.
Sie wollten nichts wissen von dem Gedanken, dass einige Schüler unten im
Dunkel waren. Sie wollten überhaupt vom Dunkel nichts wissen, alles im Univer-
sum sollte Licht sein. Mit dem Messer des Lichts wollten sie das Dunkel sauberscha-
ben. (S. 238)
Was anderes ist dieser Plan als der Plan der Pädagogik? Ein solcher
Plan kann Menschen nicht „sein lassen”; er will, er muss sie formen,
damit sie integrierbar sind.
Ihr Plan betraf das ganze Universum, da wurde ich mir sicher. Und über einen sol-
chen Plan kann man nicht hinweggehen.
Sie sprechen in den Anträgen nur davon, den Kriminellen und Minderbegabten
und Gestörten zu helfen, das waren die Worte, auch wenn es um die Zusagen der
Gelder ging. In ihren Gedanken aber, oder auf dem Grund ihrer Gedanken, als ein
fernes Ziel, hatten sie die ganze Welt. „Wir arbeiten für die Herrlichkeit künftiger
Zeiten”, schrieb Biehl. Sie spürten, die Zeit war auf ihrer Seite, sie arbeiteten an et-
was, das sich ausbreiten und zuerst die ganze Volksschule beseelen würde und dann
den Rest des Landes. Wenn es ausgesprochen werden mußte, nannten sie nur Grup-
pen von Kindern. Ihr Ziel aber war das Universum. … Alle waren sie sicher, dass sie
ewige Werte verteidigten. Sie sprachen es nicht direkt aus, vielleicht dachten sie es
auch nicht direkt. Aber irgendwo in sich selbst und untereinander waren sie absolut
und total sicher, dass sie recht hatten und dass ihre Ideen und Gedanken mit künf-
tigen Generationen von Kindern, die erwachsen wurden, hinaus in die Welt fliegen

149
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

und sich über das Land verbreiten würden, und darüber hinaus, vielleicht sogar bis
zu den Mauren. Dass man eines Tages, in einer nicht zu fernen Zukunft alle dazu
bringen könnte, ihre Ideale von Fleiß und Präzision zu respektieren, und dann wür-
den alle Lebewesen im Universum friedlich zusammenleben.
Ich weiß, dass das ihr Ziel gewesen ist. Das kann man nicht alltäglich nennen.
So etwas nennt man kolossal. (S. 225f.)

6.5 Anerkennung
Die Geschichte um den Plan von der Abschaffung des Dunkels
möchte ich nun auf das Verhältnis von Eigensinn und Eigentum zu-
rückbeziehen.
Das Eigene wird mit dem Fremden konfrontiert. Wenn ich in die
Perspektive des Andern, des Fremden wechsle, wird das Fremde zum
Eigenen und das Eigene zum Fremden.
Was wir Vermittlung nennen, bedeutet zuerst einmal die Her-
stellung einer Gemeinsamkeit oder die Integration beider Seiten in
etwas Gemeinsames. Dies Gemeinsame kann man sich als Schnitt-
menge oder Überlappungsbereich vorstellen. Aber eine solche sche-
matische Vorstellung birgt ihre Gefahren.
Was in diesem Überlappungsbereich nämlich eintritt, ist nicht
nur eine Bestimmung dessen, worin Eigenes und Anderes sozusagen
von Haus aus übereinstimmen, ist nicht nur ein Zutagetreten vor-
handener Übereinstimmung oder Gleichheit. Sondern durch die
Vermittlung entsteht etwas Neues, das mehr ist als die Schnittmenge
der Gemeinsamkeiten. Andersheit wird hier zwar integriert, aber
nicht beseitigt. Im Gegenteil, gerade im Zusammenkommen von
Unterschiedenem liegt eine neue Potenzialität. Ich möchte dies an
drei Begriffen erläutern.
Solidarität. Solidarität nennen wir eine Beziehung zwischen Men-
schen, in der diese füreinander da sind. Darin liegt eine Komplemen-
tarität von Bedürfnis und Leistung oder auch von Mangel und Über-
schuss. In einer Solidargemeinschaft kompensiert zum Beispiel die
Leistungsfähigkeit der einen den Mangel an Leistungsfähigkeit der

150
Eigenheit und Fremdheit

anderen. Gesunde sorgen für Kranke, Erwachsene für Kinder, Men-


schen im arbeitsfähigen Alter für alte Menschen, Menschen mit Ar-
beit für Menschen ohne Arbeit …
Auch eine Liebesbeziehung lebt von Komplementarität. Die
wechselseitige Anziehung gründet ja gerade in der Andersheit des
oder der anderen.
Solidarität ist eine Einheit der menschlichen Gemeinschaft, die
die Unterschiede ihrer Mitglieder aufnimmt und nicht auslöscht.
Verständnis. Verständnis meint die Fähigkeit, sich in den andern
hineinzuversetzen, ohne sich ihm anzugleichen und ohne den andern
sich anzugleichen. Verständnis für den anderen oder die andere über-
brückt zwar die Unterschiedenheit, hebt sie aber nicht auf. Ich kann
für den andern Verständnis haben, ohne zu werden wie er.
Kooperation. Kooperation ist die Zusammenführung unterschiedli-
cher individueller Leistungsbeiträge zu einer gemeinsamen Leistung.
Der sowohl quantitative als auch qualitative Unterschied der
Leistungsbeiträge ist dabei Voraussetzung. Erst durch die Kombina-
tion der unterschiedlichen Fähigkeiten werden menschliche Leistun-
gen möglich, die kein einzelner Mensch erbringen kann. Diese neue,
durch Kooperation ermöglichte Leistungsfähigkeit ist mehr als die
Summe der Einzelleistungen; sie bedeutet eine neue Qualität, die es
nur durch die aktive Verbindung der Einzelleistungen überhaupt ge-
ben kann.

Sie sehen: Der Überschneidungsbereich, in dem es Gemeinsamkeit


gibt, ist nicht ein Bereich der Unterschiedslosigkeit, der Gleichheit,
wie dies die mathematische Vorstellung von der Schnittmenge nahe-
legen würde.
Der Bereich des Gemeinsamen zeichnet sich allerdings grundsätz-
lich durch Strukturen und Ordnungen aus. Eine Solidargemein-
schaft braucht Verläßlichkeit und insofern auch ein gewisses Maß an
Regelhaftigkeit. Verständnis für den Andern bedarf der Verständi-
gung mittels gemeinsamer Symbolsysteme. Und Kooperation funk-

151
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

tioniert nur, wenn die Ziele, Inhalte und Formen der Zusam-
menarbeit geregelt sind. Dies sind die Strukturen gesellschaftlichen
Zusammenlebens; insgesamt die Strukturen, welche eine gesell-
schaftliche Ordnung ausmachen.
Innerhalb dieser Strukturen agieren die Einzelnen niemals als
bloß isolierte Einzige, sondern in Bezug auf andere Menschen und in
Bezug auf das Ganze der Gemeinschaft. Die Beziehung zur Welt ist
hier eine Beziehung der menschlichen Gemeinschaft oder Ge-
sellschaft als ganzer zur Welt. Die Aneignung der Welt ist hier soziale
Aneignung; und ihr Resultat ist die jeweilige gesellschaftliche Ord-
nung als eine Eigentumsordnung mit verteilten und geregelten Ver-
fügungsrechten.
Stelle ich diese Ordnung in das Zentrum, dann gibt es ein Innen
und ein Außen. Das Außen ist dann eine Art blinder Fleck oder toter
Winkel. Für das, was innen ist, haben wir Begriffe und Kategorien.
Wir können es identifizieren, bewerten. Wir können es formen und
gestalten. Menschen, die innen sind, können wir erziehen. Das Beste
wäre aus dieser Sicht, wenn es überhaupt nur ein Innen gäbe, wenn
es keinen blinden Fleck, keinen toten Winkel gäbe; wenn alles so
transparent und vom Licht der Vernunft beleuchtet wäre, dass wir
ganz unter Kontrolle bekommen, was wir durch Erziehung bewirken
wollen: eine vollkommene Ordnung nach menschlichem Plan. Das
ist der Plan von der Abschaffung des Dunkels.
Im Roman von Peter Høeg zeigt sich, dass sowohl das Eigene als
auch das Fremde sich nicht aufheben lassen in das Gemeinsame. Dass
da etwas bleibt, das sich selbst dem Solidargedanken der Komple-
mentarität, dem einfühlsamen Verständnis und der arbeitsteiligen
Kooperation entzieht, also auch jenen Formen von Gemeinsamkeit,
in denen das Andere als Anderes ja anerkannt wird. Was sich am Ei-
genen dieser Vermittlung entzieht, ist das, was am Eigenen fremd
bleibt. Und was sich am Fremden dieser Vermittlung entzieht, ist
dessen Eigensinn. Es ist das, was im Dunkel bleibt.

152
Eigenheit und Fremdheit

Betrachte ich nun, was aus dem Eigenen geworden ist, dann zeigt
sich uns eine Art Spaltung: in das, was sich vermitteln lässt; und in
das, was sich der Vermittlung entzieht. In Soziales und Einziges. Fal-
len wir also alle auseinander in zwei nun ihrerseits unvermittelte, das
heißt voneinander isolierte Hälften, eine soziale und eine individuel-
le? Und gibt es zwischen dem Eigenen und dem Fremden außerhalb
der Gemeinsamkeit gar keine Beziehung?
Ich hatte schon über den besonderen Charakter sozialer Gemein-
samkeit gesprochen, der darin liegt, dass hier die Andersheit nicht
nur akzeptiert, sondern geradezu benötigt wird. Soziale Gemein-
samkeit ist also nicht abstrakte Allgemeinheit, wie sie etwa einem
Gattungsbegriff zugrundeliegt, in dem all die Merkmale zusammen-
gefasst werden, durch welche die Exemplare der Gattung sich nicht
voneinander unterscheiden, worin ein Exemplar ist wie das andere.
Soziale Gemeinschaft ist demgegenüber vielmehr eine konkrete All-
gemeinheit, in welcher Unterschiedenes aufeinander bezogen wird
und miteinander interagiert. Die Quelle dieser Unterschiedenheit
aber ist nicht etwa die gesellschaftliche Ordnung, abstrakt und das
heißt losgelöst von den Individuen betrachtet, welche sie bilden.
Sondern die Quelle der Unterschiedenheit ist die Einzigkeit des Ei-
genen wie des Fremden.
Insofern die soziale Gemeinsamkeit keine abstrakte, sondern eine
konkrete Allgemeinheit ist, erhält sie ihre jeweilige Gestalt und Form
in Abhängigkeit davon, welche Menschen es sind, die sie bilden. Sie
kann daher keine überzeitliche ewige Ordnung sein, sondern sie ent-
wickelt und verändert sich mit den Menschen, die sie bilden. Sie hat
eine Geschichte.
Daher muss sich die soziale Ordnung an die Menschen binden,
wenn sie eine menschliche Lebensform bleiben und keine abstrakte
Struktur werden soll. Das Soziale im einzelnen Menschen muss sich
entwickeln können aus seinem Eigensinn und darf nicht an dessen
Stelle treten. Nur dann ist das Engagement, sich am Gemeinsamen
zu beteiligen, ein motiviertes und nicht erzwungenes. Dass die gesell-

153
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

schaftliche Ordnung hierdurch grundsätzlich in einen Prozess der


Veränderung gestellt ist, dass sie in ihrer jeweiligen Gegebenheit hier-
durch in Frage gestellt ist, ist die Konsequenz. Sie steht im Rahmen
einer solchen Auffassung von Vermittlung prinzipiell unter Kritik.
Daraus leitet sich weiteres ab. Das Verhältnis des Gemeinsamen
oder Sozialen oder Allgemeinen zum Individuellen oder Eigenen
oder Einzigen kann dann auch nicht im Sinne einer Instrumentali-
sierung ausgelegt werden, die lautet: Wir lassen das an Individualität
zu, was sich in die bestehende Ordnung integrieren lässt. Damit wür-
de die bestehende Ordnung wieder zur Prämisse. Ebensowenig ist die
umgekehrte Variante zulässig: Ich lasse mich soweit auf Gesellschaft
an, wie es mir zupass kommt. Damit würde die Einzigkeit zur Prä-
misse. Beide Positionen verfehlen die Chance jener Bereicherung, die
aus der Vermittlung kommt.
Also ist jener Begriff der Vermittlung, der sich auf das Zustande-
kommen des Gemeinsamen bezieht und den Eigensinn und das
Fremde als Unvermittelbares sozusagen ausklammert, allein noch
nicht ganz zureichend. Wenn Vermittlung ihren Sinn bezieht aus ih-
rer Bindung an das unvermittelbar Einzige der individuellen Exi-
stenz, aus dessen Spontaneität die kreativen Impulse zu ihrer Er-
neuerung und Weiterentwicklung kommen und aus dessen
Bedürfnissen sie sich motiviert, dann muss in der Vermittlung Raum
gegeben werden für Einzigkeit, Eigensinn und Fremdheit. Das ist ris-
kant, höchst riskant für den Bestand der Ordnung, aber unum-
gänglich, da wir nicht wissen können, welche Impulse es sind, die
konstruktiv werden können für eine neue, bessere Ordnung. Das
Neue ist nicht berechenbar.
Deshalb ist der Begriff der Vermittlung für die Pädagogik zu
erweitern. Er hat ein Moment mit aufzunehmen, das man als Re-
spekt, Achtung, Anerkennung bezeichnen könnte; eine Haltung, die
nicht auf Gemeinsamkeit aus ist, sondern das Einzige in seiner Un-
vermittelbarkeit und Fremdheit stehen lassen kann, ohne es auszu-
schließen oder zu isolieren.

154
Eigenheit und Fremdheit

Wovon aber soll es denn ausgeschlossen werden können, wenn es


doch der Gemeinsamkeit gerade entzogen bleiben soll?
Anscheinend unterstelle ich mit meinen Formulierungen noch
ein umfassenderes, übergreifendes Gemeinsames, das sich nicht mit
gesellschaftlicher Ordnung identifizieren lässt, auch wenn es in sich
die geschichtlichen Bewegungen birgt, aus welchen diese Ordnun-
gen, einander ablösend, hervorgehen. Ich unterstelle eine grundle-
gende menschliche Identität, eine Verbundenheit der Menschen mit-
einander, die nicht Ergebnis von Vermittlung ist, sondern ihre
Voraussetzung. Und die jeder einzelne Mensch als Vermittlungs-
begehren und Sehnsucht mit auf die Welt bringt. (Dies ist eine ande-
re Formulierung für die leibliche Vernunft, von der ich früher ge-
sprochen habe.) Deshalb sind Achtung und Anerkennung für
Eigensinn und Fremdheit des Einzigen nicht normative Postulate,
welche einer auf Unterwerfung drängenden Gesellschaft oder einem
auf rücksichtslose Selbstverwirklichung drängenden Individuum ap-
pellativ und daher ohnmächtig vorgehalten werden müssen. Es sind
Postulate, welche an die inneren Vermittlungstendenzen von Gesell-
schaft wie Individuum anschließen.
So gäbe es eine Möglichkeit, wie das Eigene dem Fremden begeg-
nen kann, ohne es leugnen, sich aneignen oder auslöschen zu müssen.
Eine Möglichkeit, wie es dem Fremden mit Achtung begegnen kann.
Indem es das Fremde das Fremde sein lässt und – als potentiell beun-
ruhigendes Moment – einlässt in die eigene Ordnung, damit aner-
kennend, dass in ihm die Quellen liegen für die Entwicklung hin zu
einer reicheren Sozialität. Vergessen Sie dabei nicht: Es geht nicht
nur um den fremden Anderen, dessen Fremdheit Raum gegeben wer-
den soll. Es geht immer dabei auch um das fremde Selbst, das Frem-
de, das in uns schlummert, dem Raum gegeben wird. Die Überra-
schung, die wir für uns selbst darstellen können.
Es ist daher gar nicht so verwunderlich, dass in unserem
Alltagsverhalten beides angetroffen wird: die Ablehnung der Un-
Normalität ebenso wie ihre Förderung, die Faszination an ihr, ja die

155
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Begeisterung. Schrille Gestalten, das außergewöhnliche Talent, der


liebenswerte Verrückte – es gibt viele Erscheinungsformen des Un-
Normalen, die uns ganz und gar nicht erschrecken, die uns vielmehr
zeigen, dass noch „Leben in der Bude” ist. Und das brauchen wir
doch mindestens ebenso sehr wie die Sicherheit, dass unsere gewohn-
te Ordnung nicht ganz aus den Fugen gerät.

156
Siebte Vorlesung
Arbeit und Spiel

7.1 Improvisation
7.2 Das „Reich der Freiheit“ und das „Reich der
Notwendigkeit“ (Marx)
7.2.1 Von der „Arbeitsgesellschaft“ zur
„Freizeitgesellschaft“
7.2.2 Notwendige Arbeit
7.2.3 Befreiende und befreite Arbeit
7.2.4 Arbeit und Pädagogik
7.3 „Was ist, ist. Was nicht ist, ist möglich.“
7.4 Potentieller Raum
7.4.1 „Der Ort, an dem wir leben“
7.4.2 Spiel-Raum
7.4.3 Realitätsprinzip und Omnipotenz
7.4.4 Kultur-Raum

Musik:
Charlie Haden and Ernie Watts – First Song (For Ruth) (1988).
Vom Album „Gitanes Jazz – Saxophone“ (Compilation; 1989)

7.1 Improvisation
Sie haben (in dieser Vorlesung erstmals) ein Jazz-Stück gehört. Ich
habe ein Saxophon-Stück ausgesucht, weil ich den Sound eines Saxo-
phons ungeheuer mag (und mich übrigens deshalb selbst mit 16 Jah-
ren mal erfolglos am Saxophon versucht habe).

157
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Zum Wesen des Jazz gehört die Improvisation. In der Musik ist
Improvisation die freie Gestaltung in einem festgelegten Rahmen.
Dieser Rahmen kann aus unterschiedlichen musikalischen Elemen-
ten bestehen und mehr oder weniger eng gefasst sein – darin unter-
scheiden sich dann auch unterschiedliche Stile des Jazz. Der Free Jazz
zum Beispiel, der in den 50er Jahren aufkam, versuchte, den Rahmen
so weit zu fassen oder gar aufzulösen, dass eine maximale Improvisa-
tionsfreiheit gegeben war. Maximal heißt aber nicht: grenzenlos oder
unendlich. Auch der Free Jazz brauchte, insbesondere für das Zusam-
menspiel mehrerer Musiker, gewisse Festlegungen oder Vereinbarun-
gen beziehungsweise Regeln.
Wichtig ist also, dass der musikalische Rahmen die Freiheit der
Improvisation zwar begrenzt, aber gleichzeitig auch erst ermöglicht.
Improvisation ist freies Spiel mit gegebenem Material, nach vorgege-
benen Regeln.
Indem ich so die Aufmerksamkeit nicht nur auf die in Improvisa-
tion sich ausdrückende Freiheit der kreativen Gestaltung lenke, son-
dern auch auf die Bedingung dieser Freiheit, welche paradoxerweise
ihre Einschränkung ist, bin ich bei einem zentralen Thema unserer
Vorlesung, das in verschiedenen Varianten immer wieder auftauchte:
das Verhältnis von Freiheit und Bedingtheit; von Spontaneität und
Determination; von Selbst- und Fremdbestimmung undsoweiter Es
ist ein Thema, welches im Erziehungsbegriff angelegt ist, wenn dieser
die Paradoxie einer fremdbestimmten Entwicklung aus eigenem Sinn
enthält.
Es soll heute um das gehen, was der Jazz-Musiker in Anspruch
nimmt, wenn er improvisiert; was aber auch in allen anderen Be-
reichen in Anspruch genommen wird, wo immer menschlicher Ge-
staltungskraft eine Chance zur Verwirklichung gegeben werden soll:
es geht um „Spiel-Raum“, den „Frei-Raum“, in dem Spiel möglich ist
und den der englische Psychoanalytiker Winnicott Potentiellen
Raum nennt.

158
Arbeit und Spiel

7.2 Das „Reich der Notwendigkeit“ und


das „Reich der Freiheit“ (Marx)
7.2.1 Von der „Arbeitsgesellschaft“ zur „Freizeitgesellschaft“
Wenn wir Kinder und Jugendliche auf das Leben in unserer heutigen
Gesellschaft vorbereiten, dann heißt dies auch, sie auf ein „Ar-
beitsleben“ vorzubereiten. Jedenfalls hieß es dies lange. Solange, wie
unsere Gesellschaft noch zutreffend als „Arbeitsgesellschaft“ charak-
terisiert werden konnte. Heute allerdings ist zunehmend davon die
Rede, dass unserer sogenannten „Arbeitsgesellschaft“ die Arbeit aus-
gehe. Manche betrachten dies als eine Katastrophe – denn Arbeit bil-
det die Grundlage der gesellschaftlichen wie der persönlichen Exi-
stenz. Andere betrachten dies als eine Verheißung – denn Arbeit
erscheint ihnen als eine Last, von welcher befreit zu werden doch nur
als positive Perspektive angesehen werden könne. Die einen denken
an Arbeitslosigkeit; die andern an wachsende Freizeit und Freiheit.
Die „Arbeitsgesellschaft“ wird zur „Freizeitgesellschaft“. Oder wie es
der ehemalige Bundeskanzler Kohl mit der ihm eigentümlichen Bos-
heit formuliert hat: Unser Land wird zum „Freizeitpark“.
Der Begriff der Arbeitsgesellschaft drückt zunächst einmal dies
aus: Diese Gesellschaft hat ihre Existenzgrundlage in der Arbeit. Ge-
meint ist dabei nicht jene „Arbeit“, die etwa Berti Vogts Geld leistet
(wie er vor Jahren in einer Anzeigencampagne für Geldanlagen ein-
mal stolz verkündete), wenn er es zur Bank trägt und es hinterher auf
wundersame Weise mehr geworden ist – was ein aufrechter Mensch
wie Berti Vogts sich natürlich nur so erklären kann, dass sein Geld
eben genau wie er selbst hart gearbeitet haben muss. Gemeint ist auch
nicht die „Arbeit“, welche von Maschinen geleistet werden könnte;
überhaupt nicht der physikalische Begriff der Arbeit. Gemeint ist die
Arbeit, die von Menschen getan wird; „im Schweiße ihres Ange-
sichts“, wie es in der Bibel heißt.

159
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Ich werde den Arbeitsbegriff heute noch genauer bestimmen und


differenzieren. Vorläufig aber soll der umgangssprachliche Begriff ge-
nügen: Arbeit ist lebensnotwendige Tätigkeit.
Dass sie Tätigkeit ist, heißt, dass sie von Menschen geleistet wird.
Geld und Maschinen werden nicht „tätig“. Diese Betonung des sub-
jektiven Moments ist sehr wichtig für den umgangsprachlichen Ar-
beitsbegriff. Sie führt dazu, dass er heute zum Teil ausgeweitet wird
auf Tätigkeiten, die man früher nicht unter ihn subsumiert hätte:
etwa die Trauer oder die zwischenmenschliche Beziehung. Von
„Trauerarbeit“ oder „Beziehungsarbeit“ zu sprechen, heißt, dass man
nicht einfach trauert oder eine Beziehung hat, sondern dass das Trau-
ern und die Pflege der Beziehung zu aktiven Tätigkeiten werden, die
bewusst und zielgerichtet angegangen werden.
Dass die Arbeit lebensnotwendig ist, weist auf ihren unfreiwilli-
gen Charakter hin: Menschen müssen arbeiten, um leben zu können.
Und wer selbst nicht arbeitet, muss andere für sich arbeiten lassen.
Ohne Arbeit ist menschliches Leben nicht möglich. Arbeit heißt,
dass den Menschen ihre Lebensgrundlagen nicht einfach von der Na-
tur in ausreichendem Maße geschenkt werden, sondern dass sie aktiv
ihre Lebensgrundlagen schaffen müssen.
Zwar mussten, soweit wir wissen, die Menschen schon immer ar-
beiten. Aber nicht immer schon betrachtete sich ihre Gesellschaft als
„Arbeitsgesellschaft“. Die „Arbeitsgesellschaft“ ist jene moderne Ge-
sellschaft, die – wie schon ausgeführt – im 18. Jahrhundert ihren
Durchbruch hatte. Die früheren Gesellschaften sahen zwar die Men-
schen arbeiten. Aber in ihrem Verständnis bildete nicht die Arbeit,
sondern die Natur die menschliche Existenzgrundlage. Arbeit war
eher Empfang der Gaben, welche die Natur uns schenkt. Im traditio-
nalen Erntedank kommt dieses Verständnis der eigenen Lebens-
grundlage als eines Geschenkes deutlich zum Ausdruck.
Die moderne Gesellschaft dagegen erntet nicht mehr die Gaben
der Natur, sondern die Früchte ihrer Arbeit. Sie dankt nicht einer
Natur oder einem Gott für das Geschenk des Lebens, sondern sie

160
Arbeit und Spiel

steht auf dem Standpunkt, dass es ihre eigene (Arbeits-)Leistung ist,


der sie ihr Leben verdankt. Dank Arbeit erscheint der Mensch als
Subjekt auf der geschichtlichen Bühne. Gott und Natur hingegen
treten ab.
Die Arbeitsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die Menschen
von sich sagen: Wir machen uns unsere Welt selber. Nicht die Her-
kunft, die vornehme oder armselige Geburt macht aus, was wir sind
und worüber wir verfügen, sondern entscheidend ist: was wir selbst
aus der Welt und aus uns machen.
Damit erhält die Arbeit einen emanzipatorischen Charakter: Sie
befreit uns von verhängtem Schicksal. Wir können es selbst in die
Hände nehmen.
Was bedeutet es unter diesen Voraussetzungen, dass unserer Ge-
sellschaft die Arbeit ausgehe? Dass aus der Arbeitsgesellschaft eine
Freizeitgesellschaft werde?
Es bedeutet, dass für das, was bisher durch Arbeit geleistet wurde,
in zunehmendem Maße die Arbeit nicht mehr benötigt wird. Etwas
anderes tritt an die Stelle der Arbeit und übernimmt ihre Mission: die
Technik. Maschinen verdrängen die Menschen aus der Produktion.
Die Arbeit scheint auf sie überzugehen. Maschinen machen jetzt die
„Arbeit“. (Berti Vogts meinte ja sogar, dass die Arbeit jetzt auf seine
Geldscheine übergehe.) Deshalb bekämpften Menschen, deren Exi-
stenz auf Arbeit beruhte, die ihnen von Maschinen weggenommen
wurde, diese Maschinen: stürmten und zerstörten sie.
Doch die Maschinen waren und sind nicht Wesen von einem an-
deren Stern. Sie fallen nicht vom Himmel, sind keine Gottesgaben,
keine Ernte der Natur. Sie sind selbst Ergebnisse, Produkte von Ar-
beit. Wenn also Maschinen den Menschen die Arbeit wegnehmen
oder abnehmen, dann haben die Menschen durch ihre Arbeit selbst
dafür gesorgt. Arbeit arbeitet an ihrer Abschaffung. Ihre emanzipato-
rische Kraft geht weiter, als dass sie von den Launen der Natur eman-
zipiert; sie emanzipiert auch von ihrer eigenen Notwendigkeit.

161
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Da dies eine zunächst etwas verwirrende These ist, soll sie näher
untersucht werden: Arbeit emanzipiert von ihrer eigenen Notwen-
digkeit.

7.2.2 Notwendige Arbeit


Dass Arbeit notwendig sei, heißt zunächst, dass sie eine „Not wen-
det“. Es wird gearbeitet, um die Not des Hungers zu wenden, die Not
von Hitze und Kälte, die Not der Krankheit undsoweiter Die mythi-
sche Vertreibung aus dem Paradies bringt die Notwendigkeit der Ar-
beit mit sich. In diesem Mythos klingt die Einsicht in eine bittere
Notwendigkeit an, und zugleich die Sehnsucht danach, eines fernen
Tages von ihr ein für allemal befreit zu sein: „zurückkehren“ zu kön-
nen ins Paradies.
Die notwendige Arbeit ist daher selbst eine Not; in ihrer Unum-
gänglichkeit und Mühsal transportiert sie den Schmerz und das
Elend der Not, die sie wenden will. Wenn Arbeit die menschliche
Not, letztlich alle menschliche Not wenden soll, dann muss sie auch
die Not wenden, die sie selbst ist: Arbeit muss von sich befreien.
Die geschichtliche Entwicklung der Arbeit ist daher durch zwei
zentrale Motive geleitet: das Motiv der Emanzipation von der Natur;
und das Motiv der Emanzipation von der Arbeit.

Emanzipation von der Natur


In den Frühzeiten der Menschheit beruhte das Leben fast aus-
schließlich auf den Gaben der Natur. Die Jäger und Sammler nah-
men aus der Natur, was diese anzubieten hatte. Und wenn der lokale
Naturreichtum erschöpft war, dann zog man an einen anderen Ort.
Blieben die Gaben der Natur aufgrund von Dürren, Naturkatastro-
phen, Seuchen länger aus, als die Vorräte reichten, dann bedeutete
dies den Tod.
Viehzucht und Ackerbau waren die ersten Formen, in denen die
Menschen begannen, sich aus der absoluten Naturabhängigkeit zu
befreien, indem sie der Natur sozusagen nachhalfen, dafür sorgten,

162
Arbeit und Spiel

dass sie beständig und in ausreichender Menge auch für eine um-
fängliche Vorratswirtschaft ihre Gaben lieferte. Sie sorgten für das
kontinuierliche Nachwachsen dessen, was sie verbrauchten.
Im weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte wurde so bis heu-
te Schritt für Schritt Natur durch Arbeit substituiert. Die moderne
Gesellschaft schließlich gründet sich in ihrer Wert-Ökonomie so
vollständig auf die Arbeit, dass Natur als ökonomische Größe nahezu
verschwindet. (Die ökologische Problematik, die aus diesem ökono-
mischen Verschwindenlassen der Natur resultiert, will ich an dieser
Stelle nicht thematisieren.)

Emanzipation von der Arbeit


Die fortschreitende Substitution der Natur durch Arbeit wurde mög-
lich, weil sich die Arbeit selbst veränderte. Es veränderten sich ihre
Verfahrensweisen und Mittel; und es veränderte sich das subjektive
Vermögen der Arbeit, das Wissen und Können, das sie leitete. Tech-
nisch bedeutete dies steigende Effizienz der Arbeit; ökonomisch be-
deutete es wachsende Produktivität: dieselben Effekte waren mit im-
mer geringerem Arbeitseinsatz zu erzielen; und derselbe Arbeitsein-
satz führte zu einem sich steigernden Ausstoß an Produkten.
Die Arbeit zeitigte also zwei unterschiedliche Effekte: Sie produ-
zierte Lebensmittel im weitesten Sinne und trat darin die Nachfolge
der Natur an. Und sie produzierte veränderte Formen und Mittel der
Arbeit. Als lebensmittelproduzierende Arbeit wendete sie die Not der
menschlichen Bedürftigkeit. Als arbeitsmittelproduzierende Arbeit
wendete sie die Not der Arbeit.

7.2.3 Befreiende und befreite Arbeit


In diesem Sinne also ist die arbeitsmittelproduzierende Arbeit befrei-
ende Arbeit. Sofern die Arbeit eine Not ist, ist die Befreiung von ihr
notwendend, also notwendig. So differenziert sich der Begriff der
notwendigen Arbeit.

163
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Was sich geschichtlich verändert, ist die Relation der beiden Ar-
ten notwendiger Arbeit. Immer mehr Arbeit floß in die Produktion
von Arbeitsmitteln (Technik) und immer weniger Arbeit in die Pro-
duktion von Lebensmitteln.
Allerdings: Solange das Anwachsen der arbeitsmittelproduzieren-
den Arbeit die Verringerung der lebensmittelproduzierenden Arbeit
vollständig kompensiert, mag die Arbeit zwar insgesamt einen wach-
senden Ausstoß an Produkten bewirken, aber sie besetzt weiterhin als
notwendige Tätigkeit einen gleichbleibenden Anteil der Lebenszeit.
Sie befreit nicht von sich. Notwendend im zweiten Sinne ist sie erst,
wenn sich die notwendige Gesamtarbeitszeit verringert und die ar-
beitsfreie Zeit ausdehnt. Erst dann trifft zu, was als Übergang von der
„Arbeitsgesellschaft“ in die „Freizeitgesellschaft“ bezeichnet wird.

7.2.4 Arbeit und Pädagogik


Was, so werden Sie sich fragen, hat das aber mit Pädagogik zu tun?
Erstens: Die Arbeit wird durch den Menschen verändert; aber sie
verändert auch den Menschen. Arbeit ist in gewissem Sinne ein
Selbsterziehungsprozess. Durch Arbeit verändern die Menschen ihre
Umwelt. Und durch ihre veränderte Umwelt werden sie genötigt,
sich selbst zu verändern. So verändern sie auf diesem vermittelten
Wege sich selbst. Wenn die Arbeit der Grund ihrer Entwicklung ist,
heißt dies, dass sie in dieser Entwicklung sich selbst bestimmen, dass
es eine selbstbestimmte Entwicklung ist. Der pädagogische Begriff
dafür ist Bildung. Aber die Notwendigkeit der Arbeit und die Indi-
rektheit der durch sie bewirkten Veränderung der Menschen selbst
heißt auch, dass den Menschen die Wirkungen ihrer Arbeit als frem-
de Bestimmungen begegnen, als etwas von außen Kommendes; dass
sie sich als fremdbestimmt empfinden. Der pädagogische Begriff
hierfür ist Erziehung. Die notwendige Arbeit ist als notwendende et-
was, worin der Mensch nicht frei ist. Die Entwicklung, zu der sie die
Menschen nötigt, erscheint als fremdbestimmt. In ihr ist Zwang.

164
Arbeit und Spiel

Und doch ist sie auch eine befreiende Tätigkeit. Und darin liegt ein
Übergang.
Zweitens: Es liegt darin ein Übergang in die freie Tätigkeit. In die
Tätigkeit, die nicht mehr von Natur-Notwendigkeit und auch nicht
von Arbeits-Notwendigkeit bestimmt ist. Diese freie Tätigkeit wird
möglich in jenem Bereich, auf dessen Ausdehnung die Arbeit als von
sich selbst befreiende hinwirken will: in der arbeitsfreien Zeit. Marx
hat gesagt: Hier, in diesem Bereich der arbeitsfreien Zeit, beginne
überhaupt erst das wahre menschliche Leben, das Leben nämlich, in
dem er sich selbst bestimmen könne. Die Arbeit sei das „Reich der
Notwendigkeit“. Jenseits dessen, in der arbeitsfreien Zeit, erstrecke
sich das „Reich der Freiheit“. (Marx 1894, 828)
In der notwendigen Arbeit unterwirft der Mensch sich den Bedin-
gungen, die er vorfindet und deren Not er zu wenden sucht. Doch
dabei hilft ihm die List seiner Vernunft; denn zugleich entwickelt er
die Arbeit so, dass sie sich selbst reduziert, also ihre eigene Not-
wendigkeit aufhebt, sich befreit.
Woher nimmt die Arbeit diese Kraft der Befreiung?
Aus jener Kraft der Innovation, die sich über das je Gegebene und
seine Not erheben kann; die hinter dem je Gegebenen seine noch un-
erschlossenen Möglichkeiten entdecken kann; die das Nicht-Seiende
im Seienden erschließt; die das Seiende durchbricht, um das Nicht-
Seiende zum Sein zuzulassen. Das ist die utopische Kraft der Bil-
dung. Durch Bildung vermag Arbeit von sich zu befreien. Oder an-
ders ausgedrückt: Durch Bildung wird Arbeit zur befreiten Arbeit,
zur freien Arbeit; zur Kultur.
Wo die notwendige Arbeit geleistet ist, wo die Lebensbedingun-
gen gesichert sind, dort kann die freie Tätigkeit einsetzen, die sozu-
sagen zweckfreie Tätigkeit, das heißt die Tätigkeit, in der Menschen
sich nicht einer Zielvorgabe unterzuordnen, keiner Notwendigkeit
und keinem Zwang zu folgen haben. Wo Ziele überhaupt erst ge-
setzt, neue Möglichkeiten entdeckt, Zukunft geöffnet wird. Für diese
Art der Tätigkeit haben wir das Wort Spiel.

165
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Musik:
Einstürzende Neubauten – Was ist, ist (1996).
Vom Album „Ende Neu“ (1996)

7.3 „Was ist, ist. Was nicht ist, ist möglich.“


Es gibt einen Realismus, der tödlich ist, weil er die menschliche Exi-
stenz an das Gegebene nagelt und so in ihrer utopischen Dimension
vernichtet. Dies ist der tautologische Realismus des Satzes: „Was ist,
ist.“ Dieser Realismus öffnet nichts. Er macht den FreiRaum, den be-
freiende Arbeit eröffnen könnte, dicht. Noch die Tätigkeit jenseits
der notwendigen Arbeit wird dann auf den Dienst am Bestehenden
verpflichtet. Das ist auch eine Anti-Pädagogik; allerdings im ganz an-
deren Sinne: Die Negierung der emanzipatorischen Kraft, welche in
der Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten wirksam werden
kann.
Pädagogik geht es um die Erschließung von subjektiven und ob-
jektiven Potenzialen, um Aufschließung jenes FreiRaums, in dem
werden kann, was noch nicht ist. Werden, Entwicklung, Bildung
sind nicht festzunageln auf das, was ist. Sie sind verwiesen auf das,
was (noch) nicht ist. Sie sind verwiesen auf den Raum, in dem sich
dies erschließt: auf den Potentiellen Raum.

7.4 Potentieller Raum


7.4.1 „Der Ort, an dem wir leben“
Was ist Potentieller Raum? Der Potentielle Raum ist für Winnicott,
von dem ich diesen Begriff übernommen habe, „der Ort, an dem wir
leben“ (Winnicott 1974, 128ff.). Das klingt erstmal furchtbar banal:
„der Ort, an dem wir leben”. Wenn wir danach gefragt würden, an
welchem Ort wir leben, was würden wir antworten?

166
Arbeit und Spiel

Ist Darmstadt der Ort, an dem wir leben? Wo, an welchem Ort
leben wir gerade jetzt, in diesem Augenblick? Hier in diesem Raum?
Leben Sie wirklich hier? Sind Sie hier? Sind Sie nicht vielleicht
mit Ihren Gedanken gerade ganz woanders? Ihr Körper ist hier, aber
Ihr Geist ist anderswo? Und wenn Sie mit Ihren Gedanken hier sind,
sind Sie dann ganz hier? Auch mit dem Herzen? Oder mit der Seele?
Wo ist das an oder in Ihnen, das „Ich” sagt? Was heißt „hier”? Hat
Ihre Psyche einen physikalischen Aufenthaltsort?
Wir sagen auch: „In welcher Welt leben Sie eigentlich?” Und
dann heißt das, dass mein Gegenüber, an das ich diese Frage richte
und von dem ich ja sehe, wo sie oder er sich gerade befindet, nämlich
an demselben physikalischen Ort, an dem auch ich mich befinde, mir
als irgendwie abwesend erscheint, als „nicht von meiner Welt”. Das
bezieht sich anscheinend auf seinen – wie man vorläufig sagen könnte
– inneren Aufenthaltsort. Innerlich lebt er woanders als ich.
Es sieht so aus, als hätten wir zwei Aufenthaltsorte: den inneren
und den äußeren. Heißt das, dass Sie an beiden Orten leben? Haben
Sie zwei Leben? Parallel? Miteinander verbunden? Wodurch?
Winnicott hat die Frage nach dem Ort, an dem wir leben, dahin-
gehend beantwortet, dass er nicht sagte: an beiden Orten, im Innern
und im Äußern; sondern: an keinem der beiden Orte, vielmehr an ei-
nem dritten. „Wo“ ist dieser dritte Ort?
Der Raum, an den die NaturwissenschaftlerInnen unter Ihnen als
erstes denken, ist der physikalische, äußere Raum. Dieser Raum ist
erfüllt mit Dingen; und in ihm bewegen wir uns selbst als physikali-
sche Körper. Die Dinge, mit denen dieser Raum erfüllt ist, sind na-
türlich nicht nur durch ihre physikalische Beschaffenheit bedeutsam,
sondern auch durch anderes; insbesondere auch durch soziale Be-
stimmungen und Funktionen. Das ist der soziale Raum, in dem wir
uns vorfinden und der die gesellschaftswissenschaftlich Orientierten
unter Ihnen besonders interessiert. Die Mauern eines Gefängnisses
haben eine andere soziale Bedeutung als die Mauern einer Schule
oder die Mauern Ihres Zuhauses, auch wenn sie physikalisch von

167
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

gleicher Beschaffenheit sind. Dies alles, physische und soziale Welt


zusammen, ist die äußere Realität, die Welt der objektiv wahrnehm-
baren Realität, wie Winnicott sagt. Sie enthält physische und soziale
Determinierungen, Zwänge, Funktionen, Bedingungen undsowei-
ter, welche an mich Anforderungen stellen, auf die ich reagieren
muss. Soweit ich nur reagiere und sonst nichts, ist das, was ich tue
und was ich durch mein Tun bin, eine Funktion dieser äußeren
Welt. Ganz extrem formuliert wäre der einzelne Mensch nur ein aus-
tauschbares Rädchen in diesem objektiven Getriebe.
Die GeisteswissenschaftlerInnen unter Ihnen denken schon eher
an einen anderen Raum, in dem sie sich bevorzugt aufhalten; den in-
neren Raum der Gedanken, Vorstellungen, Phantasien. Winnicott
nennt dies den Bereich der intrapsychischen Realität. In meiner in-
neren subjektiven Vorstellungs und Gedankenwelt erscheine ich –
ganz anders als in der objektiven äußeren Welt – als Herrscher. Ich
bestimme, was ich denke. Ich male mir eine Welt aus, wie sie mir ge-
fällt. Gedanklich kann ich die Puppen tanzen lassen, auch wenn ich
draußen überhaupt nichts zu melden habe.
Winnicott postulierte nun einen dritten Raum zwischen der in-
trapsychischen Realität, also der Welt der subjektiven Vorstellungen,
Phantasien und Illusionen, und der objektiven Realität, der physi-
schen und sozialen Welt, die unabhängig vom Subjekt existiert. Die-
sen dritten Raum „dazwischen” nannte er „intermediären Raum”
oder „Potentiellen Raum”. Und er sagte: Dies sei der Ort, an dem wir
leben.

7.4.2 Spiel-Raum
Um sich vorstellen zu können, was er meint, sollten wir an das ur-
sprüngliche, unreglementierte, spontane, in sich versunkene Spiel des
Kindes denken. Wir haben den Eindruck, dass ein solches Kind in ei-
nem gewissen Sinne „ganz dabei” ist, aber auch „nicht ganz da”. Wo
hält sich dieses Kind auf? Offensichtlich ist es nicht in sich gekehrt
und hängt bloß seinen Gedanken, Phantasien und Träumen nach. Es

168
Arbeit und Spiel

hantiert mit Dingen, es gibt Laute von sich, die dem Betrachter nicht
bloß als Selbstgespräch, sondern durchaus als eine Kommunikation
mit den Dingen erscheinen; es ist sehr konzentriert, und zwar auf das,
was es tut. Zugleich erscheint uns das Innere des Kindes in einem au-
ßerordentlichen Maße beteiligt. Das Kind hantiert nicht mecha-
nisch, sondern äußerst engagiert, so einbezogen, dass es alles andere
um sich herum vergisst. Es lebt in diesem Moment offensichtlich in
einer durchaus realen Welt, die dennoch von der sonstigen realen
Welt, die das Kind umgibt, durch irgendetwas abgeschirmt ist. Der
Raum, in dem das Kind spielt – und damit ist nicht das Kinderzim-
mer gemeint –, ist Winnicotts Potentieller Raum. Es ist der Raum,
der Spiel ermöglicht. Spiel ist eine Tätigkeit, die weder bloße Hallu-
zination und reine Phantasie ist noch Anpassung und Unterwerfung
gegenüber einer gegebenen äußeren Realität. Es ist eine ganz beson-
dere, vermittelnde Tätigkeit; vermittelnd nämlich zwischen Innen
und Außen, subjektivem Impuls und objektiver Bedingung. Im Spiel
liegt für Winnicott die Wurzel aller Kultur.
„1. Kulturelles Erleben ist lokalisiert in einem schöpferischen Spannungsbereich zwi-
schen Individuum und Umwelt (anfänglich: dem Objekt). Dasselbe gilt für das Spie-
len. Kulturelles Erleben beginnt mit dem kreativen Leben, das sich zuerst als Spiel
manifestiert. 2. Für den einzelnen Menschen ist die Möglichkeit, sich dieses Berei-
ches zu bedienen, durch Lebenserfahrungen in den allerersten Phasen seiner Existenz
vorgegeben. 3. Die Erfahrungen im potentiellen Bereich zwischen subjektivem Ob-
jekt und objektiv wabrgenommenem Objekt, zwischen Ich und ‚Nicht-Ich‘ sind für
das Kind von Anfang an äußerst intensiv. Dieser Spannungsbereich entsteht in der
Wechselwirkung zwischen dem ausschließlichen Erleben des eigenen Ich (‚es gibt
nichts außer mir‘ und dem Erleben von Objekten und Phänomenen außerhalb des
Selbst und dessen omnipotenter Kontrolle.“ (Winnicott 1974, S. 116)
Bei Winnicott hat das kindliche Spiel eine ganz besondere Bedeu-
tung für die Entwicklung der beiden Pole menschlicher Lebensbe-
wältigung: für die Entwicklung seiner kreativen Kräfte und für die
Entwicklung seines Realitätsbezugs. Das Spiel leistet die Vermitt-
lung: In ihm finden beide Pole zu ihrem Recht, ohne das Recht des
jeweils anderen Pols zu bestreiten. In der Vermittlung können die
kreativen Kräfte wirksam werden, das heißt in die Realität gestaltend
hineinwirken, statt nur unverwirklicht in der Phantasie gehalten zu

169
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

werden. Und in der Vermittlung kann auch das Möglichkeits- und


Veränderungspotenzial der äußeren Realität erschlossen und ausge-
schöpft werden.

7.4.3 Realitätsprinzip und Omnipotenz


Dass das Kind die Realität akzeptieren kann, ist keineswegs selbst-
verständlich. Und wenn es sie akzeptiert, dann fragt sich: um wel-
chen Preis? Denn zunächst, am Beginn seines Lebens, weiß ein Neu-
geborenes nichts von einer äußeren Realität, die unabhängig von ihm
existiert. Seine Vorstellungswelt – so Winnicott – ist noch nicht ge-
schieden in Inneres und Äußeres, in Ich und Nicht-Ich. Dinge er-
scheinen und verschwinden wieder; und dass diese Dinge eine Exi-
stenz haben könnten, die das Erscheinen und Verschwinden
überdauert, diese Vorstellung von einer „Objektkonstanz“ setzt Er-
fahrungen und Einsichten voraus, die ein Kind erst noch machen
und gewinnen muss und mit denen es nicht auf die Welt gekommen
sein kann.
Das Kind verspürt ein Bedürfnis, zum Beispiel Hunger. Und
wenn die Mutter (oder jemand an ihrer Stelle) dies am Verhalten ih-
res Kindes spürt, bietet sie ihm die Brust oder das Fläschchen. Für das
Kind verbindet sich mit dem Hungergefühl danach eine undeutliche
Vorstellung von einem Objekt, welches das Bedürfnis befriedigt. Mit
einer gewissen Zuverlässigkeit erscheint dieses Objekt, Brust oder
Fläschchen, immer wieder genau dann, wenn es Hunger verspürt.
Dass es hierfür eine externe Ursache, nämlich die Aufmerksamkeit
der Mutter, geben könnte, kann ihm noch nicht in den Sinn kom-
men. Vielmehr scheint ein Zusammenhang zwischen der eigenen
Halluzination des bedürfnisbefriedigenden Objekts und dem Er-
scheinen und Verschwinden dieses Objekts zu bestehen. Winnicott
vermutet, dass das Kind das gute, nämlich bedürfnisbefriedigende
Objekt zurückführt auf seine eigene halluzinatorische Imagination,
sich also als dessen Schöpfer sieht: Die Welt ist gut, und sie ist seine
Schöpfung – sofern alles „hinreichend gut“ gelaufen ist, das heißt die

170
Arbeit und Spiel

soziale Umwelt des Kindes sich so auf seine Bedürfnisse eingestellt


hat, dass ihm Omnipotenzerfahrung ermöglicht wurde, also das, was
seine Umwelt für es tut, ihm als Leistung des omnipotenten Hand-
lungssystems erscheint, dessen Zentrum es ist. Dass es die Welt gibt
und dass sie gut ist, erscheint ihm als Ausdruck seiner Kreativität, sei-
ner Schöpfungsmacht.
Eine gewisse Zeit ist das möglich, solange nämlich die Bedürfnisse
des Kindes noch sehr fundamental und einfach sind und die Mutter
beispielsweise das Wichtigste, was das Kind jeweils braucht, in ihrer
eigenen Leiblichkeit „dabei hat“ oder jedenfalls in Reichweite: Nah-
rung, Wärme und Schutz vor den Gefahren der Außenwelt. Dazu
kommen dann die ersten Gegenstände, zu denen das Kind Kontakt
aufnimmt. Die Welt, in der das Kind Omnipotenz erlebt, ist noch
sehr einfach, weil seine Ansprüche noch sehr einfach sind. Mit der
Ausdifferenzierung seiner Fähigkeiten und Bedürfnisse und der Aus-
weitung seines Aktions- und Erlebnisradius werden die Ansprüche an
die Welt höhergeschraubt, zu hoch, als dass auf Dauer die Mutter
oder die soziale Umwelt des Kindes in der Lage sein könnten, sie zu
erfüllen. Außerdem wollen und müssen sie irgendwann wieder ihr ei-
genes Leben führen. Das Kind muss selbst Realitätstüchtigkeit erwer-
ben. Es muss mit dem Realitätsprinzip konfrontiert werden, und es
muss lernen, damit fertig zu werden.
Das Realitätsprinzip ist das Prinzip der notwendigen Arbeit.
Wenn das Kind mit dem Realitätsprinzip konfrontiert wird, dann
wird es mit den Lebensnotwendigkeiten konfrontiert, denen es sich
in irgendeiner Weise fügen muss. Das Realitätsprinzip besagt, dass es
eine Welt gibt, deren Bestand und Zustand nicht vom Wollen des
Kindes abhängen, eine Welt, die sich nicht nach dem Willen des Kin-
des richtet, sondern ihr eigenes Recht beansprucht. Wenn die Mutter
in ihrer Anpassung an die Bedürfnisse des Kindes zu versagen be-
ginnt, dann erfährt das Kind die Grenzen seiner Potenz zur Schöp-
fung einer guten Welt. Die gute Welt, in Gestalt der Mutter, beginnt
sich der ständigen Verfügung zu entziehen. Das ist, wie Winnicott

171
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

sagt, ein Schock, eine Kränkung, eine Beleidigung der Omnipotenz,


die zunächst einmal Wut und destruktive Tendenzen hervorruft. Das
Kind geht auf die widersetzliche Welt los, um ihren Widerstand zu
brechen, um sie wieder seiner Omnipotenz zu unterwerfen. Es ist
klar, dass es keine Chance hat.
Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten für das Kind, auf die
Konfrontation mit dem Realitätsprinzip zu reagieren, von denen
zwei in die Realitätsuntüchtigkeit führen. Die erste Möglichkeit ist
die, dass das Kind die Existenz einer von ihm unabhängigen Realität
leugnet und sich in die Innerlichkeit zurückzieht, in seine Phanta-
siewelt, in der ihm weiterhin alles möglich ist, in der es seine Omni-
potenz scheinhaft bewahren kann. Es verliert den Kontakt zur äuße-
ren Realität, hält sich in seinen Scheinwelten auf, während es im
realen Leben hilflos im Status des unselbstständigen Kindes verharrt,
das ständig umsorgt werden muss.
Die andere Möglichkeit ist die, dass es sich ganz auf die Objektivi-
tät der Welt einlässt, ganz auf seine Omnipotenz verzichtet und sich
vollständig unterwirft. Es wird zu einer Art leblosem Automaten, der
mechanisch den ihm aufgenötigten Bewegungen der Welt zu folgen
versucht, aber eben deshalb, weil kein eigener Impuls mehr lebendig,
keine eigene Initiativkraft mehr vorhanden ist, paradoxerweise gera-
de ebenso hilflos und realitätsuntüchtig wird wie das Kind, das an sei-
ner Omnipotenz festhält. Es muss also eine dritte Möglichkeit geben,
die Kreativität und Realitätsprinzip vermittelt.
Diese dritte Möglichkeit ist das Spiel. Das Kind hat, wenn es zu
spielen beginnt, schon Erfahrungen mit der äußeren Realität und ih-
ren Ansprüchen und Zumutungen gemacht; und indem es sie in sein
Spiel einbezieht, nimmt es sie an – aber in einer Weise, in der es sich
ihnen nicht reaktiv anpasst, sondern in der es die äußere Realität als
etwas behandelt, das sich durch eigene Kreativität gestalten lässt, in
der es also die Welt nicht nur in einer unverrückbaren Gegebenheit
hinnimmt, sondern ihre Möglichkeiten (ihre Potenzialität) erkundet,

172
Arbeit und Spiel

zum Gegenstand und Material der eigenen kreativen Kräfte zu wer-


den.
Der Ort des Spiels ist weder die Innerlichkeit mit ihrer scheinhaf-
ten Omnipotenz, noch die äußere Objektwelt, die allein ihren eige-
nen Gesetzmäßigkeiten folgt und vom Individuum funktionale Ge-
fügigkeit und Selbstaufgabe verlangt. Sein Ort ist der Potentielle
Raum; ein Freiraum, ein Spielraum.
Die Frage ist: Woher kommt dieser Raum? Wie entsteht er?
Denn: Er ist nicht einfach da, sozusagen von Natur aus. Vielmehr
hat er seine Möglichkeitsbedingungen in den beiden anderen Räu-
men oder Bereichen. Erstens muss er vom Kind in Anspruch genom-
men werden. Potentieller Raum entsteht nur da und nur soweit, wo
beziehungsweise wie er in Anspruch genommen wird. Zweitens muss
der Potentielle Raum von der sozialen Umwelt gewährt, zugestanden
werden. Die bloße Inanspruchnahme von potentiellem Raum durch
das Kind reicht nicht hin, die Gewalt der Geltungsansprüche der
physischen und sozialen Umwelt zu brechen. Das Kind kann diesen
Raum nicht erzwingen, nicht einmal der Umwelt abtrotzen, wenn es
darin nicht Unterstützung erfährt. Potentieller Raum verlangt also
den kreativen Mut auf seiten des Kindes; und das Entgegenkommen
der sozialen Umwelt, welche der Kreativität und Spontaneität des
Kindes Raum zu geben bereit ist.
Potentieller Raum entsteht demnach durch eine doppelte Zu-
rückhaltung: Zurückhaltung der Objektwelt mit ihren überwälti-
genden Forderungen, ihren Gefahren und Zwängen; diese Zurück-
haltung muss, solange das Kind klein ist, von jemand anderem als
ihm selbst geleistet werden. Aber auch diese Person oder Personen,
die das leisten, haben sich selbst zurückzuhalten in ihren For-
derungen und Erwartungen an das Kind. So entsteht ein beschützter
Raum, der frei gehalten wird. Frei, nicht aber leer. Die Objektwelt ist
dort präsent, aber sie ist es in einer anderen, eben zurückhaltenden
Weise. Im Potentiellen Raum kann sich das Kind den Objekten ohne
Angst und ohne Wut nähern. Es kann dort sowohl seine eigenen

173
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

schöpferischen Kräfte erfahren und erproben, indem es seine Phan-


tasien ausagiert, als auch Realitätserfahrung machen, indem es äußere
Realität wahrnimmt und in sein Spiel einbezieht.
„Der Spielbereich ist nicht Teil der intrapsychischen Realität. Er liegt außerhalb des
Individuums, ist aber auch nicht Teil der äußeren Welt. … In diesen Spielbereich
bezieht das Kind Objekte und Phänomene aus der äußeren Realität ein und verwen-
det sie für Vorstellungen aus der inneren, persönlichen Realität. Das Kind lebt mit
bestimmten, aus dem Innern stammenden Traumpotenzialen in einer selbst gewähl-
ten Szenerie von Fragmenten aus der äußeren Realität (ohne daß man dabei von
Halluzination sprechen könnte). … Beim Spielen bedient sich das Kind äußerer
Phänomene im Dienste des Traumes und besetzt ausgewählte äußere Phänomene
mit Traumbedeutung und Gefühl.“ (Winnicott 1974, S. 63)

7.4.4 Kultur-Raum
Wenn wir versuchen zu begreifen, was für ein Ort der Potentielle
Raum ist, müssen wir uns davor hüten, ihn in den Kategorien des äu-
ßeren oder des inneren Raums zu erfassen zu versuchen. Der Poten-
tielle Raum ist kein besonderer Ort in der äußeren Welt; und er ist
keine geheime Kammer in unserer Psyche. Er ist der Raum, in dem
Inneres und Äußeres einander begegnen und einander durchdringen.
Seinen Ursprung hat er in der frühkindlichen Entwicklung, wenn das
Kind beginnt zu spielen. Spielen ist die originäre Art der Weltbe-
gegnung im Potentiellen Raum. Es ist für Winnicott die Wurzel aller
kulturellen Erfahrung und Kreativität.
Weder im Raum der reinen Innerlichkeit können wir leben noch
im Raum der reinen Äußerlichkeit. Im Raum der reinen Innerlich-
keit ist uns zwar alles möglich; aber nichts davon ist real. Im Raum
der reinen Äußerlichkeit sind wir Objekte unter Objekten, funk-
tionelle Elemente eines natürlichen und sozialen Reiz-Reaktions-Zu-
sammenhangs, der uns unsere Bewegungsmöglichkeiten diktiert.
Auch hier leben wir nicht, weil für die Subjektivität des Ich kein
Raum ist.
Nur dort, wo unser Inneres, unsere Phantasien und Träume in die
Realität eindringen können, weil diese hierfür Raum gibt, indem sie
sich sozusagen zurücknimmt in ihrer Definitionsmacht, wo wir Frei-

174
Arbeit und Spiel

raum oder Spielraum erhalten, und nur dort, wo wir die Realität in
uns einlassen, uns auf sie einlassen und sie nicht leugnen, können wir
leben. In diesem Raum werden Inneres und Äußeres sozusagen trans-
parent füreinander. Die Bezeichnung Potentieller Raum weist darauf
hin: Es erschließen sich wechselseitig die Potenziale des Inneren (un-
sere subjektiven Gestaltungskräfte) und des Äußeren (die in der Ob-
jektivität noch schlummernden unentborgenen Möglichkeiten).
Durch diese sich wechselseitig erschließende Potenzialität werden so-
wohl der einzelne Mensch mit seinen inneren Kräften als auch die äu-
ßere Welt, zu der er in Beziehung tritt, in die Möglichkeit der Ent-
wicklung gestellt, und zwar einer miteinander verbundenen
Entwicklung: Durch die Entwicklung der individuellen Kräfte er-
schließen sich die Möglichkeiten der Welt, und durch die Entwick-
lung der Welt erschließen sich die individuellen Potenziale. Diesen
Zusammenhang nennen Pädagogen Bildung.
Um es festzuhalten: Bildung ist demnach nicht – wie wir es ge-
wöhnlich verstehen – die Entwicklung nur des einzelnen Menschen
in einer gegebenen, sich jedenfalls unabhängig von ihm ent-
wickelnden Welt; sondern die gemeinsame und einander durch-
wirkende Entwicklung von Individuum und Welt. Deshalb gehören
Bildung und Weltgestaltung (Kultur) zusammen.

Beziehen wir abschließend die Theorie des Potentiellen Raums auf


den Arbeitsbegriff.
Potentieller Raum ist ein Begriff für die von der notwendigen Ar-
beit befreite Zeit: Spiel-Raum, Frei-Raum, Frei-Zeit, „Reich der
Freiheit“ (Marx). Die Theorie des Potentiellen Raums zeigt, dass die-
ser Raum nicht einfach für sich irgendwo existiert; sondern dass er in
Beziehung steht zum „Reich der Notwendigkeit“ mit seinem Rea-
litätsprinzip. Im Potentiellen Raum werden jene schöpferischen
Kräfte nicht nur freigesetzt, sondern auch wirksam, durch die das
Reich der Notwendigkeit oder die Realität nicht einfach bleibt, was
sie ist, sondern wird, was sie sein kann. Hier werden Spontaneität

175
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

und Kreativität entbunden und konstruktiv, indem sie sich den Ge-
gebenheiten vermitteln. Denn nicht nur unverrückbare Fakten sind
„gegeben“; sondern ebenso Möglichkeiten (Potenziale) des Anderen,
Neuen. Wo man sich blind nur der Faktizität beugt, wird die Mög-
lichkeit zum Andern nicht sichtbar. Die Welt stagniert. In Entwick-
lung versetzt wird sie nur durch die utopische Kraft der Bildung, die
sowohl Selbstbildung ist als auch Weltbildung.
Das Spiel ist daher nicht nur ein Gegenbegriff zur Arbeit. Son-
dern Spiel und Arbeit gehören zusammen. Bleibt das Spiel in den
Sandkasten eingesperrt, in eine bloße Phantasiewelt und kann es sich
nicht der Lebensrealität mit ihren Notwendigkeiten vermitteln, dann
bleiben die in ihm sich ausdrückenden kreativen Kräfte unwirksam.
Das Spiel wird belanglos, bloßer Zeitvertreib. Fehlt der Arbeit jeder
Spielraum, dann fehlt ihr auch jedes schöpferische Element. Dann
wird sie zur reinen Funktion, einer Tätigkeit ohne eigenen Beitrag
des Tätigen. Dann wird die Arbeit kulturlos.
Deshalb muss Pädagogik die Heranwachsenden an die Arbeit her-
anführen, indem sie sie spielen lässt.

176
Achte Vorlesung
Bildung

8.1 Brüderlichkeit
8.2 Klassik
8.3 Bestimmungen des Bildungsbegriffs
8.3.1 Bildung und Erziehung
8.3.2 Transitiver, intransitiver und reflexiver
Bildungsbegriff
8.3.3 Unbestimmbarkeit und Selbstbestimmbarkeit
der Bildung
8.4 Historische Bedingungen selbstbestimmter Bildung

Musik:
Ludwig van Beethoven – Symphonie Nr. 9 d-moll op. 125 (1824).
Ode an die Freude.

8.1 Brüderlichkeit
Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
wir betreten feuertrunken,
Himmlische, Dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
was die Mode streng geteilt.
Alle Menschen werden Brüder,
wo Dein sanfter Flügel weilt.
Seid umschlungen, Millionen,
diesen Kuß der ganzen Welt.
Drüben, hinterm Sternenzelt,
muß ein guter Vater wohnen.

177
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Schillers Ode an die Freude, von Ludwig van Beethoven im letzten


Satz seiner 9. Symphonie vertont, beruft mit Pathos eines der großen
Ideale des Bürgertums Ende des 18. Jahrhunderts, die Brüder-
lichkeit. Beethoven veröffentlichte die 9., seine letzte Symphonie im
Jahre 1824. Er war damals 54 Jahre alt und seit Jahren völlig ertaubt.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – dies waren die Ideale der
Französischen Revolution 1789. „Alle Menschen werden Brüder …“
Großes Gefühl, Emphase einer allgemeinen Humanität, ausgedrückt
in Beethovens Musik; in dieser Kombination wieder beschworen
anläßlich des Falls der Berliner Mauer, als Leonard Bernstein Beetho-
vens Neunte am Brandenburger Tor dirigierte.
Die „Freude“ ist es hier, welche Brüderlichkeit stiftet; Freude am
Leben, Freude am Humanen, welche wieder bindet, was durch „Mo-
den“, also durch die unterschiedlichen Lebensformen der Menschen,
durch unterschiedliche Kultur geteilt wurde. Für diese Verbindung,
von der hier gesprochen wird, habe ich in dieser Vorlesung den Be-
griff der Vermittlung gebraucht.
Der Text von Schillers Ode beschwört das große Gefühl, das zur
Verbindung mit allen Menschen strebt. Aber dies Gefühl kommt
nicht einfach aus dem Bauch. Es ist ein Gefühl, getränkt von den
Idealen des Bürgertums; ein Gefühl, das seine Kraft und Größe be-
zieht aus dem Glauben an eine kosmische Vernunft, für die hier noch
ein „guter Vater … hinterm Sternenzelt“ namhaft gemacht wird. Ich
hatte in der allerersten Vorlesung Humboldt zitiert und anläßlich der
Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gefühl und Theorie ge-
sagt:
Sie können allein auf einer gefühlsmäßigen Ebene keine Entscheidungen treffen,
keine praktischen Konsequenzen ziehen. Sie können nur Ihren Gefühlen Ausdruck
geben: weinen, lachen; jemanden in den Arm nehmen. Aber das ist keine Praxis, die
in Zusammenhänge eingreift; kein Handeln. Das sind emotionale Reaktionen auf
etwas, das geschieht. Was geschieht, kann nicht durch Ihre Gefühle beeinflusst wer-
den, außer, Sie lassen ihre Gefühle handlungsleitend werden. Aber dann sind sie
mehr als Gefühle. Sie sind dann, wie Humboldt, der frühe Theoretiker der
bürgerlichen Bildung, 1792 formulierte, „ideenreiche Gefühle“, wie auch die Ideen,
die der handelnde Mensch verfolgt, dann „gefühlvolle Ideen“ sind (Humboldt, Ide-
en zu einem Versuch …, S. 66).

178
Bildung

Brüderlichkeit ist solch ein „ideenreiches Gefühl“ wie zugleich auch


eine „gefühlvolle Idee“.
So bedarf auch die „Freude“, welche die Menschen miteinander
in Brüderlichkeit verbindet, einer politisch-gesellschaftlichen Praxis,
welche die Bedingungen für die Möglichkeit brüderlichen Zusam-
menlebens schafft. Die revolutionäre Abschaffung der feudalen Ge-
sellschaftsordnung, verbunden mit dem Sturz des Absolutismus war
eine solche Praxis. Die demokratische Umgestaltung der Ge-
sellschaft, die folgen sollte, ebenfalls. Das Gefühl der Brüderlichkeit
stützt sich auf die Erfahrung der Vernunft, welcher alle Menschen
gleich sind; und beschwört eine Perspektive, welche durch vernunft-
geleitetes Handeln damals erstmals erreichbar erschien.
Was ich „Vermittlung“ genannt habe, ist die Praxis der Brüder-
lichkeit als „Verbrüderung“ der Menschen. Das Gefühl der Freude,
in dem sich die Menschen verbinden, ist Ausdruck eines Zusammen-
kommens von natürlichem Gattungsband und der erstmals zu ent-
sprechendem Selbstbewusstsein und entsprechender Kraft entwickel-
ten Gattungsvernunft. Für die Mathematiker, Natur- und Ingenieur-
wissenschaftler, überhaupt für alle Formel-Liebhaber unter Ihnen als
Formel gesagt: Liebe + Vernunft = Vermittlung.
Die Idee der Brüderlichkeit, umgesetzt in Vermittlungspraxis, ist
eine der großen „klassischen Ideen“ der Moderne.

8.2 Klassik
Damit komme ich zu einem zweiten Anknüpfungspunkt an die ein-
leitende Musik. „Klassische Musik“ nennt man das ja auch, was Sie
soeben gehört haben. Das Wort Klassik ordnet diese Musik ein. Es
ordnet sie zeitlich ein: Die Zeit der „Wiener Klassik“, wie die
ursprüngliche Benennung für das, was wir heute Klassische Musik
nennen, lautete, umfasste einige Jahrzehnte um das Jahr 1800 her-
um, liegt also jetzt etwa zweihundert Jahre zurück. Zu ihr wurden ge-
zählt: Haydn, Mozart, Beethoven. Später wurde der Begriff, auf
179
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

„Klassik“ gekürzt, ausgeweitet; alltagssprachlich meint man heute


meist die Musik von Haydn bis Wagner.
Außer der zeitlichen Einordnung wird aber mit dem Wort Klassik
auch eine inhaltliche Beziehung zu heute hergestellt. Es ist unsere
Klassik, das heißt: Diese Musik ist in einer spezifischen Weise maß-
geblich für die Geschichte der Musik bis heute. Das Klassische bringt
etwas zum Ausdruck, was für uns auch heute noch von besonderer
Bedeutung ist; es bringt dies in besonders reiner Form zum Aus-
druck; und es stellt gleichzeitig einen Höhepunkt dar in der Ausprä-
gung dieser besonderen Charakteristika. Deshalb kann es als
„maß“geblich gelten.
Was sagt der „Duden“?
Klassik:
„Kulturepoche, der eine weitgehende Aufhebung und Ausgewogenheit der Ge-
gensätze (Harmonie) gelungen ist und die deshalb eine überzeitliche Vollkommen-
heit erreicht hat; Epoche kultureller Gipfelleistungen und ihre mustergültigen Wer-
ke“.
klassisch:
„die Merkmale der Klassik tragend, vollkommen, ausgewogen in Form und In-
halt, ausgereift, mustergültig (von Kunstwerken, wissenschaftlichen Leistungen,
auch von: Formulierungen)“.
Klassisches gibt es nicht nur in der Musik. Und wir sprechen davon
nicht nur bezogen auf diese Epoche vor ca. zweihundert Jahren. Das
sogenannte Klassische Altertum zum Beispiel liegt über zweitausend
Jahre zurück. Aber auch dafür gilt: dass dort Wurzeln unserer Kultur
ausfindig gemacht werden, die zugleich – im Alten Griechenland
und im Alten Rom – etwas, was für unser heutiges kulturelles Selbst-
verständnis besonders kennzeichnend ist, in einer usprünglichen, rei-
nen und hoch entwickelten Form präsentieren. Als klassisch gelten
die Werke, an denen die Nachfolgenden sich in ihrer Arbeit orien-
tiert haben, an denen sie sich gemessen haben, indem sie ihre For-
men, ihre Sprache, ihre Ideen aufgriffen, auch wenn sie sie umwan-
delten und weiterentwickelten. Das aber heißt, dass für die
Nachfolgenden in den klassischen Werken etwas geistig und kulturell
thematisiert und bearbeitet wurde, was weiterhin als höchst bedeut-

180
Bildung

sam und – trotz aller „Vollkommenheit“ der klassischen Werke – mit


ihnen doch nicht als ein für allemal „erledigt“ schien.
Auffällig ist, dass der Begriff der Klassik zwar nicht ausschließlich,
aber doch besonders häufig gebraucht wird zur Kennzeichnung von
Werken aus eben jener Epoche vor rund zweihundert Jahren. Unsere
„Klassiker“ der Literatur und Dichtung, Goethe, Schiller, Lessing …
haben in dieser Zeit gewirkt; auch die „Klassiker“ der Politischen
Ökonomie, Smith, Ricardo …; die Klassiker des Deutschen Idealis-
mus, Kant, Fichte, Schelling, Hegel …
Was hat das mit dem heutigen VorlesungsThema zu tun?
Die Pädagogik hat ebenfalls ihre „Klassiker“. Und sie wirkten
ebenfalls in der Zeit um 1800: Rousseau, Humboldt, Schleierma-
cher, Pestalozzi. Es war die Zeit der Ausprägung des pädagogischen
Bildungsbegriffs. Ob nun das Wort gebraucht wurde/wird oder
nicht: Der Bildungsbegriff beziehungsweise das, was in ihm gemeint
ist (und das auch mit anderen Begriffen transportiert werden kann),
ist entscheidend für das klassische Verständnis der Pädagogik, das bis
heute „maßgeblich“ ist.
Und: Der Bildungsbegriff hängt mit der Idee der Brüderlichkeit
ganz eng zusammen. Brüderlichkeit als Verhältnis aller Menschen
miteinander ist verwiesen auf die vermittelnde Leistung der Ver-
nunft. Bildung ist Bildung der Vernunft im Menschen, im einzelnen
Menschen ebenso wie in der Gesellschaft. Und daher ist Bildung die
Bedingung der Brüderlichkeit. Die Enstehung der pädagogischen
Bildungsidee gehört in dieselbe Epoche wie die politische und kultu-
relle Idee der Brüderlichkeit als Idee der „einen Menschheit“.

8.3 Bestimmungen des Bildungsbegriffs


8.3.1 Bildung und Erziehung
Mit der heutigen Vorlesung thematisiere ich zum ersten Mal aus-
drücklich den Bildungsbegriff als zweiten zentralen Begriff der Päd-

181
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

agogik neben dem Erziehungsbegriff. Erinnern Sie sich an den von


mir gegebenen Erziehungsbegriff. Erziehung nannte ich den fremd-
bestimmten Anteil an der Entwicklung eines Menschen aus seinem
eigenen Sinn. Bildung nenne ich den selbstbestimmten Anteil an der
Entwicklung eines Menschen aus seinem eigenen Sinn.
Damit haben Sie eine Polarität von Erziehung und Bildung, die
der Polarität von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung ent-
spricht.
„Erziehung ist das uralte Geschäft des Menschen, Vorbereitung auf das, was die Ge-
sellschaft für ihn bestimmt hat, fensterloser Gang! Mit der Erziehung geht der
Mensch seinen Weg durch das Zuchthaus der Geschichte. Er kann ihm nicht erlas-
sen werden. Im Begriff der Erziehung ist die Zucht schon enthalten, sind Einfügung,
Unterwerfung, Herrschaft des Menschen über den Menschen eingeschlossen, be-
wußtloses Erleiden.” (Heydorn 1970, S. 9)
„Mit dem Begriff der Bildung wird die Antithese zum Erziehungsprozeß entwor-
fen! Bildung begreift sich als entbundene Selbsttätigkeit, als schon vollzogene Eman-
zipation. Mit ihr begreift sich der Mensch als sein eigener Urheber! Bildung ist eine
neue, geistige Geburt!“ (Heydorn 1970, S. 10)
Der humane Sinn der Entwicklung eines Menschen wurde von mir
als „eigener Sinn“ bezeichnet. Das ganz kleine Kind ist völlig davon
abhängig, dass sein eigener Sinn von anderen wahr- und ange-
nommen wird, dass er eine Resonanz erfährt. Es kann seine Ent-
wicklungsbedürfnisse „eigensinnig“ anmelden, aber es ist noch nicht
fähig, selbst seinen Sinn auch auf eine vernünftige Weise gegenüber
der Welt zur Geltung zu bringen. Mit wachsender Vernunft, Einsicht
in seine Lebensbedingungen und Erkenntnis seiner selbst wächst
auch seine Fähigkeit, selbst über seine Entwicklung zu bestimmen.
Das Moment der Selbstbestimmung wird gegenüber dem Moment
der Fremdbestimmung stärker; Bildung gewinnt an Gewicht gegen-
über der Erziehung.
Aber der Bildungsbegriff kann und darf nicht gegen den Erzie-
hungsbegriff ausgespielt werden. Erziehung zielt auf die Ermögli-
chung von Bildung; sonst wird sie zur bloßen Zucht. Und Bildung
bedarf der Erziehung als ihrer Voraussetzung, einer Erziehung, die
sich als Resonanz auf den eigenen Sinn dieses Menschen verstand,
sonst fehlt ihr die vertrauensvolle Grundlage, in dieser Welt wahr-
182
Bildung

und angenommen zu sein, und die Bildung der Vernunft wird zu ei-
ner abstrakten Verstandesschulung.

8.3.2 Transitiver, intransitiver und reflexiver Bildungsbegriff


Betrachten wir den für pädagogisches Denken traditionell zentralen
Begriff der Bildung genauer. Das dazugehörige Verb heißt bilden
und ist ein transitives Verb. Es bezieht sich also auf ein Objekt. Bil-
dend ist eine Person, die eine andere Person bildet. Das entspricht
gängigem pädagogischem Denken. Wenn von Jugendbildung, Er-
wachsenenbildung, Lehrerbildung undsoweiter gesprochen wird,
dann sind damit normalerweise die Tätigkeiten von Personen ge-
meint, die als Bildner andere Personen (Jugendliche, Erwachsene, an-
gehende LehrerInnen) bilden. Dieser Bildungsbegriff ist in seiner
konsequenten Fassung ein technischer, ein Bearbeitungsbegriff.
Aber es gibt auch eine andere Bedeutung von Bildung, worin Bil-
dung intransitiv verstanden wird. Bildung meint dann eine Ent-
wicklung aus eigener Kraft. Auch das Wort Entwicklung hat ja diese
Doppeldeutigkeit, sowohl transitiv als auch intransitiv gemeint sein
zu können. Ich kann etwas, zum Beispiel eine Schule, entwickeln. In
diesem Sinne wird heute viel von Schulentwicklung gesprochen. Das
ist der transitive Begriff von Entwicklung. Und ich kann mich selbst
entwickeln. Dann mache ich eine Entwicklung durch. Das ist der in-
transitive Begriff von Entwicklung. Für die intransitive Bedeutung
von Entwicklung oder Bildung gibt es kein Verb. Sie wird durch den
Zusatz der Reflexivform des Personalpronomens ausgedrückt: sich
entwickeln, sich bilden.
Die intransitive Bedeutung von Bildung meint aber etwas ande-
res, als die Reflexivform ausdrückt. Wie es für das Verb leben kein
Objekt gibt in dem Sinne, dass ich einen anderen Menschen leben
kann und uns der Satz „Ich lebe mich“ als eine absurde Formulierung
erschiene, so ist vom intransitiven Verständnis des Begriffs Bildung
die Formulierung „Ich bilde mich“ eigentlich eine ebenso absurde
Formulierung. Denn es meint, dass Bildung ein spontanes, aus ei-

183
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

genem Antrieb und eigener Dynamik sich vollziehendes oder er-


eignendes Geschehen ist. Wir haben zwar keine andere Möglichkeit,
die intransitive Bedeutung von Bildung verbal auszudrücken als
durch die Formulierung „sich bilden“. Aber man sollte daran denken,
dass diese reflexive oder selbstbezügliche Formulierung immer noch
missverständlich ist. Versuchen Sie, sich Bildung in ihrer intransiti-
ven Bedeutung als spontanes Geschehen, als Ereignis vorzustellen.
Weil wir den intransitiven Bildungsbegriff nicht anders als in der
Reflexivform ausdrücken können, geht uns die Möglichkeit verloren,
den reflexiven Bildungsbegriff vom intransitiven Bildungsbegriff ter-
minologisch abzusetzen (wir haben nicht zwei Wörter dafür). Es gibt
zwei Möglichkeiten, den reflexiven Bildungsbegriff zu bestimmen.
Die erste Möglichkeit geht vom transitiven Bildungsbegriff aus.
Sie operiert entsprechend mit einer Spaltung in Subjekt und Objekt
der Bildung. Bildung erscheint dann als eine Form von Selbstbear-
beitung. Ich würde es vorziehen, hierfür den modernen Terminus der
Selbstbezüglichkeit zu nehmen, der ja zu gern mit dem der Reflexivi-
tät verwechselt wird. Von Selbstbezüglichkeit wird zum Beispiel ge-
sprochen, wenn ein Computerprogramm sich selbst aufruft. Denn
dabei geht es ja eine Beziehung zu sich selbst ein. Und das – so be-
haupten manche – sei doch vergleichbar mit der Reflexivität des
Selbstbewusstseins, das heißt eines Bewusstseins, das Bewusstsein sei-
ner selbst ist, also sich als Bewusstsein weiß.
Aber mit sich selbst etwas machen, zu sich selbst eine Beziehung
aufzunehmen, macht noch keine Reflexivität aus. Ich kann mein Bild
im Spiegel sehen, ohne mich zu erkennen. Ein äußerer Beobachter
wird sagen: Er sieht sich selbst; denn der Spiegel reflektiert sein Bild.
Aber ich schaue in den Spiegel und sehe jemand anderes. Zur Refle-
xivität der Selbsterkenntnis gehört die Identifikation mit dem, was
ich wahrnehme: Dies bin ich. Allein im Spiegel kann ich mich nicht
selbst wahrnehmen; dazu muss das Spiegelbild in eine Beziehung ge-
bracht werden zu dem, was ich in mir selbst spüre.

184
Bildung

So kommen wir zur zweiten Möglichkeit, die Reflexivität der Bil-


dung zu bestimmen: Was ich in mir selbst spüre, ist die Spontaneität
der Bildungsbewegung, jener ursprüngliche Drang nach Vermitt-
lung, Winnicotts „spontaner Impuls“, Hannah Arendts „Natalität“.
Diese erfährt, wenn alles gut geht, in der Erziehung und das heißt
durch andere Menschen eine Resonanz. Und durch die Erfahrung
dieser Resonanz wird mir eine Objektivierung meiner selbst und mei-
ner Bildungsbewegung ermöglicht, durch die ich mich bewusst zu
mir, zu meiner Bildung verhalten kann. Hier kommt die Reflexiv-
kraft der Vernunft ins Spiel. Sie nimmt die Spontaneität der Bil-
dungsbewegung auf und bezieht sie auf die äußeren Bedingungen,
auf die natürliche und soziale Welt. Sie bezieht sie daher auch auf die
Einflüsse, die aus dieser Welt auf den einzelnen Menschen einwirken;
insofern auch auf die erzieherischen und bildenden Einflüsse. Die
Vernunft vermittelt zwischen der spontanen Bildungsbewegung,
welche im intransitiven Bildungsbegriff gefasst wird, und den bilden-
den Einflüssen von außen, welche im transitiven Bildungsbegriff er-
fasst werden. So wird die Bildung reflexiv. Erst durch die reflexive
Vernunft wird Bildung sich selbst bestimmend.

Warum, könnte man angesichts dieser terminologischen Schwie-


rigkeiten mit dem Bildungsbegriff fragen, gebrauchen wir dann nicht
einfach einen anderen Begriff, zum Beispiel den Begriff des Lernens.
Der ist doch eindeutig intransitiv und meint nur das Geschehen auf
seiten des lernenden Menschen, während das, was andere dazu tun,
durch den Begriff des Lehrens bezeichnet werden kann. Da kann es
keine Verwechslung geben, wer denn nun jeweils das Subjekt ist.
In der Tat hat der Begriff des Lernens diesen Vorzug auf seiner
Seite. Ich selbst habe aufgrund solcher Überlegungen für meine Ha-
bilitationsschrift, die eigentlich eine Theorie der Bildung vorstellen
soll, den Begriff Lernen dem der Bildung vorgezogen. Ich wollte
schon im Titel klarstellen, dass ich Bildung nicht vom Pädagogen aus
denke, sondern von dem Menschen her, um dessen Bildung es jeweils

185
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

geht. „Der Eigensinn des Lernens“ habe ich das Buch genannt. (Se-
sink 1990)
Sie sehen allerdings, dass ich einen Zusatz zum Lernbegriff ge-
wählt habe: „Eigensinn“ des Lernens. Dieser Zusatz zielt auf den
ausgeklammerten Bildungsbegriff. Der Begriff des Lernens hat näm-
lich eine Neutralität, die dem Bildungsbegriff nicht zukommt. So
macht es keine Probleme, davon zu sprechen, dass Tiere lernen; doch
würde wohl niemand sagen, dass Tiere gebildet werden. Beim Bil-
dungsbegriff wird in der Regel eine Qualität mitgedacht, die nicht je-
des Lernen auszeichnet. Diese Qualität besteht darin, dass das Ler-
nen, das wir als Bildung zu bezeichnen bereit sind, einen Sinn hat,
der sich auf das Menschsein oder auf ein menschenwürdiges, dem
Menschen angemessenes Leben bezieht – was immer jeweils darunter
verstanden werden mag. Menschenbildung hieß es im Beginn des 19.
Jahrhunderts deshalb auch ausdrücklich. Mehr noch: allgemeine
Menschenbildung, womit gesagt ist, dass jenes Lernen, jene Entwick-
lung gemeint sein sollte, zu der jeder Mensch ganz einfach durch sein
Menschsein berufen und aufgefordert sein sollte.

8.3.3 Unbestimmbarkeit und Selbstbestimmbarkeit der Bildung


Pädagogisch gesehen geht es bei der Entwicklung eines Menschen –
ich habe dies nun schon oft betont – immer um eine Entwicklung be-
sonderer Qualität. Wir nennen diese Qualität Bildung. Aber sie ge-
hört ebenso zur Erziehung. Die besondere Qualität, die mit dem Bil-
dungsbegriff angesprochen wird, besteht darin, dass es um die
Entwicklung eines Menschen in bezug auf seine Menschlichkeit ge-
hen soll.
Wenn wir versuchen zu bestimmen, was Bildung ist, kommt also
das jeweilige menschliche Selbstverständnis ins Spiel: Worin sehen
Menschen heute eigentlich ihre Menschlichkeit? Diese Frage kann
niemand allein für sich beantworten. Denn menschliches Leben ist
Zusammenleben; und die Sinnbestimmungen menschlicher Existenz
müssen sich miteinander vermitteln. Was Menschsein bedeutet, ist

186
Bildung

abhängig von Zeit und Ort, von kultureller Tradition und gesell-
schaftlicher Verfassung, vom Stand der Produktivkräfte und von der
Reflexion auf dies alles. Es ist immer in Bewegung, vielfältig differen-
ziert; auch in sich widersprüchlich. Dass man – was die Techniker,
Naturwissenschaftler, Mathematiker und Informatiker unter den
Studierenden so oft als Verschwommenheit und Mangel an Präzision
in der Pädagogik beklagen – dass man den Bildungsbegriff nicht ein-
fach definieren kann, liegt in der „Natur“ dieser „Sache“. Nein, was
Bildung ist, steht ständig zur Disposition; und eben dies noch ist Mo-
ment der Bildung: dass sie sich selbst bestimmt und deshalb nicht
vorweg bestimmbar ist. Bildung ist eben nicht eine irgendwie von
woanders – von Natur oder von Gesellschaft – her bestimmte oder
bestimmbare, sondern eine sich selbst bestimmende Entwicklung.

8.4 Historische Bedingungen


selbstbestimmter Bildung
Dafür, dass eine solche Idee überhaupt denkbar wird, ja der Päd-
agogik als gesellschaftlicher Auftrag ihre Verwirklichung zuge-
schrieben wird, müssen erst bestimmte geschichtliche Vorausset-
zungen gegeben sein, welche die Potenzialität der Entwicklung des
Individuums als Subjekts aus zuvor determinierenden Fesseln lösen.
Keineswegs ist die Bildungsidee Resultat eines aus sich immer weiter
und schließlich eben zur Bildungsidee fortschreitenden Denkens der
Menschheit. Solange die Menschen in Bezug auf das, was sie lernen
und wozu sie sich entwickeln müssen, gebunden sind an eine Bedin-
gung, die außerhalb ihrer Macht liegt, kann die Bildungsidee sich
nicht durchsetzen.
An dieser Stelle müssen wir auf die Zeit der Klassik zurückkom-
men; die Zeit um 1800. Im Zusammenhang mit der Schwarzen Päd-
agogik war diese Zeit als eine Zeit fundamentaler Umwälzungen
schon einmal angesprochen worden. Die Menschen entdecken sich

187
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

selbst als Urheber ihrer Lebensverhältnisse und ihrer Geschichte; sie


entdecken sich als „Subjekte“.
In diese Zeit fiel als eine ganz wichtige gesellschaftliche Umwäl-
zung die Aufhebung der feudalen Grundherrschaft. In der feudalen
Grundherrschaft war ja noch die Zugehörigkeit der leiblichen Exi-
stenz arbeitender Menschen zum jeweiligen besonderen Grundeigen-
tum als dessen Zubehör kodifiziert. Unter Bedingungen einer feuda-
len Gesellschaftsordnung blieb die Entwicklung der subjektiven wie
der objektiven Produktivkräfte aneinander gefesselt. Es gab keine Bil-
dung, die den Horizont bäuerlicher Arbeit auf dem Land, dem dieser
Mensch zugehörte, hätte überschreiten können. Und es gab keine
Entwicklung der Agrikulturtechnik, die sich hätte freimachen kön-
nen von leibgebundener Instrumentalität.
Die kapitalistische Industrie in den Städten dagegen brauchte den
Arbeiter, ledig dieser Bindungen. Und sie brauchte die eigene Frei-
heit von allen Rücksichten auf leibliche Beschränkungen der Arbeit.
Ihre Einstellung war – jedenfalls auf dem Gebiete der Ökonomie –
antifeudal, emanzipatorisch, freiheitlich. Nach der Zerschlagung al-
ler feudalen Bindungen konnte die technische Seite der Produktion,
das in Arbeitsgegenständen und Arbeitsmitteln materialisierte Kapi-
tal, endlich entwickelt werden, ohne Rücksichten auf Begrenzungen
und Sinnvorgaben der inneren menschlichen Natur nehmen zu müs-
sen. Aber ebenso konnte und musste die Bildung der Menschen sich
von nun an vollziehen ohne Rücksicht auf die Bindungen, die der
Produktivität einer in die praktische Bewältigung konkreter Mate-
rialität der Welt einbezogenen Leiblichkeit auferlegt wären. Ihre Ei-
gentumslosigkeit machte die arbeitenden Menschen zur tabula rasa,
ohne besondere Bestimmtheit, auf die zu achten wäre, „aber jeder Be-
stimmtheit fähig” (Marx 1859, S. 204). Sie machte sie, in bildungs-
theoretischer Terminologie, unbegrenzt „bildsam”. Deshalb gehört
die Bildung zur modernen Industrie und die moderne Industrie zur
Bildung. Das wird uns in der Vorlesung zum Thema Technik noch
weiter beschäftigen.

188
Neunte Vorlesung
Tradition und Erneuerung

9.1 Der Messias


9.2 Kindheit
9.3 Vom Umgang mit Tradition

Musik:
Georg Friedrich Händel: Hallelujah (aus dem „Messias“) (1741)

9.1 Der Messias


Das Halleluja aus dem „Messias“ von Händel und danach ein Aus-
schnitt aus dem Zeffirelli-Film „Jesus von Nazareth“. In zwei Tagen
ist Weihnachten, das Fest der Geburt des Messias.
Was bedeutet uns Weihnachten? Ein Fest der Besinnung, der
friedlich-heimeligen Versammlung der Familie um den Weih-
nachtsbaum? Ein Fest der Liebe, bei dem alle Differenzen ruhen sol-
len; die Waffen schweigen? Auch die Waffen, mit denen Eltern und
Kinder sich sonst zu bekämpfen pflegen?
Steht Weihnachten nicht für altehrwürdigste, zweitausendjährige
Tradition des christlichen Abendlandes? Für das Miteinander der
Generationen? Für Kontinuität?
Als ich Ende der 60er Jahre in Bonn studierte, gehörte der Bruch
mit den weihnachtlichen Gepflogenheiten zum politischen, kultur-
revolutionären Programm der antiautoritären Studentenschaft. Ich
habe 1968 an einer Weihnachtsmesse teilgenommen, bei der eine
kleine Gruppe junger Erwachsener – ich weiß nicht mehr, ob es
Studenten oder Schüler waren – versuchte, auf die Verbrechen des

189
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Vietnam-Krieges aufmerksam zu machen, der im Namen der christli-


chen Werte von unserem NATO-Bündnispartner, den USA, geführt
wurde. Für die versammelten Gläubigen war diese Aktion ein unge-
heures Sakrileg, eine Verletzung ihrer tiefsten religiösen Emp-
findungen. Ein paar gestandene männliche Gemeindemitglieder
setzten unter Anwendung verhaltener, aber nachdrücklicher Gewalt
die Jugendlichen, die keinen Widerstand leisteten, vor die Kirchen-
tür. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich – obwohl inner-
lich völlig aufgebracht – es nicht gewagt habe, mich zu den Stören-
frieden zu bekennen.
Was für die einen eine Verletzung des Geistes dieses heiligen Fe-
stes war, das war für die anderen eine Wiedererinnerung, ein Wie-
deranknüpfen an die ursprüngliche Bedeutung der Geburt des Jesus
von Nazareth: nicht Tradition, sondern radikaler Neuanfang, Bruch
mit der altjüdischen Tradition, Revolution.
Revolution – dieses Wort assoziiert grimmigentschlossen drein-
schauende Männer und Frauen, erhobene Fäuste, geschwungene
Fahnen; Tumult, Gewalt, Terror. Es assoziiert eher den Tod als die
Geburt. Eher den gewaltsamen Sturz des Alten als die hoffnungs-
frohe Ankunft des Neuen.
Weihnachten erinnert an eine andere Art von Revolution. Und
was immer heute bei uns daraus geworden ist und wie immer ver-
rückt und verkehrt unser weihnachtlicher Alltagshorror uns er-
scheinen mag: Weihnachten bezieht seine ungeheure emotionale
Wirkung aus dieser Verheißung einer neuen friedlichen Weltord-
nung, welche nicht durch das Fortschreiten der Vernunft, nicht
durch revolutionäre Gewalt kommen soll, sondern durch die Geburt;
durch das neugeborene Kind.
„Uns ist ein Kind geboren …“ Die Fremdheit eines neugeborenen
Kindes in der Ordnung dieser Welt, in die es kommt, sie ist es nun
gerade, worin die Hoffnung liegt, wenn die bestehende Ordnung als
Inbegriff der Schlechtigkeit, des Bösen erscheint. Das Kind soll von
dieser Ordnung befreien, soll sie hinwegfegen; eine neue, ganz andere

190
Tradition und Erneuerung

Ordnung, eine menschliche Ordnung an ihre Stelle setzen. Die Un-


schuld des Kindes – eine Unschuld, die wir alle verloren haben, weil
wir uns irgendwie doch einrichten mussten in dieser Welt, egal, wie
wir zu ihr stehen – diese Unschuld heiligt das Kind. Und unschuldig,
heilig soll dieser Messias bleiben, damit er uns und dieser Welt das
Heil bringen kann.
Frederic Leboyer, der berühmte französische Geburtshelfer, hat
die Geburt eines Kindes, jedes Kindes, in diesem Sinne zu einer quasi
religiösen Feier werden lassen wollen. „Das Fest der Geburt“ heißt ei-
nes seiner Bücher. Und in seinem Buch „Geburt ohne Gewalt“
schreibt er:
„Eine intensive Kraft und ein tiefer Frieden gehen von diesem schweigenden Neu-
geborenen aus. Vollkommen wach, aufs Höchste aufmerksam leuchtet es. Dies ist
das königliche Kind, das Gotteskind, von dem die Schrift sagt: »Ihr sollt wieder wer-
den wie die Kinder.« Noch besser beschreibt es Lao Tse, wenn er sagt: »Er, dessen
Anmut alle Maßstäbe übersteigt, der Heilige, der Vollkommene, gleicht dem neuge-
borenen Kind.« Diese Anmut ist nicht nur Schönheit. Sie ist Kraft und Leben. Das
strahlt aus diesem schweigenden Kind. Dies Licht leuchtet allen, die es umgeben und
deren Sinne wach sind, zu sehen, zu schweigen, zu lauschen.“ (Leboyer 1981, 128)
Es gibt immer mehr werdende Mütter und Paare, die versuchen, in
Abkehr von der lange vorherrschenden technisierten und sterilen Ge-
burtshilfepraxis in unseren Kliniken die Geburt ihres Kindes als Fest,
möglichst sogar zu Hause, zu inszenieren.
Die Unschuld des Kindes also soll die Welt heilen. Maria
Montessori hat dieses Motiv in ihrer Pädagogik aufgenommen.
Eines ihrer bekanntesten Bücher („Kinder sind anders“, 1950 un-
ter dem Originaltitel „Il segreto dell‘infanzia“ erschienen) endet da-
mit, dass sie das Schicksal des Kindes in unserer Gesellschaft mit dem
Schicksal Christi vergleicht, von den Eltern dem Staat preisgegeben,
in die Schule geschickt.
Dort sitzt es dann „in seiner Bank, ständig gestrengen Blicken ausgesetzt, die zwei
Füßchen und zwei Händchen dazu nötigen, ganz unbewegt zu bleiben, so, wie die
Nägel den Leib Christi an die Starrheit des Kreuzes zwangen.
Und wenn dann in jenes nach Wissen und Wahrheit dürstende Gemüt die Ge-
danken der Lehrerin entweder mit Gewalt oder auf irgendeinem anderen gutbefun-
denen Weg hineingepreßt sind, dann wird es sein, als blute dieses kleine, gedemü-
tigte Haupt wie unter einer Dornenkrone.

191
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Jenes Herz voll Liebe wird von der Verständnislosigkeit der Welt durchbohrt
werden wie von einer Lanze, und bitter wird ihm vorkommen, was die Bildung ihm
zum Stillen seines Durstes darreicht.
Schon steht das Grab bereit für die Seele des Kindes, die inmitten so vieler Un-
natürlichkeit nicht zu leben vermag; und ist sie begraben, dann werden viele Wäch-
ter darauf sehen, daß sie nicht aufersteht.
Aber das Kind ersteht immer wieder und kehrt immer wieder, frisch und lä-
chelnd, um unter den Menschen zu leben. Wie Emerson sagt: das Kind ist der ewige
Messias, der immer wieder unter die gefallenen Menschen zurückkehrt, um sie ins
Himmelreich zu führen.“ (Montessori 1952, 302f.)
Nehme ich aber das Bild vom Kind als Messias wirklich ernst, dann
kann es keine Erziehung geben. Der mythische Jesus konnte nicht er-
zogen werden. Die Welt kann das Neue, das der Messias bringt, le-
diglich aufnehmen, sich ihm öffnen. Sie kann sich ihm auch versper-
ren, es abwehren; es ignorieren. Sie kann sogar versuchen, das Kind
zu töten, um die Revolution zu verhindern. Aber Erziehung ist aus-
geschlossen. Messianismus kennt keine Vermittlung, keine Ausein-
andersetzung. Er kennt nur die Verkündigung, die Botschaft, die
Mission. Die Welt kann nur empfangen; sie hat nichts zu geben. Al-
les, was die neue Ordnung ausmachen soll, bringt das Kind mit. Und
die Erwachsenen haben nur eine Chance, wenn sie selbst wieder wer-
den „wie die Kinder“, rein und unschuldig und mit keiner Faser ihrer
Existenz gebunden an die bestehende Weltordnung.
Der Messias kommt in diese Welt, um ihr anzugehören; aber er
kommt nicht aus dieser Welt. Und so kann er ihr eben doch nicht
angehören. Er ist gekommen, und die Welt konnte und wollte ihn
nicht aufnehmen. Es hat, so würde ich sagen, keine Vermittlung ge-
geben. Er ist wieder gegangen. Die Erwartung bleibt. Irgendwann
wird vielleicht wieder ein Erlöser kommen; jedes Kind könnte es sein.
An diesem Gedanken ist etwas sehr Schönes. Das Kind wird in
seinem eigenen Sinn wahr- und angenommen. Dem Messias bei-
bringen zu wollen, was der Sinn seiner Existenz ist, wäre absurd. Aber
es wird dem Kind auch Enormes zugemutet: Ihm allein wird die gan-
ze Mühsal aufgebürdet, das Elend dieser Welt zu beseitigen. Die ge-
samte zu leistende Arbeit einer Gestaltung der Welt zum Guten wird
dem Kind aufgelastet. Es liegt eine Selbsterniedrigung in dieser Erhö-

192
Tradition und Erneuerung

hung des Kindes. Auch eine Ablehnung der eigenen Verantwortung


für die Zukunft mit diesem Kind. Messianismus ist im Kern eine an-
tipädagogische Haltung. Letztlich kann sie vom Kind nur enttäuscht
werden.

9.2 Kindheit
Jetzt komme ich zum Thema der heutigen Vorlesung. Eines ist klar:
Der Messias steht für das ganz Neue; für eine Erneuerung von Grund
auf; für den Bruch mit der Tradition.
Betrachten wir die gesellschaftliche Funktion der Pädagogik, wie
sie sich in den pädagogischen Einrichtungen, etwa in der Schule, ma-
nifestiert, dann werden wir eher in der Tradierung von Kultur, in der
Sicherung von Kontinuität in der Generationenabfolge ihren Kern
sehen. Und ich hatte ja auch schon gesagt: Messianismus ist eine an-
tipädagogische Haltung.
Und dennoch ist Pädagogik nicht einfach das Gegenteil von Mes-
sianismus. Die Hoffnung auf die erneuernde Kraft, die mit jedem
Kind in diese Welt kommt, gehört auch zur Pädagogik; jedenfalls
dann, wenn sie nicht Schwarze Pädagogik ist. Ich hatte dies in der
letzten Woche mit dem abstrakten Begriff der intransitiven Bildung
bezeichnet: jene Entwicklung, die ihre Initiative im Kinde selbst, in
seinem eigenen Sinn hat; und die insofern keine Funktion der Gesell-
schaft, keine Reaktion auf Anforderungen der Gesellschaft ist, son-
dern eine potentiell gesellschaftsverändernde Kraft. Winnicott nann-
te dies den „spontanen Impuls“; Hannah Arendt nannte es „Natali-
tät“. Und gerade dieses Wort nimmt ja direkt Bezug auf die
erneuernde Kraft der Geburt.
Die heutige Vorlesung ist überschrieben mit Tradition und Er-
neuerung. Weihnachten ist Tradition. Aber es bewahrt die Erinne-
rung an eine radikale Erneuerung, die durch die Geburt des Messias
in die Welt kommen sollte. Beide Motive sind so in unserem Weih-

193
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

nachtsfest auf eine höchst eigentümliche und widersprüchliche Wei-


se verbunden.
Pädagogik ist kein Messianismus; das hatte ich schon gesagt. Aber
sie ist auch keine bloße Fortsetzung von Tradition. Das wäre sie,
wenn Erziehung nur als Zucht und Bildung nur als transitive Bildung
zu verstehen wären. Der zentrale pädagogische Gedanke der Vermitt-
lung hingegen begründet sich gerade daraus, dass Eigensinn des Kin-
des, die erneuernde Kraft, und sozialer Sinn der Gesellschaft, die be-
wahrende Kraft, sich so miteinander verbinden, dass individueller
Eigensinn sozial in Geltung gesetzt werden kann und sozialer Sinn in
lebendiger Entwicklung bleibt, statt zu erstarren.
Und das nicht, weil es ja irgendwie schon „netter“ ist, wenn alles
friedlich zugeht und Individuum wie Gesellschaft zu ihrem Recht
kommen; sondern weil es anders gar nicht geht. Die Gesellschaften,
zumal die modernen bürgerlichen Gesellschaften, leben von der Er-
neuerungskraft, die mit jedem Kind in die Welt kommt. Sie brau-
chen diese Kraft für ihre Entwicklungsdynamik, sie brauchen die In-
itiativkraft, die Selbstmotivation, den Erfindungsgeist ihrer Bürger
und Bürgerinnen, um sich im schärfer werdenden internationalen
Konkurrenzkampf zu behaupten. Stillstand ist heute Untergang.
Deshalb konnte zu Beginn dieses Jahrhunderts das Potenzial der
Kindheit entdeckt werden, entstand die Reformpädagogik als Ge-
genbewegung gegen die Schwarze Pädagogik inmitten einer Gesell-
schaft, die sich gleichzeitig der revolutionären sozialen Bewegungen
mit Gewalt erwehrte. Seither gehört der reformpädagogische Impuls
einer Pädagogik „vom Kinde aus“ zur Erziehungs und Bildungswirk-
lichkeit unserer Gesellschaft. Heute haben sich reformpädagogische
Ideen in vielfältiger Form in den staatlichen Bildungsinstitutionen
eingenistet und sind keineswegs mehr beschränkt auf einige Enkla-
ven alternativer Außenseiterkonzepte.
Heinz Joachim Heydorn hat wegen dieser Affinität zu den Be-
dürfnissen der Gesellschaft die reformpädagogische Bewegung vom
Anfang des 20. Jahrhunderts, das das „Jahrhundert des Kindes“ wer-

194
Tradition und Erneuerung

den sollte, aufs schärfste kritisiert. Indem sie eine Hege- und Pflege-
pädagogik propagiere, die doch das Kind nicht wirklich stärke in sei-
ner Widerstandskraft gegen die unmenschliche Gesellschaftsord-
nung, vor deren Zugriff sie es angeblich bewahren solle, liefere sie es
ganz im Gegenteil geradezu der Raserei seiner blindwütigen Entwick-
lungsdynamik aus:
„Mit dem Begriff der Kindheit wird eine Natur verbunden, die den Sündenfall noch
nicht hinter sich hat; Kindheit fällt so über die eigene Erinnerung wie ein Licht in
die Welt, ist Unschuldsnatur, die an ihr leiden muß, aber der Rettung sicher ist. …
die Hellsicht des Kindes ist die Hellsicht einer unverdunkelten Vernunft. Naivität
erscheint als ungebrochenes Verhältnis zur Wahrheit, die vom Kinde erkennbar ist.
… Dem Wachstum des Kindes, das seinen eigenen Naturgesetzen folgen soll, ent-
spricht die Freisetzung aller Triebkräfte in der kapitalistischen Gesellschaft. …
Das Recht auf natürliche Selbstentfaltung, das die liberale Pädagogik im An-
schluß an Rousseau aufnimmt, ist die Selbstentfaltung der Gesellschaft, innerhalb
derer dieses Recht erhoben wird.“ (Heydorn 1972, 59, 62, 64)
Aber Heydorn schlägt sich damit nicht etwa auf die Seite der Schwar-
zen Pädagogik. Was er kritisiert, ist auch hier der Mangel an Vermitt-
lung. Die kindliche Natur kann nicht einfach als Heilsbringerin
Schluss machen mit aller Tradition und einen absoluten Anfang set-
zen. Indem dem Kind in seiner Natur alle Kraft zugeschrieben wird,
die es benötigt, um den Lauf der Welt zum Guten zu wenden, wenn
die Welt es nur gewähren lässt, wird ihm tatsächlich der päd-
agogische Beitrag vorenthalten, ihm die Vermittlung mit dieser Welt
zu ermöglichen, es mit der kritischen Kraft zu versehen, welche aus
der Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse, deren Geworden-
heit und deren Gestaltbarkeit, kommt. Es wird – so Heydorns Vor-
wurf an die Reformpädagogik – an seine Unbedarftheit und Naivität
geradezu fixiert, ohnmächtig gehalten gegenüber der übermächtigen,
da undurchschauten gesellschaftlichen Realität.
Erst in dieser Verbindung mit der kritischen Vernunft, erst aufge-
klärt vermag die kindliche Natur sich mit der Gesellschaft zu ver-
mitteln und tatsächlich zu einer gesellschaftsverändernden Kraft zu
werden. Und so fährt Heydorn nach seinen vehementen Angriffen
auf die Reformpädagogik fort:

195
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

„Dennoch ist Kindheit die Geburt eines neuen Menschen, eine stets wiederholte
Möglichkeit, Fortsetzung und absoluter Anfang. Eine alte jüdische Erwartung be-
sagt, daß mit jedem Kind der Messias geboren werden kann. Sein Kommen setzt die
gesamte bisherige Arbeit des Menschengeschlechtes voraus, da er nicht zufällig er-
scheint, sondern erst, wenn die vermenschlichende Arbeit reif ist; besagt aber, daß
mit jedem Kinde die Determination durchbrochen werden, der Mensch in sein
Menschentum gelangen kann. Geburt ist die Unberechenbarkeit innerhalb der De-
termination, mit Kindheit wird Mögliches gegenwärtig, ‚terra incognita‘. Dies ist
kein Irrlicht; die Erwartung richtet sich darauf, daß die Widersprüche überwunden
werden, denen wir unterlegen sind. Es ist dies die alte Erwartung der aufsteigenden
Menschheit, die im Kinde das Kommende sieht, die mögliche Befreiung, das Her-
vortreten des Menschen aus seiner Zerschlagenheit. Eben solches wird nicht ge-
schenkt. Es setzt voraus, daß das Auge geöffnet, die wirkliche Welt angeeignet wird,
um sie hinter uns zu lassen. … Der Mensch wurde als neuer Anfang in seine Ge-
schichte gesetzt, aber nicht ohne diese Geschichte. Kindheit, Dämmerung eigenen
Beginns, Licht an der Grenze des Bewußtseins, wird zum kommenden Licht.“ (Hey-
dorn 1972, 67f.)
Mit diesen Worten beschließt Heydorn das Kapitel über „Kindheit“.
Auch er erkennt die „Natalität“ an, das revolutionäre Potenzial,
das in der Geburt jedes Kindes entbunden wird. Worauf er uner-
bittlich besteht, ist der Anschluss an die Tradition. Worauf er un-
erbittlich besteht, ist Vermittlung. Worauf er unerbittlich besteht, ist
Erziehung: jene notwendige Fremdbestimmung, die von der Gesell-
schaft ausgeht und in der allein die Möglichkeit des Wirklichwerdens
des eigenen Sinns beschlossen liegt.

9.3 Vom Umgang mit Tradition


Tradition, die nicht von der revolutionären Kraft der Jugend er-
schüttert wird, stirbt ab. Damit Tradition weiterleben kann, muss sie
sowohl angeeignet als auch neugeschaffen werden. Wer sich die kul-
turelle Tradition aneignet, indem er sie so, wie sie ist, „einsackt“, be-
lädt sich einfach nur mit einem Haufen toter Sachen als lebenshin-
derlichem Ballast. Man kann sich auch kulturelle Güter nicht von
anderen „beibringen“ oder „übergeben“ lassen. Winnicott sagte, die
Pädagogen sollten die kulturellen Güter herumliegen lassen, und
zwar dort, wo die Lernenden bei ihren Streifzügen durch die Welt auf

196
Tradition und Erneuerung

sie stoßen können. Dann hätten die Lernenden die Chance, diese
Dinge selbst zu „finden“, statt sie aufgeladen zu bekommen. „Fin-
den“ kann man etwas aber nur, wenn man – möglicherweise ohne es
zu wissen – danach gesucht hat. Im Moment des Findens erst spürt
man sein Suchen. Was man gefunden hat, ist eine Möglichkeit, eine
Potenzialität, die mit diesem Ding verbunden ist, zugleich aber auch
als „Möglichkeit zu ...“ bestimmt ist durch den kreativen Impuls des
findenden Menschen. Winnicott erinnert an das frühestkindliche
Finden der Brust und daran, dass dieses Finden im subjektiven Erle-
ben ein Erschaffen war. So enthalte auch das spätere Finden der kul-
turellen Güter, die die Generation der Erwachsenen herumliegen
lässt, dieses Moment des Erschaffens. In der kreativen Aneignung
werden die kulturellen Güter neu geformt.
Es kann gar nicht ausbleiben, dass die Kinder etwas anderes fin-
den, als die Erwachsenen glauben, liegen gelassen zu haben. Oft fin-
den sie etwas, von dem die Erwachsenen gar nicht wussten, dass sie
es liegengelassen hatten. Oder sie finden etwas, das die Erwachsenen
lieber vor ihnen versteckt hätten. Oder sie finden etwas, das die Er-
wachsenen längst verloren glaubten. Oder sie finden etwas, das ganz
anders aussieht als das, was die Erwachsenen liegen gelassen zu haben
glauben. Kulturelle Phänomene können eben nicht einfach so, wie
sie sind, aufgehoben und in die Tasche gesteckt werden. Sie zu fin-
den, sie sich anzueignen, heißt, ihnen eigene Form zu geben; und die-
se eigene Form hat zu tun mit dem, wonach dieses Kind gerade auf
der Suche ist, hat also zu tun mit seinen ganz persönlichen Lebensim-
pulsen. Sicher kann man mit kulturellen Phänomenen in einer Weise
umgehen, die ich vorhin etwas nachlässig, aber treffend, wie ich mei-
ne, als „Einsacken“ bezeichnete. „Eingesackt“ aber sind sie tot und
langweilig. Lebendig und belebend werden sie erst durch wirkliche
„Aneignung“. Dass Erwachsene sie in dieser neuen Lebendigkeit an-
schließend womöglich buchstäblich nicht mehr wiedererkennen, ge-
hört dazu und muss akzeptiert werden, wenn man die Welt der Kul-
tur nicht zum musealen Anschauungsobjekt erstarren lassen will.

197
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Es kann nichts aus nichts geschaffen werden. Ein Schaffen aus


dem Nichts ist unkreative Halluzination. Es kann nur etwas geschaf-
fen werden, das vorher da war, und zwar da war, um gefunden zu
werden. Daher braucht der kreative Impuls den Anschluß an etwas,
das schon da ist.
Winnicott beschloss einen seiner Vorträge mit folgenden Worten:
„Tatsache ist, daß das, was wir erschaffen, bereits da ist; die Kreativität liegt in der
Art, wie wir zur Wahrnehmung gelangen durch Vorstellung und Apperzeption.
Wenn ich also auf die Uhr schaue – was ich jetzt tun muss –, so erschaffe ich eine
Uhr, aber ich werde peinlich darauf achten, nur dort eine Uhr zu sehen, wo, wie ich
bereits weiß, tatsächlich eine Uhr ist. Bitte entschärfen Sie dieses Stück absurder Un-
logik nicht – schauen Sie es sich an, und machen Sie Gebrauch davon. …“ (Winni-
cott 1990, S. 58)

198
Zehnte Vorlesung
Autorität und Rebellion

10.1 „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“


10.2 Vaterlandsverrat
10.3 Autorität
10.4 Emanzipation

Musik:
Ton Steine Scherben – Macht kaputt, was Euch kaputt macht!
(1970)

10.1 „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“


Das Stück, das Sie soeben gehört haben, stammt aus dem Jahre 1970.
Es gehört in den Zusammenhang der Studentenbewegung. 1970 war
ich 25 Jahre alt, nach zweimaligem Studienfachwechsel im siebten
Semester Pädagogik und Sprecher der Fachschaft Pädagogik in
Bonn. Ich bin also einer von denen, die man die 68er nennt. Die Stu-
dentenbewegung war ein historisches Ereignis, das man sicher nicht
nur unter dem Gesichtspunkt des Aufbegehrens gegen die Autorität
der Elterngeneration verstehen kann. Vielleicht nicht einmal vorran-
gig. Aber eine bestimmte historische Konstellation traf in diesem Fal-
le zusammen mit einem latenten Konflikt zwischen den Generatio-
nen und gab der weltweiten gesellschaftlichen Erschütterung einen
spezifischen Anstrich; eben den einer Revolte der Jugend.
In dem Song der Ton Steine Scherben kommen in Text und Mu-
sik einige ganz zentrale Motive dieser Revolte zum Ausdruck.

199
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Radios laufen, Platten laufen, Filme laufen, Tivis laufen,


Reisen kaufen, Autos kaufen, Häuser kaufen, Möbel kaufen …
wofür?
Macht kaputt, was Euch kaputt macht!
Macht kaputt, was Euch kaputt macht!
Züge rollen, Dollars rollen, Maschinen laufen, Menschen schuften,
Fabriken bauen, Maschinen bauen, Motoren bauen, Kanonen bauen,
für wen?
Macht kaputt, was Euch kaputt macht!
Macht kaputt, was Euch kaputt macht!
Macht kaputt, was Euch kaputt macht!
Macht kaputt, was Euch kaputt macht!
Bomber fliegen, Panzer rollen, Polizisten schlagen, Soldaten fallen,
die Chefs schützen, die Aktien schützen, das Recht schützen, den Staat schützen,
vor uns!

Zuerst einmal die Musik. Aus dem weißamerikanischen Rock‘n‘Roll


und dem schwarzamerikanischen Rhythm and Blues war Anfang der
60er Jahre in England eine neue Musik entstanden, eine Musik der
Jugend in den englischen Industriestädte, der Beat. Zuerst in den
Kellerkneipen vor allem Liverpools zu Hause, wurde er durch die
Beatles, die Rolling Stones und viele andere englische Bands geglättet
und kommerzialisiert und weltweit verbreitet, als eine Musik, in der
sich das Lebensgefühl der Jugend der westlichen Welt dieser Zeit aus-
drückte. Ab etwa 1965 wurde diese Musik aber auch wieder rauher,
löste sich mehr und mehr von den einfachen Liedstrukturen der frü-
hen Beat-Songs und entwickelte sich hin zur gitarrenorientierten
Rock-Musik. Der Ton-Steine-Scherben-Song gehört in diese Zeit
und gibt für eine deutsche Band ungewöhnlich authentisch den cha-
rakteristischen Sound der Rockmusik Ende der 60er wieder.
Dies war die Zeit des Absturzes des deutschen Schlagers. Der mo-
notone, stampfende Beat, die suggestive Bassfigur, die heisere rauhe
Stimme des Sängers Rio Reiser, der seine Botschaft mehr heraus-
schreit, und – ganz besonders, natürlich – der anarchistische Text
stellten die denkbar weiteste Entfernung vom deutschen Schlager
dar.
Der deutsche Schlager war die Musik der Muttis und Vatis; und
derer, die Mutti weiter an den Rockschößen und Vati weiter an den

200
Autorität und Rebellion

Lippen hingen. Rockmusik war die Musik der Rebellion gegen diese
Eltern-Generation.
Der Text des Songs listet in den paar Zeilen so ziemlich alles auf,
wogegen die Rebellion sich richtete: die Stumpfsinnigkeit und Pas-
sivität des Medienkonsums, den Konsumterror der Wirtschafts-
wundergesellschaft, die Macht des Geldes, die Verwüstung der Welt
durch Fabriken und Maschinen, den Produktionswahn, den Rü-
stungswahn, den imperialistischen Krieg in Vietnam, den Poli-
zeistaat, den Kapitalismus und sein Rechtssystem, die Staatsgewalt.
Und gegen wen wird dieser ganze Machtapparat aufgeboten? Gegen
„uns“, die Generation der Jugend.
„Jugend“ war damals ziemlich genau umrissen. Keineswegs galt,
was heute so gern gesagt wird: Jeder ist so alt, wie er sich fühlt. Nichts
da! „Trau keinem über dreißig!“ Diese Parole konnte nicht interpre-
tiert werden als: Trau keinem, der sich älter fühlt als dreißig. Es ging
nicht um Rüstigkeit und Lebenslust; sich jung erhalten zu haben;
sondern um die objektive Zugehörigkeit zu einer Generation, die für
die Entstehung von Lebensverhältnissen verantwortlich gemacht
wurde, welche kaputt machte, und zwar alles und jeden. Wer über
dreißig war, gehörte zum „Establishment“, egal wie jung er sich fühl-
te.
Von denen, die sich selbst schon zugrunde gerichtet hatten, die
selbst schon völlig „kaputt“ waren, wollte man sich nicht weiter „ka-
putt machen“ lassen. Deshalb mußte man kaputt machen, was ka-
putt machte. Gewalt als Gegengewalt. Und vor allem: Gewalt nur ge-
gen Sachen beziehungsweise Strukturen, keine Gewalt gegen
Personen – das war damals die von den Meinungsführern der Rebel-
lion ausgegebene Losung. In dem zweiten TSS-Song, der am Ende
der heutigen Vorlesung laufen wird und der den Titel trägt „Wir
streiken“, wird die gemeinte Gegengewalt bezeichnet; sie versteht
sich in der Hauptsache als nicht-mehr-mitmachen, anhalten, aufhal-
ten, verweigern, stoppen, sabotieren. (In den Jahren danach hat sich
gezeigt, dass die Trennung von Gewalt gegen Sachen und Gewalt ge-

201
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

gen Personen nicht durchgehalten wurde, womit die Gewaltfrage


sich radikaler stellte und von einem sehr kleinen Teil der Bewegung
in Richtung Terrorismus beantwortet wurde.)
In der Studentenbewegung wurde wohl mit einer bisher histo-
risch singulären Radikalität von einer ganzen Generation der Eltern-
Generation die Gefolgschaft aufgekündigt. Es gab nachher keinen
Bereich des gesellschaftlichen Lebens mehr, der nicht in diese Auf-
kündigung der Tradition einbezogen wurde. In einem gewissen Sin-
ne sprach in der Studentenbewegung die junge Generation der älte-
ren komplett die Erziehungsberechtigung ab.
Der gewollte Traditionsbruch ging als Massenbewegung zuerst
von bestimmten kulturellen Phänomenen aus, erfasste dann aber
nach und nach alle gesellschaftlichen Bereiche. Es begann mit Musik
und Mode. Die Beatmusik, lange Haare, kurze Röcke, Jeans, Bärte –
das war der Anfang. Die Elterngeneration reagierte mit Unverständ-
nis, mit Spott und Hohn, mit Denunziation und mit Gewalt, und
zwar mit Gewalt gegen Personen. Diese Reaktion der Elterngenera-
tion verschärfte den latenten Generationenkonflikt, der sich in Mu-
sik und Mode erst einmal ein relativ harmloses Ausdrucksmittel ge-
sucht hatte. Sie zwang die Jugend in eine fundamentale Konfrontati-
on mit der Autorität der Elterngeneration in Familie und Schule (vor
allem in der Familie); und des weiteren dann auch in erste Konfron-
tationen mit der von dieser Generation beauftragten Polizeigewalt.
Die Legitimation dieser Autorität stand in Frage, und damit stellte
sich ein fundamentales Erziehungsproblem: Worin ist die elterliche
Erziehungsberechtigung gegründet? Wodurch ist sie „autorisiert“?
Kann sie sich vor den Betroffenen legitimieren? Oder muss sie sich
letztlich auf Gewalt stützen?
Es kam eine Zeit, in der kaum eine Familie von internen Konflik-
ten zwischen den Generationen verschont blieb. Die Erschütterung
der elterlichen Autorität wurde in Westdeutschland erheblich zuge-
spitzt durch die historische Schuld des Nationalsozialismus, der ja
von der Generation der Eltern insgesamt eher aktiv mitgetragen oder

202
Autorität und Rebellion

doch zumindest mit einem hohen Grad an Zustimmung versehen als


passiv erlitten und erduldet worden war. „Wie konntet Ihr damals
…?“ war die lange Zeit unterdrückte, jetzt aber immer lauter und
häufiger ausgesprochene Frage; die schon meist gar keine Frage mehr,
sondern ein abgeschlossenes Urteil der Jugend über die Elterngenera-
tion war. Das Urteil lautete: Ihr habt den Nazis freie Hand gelassen;
Ihr seid den Nazis gefolgt bis zum bitteren Ende. Wenn Ihr heute
sagt, Ihr habt von nichts gewusst, dann heißt das nichts anderes als:
Ihr wolltet nichts wissen; Ihr wart einverstanden damit, nichts zu wis-
sen; Ihr habt darauf verzichtet, die Macht zu kontrollieren, die Ihr in
die Hände der Nazis gelegt habt; Ihr habt Eure Selbstbestimmung
aufgegeben. Und weil dies so ist und weil Ihr auch jetzt noch immer
nicht bereit seid, Euch mit Eurer undemokratischen Vergangenheit
auseinanderzusetzen, Euch mit uns auseinanderzusetzen, sondern
mit Gewalt reagiert, deshalb habt Ihr das Recht verloren, uns als
Erzieher, als Lehrer gegenüberzutreten.
Die Infragestellung der familialen Autorität mündete in eine Kri-
tik der Familie als Unterdrückungsinstitution. Man befasste sich mit
Psychoanalyse und entdeckte die sexuelle Unterdrückung durch eine
verlogene Sexualmoral der Elterngeneration. Neue Formen des Zu-
sammenlebens wurden propagiert. Kommunen wurden gegründet,
Wohngemeinschaften gebildet. Freie Liebe gefordert. „Wer dreimal
mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Kirche und
Religion standen infrage. Die gesamte Lebensform der Erwachsenen-
generation wurde abgelehnt. Nichts blieb ausgespart.
Die Kritik griff über die Familie hinaus und bezog die gesell-
schaftliche Verfassung und die staatlichen Institutionen mit ein. Ins-
besondere die Innenpolitik (Notstandsgesetzgebung), die Rüstungs-
politik der NATO (Atombewaffnung) und der Krieg in Vietnam
gaben der Rebellion Motive, die über einen Generationenkonflikt
hinaus das gesamte Fundament des gesellschaftlichen, ökonomischen
und politischen Systems erschütterte.

203
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Traditionsbrüche der Studentenbewegung (unvollständig):


• Musik (vom deutschen Schlager zum Beat)
• Mode (vom Sonntagsanzug und Kostümchen zur zerrissenen
Jeans; vom Faltenrock zum Minirock)
• Frisur (vom Fassonschnitt mit Scheitel zum „Pilzkopf“)
• Familie (von der Kleinfamilie zur Kommune)
• Religion (vom sonntäglichen Kirchgang zur Theologie der
Revolution)
• Sexualität (von der bürgerlichen Doppelmoral zur sexuellen
Revolution)
• Bildung (von der Lernfabrik zur Kritischen Universität)
• Wissenschaft (vom Elfenbeinturm zur gesellschaftlichen Ver-
antwortlichkeit)
• Gesellschaft (von der Ungleichheit der Lebenschancen zur all-
gemeinen Chancengleichheit)
• Politik (von rechts nach links) undsoweiter.
Dennoch: Indem die Auseinandersetzungen sich auf die Bil-
dungsinstitutionen, vor allem auf die Hochschulen konzentrierten,
wurde deutlich, dass es sich auch weiterhin um einen Generatio-
nenkonflikt handelte, auch wenn dieser Dimensionen annahm, die
weit über einen bloßen Generationenkonflikt hinausgingen. Anders
ausgedrückt: Es zeigte sich, dass die Stabilität einer Gesellschaft nicht
zuletzt von der Stabilität des Generationenverhältnisses abhängt,
vom Einverständnis der nachwachsenden Generation mit einer Fort-
führung der Traditionen.
In den Hochschulen bekamen die Lehrenden von den Studieren-
den zu hören, dass ihnen das, was sie anzubieten hatten, nicht mehr
abgenommen wurde. Forschung und Lehre sollten sich nach Jahr-
zehnten der Abstinenz endlich ihrer gesellschaftlichen Verantwor-
tung bewusst werden und diese Verantwortung auch in den Lehrver-
anstaltungen zum Thema machen. Wo die Lehrenden dazu nicht
bereit waren, nahmen die Studierenden die Sache selbst in die Hand.
Studentinnen und Studenten begannen, Lehrveranstaltungen im

204
Autorität und Rebellion

Sinne ihrer aufklärerischen Intentionen umzufunktionieren oder so-


gar eigene Lehrveranstaltungen zu inszenieren („Kritische Universi-
tät“). Immer ging es dabei um dieses Thema: die gesellschaftliche
Verantwortung der Wissenschaften. Die Lehrenden, die sich auf die-
ses Thema nicht einlassen konnten oder wollten, verloren ihre Sach-
autorität und wussten sich oft nur noch durch den Rückgriff auf die
Amtsautorität zu helfen – wodurch ihre Sachautorität natürlich wei-
ter erschüttert wurde.
Die Studentenbewegung war ein Beispiel dafür, welche sozialen
Erschütterungen es bedeutet, wenn eine der wesentlichen Aufgaben
von Erziehung, nämlich für die kulturelle und gesellschaftliche Kon-
tinuität in der Generationenabfolge zu sorgen, von der jüngeren Ge-
neration radikal negiert wird: „Macht kaputt, was Euch kaputt
macht!“

10.2 Vaterlandsverrat
Erziehung als Traditionssicherung ist so alt wie die Menschheits-
geschichte. Jedes Kind muss – heute in der Regel von seinen Eltern,
aber das war nicht immer so – in die bestehende gesellschaftliche
Ordnung eingeführt werden; eine Ordnung, die ihm als die Ord-
nung, als die Welt der Erwachsenen, der Generation seiner Eltern er-
scheint, obwohl sie von sehr viel weiter her kommt. Aber von den Er-
wachsenen selbst wird sie als „ihre Ordnung“ angesehen, als ihr
„Eigenes“, das sie zu bewahren suchen. Denn die Eltern sind – wie
ich in einer früheren Vorlesung gesagt habe – Mit-Eigentümer in die-
ser Eigentums-Ordnung, beziehen daraus ihre Berechtigungen und
Verpflichtungen im Zugriff auf die Welt, aber sind damit auch Be-
standteil dieser Ordnung, ihr selbst übereignet: müssen auch entspre-
chend dieser Ordnung über sich verfügen lassen.
Den Eltern erscheint die gesellschaftliche Ordnung als ihre eigene
Ordnung. (Auch dies ist nicht ohne Brüche, selbstverständlich. Aber
davon soll an dieser Stelle abgesehen werden.) Für das Kind ist dies
205
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

erstmal eine fremde Ordnung; mehr noch: für das Kind ist Ordnung
überhaupt erstmal etwas Fremdes. Deshalb kann umgekehrt das
Kind als Fremder erscheinen, gegen den das Eigene der Eigentums-
Ordnung verteidigt werden muss.
Integration in die bestehende Ordnung, Aneignung der Kinder
durch die Gesellschaft, dies ist – geschichtlich betrachtet – die Si-
cherung der Tradition, der Überlieferung, des kulturellen Erbes.
Überlieferung vollzieht sich im Generationenverhältnis. Als Gene-
rationenverhältnis übersteigt es das bloße Eltern-Kind-Verhältnis.
Dies ist im Kern ein intimes Verhältnis, auch ein Liebesverhältnis.
Das Generationenverhältnis dagegen ist alles andere als intim. Und
ob dabei sehr viel Liebe im Spiel ist, mag bezweifelt werden.
In der Familie überlagern sich diese beiden Dimensionen des Ge-
nerationenverhältnisses. Welche mehr im Vordergrund steht, hängt
sehr stark ab vom Rollenverständnis der Eltern. Insbesondere Vätern
wird oft eher die Aufgabe zugeschrieben, für die gesellschaftliche Di-
mension des Eltern-Kind-Verhältnisses einzustehen; während Müt-
tern eher die Dimension der Intimität nahegelegt wird. Der Konflikt
zwischen Vater und Mutter ist oft durch diese spannungsvolle Diffe-
renz geprägt.
In der Studentenbewegung war der Generationenkonflikt
tatsächlich in erster Linie ein Konflikt mit den Vätern. Bei der eben
beschriebenen Rollenzuschreibung kann dies auch gar nicht anders
sein.
Der Generationenkonflikt als Konflikt mit den Vätern wird dann
notwendig auch ein Konflikt der Jugend mit dem sogenannten Va-
terland. Schon das Wort erzeugte bei meiner Generation damals Ab-
scheu, Ekel, Verachtung. Es stand für die Gesamtheit dessen, was uns
kaputt machte. Und es war gleichzeitig durch die Generation der El-
tern mit einer falschen Gloriole versehen, von einem weihevollen
Dunst umgeben, in dessen dunklem Nebel grauenhafte Verbrechen
verborgen wurden. Der Inbegriff der Vergewaltigung einer ganzen
Generation war der militärische Dienst für das Vaterland; Kriegs-

206
Autorität und Rebellion

dienstverweigerung und damit Vaterlandsverrat wurde zur morali-


schen Pflicht, insbesondere angesichts des in Vietnam von unserem
NATO-Partner USA geführten Kriegs. („Vaterlandslosigkeit“ war
übrigens eine damals aus der historischen Mottenkiste von politisch
Rechtsaußen hervorgeholte Denunzierung an die Adresse der Sozial-
demokratie.)
Das „Vaterland“ gibt sich Symbole. Und in der Verehrung für
diese Symbole zeigt sich die Identifikation mit dem Zugehören zu
seiner Eigentums-Ordnung. Deshalb ist es für die Eltern-Generation
so wichtig, dass die Jugend ihren vaterländischen Symbolen Respekt
bezeugt.
Die Nationalhymne gehört zu diesen Symbolen. Und Sie werden
selbst schon mitbekommen haben, dass hier schnell die politischen
Emotionen hochgehen.
Die Nationalhymne bringt in Musik und Text Glanz und Glorie
des Vaterlands zum Ausdruck. Diese Hymne an das Vaterland wird
der Jugend zu Gehör gebracht; und die Jugend soll eben dies verneh-
men, was die Eltern-Generation in sie hineingelegt hat. Die Natio-
nalhymne soll sie „ergreifen“ – und wie sehr sie dies tut, kann man
noch bei jeder Siegerehrung sehen, wo den Zuhörerinnen und Zuhö-
rern, deren Hymne gespielt wird, vor „Ergreifung“ die Tränen die
Backen runterlaufen. Und das hat nichts mit ihrer musikalischen
Qualität zu tun.
Was hat die Jugend im Jahre 1968 vernommen, wenn sie die Na-
tionalhymne hörte? In Westdeutschland mochte es üblich geworden
sein, die dritte Strophe des Deutschlandlieds zu singen („Einigkeit
und Recht und Freiheit“), wir hörten immer die erste Strophe
(„Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“); und
wir hörten den Nachklang des deutschen Faschismus. Wir glaubten
den Leuten nicht, dass sie die dritte Strophe meinten, wenn sie sie
sangen. Wir hörten sie immer die erste Strophe singen. Ihre ganze
politische Kultur, so glaubten wir, sang die erste Strophe.

207
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Sie hören jetzt, was die US-amerikanische Jugend hörte, wenn


ihre Nationalhymne erklang.

Musik:
Jimi Hendrix – Star Spangled Banner (1968).
Vom Album „Experience Hendrix“ (1997)

Jimi Hendrix hat seine Version der US-amerikanischen National-


hymne auf dem legendären Woodstock-Festival gespielt. Er hat ge-
spielt, was er gehört hat: das Dröhnen der Tiefflugangriffe, das Heu-
len von Sirenen, das Prasseln des Maschinengewehrfeuers, das
Orgeln des Bombenabwurfs und die Detonationen ihres Einschlags.
Und er hat der Eltern-Generation damit ihre eigene Melodie vorge-
spielt. Hört hin, hieß das, Eure Hymne kündet uns nicht von der De-
claration of Human Rights; sie kündet uns nicht von Menschenrech-
ten und Demokratie; wovon sind kündet, sind: Ausbeutung, Gewalt,
Terror, Krieg. Eure Hymne kündet von Eurem Verrat an Euren ei-
genen Idealen. Ein Vaterland, das solchen Verrat übt, muss von uns
verraten werden, wenn wir uns selbst treu bleiben wollen.
Wir spielen nicht mehr mit; und wenn doch, dann auf unsere
Weise, eine Weise, bei der Euch Hören und Sehen vergehen soll, weil
Ihr in der Weise, wie wir dieses Spiel spielen, Euer Spiel nicht mehr
wiedererkennen werdet. Euch soll beim Hören der Weise, wir wir
Euch Eure Hymne vorspielen, das Hören Eurer Nationalhymne ver-
gehen. Und vielleicht öffnet Euch das ja die Ohren für jene andere
Melodie, die wir für Euch mitsingen sollen, die Melodie des Krieges.
Wenn wir Euch das US-Amerika zeigen, das wir sehen, dann wird
Euch das Sehen Eures Amerikas vergehen. Aber vielleicht öffnet
Euch das ja die Augen für das wahre Bild unseres Landes.
Wie sehr Jimi Hendrix‘ Version der US-Hymne uns damals unter
die Haut ging, lässt sich heute wahrscheinlich gar nicht mehr nach-
empfinden. Ich kann nur sagen: Danach habe ich diese Hymne nie
mehr hören können, ohne dies mitzuhören.

208
Autorität und Rebellion

Jimi Hendrix‘ Version kommt ohne Text aus. Hier „spricht“ al-
lein die Musik, in einer Sprache, die an Deutlichkeit nichts zu wün-
schen übrig lässt. Dies ist Eure Sprache, Euer Text, hieß dies zu-
gleich. In dieser Sprache wollen wir nicht mit Euch sprechen.
Zwischen den Generationen herrschte damals in der Tat weitge-
hend Sprachlosigkeit. Die Jugend wollte nicht mehr die Sprache der
Erwachsenen sprechen; und die Erwachsenen wollten die Sprache der
Jugendlichen nicht verstehen. Wenn Worte etwas sagen, was ich
nicht sagen will, dann gerate ich beim Aussprechen dieser Worte ins
Stammeln. Dann fällt es mir schwer, diese Worte überhaupt heraus-
zubringen. Es gibt eine Sprachhemmung. Ich stottere, „talking ‘bout
my gggegeneration“.

Musik:
The Who – My Generation (1965);
Vom Album „Who Sings My Generation“ (1965)

10.3 Autorität
Im Generationenverhältnis überlagern sich, wie ich sagte, zwei Di-
mensionen von Erziehung. Zum einen ist darin enthalten das Ver-
hältnis von Eltern zu ihren Kindern. Zum zweiten das Verhältnis der
Gesellschaft zur Jugend.
Die Sicherung kultureller und gesellschaftlicher Kontinuität über
die Generationenabfolge hinweg ist eine gesellschaftliche Funktion
der Erziehung, die insbesondere von der Soziologie in den Blick ge-
nommen wird. Diese Betrachtungsweise ist nicht gerade urpäd-
agogisch. Denn sie verliert die Entwicklung des einzelnen Menschen
aus dem Blick beziehungsweise sieht sie nur noch im Hinblick auf ih-
ren Beitrag zur gesellschaftlichen Reproduktion. Dennoch gehört sie
zur Pädagogik. Wir können nicht die pädagogische gegen die so-
ziologische Sichtweise ausspielen. Denn das Verhältnis der Eltern zu
ihren Kindern spielt sich nicht im gesellschaftsfreien Raum ab.
209
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Wie Hegel gesagt hat (ich habe dies schon zitiert), gilt in der Fa-
milie das Kind um seiner selbst willen. Hier hat die Liebe der Eltern
zu ihren Kindern ihren Ort, eine Liebe, die bedingungslos ist, das
heißt nicht abhängig gemacht wird von der Leistungsfähigkeit des
Kindes, von seinen Begabungen, seiner Schönheit, seiner Wohlerzo-
genheit undsoweiter Aber die Familie hat auch eine gesellschaftliche
Aufgabe, nämlich die Aufgabe der Erziehung. Und damit kommt et-
was anderes in das Eltern-Kind-Verhältnis hinein, das das Liebesver-
hältnis nicht verdrängen muss, es aber überformt: Integration der
Kinder in die bestehende Ordnung. Mit Liebe ist es da nicht getan,
wie Hegel betonte. Hier tritt notwendig die „Zucht“ hinzu (bis hin
zur „Züchtigung“), das Moment mehr oder weniger gewaltsamer
Fremdbestimmung in der Erziehung.
So hat auch die Familie eine Doppelfunktion. Sie ist Ort des un-
mittelbaren Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern. Und sie ist
eine gesellschaftliche Institution mit einer gesellschaftlichen Funk-
tion. Dass sie Ort des unmittelbaren Verhältnisses zwischen Eltern
und Kind sein kann, hat gesellschaftliche Bedingungen. Die Gesell-
schaft muss es ihren Mitgliedern erlauben, in ein solches Verhältnis
der Liebe zu ihren Kindern zu treten. Was uns heute als eine selbst-
verständliche Norm erscheint, deren Verletzung äußerste Gewissens-
qual nach sich zieht, nämlich dass Eltern ihre Kinder lieben sollten,
kann für unsere Weltregion erst seit etwa zweihundert Jahren Gel-
tung beanspruchen. Uns heute erscheint unfassbar, dass Jean-Jacques
Rousseau, der doch das Erziehungsverhältnis als ein Verhältnis der
Liebe zum Kind zu begründen versuchte, seine eigenen Kinder weg-
gegeben hat an irgendeine fremde Frau, die sich um sie kümmern
sollte. Wie kann jemand, der die Liebe des Erziehers zum Kind so
stark betont, so mit seinen eigenen Kindern umgehen? Was sich dar-
an jedoch zeigt, ist, dass Rousseau in seinem realen Leben noch ein
Angehöriger seiner Zeit war, in der das, was er propagierte, eben kei-
nerlei Gültigkeit besaß. Er war in der Theorie seiner Zeit voraus.
Aber diese seine Zeit steckte ihm noch gewaltig „in den Knochen“.

210
Autorität und Rebellion

Wie auch immer verborgen, verschleiert, verzerrt, kommt im El-


tern-Kind-Verhältnis auch ein gesellschaftlich gewolltes Genera-
tionenverhältnis zum Ausdruck. Wenn heute die Elternliebe eine so
selbstverständliche Norm ist, dann hat sich das Verhältnis der Gesell-
schaft zur Jugend seit Rousseau so sehr verändert, dass wir ihm heute
mit moralischer Entrüstung seine eigene Theorie sozusagen um die
Ohren hauen können.
Dies müssen wir uns bewusst halten, wenn es nun um die Frage
geht, wie Erziehung Tradition über die Generationenabfolge hinweg
sichern soll und kann. Es hat immer auch damit zu tun, wie sich die
elterliche Autorität und später die staatliche Autorität im Erziehungs-
und Bildungswesen begründet. Es gibt immer erst eine sozusagen
ursprüngliche Autorität, die ganz einfach mit dem ursprünglichen
Eltern-Kind-Verhältnis zusammenhängt. Aber immer muss diese na-
türliche Autorität im Laufe des Entwicklungsprozesses transformiert
werden in eine irgendwie von den Heranwachsenden bewusst und
willentlich angenommene Autorität.
Wie sich diese Transformation vollzieht, hängt ab von der Art der
Autorität, deren Anerkennung der Jugend abverlangt wird. Das la-
teinische Wort auctoritas heißt ursprünglich soviel wie die Macht,
wachsen zu lassen, zu mehren; übertragen auch Urheberschaft. Die
ursprüngliche elterliche Autorität ist insofern die Macht derer, die
wachsen lassen, die fördern, die entwickeln lassen können. Auch der
übertragene Sinn der Urheberschaft passt zum Eltern-Kind-Verhält-
nis: die Eltern erscheinen als die Urheber der kindlichen Existenz
oder zumindest als die von einer noch höheren Macht mit dieser Ur-
heberschaft belehnten Menschen. Zur Anerkennung der ursprüng-
lichen Autorität der Eltern gehört die absolute Abhängigkeit des Kin-
des und sein Vertrauen, dass die Eltern ihre Macht für es, das Kind
einsetzen: es versorgen, sich um es kümmern; seine Fragen beantwor-
ten; ihm die Welt zeigen und dafür sorgen, dass es dort seinen Platz
findet.

211
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Mit wachsender selbstständigkeit des Kindes wächst auch seine


Fähigkeit, selbst zu beurteilen, ob die Eltern ihre Autorität zu Recht
beanspruchen. Das Kind erfährt die Grenzen der elterlichen Macht,
wenn es erfährt, dass es außerhalb der Familie anders zugeht und sei-
ne Eltern dort keineswegs dieselbe Rolle spielen wie in der Familie,
dass es dort andere Autoritäten gibt. Und es gewinnt Einsicht in die
Begründungen der Autorität. An diesen Erfahrungen und Einsichten
beginnt es seine Eltern zu messen.
Autorität kann unterschiedlich begründet sein; aber immer be-
ruht sie auf einer Überlegenheit, die bedeutsam ist und daher Macht
verleiht. Wichtig aber ist: Autorität ist niemals die bloße Unter-
werfung; sie beruht auf Anerkennung. Ohne Anerkennung ist sie
nicht Autorität, sondern Herrschaft. Die Anerkennung der Autorität
bedeutet ein Einverständnis, wodurch der Anerkennende an der Au-
torität, die er anerkennt, partizipiert.
Ich sagte, Autorität beruht auf einer (ungezwungen) anerkannten
Überlegenheit. Was ist es, was diese Überlegenheit ausmacht?
Ich möchte fünf Typen unterscheiden:
• überlegene physische Kraft: dies setzt sich über die körperliche
Überlegenheit hinweg fort in die Verfügung über Gewaltmit-
tel jeglicher Art; relevant hieran ist nicht, dass der andere auf-
grund seiner physischen Überlegenheit mich zu etwas zwin-
gen kann (das wäre der Herrschaftsaspekt), sondern dass ich,
indem ich sie anerkenne, mit in ihren Genuss komme, an ihr
Anteil habe; gesellschaftlich gesehen manifestiert sich diese
Autorität der älteren Generation in ihrem Gewaltapparat, ins-
besondere Polizei und Militärapparat;
• überlegene Erfahrung: umfaßt die Spanne von der größeren
Lebenserfahrung der Eltern bis hin zur gesammelten Erfah-
rung einer Gesellschaft, die sich in Personen repräsentieren
kann, aber auch in dem kulturellen Erbe, worin die Lehren
aus der Geschichte bewahrt sind; in frühen Gesellschaften
war es der Ältestenrat, der diese Autorität beanspruchen

212
Autorität und Rebellion

konnte; heute ist es nicht mehr so eindeutig, wo sich die


gesellschaftliche Erfahrung versammelt;
• überlegenes Können: es ist für ein kleines Kind staunenswert,
was die Eltern alles können, es selbst aber erst noch erlernen
muss; andere Menschen außerhalb der Familie können ande-
res, können mehr; und vor allem wird heute das Können der
Menschheit gespeichert in ihren Technologien;
• überlegenes Wissen: kleinen Kindern erscheinen ihre Eltern
noch als allwissend; später erfahren sie, dass es verschiedene
Arten und Quellen des Wissens gibt; die Religion beziehungs-
weise Kirche verfügt über ein anderes Wissen aus anderer
Quelle als die Wissenschaften;
• überlegene Moral: die Eltern sind moralisches Vorbild: was sie
tun, ist gut; gut ist, wovon sie sagen, dass es gut sei; mit der
Erweiterung des Lebensbereichs erweitert sich auch der
Raum, in dem die moralischen Maßstäbe ihre Gültigkeit zu
erweisen haben; die Moral selbst verändert sich im Maße
ihres Geltungsbereichs; letztlich ist in einer Weltgesellschaft
auch eine Universalität der moralischen Maßstäbe gefordert.
Autorität ist durch ihren spezifischen Überlegenheitstyp legiti-
mierte Macht. Diese Überlegenheit muss anerkannt werden. Die An-
erkennung wiederum berechtigt zur Partizipation an dieser Macht.
Sie wird damit selbst machtfördernd. Hierin liegt eine spezifische
Autorität derer, die eine Autorität anerkennen: diese ist auf ihre An-
erkennung angewiesen. Also haben die Anerkennenden selbst die
Macht, Anerkennung zu geben oder zu versagen. Dies ist niemals ein
einseitiges Verhältnis. (Im Unterschied zur Herrschaft, worin sich die
Autorität von ihrer Anerkennung abgelöst hat – was sie nur kann,
wenn die Anerkennenden auf ihre Macht der Anerkennung freiwillig
oder gezwungenermaßen verzichten.)
Nun habe ich aber noch ein Kriterium für die Überlegenheit ein-
geführt, welche Autorität ausmacht, nämlich die Bedeutsamkeit die-
ser Überlegenheit. Selbstverständlich ist auf einer frühen gesell-

213
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

schaftlichen Entwicklungsstufe der Menschheit die physische Überle-


genheit von ganz anderer Bedeutung gewesen, als sie es heute ist.
Physische Kraft mag heute bewundert werden; aber sie verleiht in der
Erwachsenengesellschaft keine Autorität mehr. In unseren westlichen
Demokratien können auch – anders als zu anderen Zeiten und in an-
deren Ländern – die Spitzen des Militärapparats nicht mehr per se
höchste Autorität beanspruchen; eine Uniform bewirkt im Gegen-
über nicht mehr das, was sie etwa vor hundert Jahren bewirkt hat. Im
Gegenteil: In der Studentenbewegung wurde die Uniform geradezu
zum Zeichen verwirkter, der Anerkennung entzogener Autorität.
Dass heute auch Lebenserfahrung nicht mehr reicht, um Autorität
zu verleihen, sehen wir am Autoritätsverlust der Alten in unserer Ge-
sellschaft. Die Alten erscheinen – obwohl sie doch so viel rüstiger und
fitter sind als die Gleich-Alten vor hundert oder gar tausend Jahren –
als die, die den Anschluss verpasst haben, die sich nicht mehr ausken-
nen, die nicht wissen, was Sache ist, worum es eigentlich geht undso-
weiter Auch Berufserfahrung verliert immer mehr an Stellenwert.
Über 50Jährige haben in den meisten Berufen kaum noch eine Ein-
stellungs-Chance. Erfahrung wird eher zum Hemmnis, weil damit
die Offenheit für das Neue blockiert werden könnte. Lebenslanges
Lernen ist angesagt; niemand kann sich auf seinen Erfahrungen aus-
ruhen. In der Studentenbewegung galt Lebenserfahrung zudem als
Komplizenschaft mit der Vergangenheit, mit dem Bestehenden.
„Trau keinem über dreißig!“
Können ist heute in erster Linie technisches Können; das subjekti-
ve Können wird heute ebenso wie die berufliche Erfahrung oder das
berufliche Wissen so schnell entwertet, dass es nur noch für relativ
kurze Zeiten Autorität verleiht; von größerer Autorität ist dagegen
das personenunabhängig in den Technologien gespeicherte und
fortwährend gemehrte Können; die Autorität des Könnens ist heute
vor allem eine Autorität der Technik und ihrer Sachwalter; doch
auch diese Autorität ist nicht mehr unbestritten legitimiert, seit im-
mer deutlicher wird, dass die wachsende technische Macht auch im-

214
Autorität und Rebellion

mer mehr unbeherrschte Phänomene hervorbringt, also auch die


Ohnmacht steigert.
Wie steht es mit dem Wissen? Zunächst könnte es scheinen, als ob
das Wissen an die Stelle der Erfahrung treten könnte. Erfahrung ist
zeitgebunden. Aber ist Wissen nicht zumindest dem Anspruch nach
überzeitlich gültig? Auch dies steht mehr und mehr in Frage. Die
göttliche Offenbarung mochte noch ein ewiges Wissen vermitteln,
solange der Glaube als hinreichende Basis für den Wissenserwerb gel-
ten konnte. Anders, wenn das Wissen auf die Erkenntnistätigkeit des
Menschen selbst zurückgeführt wird, wenn Wissen eine menschliche
Hervorbringung ist. Dann relativiert sich die Gültigkeit des Wissens
wie alle Hervorbringungen des Menschen. Dann wird auch das Wis-
sen der Dynamik geschichtlicher Entwicklung unterworfen. Und
was gestern galt, ist heute zumindest überholt.
Hinzu kommt ein zweites. Wenn das Wissen eine menschliche
Hervorbringung ist, dann ist zwar seine auctoritas, seine Urhe-
berschaft und die Macht, es zu mehren, auf seiten der Menschen. In-
sofern wird die göttliche durch menschliche Autorität abgelöst. Aber
mit der Urheberschaft geht auch die Verantwortung an den Men-
schen über. Auch die Nazis haben sich auf die Wissenschaft gestützt;
ja, sie haben sogar die Wissenschaften in ganz besonderer Weise ge-
fördert. Nazi-Deutschland war nicht weit davon entfernt, die Atom-
bombe zu bauen. Hier setzte die Wissenschaftskritik der Studenten-
bewegung an: Autorität verleiht das Wissen nur, wenn seine Urheber
um ihre Verantwortung wissen; wenn sie sich dies zum Thema ma-
chen. Die Instrumentalisierung der Wissenschaften durch die Nazis
war nur ein historisches Beispiel. Alle Wissenschaften sind immer
aufgefordert, ihre gesellschaftliche Legitimation zu bedenken. Der
massive Autoritätsverlust der Wissenschaften und ihrer Institutio-
nen, der Hochschulen und Universitäten, während der Studentenbe-
wegung war im besonderen auf die Verstrickung in die nationalsozia-
listische Vergangenheit, allgemeiner aber auf die generelle gesell-

215
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

schaftstheoretische Enthaltsamkeit der deutschen Wissenschaften


zurückzuführen.
Mit der Verantwortung der Wissenschaften bin ich auch schon
beim fünften Typ angelangt: der Autorität qua moralischer Über-
legenheit. Wenn Sie an die Studentenbewegung denken, so war es vor
allem der Verlust der moralischen Autorität, der den Bruch zwischen
den Generationen hervorrief. Die für den Faschismus verantwortlich
gemachte Generation verfügte nicht mehr über die moralische Auto-
rität, der nachwachsenden Generation zu sagen, was richtig und
falsch, was gut und böse ist. Sie hätte diese Autorität vielleicht wie-
dergewinnen können, wenn sie sich ihrer Schuld gestellt hätte. Aber
eben dies war nicht geschehen. Und angesichts der massiven Forde-
rungen nach Vergangenheitsaufarbeitung durch die Jugend sah sich
die Eltern-Generation offenbar so sehr in die Ecke gedrängt, dass sie
zu einem großen Teil nur mit Abwehr zu reagieren vermochte. Denn
nun trat die Jugend plötzlich als moralische Autorität auf. Frei von
der Schuld ihrer Eltern konnte sie diese auffordern, reuig in sich zu
gehen, die eigene Schuld zu bekennen und aus der Geschichte die nö-
tigen Lehren zu ziehen, so das traditionelle Verhältnis zwischen den
Generationen, wo genau dies das ist, was die Älteren von den Jün-
geren zu fordern pflegen, auf den Kopf stellend.
Sie sehen, die Frage nach der Anerkennung der Autorität der Älte-
ren und damit die Frage nach den Bedingungen kultureller und ge-
sellschaftlicher Kontinuität über die Generationenfolge hinweg, ist
nicht zu beantworten, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse zu be-
trachten, unter denen bestimmte Typen von Autorität bedeutsam
werden oder an Bedeutung verlieren.
In letzter Instanz werden allerdings, so meine These, heute alle
fünf Autoritätstypen an eine sechste, nämlich die Autorität der Ver-
nunft gebunden. Was nicht heißt, dass diese Anbindung tatsächlich
gegeben ist. Es mag sich zeigen, dass sie im Einzelfalle oder gar gene-
rell nicht gegeben ist; dann haben wir es statt mit Autorität mit Herr-
schaft zu tun.

216
Autorität und Rebellion

Zur Begründung meiner These:


Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, also seit rund zweihundert
Jahren ist ein gegenüber vorher radikal verändertes Weltbild vorherr-
schend. Dieses Weltbild beinhaltet eine neue, zentrale Stellung des
Menschen. Er gilt seitdem als „Subjekt“, das heißt als die Instanz, auf
die letztlich alle Weltverhältnisse zurückzuführen sind. Damit über-
nahmen die Menschen qua Selbstermächtigung die göttliche aucto-
ritas als nunmehr menschliche Autorität. Sie übernahmen selbst die
Verantwortung für ihre Lebensverhältnisse und ihre Geschichte.
Und mit dieser Übernahme der auctoritas wurde deren Ausübung le-
gitimationspflichtig: Sie musste sich von nun ab begründen, und
zwar mit den Mitteln begründen, auf die die menschliche auctoritas
sich gründete, mit den Mitteln der Vernunft.
Physische Überlegenheit, die Überlegenheit an Erfahrung oder an
Wissen, all diese Überlegenheiten mussten sich seitdem auf ihre Be-
gründungen in der Vernunft befragen lassen. Auch die Moral konnte
sich nicht mehr auf vorgegebene Ordnungen und Werte berufen.
Auch sie wurde an die Instanz der Vernunft zurückgebunden. Die
bloße physische Überlegenheit, die militärische Überlegenheit mö-
gen weiterhin faktisch Herrschaft sichern können; sie sichern keine
Autorität mehr, solange sich ihre Ausübung nicht an Maßstäbe der
Vernunft bindet. Das Mehr an Erfahrung begründet keine Autorität
mehr, wenn sich die Alten nicht in Frage stellen lassen. Technik ver-
liert ihre Autorität, wenn sie unvernünftige Wirkungen hervorbringt.
Das überlegene Wissen verleiht keine Autorität, wenn es sich nicht
auf seine gesellschaftliche Legitimation befragen lässt. Und auch die
Moral muss sich darauf prüfen lassen, wie universalistisch sie begrün-
det, also von allen Menschen, allen Völkern, allen Kulturen dieser
Welt akzeptiert werden kann.
Vernunft ist die letzte Autorität. Alles andere ist Herrschaft. Dies
gilt seit ca. zweihundert Jahren, zunächst im vom Bürgertum öffent-
lich verkündeten Selbstverständnis, in seinen politischen Program-
men und seiner Philosophie, dann für die inneren Verfassungen der

217
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Staaten. Dass dies auch für das Generationenverhältnis zu gelten ha-


be, ist traditionelle pädagogische Position. Durch die Studen-
tenbewegung wurde die Einlösung dieses Anspruchs erstmals in aller
Konsequenz gesellschaftspolitisch eingeklagt. Vernunft ist nicht bei-
zubringen. Was die Eltern-Generation für vernünftig hält, kann der
Jugend nicht mehr verordnet werden. Es muss sich vielmehr ihrer,
der Jugend Vernunft stellen, von ihr sich prüfen lassen. Es muss sich
ihrer Kritik stellen. Autorität kann nur noch beanspruchen, was
durch die Kritik gegangen ist. Dies ist der sechste Typ: die überlegene
Vernunft.

10.4 Emanzipation
In der Studentenbewegung ist die Jugend in Konfrontation gegangen
zu den Bildungsinstitutionen und zur Pädagogik dieser Institu-
tionen. Sie fragte nach den Bedingungen, unter denen eine „Erzie-
hung zur Mündigkeit“ (Adorno), das heißt zum kritischen Gebrauch
der eigenen Vernunft, möglich sei. Und sie forderte von der Päd-
agogik, sich dieser gesellschaftlichen Bedingungen einer Erziehung
zur Mündigkeit nicht nur bewusst zu sein, sondern sich auch für ihre
Herstellung und Sicherung einzusetzen.
Denn die Diagnose lautete: Unter den gegebenen Bedingungen
einer nur zum Schein demokratischen Gesellschaft, unter den Be-
dingungen einer Gesellschaft, welche ihre Jugend lediglich zu aus-
tauschbaren Leistungsträgern für profitorientierte Ökonomie aus-
bilden will, erhält die kritische Vernunft keine Chance, Autorität auf
ihre Legitimation hin zu befragen. An die Stelle von legitimierter Au-
torität tritt daher Herrschaft.
Daher bedurfte die Pädagogik einer Revision. Sie musste in ihre
eigene Theoriebildung die Frage nach ihren gesellschaftlichen Be-
dingungen und Verstrickungen aufnehmen, sich also gesellschafts-
theoretisch wenden. Und sie musste die Befähigung der Jugend zur
Kritik von Herrschaft als Bildungsziel für die pädagogische Praxis
218
Autorität und Rebellion

formulieren. Diese Pädagogik nannte sich emanzipatorische Päd-


agogik.
Das Wort Emanzipation kommt wiederum aus dem Lateinischen
und bedeutete dort soviel wie: Entlassung aus der väterlichen bezie-
hungsweise patriarchalen Gewalt; dies konnte den erwachsenen Sohn
ebenso meinen wie einen freizulassenden Sklaven. Ganz wörtlich
bedeutete es: aus dem mancipium geben. Das mancipium war die
feierliche Bekräftigung von Eigentumserwerb durch Handauflegen.
Jede Erziehung zielt letztlich auf Emanzipation. Aber Emanzipa-
tion vollzog sich nicht immer auf die gleiche Weise. Emanzipation
heißt, dass ein Heranwachsender soweit selbst zur Autorität ge-
worden ist, dass er aus der Abhängigkeit von der Autorität der Eltern
heraustreten kann. Ein Maßstab hierfür kann die physische Reife
sein; ein anderer die hinreichende Erfahrung; ein dritter der Erwerb
des nötigen Könnens; ein vierter die Aneignung von Wissen; ein
fünfter die gefestigte moralische Haltung. All diese Maßstäbe reichen
heute nicht mehr hin. Emanzipation bedarf der kritischen Vernunft.
Die emanzipatorische Pädagogik meint also eine spezifische Form
der Emanzipation, und zwar die Form der Emanzipation, welche zur
heutigen Gesellschaft gehört, zu einer modernen, bürgerlichen Ge-
sellschaft, die im Menschen ihr „Subjekt“ hat. Es ist die Eman-
zipation von Herrschaft durch die Befragung der Autorität hin-
sichtlich ihrer vernünftigen Legitimierbarkeit; also das Geltendma-
chen der Autorität der Vernunft durch die Jugend selbst.
Wenn die Jugend rebelliert, dann beansprucht sie eigene auctori-
tas: sie will anerkannt sein als Urheber ihrer eigenen Lebensform.
Dass dieser Anspruch die Form der Rebellion annimmt, ist nahezu
unvermeidlich: Die gesamte bestehende gesellschaftliche Ordnung
spricht von der auctoritas der vorhergehenden Generationen. Die
bloße Beerbung aber schafft keine eigene auctoritas. Erst der eigene
Beitrag zur Weltgestaltung und das heißt die Durchbrechung der
Tradition kann die eigene auctoritas begründen. Je heftiger der Wi-

219
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

derstand der Älteren gegen den Traditionsbruch ist, umso heftiger


muss der rebellische Angriff auf die Tradition werden.
Was die Jugend dabei lernen muss, ist, dass sie ebenso, wie sie dies
von der älteren Generation verlangen kann, die von ihr beanspruchte
auctoritas legitimieren muss. In der Studentenbewegung wurde der
Generationenspieß gleichsam umgedreht. Die einzig legitime Form
der Autorität, die Autorität der Vernunft wurde nun für die Jugend
beansprucht und der Eltern-Generation abgesprochen. Das Genera-
tionenverhältnis wurde so auf den Kopf gestellt. Die Jugend trat als
Erzieher- und Lehrerschaft auf. Und was sie der Eltern-Generation
vorgeworfen hatte, nämlich ihre angebliche Vernunft nicht der Kri-
tik auszusetzen, dies praktizierte sie nun selbst, indem sie sich in Zir-
kel einschloß, ihre Gesellschaftskritik dogmatisierte und an die Stelle
der offenen diskursiven Auseinandersetzung den politischen Kampf
um die Durchsetzung ihrer Vorstellungen setzte.
Es gibt nur noch einen Weg, im Generationenverhältnis die
Autorität zu wahren: Vertrauen zu beweisen in die Autorität der Ver-
nunft, indem man sich ihrem Prozess überantwortet. Dieser Prozess
aber ist der mit Argumenten geführte Dialog zwischen den Genera-
tionen. Alle anderen Autoritäten gründen entweder im Prozess der
Vernunft oder sind längst in Herrschaft umgeschlagen.

Musik:
Ton Steine Scherben – Wir streiken! (1970)

Wir streiken! Wir streiken!


Wir streiken! Wir streiken!
Wir streiken! Wir streiken!
Wir streiken! Wir streiken!
Maschinen Stop! Streik bis zum Sieg!
Wir werden kämpfen, und uns gehört die Fabrik.
Maschinen Stop! Streik bis zum Sieg!
Wir werden kämpfen, und uns gehört die Fabrik.

220
Elfte Vorlesung
Gewalt

11.1 „Schrei nach Liebe“


11.2 Was nennen wir Gewalt?
11.3 Erziehungsgewalt
11.3.1 Die Alternative: Vermittlung
11.3.2 Mangelnde Vermittlung
11.3.3 Vermittlungsfähigkeit
11.3.4 Vermittlungsbedürftigkeit
11.3.5 Vertrauen und/oder Vermittlung
11.4 Strukturelle Gewalt und Jugendwut

Musik:
Die Ärzte – Schrei nach Liebe (1993).
Vom Album „Die Bestie in Menschengestalt“ (1993)

11.1 „Schrei nach Liebe“


Du bist wirklich saudumm, darum geht‘s Dir gut.
Hass ist Deine Attitüde, ständig kocht Dein Blut.
Alles muß man Dir erklären, weil Du wirklich gar nichts weißt.
Höchstwahrscheinlich nicht einmal, was „Attitüde“ heißt.
Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe.
Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.
Du hast nie gelernt, Dich zu artikulieren,
und Deine Eltern hatten niemals für Dich Zeit.
Ohoh, Arschloch!
Warum hast Du Angst vorm Streicheln? Was soll all der Terz?
Unterm Lorbeerkranz mit Eicheln, weiß ich, schlägt ein Herz.
Und Romantik ist für Dich nicht bloß graue Theorie.
Zwischen „Störkraft“ und den „Onkelz“ steht ne KuschelrockLP.
Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe.
Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.

221
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Du hast nie gelernt, Dich zu artikulieren,


und Deine Eltern hatten niemals für Dich Zeit.
Ohoh, Arschloch!
Weil Du Probleme hast, die keinen intressieren,
weil Du Schiß vorm Schmusen hast, bist Du ein Faschist.
Du mußt Deinen Selbsthass nicht auf andre projizieren,
damit keiner merkt, was für ein lieber Kerl Du bist.
Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe.
Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.
Du hast nie gelernt, Dich artizukulieren,
und Deine Freundin, die hat niemals für Dich Zeit.
Ohoh, Arschloch! Arschloch! Arschloch!

Das Publikum der Ärzte, die Käufer ihrer Platten sind vor allem Al-
tersgenossen des Jungen oder jungen Mannes, der darin als „Arsch-
loch“ tituliert wird. Der Songtext hat daher eine Hauptfunktion: Er
soll eine Zuwendung zu diesem Jungen bewirken, eine Zuwendung,
die zugleich Abgrenzung ist.
Die Zuwendung sagt: Seht ihn Euch an, diesen armen Jungen; er
macht einen auf harter Typ, auf gewalttätig. Aber man muss ihn ver-
stehen: Letztlich tut er nur so, das ist nur „Attitüde“, also ein äußer-
lich eingeübtes, ein aufgesetztes Verhalten. Innen drin im Herzen ist
das ein ganz lieber, nach Zärtlichkeit und Romantik dürstender Jun-
ge. Er weiß es nur selbst nicht. Das ist die Zuwendung: voller Ver-
ständnis und Empathie.
Das andere ist die Abgrenzung. Die Abgrenzung geschieht auf
einmal durch eine Beschimpfung: Arschloch! Junge, was bist Du für
ein Arschloch! Klingt wie eine spontane Reaktion. Wenn ein „nor-
maler“ friedlicher Mensch so einen Skin mit Springerstiefeln sieht,
wie er „Terz“ macht, dann ist das eine spontane Reaktion: Arschloch!
In dem Songtext geht dem allerdings was anderes voraus: das Ver-
ständnis, die „Artikulation“ des Verständnisses. Und damit die Ab-
grenzung auf intellektueller Ebene. Die ist wiederum doppelt. Sie be-
steht erstens darin, festzuhalten, dass dieser arme Junge auch arm im
Geiste ist. „Saudumm“, versteht nichts, kennt keine Fremdwörter.
Und vor allem weiß er eben nichts über sich selbst, er versteht sich
selbst nicht. Wir hingegen: Wir sind intelligent; wir kennen Fremd-

222
Gewalt

wörter, wir verstehen uns selbst. Aber damit nicht genug: Wir verste-
hen nicht nur uns selbst, sondern wir verstehen auch ihn, den armen
Jungen.
Mit anderen Worten: Wir, die Ärzte und ihre Fans, sind nicht
einfach nur anders; wir reagieren keineswegs nur emotionalspontan
auf die Andersheit dieses Jungen: „Arschloch!“. Wir sind ihm haus-
hoch überlegen. Wir verstehen ihn besser als er sich selbst. Unser Ur-
teil „Arschloch“ ist kein spontanes, emotionales, sondern ein wohlbe-
gründetes, durchdachtes Urteil.
Haben wir den armen Jungen so schon einmal intellektuell weit
unter uns gestellt, können wir unsere Überlegenheit weiter ausbauen.
Der Junge ist ja nicht nur „saudumm“. Er ist ja auch sonst ein Nichts:
Seine Probleme interessieren niemand; nicht einmal seine Eltern und
seine Freundin; die Besseres zu tun haben, als sich für ihn Zeit zu
nehmen. Niemand liebt ihn; niemand ist zu ihm zärtlich. Er hasst
sich selbst. Er hält sich selbst für ein Arschloch, das man nicht lieben
kann. Und sucht sich Opfer für seinen Hass, der eigentlich ihm selbst
gelten müsste. Das ist eine Verschiebung, eine „Projektion“, wie „die
Ärzte“ diagnostizieren. „Verdient“ haben den Hass gar nicht die, ge-
gen die die Gewalt dieses Jungen sich dann richtet. Verdient hat er
selbst ihn.
Aber Hass ist ja immer noch eine emotionale, „saudumme“ Reak-
tion; eine unreflektierte, eine verständnislose Reaktion. Deshalb
kommt in dem Song der Ärzte auch nicht etwa Hass zum Ausdruck,
sondern Verachtung. Die Verachtung dessen, der sich in jeder Bezie-
hung himmelhoch überlegen weiß: dessen, der intelligent ist, der mit
Sprache umgehen kann, der sich artikulieren kann, der Menschen
besser versteht als sie sich selbst, der Zärtlichkeit kennt, der Liebe
kennt; kurz die Verachtung dessen, mit dem es das Leben gut ge-
meint hat, für den, der zu kurz gekommen ist.
Als was tritt die Band hier auf? Denken Sie an die Vorlesung in
der letzten Woche. Die „Ärzte“ treten als Autorität auf. Sie bringen
ihre Überlegenheit zum Ausdruck: eine Überlegenheit an Erfahrung,

223
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

an Können, an Wissen, an Moral. Wenn diese Überlegenheit von


den Fans der Ärzte anerkannt wird, haben sie an ihr teil. Wenn sie
sich den Ärzte-Song zu Hause reinziehen und sich dabei richtig gut
fühlen, weil sie die darin beanspruchte Überlegenheit anerkennen,
dann können sie selbst dieses Überlegenheitsgefühl erfahren und ge-
nießen. Dann können sie sich von diesen „Arschlöchern“ abgrenzen,
die – anders als man selbst – nichts wissen, nichts können, keine Ah-
nung haben vom Leben, moralisch ganz unten stehen. Ihre physische
Überlegenheit mag ihnen im Kreise von Ihresgleichen Autorität ver-
schaffen, hier bei uns – in dem Kreis, in dem die Autorität der Ärzte
anerkannt ist beziehungsweise Autorität von der Art, wie sie die Ärzte
repräsentieren – gilt sie gar nichts.
Das ist umgekehrt genauso. Ein Junge, der mit dem Du in diesem
Song gemeint sein könnte, wird sich nicht angesprochen fühlen. Er
wird vielleicht sehen, dass einer wie er gemeint ist; aber die Maßstäbe
der Überlegenheit, die von den Ärzten angeführt werden, haben für
ihn keine Gültigkeit. Sie sind für ihn daher keine Autorität. Ihr Song
kann ihn nicht überzeugen, etwa in der Art: „Ach ja, stimmt, so hab
ich mich selbst bisher gar nicht gesehen. Das ist es also, was mich um-
treibt. Eigentlich schreie ich nach Liebe …“ undsoweiter Der Song
der Ärzte kommt für ihn aus einer anderen Welt. Einer Welt, die ihm
durchaus nicht unbekannt ist, aber der er nicht zugehört, aus der er
ausgegrenzt wurde und aus der er sich selbst längst ausgegrenzt hat.
Woher kennt er diese Welt? Zum Beispiel aus der Schule, wo ihm
schon früher gesagt wurde, wie „saudumm“ er ist; dass er nicht ein-
mal dieses oder jenes Wort versteht. Und auch sonst nichts weiß.
Oder von dieser verständnisvollen Jugendamts-Tante, die auch über-
all rumerzählt hat, man müsse Verständnis für den Jungen haben.
Schließlich hätten seine Eltern sich nie um ihn gekümmert, nie Zeit
für ihn gehabt. Von all diesen Sozialarbeitern, Bewährungshelfern,
Jugendamts-Leuten, die so taten, als ob sie sich für ihn interessierten,
aber in Wirklichkeit nur nach Bestätigungen für ihre schon fertigen
Urteile suchten. Die ihm immer versuchen klarzumachen, dass sie

224
Gewalt

besser wüßten, was mit ihm los sei als er selbst. Dass er das doch ein-
sehen und ihren Ratschlägen folgen, ihren Maßnahmen sich fügen
solle.
Ja, aus dem Song der Ärzte meldet sich diese Welt der Normalen,
der Besserwisser, derer, die es geschafft haben, derer, die in dieser Ge-
sellschaft die Macht haben zu entscheiden, ob man für diese Schule
geeignet ist, welchen Beruf man ergreifen darf, ob man überhaupt
Arbeit kriegt, wo man sich aufhalten darf. Die die Urteile abgeben.
Und die die Ausübung ihrer Macht immer verbrämen mit dieser „At-
titüde“ des Verständnisses – aber man weiß ja noch nicht einmal, was
„Attitüde“ heißt – , die Mitgefühl heucheln mit dem armen Jungen,
der all die guten Seiten des Lebens nicht kennengelernt hat, die sie
selbst so reichlich genießen dürfen. In dem Song meldet sich für den,
der gemeint ist, eben nichts anderes als diese Stimme der Gewalt, die
einem sagt, dass man ein Nichts ist, ungeeignet für diese Gesellschaft;
und einem einreden möchte, dass der Hass, den man gegen diese Ge-
sellschaft empfindet, falsch adressiert sei. Dass noch der eigene Hass
in einem selbst das ihm zukommende Objekt finde. Die einem ein-
reden wollen, dass man für niemanden, nicht einmal für einen selbst,
irgendeinen Wert hat.
Um es in einem Satz zusammenzufassen: Was ich aus dem Song
nur hören kann, ist die Arroganz der Integrierten gegenüber denen,
die es nicht geschafft haben und nie schaffen werden. Eine Arroganz,
die durch ihr geheucheltes Verständnis sich sowohl verkleidet als
auch hemmungslos verschärft. Die am andern, am Ausgegrenzten
nichts mehr gelten lässt, das ihm noch Würde verleihen könnte. Der
Schritt vom Verständnis zur Arroganz ist nicht groß. Ihn zu tun,
dazu gehört nur zweierlei: Dummheit und Lieblosigkeit. Dass sich
diese Band „die Ärzte“ nennt, mag noch ein wahrscheinlich sogar be-
wusster Ausdruck dieser Arroganz sein: die andern sind alle potenti-
elle Diagnose-Objekte.
Die Arroganz kommt daher mit der Attitüde – ich benutze dieses
Wort jetzt absichtlich – mit der Attitüde intellektueller Überle-

225
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

genheit. Die intellektuelle Überlegenheit ist deshalb nur eine Atti-


tüde, weil hier die Intellektualität gepaart ist mit Dummheit. Denn
es gibt auch eine intellektuelle Form der Dummheit (vielleicht gibt
es überhaupt nur intellektuelle Formen der Dummheit). Arroganz ist
eben dies: eine angemaßte Überlegenheit, die sich als Verdienst etwas
zuschreibt, das doch nur ein den Umständen verdanktes Privileg ist.
Noch ein Wort zur Musik. Ich würde sie als „rockig“ bezeichnen;
weiß natürlich nicht, ob das noch ein zeitgemäßer Ausdruck ist. Da-
durch wird der Text sozusagen mit Power unterlegt und trans-
portiert. Die Musik verstärkt das kraftvolle Gefühl der intellektuellen
und moralischen Überlegenheit bei den Fans. Man fühlt sich stark.
Wenn es stimmt, was der Song selbst behauptet, dass das Phäno-
men rechter Jugendgewalt als Antwort auf strukturelle gesell-
schaftliche Probleme zu verstehen sei, in denen Jugendliche keine
Perspektive erhalten, in denen ihnen keine Liebe entgegengebracht
wird, dann ist dieser Song selbst ein zynischer Teil dieses Systems der
Ausgrenzung. Mit einem Wort: Wer solch einen Song schreibt, übt
selbst Gewalt aus, ist selbst ein Arschloch. (Ich bitte Sie nicht, mir
diesen Ausdruck zu verzeihen.)

11.2 Was nennen wir Gewalt?


Was als Gewalt bezeichnet wird, tritt in den unterschiedlichsten For-
men auf. Und es kann sein, dass wir dasselbe Phänomen mal als Ge-
walt identifizieren, mal nicht. Gewaltsamkeit ist wohl nicht eine em-
pirische Eigenschaft von Handlungen oder Ereignissen, sondern eher
ein Urteil, das aus der Interpretation der Zusammenhänge begründet
ist, in denen eine Handlung steht. Ob ein heftiger Schlag als Gewalt-
ausübung interpretiert wird, hängt davon ab, wogegen er geführt
wird, wer ihn führt und aus welchen Beweggründen er geführt wird.
Der Tritt des Embryos im Mutterleib gegen die Bauchdecke kann
heftig und schmerzhaft sein. Aber selbstredend würde niemand von
einem Gewaltakt gegen die Mutter sprechen. Der Tritt des Fußball-
226
Gewalt

verteidigers gegen das Schienbein des gegnerischen Angreifers trägt


schon eher gewaltsame Züge, jedenfalls wenn er nicht dem Ball ge-
golten hat. Von Gewalt (gegen Personen) sprechen wir, wenn eine
Handlung dazu dient, einem anderen etwas gegen seinen Willen be-
ziehungsweise unter Brechung seines eigenen Willens aufzuzwingen:
ihn an einem Ort festzuhalten, von dem er fort will; ihm etwas ein-
zuflößen, was er nicht zu sich nehmen will; ihn zu einer Handlung
nötigen, die er freiwillig nicht ausüben würde; ihn einer Situation
aussetzen, die er von sich aus meiden würde undsoweiter Gewalt
kann mit physischen oder psychischen Verletzungen einhergehen.
Aber nicht jede Verletzung ist Folge von Gewalt. Und nicht jede Ge-
walt hat bleibende Verletzungen zur Folge, auch wenn jede Gewalt
heute als Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des anderen zu
gelten hat. (Aber um dies sagen zu können, muss ein solches Recht
schon in Geltung sein.)
Im Zusammenhang mit der Studentenbewegung war von der
„Gewalt gegen Sachen“ die Rede gewesen. Gewalt gegen Sachen war
als eine indirekte Form der Gewalt gegen Personen gedacht. Sie sollte
sich auf die Verletzung des Verfügungsrechts anderer Personen rich-
ten. Betreten des Rasens, wenn dort ein Schild steht: „Betreten ver-
boten“; Blockierung von Verkehrswegen; gezielte Verletzung von Ei-
gentums und Besitzrechten durch Einbruch, Diebstahl, Sabotage
undsoweiter Die Gewalt richtet sich zwar gegen Sachen. Aber auf die-
se Weise soll einer anderen Person die Möglichkeit genommen wer-
den, ihren Willen durchzusetzen.
Schließlich gibt es noch die Gewalt gegen Sachen, die auch nichts
anderes sein soll als dies: Gewalt gegen Sachen, die sich also auch
nicht indirekt gegen Personen richtet. Das ist die Art von Gewalt, die
Sie anwenden, wenn Ihnen die Tür versehentlich ins Schloß gefallen
ist und Sie sie wieder aufbrechen müssen; wenn Sie ihrem streiken-
den Computer den verdienten Handkantenschlag versetzen. Die Art
von Gewalt, die Menschen überhaupt der Gegenstandswelt antun
müssen, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollen; die Art von Ge-

227
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

walt, die sich generell gegen die äußere Natur richtet, wenn diese um-
geformt, gebändigt, gezähmt, kultiviert werden soll und die man
weitgehend auch als Gegengewalt gegen die Naturgewalten, die „Ur-
gewalten der Natur“ verstehen kann.
Das Thema Gewalt in der heutigen Vorlesung meint allerdings
die Gewalt gegen Personen. Gewalt soll im folgenden unter zwei für
die Pädagogik wichtigen Gesichtspunkten betrachtet werden: als Er-
ziehungsgewalt; und als sogenannte Jugendgewalt. In dem Zu-
sammenhang werden wir auch von „struktureller Gewalt“ sprechen
müssen.

11.3 Erziehungsgewalt
Erziehungsgewalt war ein Thema für die Antipädagogik ebenso wie
für die Schwarze Pädagogik. Die Antipädagogik warf der Erziehung
prinzipielle Gewaltförmigkeit vor und lehnte sie deshalb ebenso prin-
zipiell ab. Die Schwarze Pädagogik verstand sich als notwendige Ge-
walt gegen den Eigensinn der Kinder; notwendig, um die Kinder zur
Vernunft zu bringen; und notwendig, um zu verhindern, dass sich
eine ungezähmte innere Natur in den Kindern gewaltsam durchsetz-
te und die menschliche Ordnung zerstörte. Wenn Sie sich außerdem
an die Bestimmungen des Erziehungsbegriffs erinnern, die ich Ihnen
in der zweiten Vorlesung vorgetragen habe, werden Sie sehen, dass
dort das Moment der Fremdbestimmung angeführt wurde als Mo-
ment, das zumindest latent auch Gewaltförmigkeit der Erziehung zur
Konsequenz haben könnte, nämlich immer dann, wenn sich der Ei-
gensinn des Kindes gegen die Fremdbestimmung sperrt. Die Frage,
der ich mich heute stellen möchte, ist die, ob gewaltfreie Erziehung
möglich ist.

228
Gewalt

11.3.1 Die Alternative: Vermittlung


Ich beginne mit einer These: Vermittlung ist die Alternative zur Ge-
walt. Und umgekehrt: Wo Vermittlung nicht gelingt, setzt Gewalt
ein.
Um diese These nachvollziehbar zu machen, muss ich erklären,
was ich mit Vermittlung meine.
Der Vermittlungsbegriff ist für die Pädagogik von außerordentli-
cher Wichtigkeit. Er bezeichnet eine bestimmte Qualität des Ver-
hältnisses zwischen zwei oder mehr Menschen. (Der Vermitt-
lungsbegriff kann sich auch auf andere Einheiten beziehen, zum Bei-
spiel auf die Vermittlung von Unterrichtsstoff; aber im Zusammen-
hang mit dem Thema Gewalt geht es mir erst einmal nur um die
Vermittlung zwischen Menschen.) Vermittlung ist eine Form der
Verbindung zwischen Menschen, in der jeder von ihnen in seiner Ei-
genheit bewahrt bleibt und dennoch ein Zusammenhang, eine Ge-
meinsamkeit entsteht. Vermittlung bedeutet dabei nicht, dass die Be-
teiligten unverändert bleiben – das wäre ein äußerliches Zusammen-
bringen oder Zusammenbinden im Sinne einer Addition. Sie verän-
dern sich, indem sie aufeinander eingehen; aber diese ihre
Veränderung geschieht aufgrund einer eigenen inneren Bereitschaft
dazu, so dass die Veränderung als Entwicklung verstanden werden
kann. Es gibt sozusagen ein gegenseitiges Interesse aneinander und
dadurch an der Vermittlung mit dem andern. Dies Interesse am an-
dern ist nicht instrumentell. Wäre es instrumentell, das heißt wäre es
darauf gerichtet, den andern für eigene Zwecke zu benutzen, dann
würde die Eigenheit des andern übergangen. Das Vermittlungsinter-
esse ist vielmehr ein Interesse am andern in seiner Eigenheit, die da-
her gewahrt werden muss. Vielleicht sollten wir daher nicht von In-
teresse sprechen, sondern von Wunsch oder Bedürfnis.
An Vermittlung können nur Partner teilhaben, die einander als
Subjekte anerkennen und gegenübertreten und nicht versuchen, den
jeweils anderen zum bloßen Objekt der eigenen Absichten zu ma-
chen, oder bereit sind, die eigene Subjektivität aufzugeben und sich

229
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

zu unterwerfen. Es kann unterschiedliche Vermittlungen geben. Im


besten Falle kann jeder sich durch die Vermittlung als bereichert
empfinden. Oft aber wird eine Vermittlung auch mit Kompromissen
einhergehen. Entscheidend ist, dass der Kompromiss für alle Beteilig-
ten akzeptabel ist.
Vermittlung gehört zum menschlichen Zusammenleben. Nur
durch Vermittlung kommt menschliches Zusammenleben über-
haupt zustande. Gesellschaft ist Ergebnis von Vermittlung und zu-
gleich das ständige Bemühen um Vermittlung. Gemeinsamkeit ist
niemals ein für alle mal gegeben, sondern muss ständig gesucht, ent-
wickelt, bewahrt werden.
Das heißt aber auch, dass nicht einfach irgendwann einmal von
einem Vermittlungszustand ausgegangen werden kann. Sondern:
Wenn Vermittlung etwas ist, das erst gesucht und entwickelt werden
muss, das daher auch scheitern kann, dann ist immer ein Weg der
Vermittlung zu beschreiten, an dessen Anfang zumindest Mangel an
Vermittlung steht. Im Rahmen gesellschaftlichen Zusammenlebens
wird ein absoluter Nullpunkt der Vermittlung nicht auffindbar sein.
Auch wenn es Mangel an Vermittlung gibt, finden sich Menschen
doch immer schon in Vermittlungen vor. Wir mögen uns streiten,
weil unsere Positionen noch unzureichend zueinander vermittelt
sind. Aber wenn wir dabei eine gemeinsame Sprache sprechen oder
Regeln der Diskussion einhalten, gibt es auch schon eine Vermitt-
lung.
Ein hypothetischer Nullpunkt der Vermittlung wäre der Zustand
vor aller Vermittlung. Ein solcher hypothetischer Zustand wäre ein
hypothetischer ursprünglicher Naturzustand. Ich betone, dass dies
ein hypothetischer Zustand ist, weil ihm für den Menschen keine
Wirklichkeit zukommen könnte. Es kann für Menschen einen sol-
chen Zustand nicht gegeben haben. Sobald wir von Menschen spre-
chen, sprechen wir auch schon von Vermitteltheit. Warum?
In der nichtmenschlichen Natur gibt es keine Vermittlungen der
Art, wie ich sie beschrieben habe. Dort gibt es sicherlich Zusam-

230
Gewalt

menhänge und Verbindungen, zum Beispiel Familien oder Rudel;


wir sprechen sogar vom Ameisen- oder Bienen„Staat“. Aber diese
Verbindungen kommen nicht zustande, weil die Beteiligten sich auf-
einander einlassen wollen, sondern weil ihr Instinkt sie dazu nötigt.
Die Formen ihres Zusammenlebens sind ihnen vorgegeben, nicht
von ihnen entwickelt. Es gibt dort keine wechselseitige Anerken-
nung.
Selbstverständlich hat auch das Zusammenleben der Menschen
eine Naturseite. Aber wie sie zusammenleben, welchen Sinn sie ih-
rem Zusammenleben geben, wie sie dafür sorgen, dass die einzelnen
darin sich entfalten können, dies ist ihnen nicht von der Natur vor-
gegeben. Hierzu ist Vermittlung verlangt. Ein Zurückgehen hinter
die Vermittlung wäre ein Zurückgehen hinter die Menschlichkeit.
Im Idealfalle wäre die gesamte Ordnung des menschlichen Zu-
sammenlebens durch Vermittlungsprozesse zustandegekommen. Je-
des Gesellschaftsmitglied wäre beteiligt worden und hätte sich erfolg-
reich einbringen können. Niemand müsste sich übergangen und
unterdrückt fühlen. Wir wissen, dass dies nicht der Fall ist; und dass
es wohl auch niemals der Fall sein kann. Regelungen des Zusammen-
lebens müssen gefunden werden, auch wenn die Vermittlung noch
nicht gelungen ist. Regelungen des Zusammenlebens können nicht
durch jeden neu Hinzukommenden wieder von Grund auf in Frage
gestellt werden.

11.3.2 Mangelnde Vermittlung


Das heißt: Vermittlung ist eine „regulative Idee“ des menschlichen
Zusammenlebens. Aber sie setzt immer an einem Zustand man-
gelnder Vermittlung an. Und sie muss nicht gelingen.
Ich möchte an dieser Stelle zurückgreifen auf eine Übersicht, die
ich Ihnen in der Vorlesung zum Thema „Eigenheit und Fremdheit“
gegeben habe. Sie erinnern sich: Es ging unter anderem um das Kind
als Fremdling in der Eigentumsordnung der Erwachsenen. Wenn Sie
sich die Varianten dieses Verhältnisses ansehen, die ich dort aufgeli-

231
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

stet hatte, dann können Sie all diese Varianten als Formen der Gewalt
ansehen. Denn jedesmal findet keine Vermittlung statt. Weil sie ob-
jektiv nicht möglich ist. Oder weil sie verweigert wird. Oder weil die
subjektive Fähigkeit dazu nicht gegeben ist. Oder aus welchem
Grund auch immer.
Erziehungsgewalt ist unausweichlich, solange und soweit die in
Erziehung intendierte Vermittlung nicht geleistet oder gelungen ist.
Erziehung wird zur reinen Gewalt, wenn sie diese Vermittlung gar
nicht intendiert. Als Erziehungsgewalt aber ist sie eine Gewalt, die
darauf abzielt, Gewalt hinter sich zu lassen.

11.3.3 Vermittlungsfähigkeit
Es gibt subjektive und objektive Voraussetzungen der Vermitt-
lungsfähigkeit. Objektiv kann es so sein, dass bestimmte Interessen,
Bedürfnisse, Positionen einfach nicht miteinander vereinbar sind,
auch nicht in Form von Kompromissen; und dass in ihnen auch kei-
ne Ansätze des Sich-aufeinander-Zubewegens zu finden sind. Für sol-
che Fälle muss eine Regelung gefunden werden, die sich wiederum
auf Vereinbarungen, das heißt auf Vermittlung stützt. Oder es greift
das Recht des Stärkeren und damit die Gewalt. Ein Beispiel aus dem
Erziehungsverhältnis: Der Bedürfnis eines Kleinkindes, seine Mutter
Tag und Nacht zur Verfügung zu haben, verträgt sich nicht mit dem
Bedürfnis der Mutter, auch einmal ausschlafen zu dürfen. Diese bei-
den Bedürfnisse sind nicht vermittelbar. Entweder – oder. Die Mut-
ter mag in sich selbst versuchen, Kompromisse zu finden. Aber wer
da Kompromisse schließt, sind zwei widerstreitende Seiten in der
Mutter, wobei eine Stimme in ihr sozusagen stellvertretend die Posi-
tion des Kindes einnimmt. Sie beharrt nicht strikt auf ihrem Recht
auf Nachtruhe. Ob sie ihr Kind schreien lässt oder aufsteht und es
aufnimmt, macht sie von der Situation abhängig. Aber das ist ihre
Entscheidung, kein Kompromiss, den sie mit dem Kind gemeinsam
gefunden hat. Es liegt in ihrer Gewalt, ob sie das Kind schreien lässt
oder nicht.

232
Gewalt

Subjektiv ist Vermittlung nur möglich, wenn die Beteiligten in


der Lage sind, aufeinander zuzugehen, sich aufeinander einzulassen,
sich zu verstehen, sich in den jeweils anderen hineinzudenken; wenn
sie ihn in seinem Anderssein wahrzunehmen vermögen. Und es ge-
nügt nicht, wenn diese Bedingungen nur auf einer Seite gegeben
sind. Vermittlung verlangt das Engagement aller Beteiligten. Einsei-
tige Vermittlung gibt es nicht.
Was tun, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind? Wenn
es unvermittelbare Bedürfnisse und Ansprüche gibt, ohne dass die
Fähigkeit zur Einsicht in diese NichtVermittelbarkeit gegeben ist?
Oder wenn die subjektiven Voraussetzungen der Vermittlungsfä-
higkeit fehlen? Bleibt dann nur die Gewalt?
Die Vermittlungsfähigkeit ist gebunden an Kommunikation und
Interaktion und damit an die menschliche Bewusstseinstätigkeit.
Sich in einen anderen hineinversetzen zu können, seine Perspektive
übernehmen zu können, auch zu sehen, wo Grenzen der Verstän-
digungsfähigkeit sind, dies sind Fähigkeiten, über die nur Menschen
verfügen, über die sie aber nicht von Anfang ihres Lebens an verfü-
gen. Sie müssen erst entwickelt werden. Deshalb können sie nicht
Voraussetzung des Entwicklungsprozesses sein, entsprechend auch
nicht Voraussetzung von Erziehung. Mit anderen Worten: Die
Vermittlungsfähigkeit wird nicht von Natur mitgebracht, sondern
muss sich erst bilden.

11.3.4 Vermittlungsbedürftigkeit
Dennoch steht Vermittlung nicht im Gegensatz zur Natur. Denn
was Menschen wohl von Natur aus mitbringen, ist ihre Vermitt-
lungsbedürftigkeit und ihr Vermittlungsstreben. Kinder bringen die
Tendenz mit auf die Welt, sich mit dieser Welt zu vermitteln. Sie
können es noch nicht, aber sie wollen es. Das ist das Spezifische der
menschlichen Natur: dass sie ein Bedürfnis enthält, das nur durch die
Vernunft befriedigt oder erfüllt werden kann.

233
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Dieses natürliche Vermittlungsbedürfnis muss ich aber an dieser


Stelle etwas genauer darstellen. Wenn das Kind auf die Welt kommt,
kommt es aus einer leiblichen Einheit mit der Mutter. Die Durch-
trennung der Nabelschnur zerreißt – auf der physisch-leiblichen Ebe-
ne – dies Band der Einheit mit der Mutter. Dennoch weiß es sich zu
Beginn seines Lebens noch nicht als ein von der Welt getrenntes We-
sen, als ein Ich, dem das Nicht-Ich gegenübersteht. Erst allmählich
entdeckt es sein Getrenntsein von der äußeren Welt: Es lernt, „Ich“
zu sagen. Der physischen Abnabelung folgt die psychische. Es gibt
ein Buch einer Forschungsgruppe um die US-amerikanische Psycho-
login Margret S. Mahler mit dem Titel „Die psychische Geburt des
Menschen“. Der Untertitel lautet „Symbiose und Individuation“. Er
verweist darauf, worin diese psychische Geburt besteht: in der Lö-
sung aus der Symbiose mit der Mutter durch die Selbstentdeckung
des Kindes als eines Individuums, als eines von der Mutter und der
übrigen Welt getrennten Wesens.
Erst von da ab kann es Vermittlung geben. Vermittlung ist der
Versuch einer Erhaltung beziehungsweise Wiedergewinnung der
Einheit mit der Welt nach vollzogener Trennung. Darin wirkt aus
der menschlichen Natur das Streben nach Einheit mit der Welt, wel-
che durch die Individuation verloren ging. Die von Natur gegebene
Einheit, im Titel des genannten Buches „Symbiose“ genannt, ist un-
wiederbringlich aufgelöst. Der natürliche Wunsch nach Einheit lässt
sich nur noch durch Vermittlung und das heißt durch Vernunft ge-
winnen.
In einem gewissen Sinne hat daher Vermittlung ihre Wurzeln in
der menschlichen Natur, ohne doch allein aus der Natur zu kom-
men. Es gibt ein natürliches Band der Menschen miteinander, das
auch in der Vermittlung durch die Vernunft wirkt und von der das
vermittelnde Wirken der Vernunft motiviert ist. Wir können es bio-
logisierend als Gattungsband bezeichnen. Oder sozialpolitisch als So-
lidarität. Umgangssprachlich gebrauchen wir dafür den Begriff der
Liebe in all seinen Bedeutungsvarianten. Denken wir bei Liebe vor al-

234
Gewalt

lem an die gefühlsmäßige Bindung von Menschen (allerdings damit


an eine gefühlsmäßige Bindung von vernunftbegabten Wesen; bei
Tieren sprechen wir nur unter Vorbehalt von Liebe), dann wäre Ver-
mittlung die Fortsetzung der Liebe mit den Mitteln der Vernunft.

11.3.5 Vertrauen und/oder Vermittlung


Was der Vermittlung vorausgeht, bevor sie möglich wird, ist also
nicht einfach die Gewalt, sondern die Liebe. Wo Liebe nicht der Ver-
mittlung vorausgeht, man müsste weiterhin sagen: der Vermittlung
zugrundeliegt, ist auch die Vermittlung nicht wirklich Vermittlung.
Dabei dürfen Sie das Wort Liebe jetzt nicht zu sehr mit den starken
Gefühlen verbinden, die sein romantischer Gebrauch nahelegt. Sie
können auch an Zuneigung denken; an Interesse am andern; an Für-
sorge; an Engagement; an Achtung und Respekt. Dies alles sind Aus-
drucksformen des Bandes zwischen Menschen, in dem es um den an-
dern Menschen in seiner eigenen Menschlichkeit geht und nicht um
ihn als Mittel für eigene Zwecke.
Wenn Liebe dem Versuch der Vermittlung unterliegt, dann füh-
ren der Mangel an Vermittlung, der diesen Versuch motiviert, oder
das Scheitern des Vermittlungsversuchs nicht unbedingt sogleich in
ein Gewaltverhältnis. Und zwar dann nicht, wenn die Erfahrung der
Liebe Vertrauen schafft; Vertrauen, dass die Erzieherin oder der Er-
zieher seinen Willen letztlich zum Wohle des Kindes oder Jugendli-
chen durchsetzt, auch wenn dies vom Kind oder Jugendlichen selbst
nicht beurteilbar ist.
„Liebe allein genügt nicht“, lautet der Titel eines Buches des Psy-
chologen Bruno Bettelheim über die „Erziehung emotional gestörter
Kinder“. Bettelheim will damit sagen: Die emotionale Zuwendung
zu diesen Kindern genügt nicht. Man muss, bevor ein Vertrauens-
verhältnis möglich wird, erst dafür sorgen, dass Liebe erfahrbar wird,
dass sie lebbar wird. Dafür muss ein Rahmen geschaffen werden;
auch der Einsatz von Gewalt ist aus seiner Sicht nicht immer unum-
gehbar. Was vor allem gefordert ist, ist eine von Zuwendung ge-

235
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

tragene Vernunft, die sich nicht von Gefühlen überwältigen lässt,


welche die Kinder vielleicht noch gar nicht erwidern können.
So gesehen ist es richtig, dass „Liebe allein“ als emotionale Zu-
wendung nicht genügt. Aber ohne Liebe fehlt jede Grundlage für ver-
nünftige Vermittlung. Denn dann fehlt das Vertrauen, auf dessen
Grundlage sich ein Kind oder Jugendlicher erst soweit öffnen kann,
wie nötig ist, um sich dem Prozess der Vermittlung auszusetzen.
So kann es zur Vermittlung in der Erziehung noch eine andere Al-
ternative geben als die Gewalt, nämlich das Vertrauen. Vertrauen legt
die Entscheidung darüber, was für die eigene Entwicklung richtig
und gut ist, in die Hände der Erzieherin, des Erziehers, auch wenn
die eigene Einsichtsfähigkeit fehlt. Durch Vertrauen wird eine beson-
dere Art der Autorität begründet, die nur für das Verhältnis zwischen
Personen gelten kann, nicht für das Verhältnis zwischen Generatio-
nen (weshalb sie in der Typisierung der Autoritätsformen in der letz-
ten Vorlesung keinen Ort hatte, obwohl sie auch hierfür fälschlich in
Anspruch genommen werden kann): die personale Autorität einer
Person des Vertrauens. Beides: Vermittlung und Vertrauen basieren
auf Zuwendung und Achtung. Nur wenn diese Basis für die Erzie-
hung fehlt, wird Erziehung gewaltförmig.
Wir wissen alle, dass Vertrauen erschlichen und missbraucht wer-
den kann. So beruhte Hitlers Autorität im deutschen Volk ganz we-
sentlich auf keiner der in der letzten Vorlesung erwähnten Au-
toritätstypen, sondern auf dem Vertrauen, das man einer Person
schenkt, von der angenommen wird, dass sie „aus Liebe“ handle. Das
erschlichene Vertrauen wird missbraucht, um sich der Not-
wendigkeit vernünftiger Vermittlung zu entziehen. Diese Art von
„Autorität“ ist nichts als verschleierte Herrschaft. Denn in der Er-
ziehung muss es immer darum gehen, die Auslieferung an eine, wenn
auch vertrauensvoll akzeptierte, Fremdbestimmung aufzuheben zu-
gunsten der Vermittlung.
Vertrauen kann aber auch nicht verlangt werden. Wenn Vermitt-
lung (noch) nicht möglich ist, das Vertrauen in die Erzieherin oder

236
Gewalt

den Erzieher fehlt, dann wird Erziehung gewaltförmig oder sie dankt
ab. Ich denke nicht, dass die Gewaltförmigkeit von Erziehung völlig
vermeidbar ist. Wir können uns nur bemühen, sie weitestgehend zu
verringern und möglichst hinter uns zu lassen.

11.4 Strukturelle Gewalt und Jugendwut


Diese Gesellschaft misst der Erziehung für ihre Reproduktion eine so
große Bedeutung zu, dass sie sie institutionalisiert und rechtlich ge-
regelt hat. Sie vertraut nicht allein auf das unmittelbare Eltern-Kind-
Verhältnis und somit auf die Eltern-Liebe; ebensowenig setzt sie auf
ein persönliches Vertrauensverhältnis zwischen Erziehern und Kin-
dern oder Jugendlichen. Sie gibt diesen Beziehungen zwar Raum;
aber sie begrenzt diesen Raum auch. Wie sie überhaupt im Verhältnis
der erwachsenen Gesellschaftsmitglieder zueinander sich keineswegs
auf die freiwillige Solidarität stützt, sondern Gesetze und Regelungen
erlässt, deren Befolgung mit Gewaltandrohung erzwungen wird, so
auch im Erziehungsverhältnis gegenüber der nachwachsenden Gene-
ration. Zwar gehört Vermittlung als Quelle der gesellschaftlichen
Konstitution zum Selbstverständnis einer demokratischen Gesell-
schaft; und auch ihr Erziehungsverständnis ist davon geprägt. Aber in
letzter Instanz wird der in den staatlichen Institutionen sedimentier-
ten gesellschaftlichen Vernunft gegenüber der individuellen Ver-
nunft der Einzelnen, erst recht der Kinder und Jugendlichen, eine ge-
waltsame Durchsetzungsfähigkeit verliehen.
Bedingungen, die ihr gegenwärtiges Leben und ihre Lebensper-
spektiven bestimmen, ohne dass sie danach gefragt werden, ob sie mit
diesen Bedingungen einverstanden sind, Bedingungen also, die sie
unvermittelt hinnehmen müssen, finden Kinder und Jugendliche
nicht nur in den staatlichen Institutionen vor, sondern im Insgesamt
der gesellschaftlichen Verhältnisse, in die sie hineingeboren wurden
und hineinerzogen werden. Indem diese Bedingungen Ausdruck ei-
nes anonymen allgemeinen gesellschaftlichen Willens sind, der über
237
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

ihren jeweiligen individuellen Willen steht und sich gegen diese


durchsetzt, bilden sie insgesamt ein Gewaltverhältnis, das zwar von
Personen vollzogen wird, aber nicht auf persönliches Machtstreben
zurückführbar ist. Der Lehrer, der der Schülerin die Versetzung ver-
weigert, tut dies nicht aufgrund persönlicher Willkür. Der Personal-
chef, der den Jugendlichen, der sich um einen Ausbildungsplatz be-
wirbt, nicht einstellt, tut dies nicht aus persönlicher Bösartigkeit. Der
Polizist, der die Jugendlichen von einem öffentlichen Platz vertreibt,
tut dies nicht, weil ihm deren Outfit nicht gefällt. Und die Lokalpo-
litiker, die dem Jugendtreff die Gelder kürzen, tun dies nicht aus per-
sönlichem Geiz. Sie alle üben ihre Gewalt aus im Namen eines über-
geordneten Systems, dessen Gewalt(en) teils mit demokratischer
Legitimation versehen, teils sachgesetzlich begründet ist (sind). Wir
nennen diese Art von Gewalt „strukturelle Gewalt“. Ich will keines-
wegs die gesamte Problematik von Jugendgewalt unter dieses Erklä-
rungsmuster subsumieren. Aber ein Teil davon, wie groß auch im-
mer, ist sicherlich Reaktion auf strukturelle Gewalt, die erfahren wird
als Übergangenwerden, Missachtetwerden, Ausgegrenztwerden,
Gezwungenwerden undsoweiter.
Gewaltausübung aus persönlichen Motiven und die Ausübung
struktureller Gewalt können miteinander koalieren. Es ist für den
Schüler oft nicht wirklich unterscheidbar, was bei dem Lehrer, unter
dem er zu leiden hat, persönliche Abneigung ist („Der kann mich
nicht leiden!“) und was Amtsausübung. Wenn er die erzieherische
Maßnahme, die gegen seinen Willen geht, nicht verstehen, nicht
nachvollziehen kann, wenn sie ihm nicht vermittelbar ist und er auch
nicht das Vertrauen hat, dass sie schon ihren guten Sinn haben wird,
dann ist es leichter, die Wut, die daraus resultiert, auf eine schuldige
Person zu richten, als sie sozusagen ins Leere der Anonymität von in-
stitutionellen Strukturen zu richten. Wenn Personen nicht verant-
wortlich gemacht werden können, bietet sich eventuell noch die
Zerstörung von Sachen an, als symbolische Attacke gegen die Sach-
lichkeit der strukturellen Gewalt: Vandalismus.

238
Gewalt

Es ist viel davon die Rede, dass die Gewalt an den Schulen steige
und steige. Gemeint ist physische Gewalt. Im Spiegel, im Stern und
überall lesen wir die Geschichten von schwerbewaffneten Ju-
gendlichen, von Lehrerinnen und Lehrern, die täglich um ihre Ge-
sundheit fürchten müssen. Im vergangenen Jahr muss es tatsächlich
mehrmals vorgekommen sein an Deutschlands Schulen, dass Lehrer
von Schülern verprügelt wurden.
Ich will nicht bewerten, was davon Medien-Hype ist und was tat-
sächlich Ausdruck gestiegener Gewaltbereitschaft unter Kindern und
Jugendlichen. Aber ich will auf etwas anderes hinweisen: Es ist noch
gar nicht lange her, da gehörte es zum täglichen Geschäft an
Deutschlands Schulen, dass Menschen verprügelt wurden. Dass –
nach heutiger Rechtslage – Straftaten verübt wurden. Und zwar von
Gewaltberechtigten, Prügelberechtigten – man nannte sie Erzie-
hungsberechtigte – an Kindern und Jugendlichen. Das Züchtigungs-
recht war verbrieft. Physische Gewalt gehörte zur Normalität des
Schulalltags; physische Gewalt als legitimiertes Erziehungsmittel.
Ich empfinde es als eigenartig, dass so undifferenziert von gestie-
gener Gewalt an den Schulen gesprochen wird, als ob erst von Gewalt
gesprochen werden dürfe, wenn sie von Kindern und Jugendlichen
ausgeht. Haben diese Erwachsenen denn all die Prügel vergessen, die
sie in der Schule einstecken mussten? Oder – wenn wir von der älte-
ren Generation sprechen – die sie selbst ausgeteilt haben, als Eltern
oder als Lehrer? Ich vermute, dass es heute entschieden weniger phy-
sische Gewalt an den Schulen gibt als noch vor vierzig Jahren, also zu
der Zeit, in der ich in die Schule gegangen bin. Viel weniger physi-
sche Gewalt, die von Lehrern gegen Kinder und Jugendliche aus-
geübt wird. Vielleicht mehr physische Gewalt unter den Kindern
und Jugendlichen. Da bin ich unsicher, weil es heute eine stärkere
Tabuisierung von physischer Gewalt gibt als zu meiner Jugendzeit
und deshalb vielleicht das Phänomen sensibler wahrgenommen wird.
Wahrscheinlich etwas mehr Gewalt von Jugendlichen gegen Lehrer.

239
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Ein weiteres: Die Ausübung physischer Gewalt ist heute den


staatlich besoldeten Erziehungsberechtigten weitestgehend verboten.
Aber damit ist die strukturelle Gewalt, als deren Ausdruck sich da-
mals die physische Gewalt manifestierte, keineswegs verschwunden.
Was damals durch Prügel erzwungen wurde, wird heute nicht mehr
auf diesem Wege verfolgt. Aber sind die anderen Wege, Jugendliche
ihre Wertlosigkeit für diese Gesellschaft spüren zu lassen, weniger ge-
waltsam?
Wenn wir von Jugendgewalt sprechen, dann müssen wir also im-
mer den Gesamtzusammenhang der Gewaltverhältnisse in dieser Ge-
sellschaft betrachten. Als „Schrei nach Liebe“ haben „die Ärzte“ die
Jugendgewalt interpretiert. Trotz meiner sehr kritischen Inter-
pretation ihres Songs will ich nicht behaupten, dass da gar nichts
dran ist. Ich verstehe Jugendgewalt weithin als Jugendwut, die selbst
eine Reaktion auf Gewalt ist. Nicht zuletzt eine Reaktion auf Erzie-
hungsgewalt. Wenn Erziehung selbst strukturell gewaltförmig ist,
dann ist es sehr fraglich, mit welcher Berechtigung sie sich aufgerufen
fühlen kann, der Jugendgewalt zu begegnen.

240
Zwölfte Vorlesung
Technik und Bildung

12.1 „Das Lied schläft in der Maschine“


12.2 Begriff der Technik
12.3 Verhältnis von Technik und Bildung
12.4 Perspektiven des Verhältnisses von Technik und Bildung
12.4.1 Technik statt Bildung
12.4.2 Zurückhaltende Technik
12.4.3 Poietische Technik

Musik:
Einstürzende Neubauten – NNNAAAMMM (1996).
Vom Album „Ende Neu“ (1996)

12.1 „Das Lied schläft in der Maschine.“


NNNAAAMMM
New No New Age Advanced Ambient Motor Music Machine
New No New Age Advanced Ambient Motor Music Machine
New No New Age Advanced Ambient Motor Music Machine
New No New Age Advanced Ambient Motor Music Machine
NNNAAAMMM
New No New Age Advanced Ambient Motor Music Machine
New No New Age Advanced Ambient Motor Music Machine
NNNAAAMMM
Welcome to electrosmog therapy
Monsieur Guillotone and the democratic machine
Das Lied schläft in der Maschine
Das Lied schläft in der Maschine
Das Lied schläft in der Maschine
Das Lied schläft in der Maschine
In der Maschine schläft das Lied
Das Lied schläft in der Maschine
In der Maschine schläft das Lied

241
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Das Lied schläft in der Maschine


Maschine träumt das Lied
Maschine, Maschine, Maschine, Maschine...
NNNAAAMMM
Motor Music Machine
Motor Music Machine
Let’s turn on the utopian sidegrinder.
Motor Music Machine
New No New Age Advanced Ambient Motor Music Machine
New No New Age Advanced Ambient Motor Music Machine
New No New Age Advanced Ambient Motor Music Machine
New No New Age Advanced Ambient Motor Music Machine
NNNAAAMMM
New No New Age Advanced Ambient Motor Music Machine
New No New Age Advanced Ambient Motor Music Machine
NNNAAAMMM
Das Lied schläft in der Maschine
Das Lied schläft in der Maschine
Das Lied schläft in der Maschine
Das Lied schläft in der Maschine
In der Maschine schläft das Lied
Das Lied schläft in der Maschine
In der Maschine schläft das Lied
Das Lied schläft in der Maschine
Maschine träumt das Lied
Maschine, Maschine, Maschine, Maschine...

Das Lied schläft in der Maschine. In der Maschine schläft das Lied.
Maschine träumt das Lied!
Wenn es so ist, sollten wir es dann nicht aufwecken? Oder sollen
wir die Maschine weiter träumen lassen? Und sie nicht aus ihren
Träumen reißen?
Maschine ist der Traum vom Lied! Nicht Ende des Lieds. Ma-
schine ist Verheißung. Hoffnung. Sehnsucht.
Der Traum vom Paradies.
Der Traum vom ewigen Leben, von der Unsterblichkeit.
Der Traum vom vollkommenen Glück auf Erden.
Der Traum vom Ende des Leids; vom Ende des Kampfs. Vom
Frieden. Vom ewigen Frieden.
In die Maschine legen wir unsere Gestaltungskraft. Es ist eine
Kraft, deren Ausdruck, nicht aber deren Grund die Maschine und die

242
Technik und Bildung

durch sie genutzte Naturkraft ist. Die Kraft der Maschinen kommt
aus den Menschen. Die Maschine ist lediglich ein Medium, eine Ver-
mittlungsinstanz zwischen den utopischen Entwürfen einer men-
schengerechteren Welt und den Bedingungen, welche die Natur uns
setzt. Es ist menschliche Gestaltungskraft, Phantasie und Kreativität,
die sich in der Maschine objektiviert. Durch die Maschine hindurch
wirkt daher etwas, das nicht Maschine ist.

„In der Maschine schläft das Lied“ – dies nimmt unmittelbar Bezug
auf ein Gedicht des deutschen Romantikers Joseph von Eichendorff
aus dem Jahre 1835:
„Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.
(Joseph von Eichendorff 1835)
Die Romantiker des frühen 19. Jahrhunderts dachten nicht gerade an
Maschinen, wenn sie solche Zeilen dichteten. Für sie waren es die
Dinge der Natur, deren Lied es zu erwecken galt. Erweckt werden
konnte sie durch den Menschen, wenn er das „Zauberwort“ traf und
so eine Resonanz entstehen konnte zwischen der menschlichen und
der natürlichen Poesie.
Ich interpretiere den Song der Einstürzenden Neubauten daher
als eine neoromantische Lesart der Technik. Nicht nur in den Din-
gen der Natur, auch in den Dingen, die Menschen geschaffen haben,
auch in ihren Maschinen ist demnach Poesie – eben jene Poesie,
durch welche die Menschen nach romantischer Auffassung die Welt
zum Singen bringen konnten. Auch dem Entwurf der Maschinen un-
terliegt ein spontanes Moment: Ideen, Einfälle, Intuition – wir haben
eine Menge Begriffe für dieses Moment, das wir alle mehr oder we-
niger gut kennen, an das wir mehr oder weniger fest glauben, ohne
dass wir es wirklich dingfest machen könnten. Es sind unsere eigene
innere Natur, unsere „Natalität“ (Arendt), der spontane Impuls
(Winnicott), die im Entwurf von Maschinen sich manifestieren. Da-

243
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

her gibt es in der Maschine immer ein Moment des Nicht-Maschi-


nellen (wie es auch im Menschen immer zudem ein maschinelles Mo-
ment gibt); etwas, das über Maschine hinausweist auf einen Lebens-
zusammenhang, in dem die menschliche Natur zu ihrem Recht
kommt, weil die äußere Welt ihren inneren Rhythmus aufnimmt
und ihr als Resonanz„boden“ dient; ein „Lied“, das erweckt werden
möchte.

12.2 Begriff der Technik


Die Maschine ist ein Gegenbild, ein Gegenentwurf. Ein Gegen-
entwurf gegen die Bedrohung, gegen die Schrecken der Natur. Ge-
gen das Chaos, gegen die Gefahr der Vernichtung, gegen Krankheit
und Tod. Sie steht für Ordnung, für Sicherheit und Schutz.
Aber in unserem allgemeinen Bewusstsein steht sie auch für ganz
anderes: für Kälte, Härte und Erstarrung, für Unbarmherzigkeit und
Grausamkeit, für Krieg, Tod und Vernichtung; für die Vernich-
tungslager („Vernichtungsmaschinerie“) der Nazis, für das Ende der
Menschheit.
Die Maschinentechnik zielt darauf, die Natur rationaler Kontrol-
le und zweckmäßiger Steuerung zu unterwerfen. Sie soll Natur für
uns berechenbar machen und ihr so den Schrecken nehmen. Aber das
geht nur, indem sie die spontane Bewegung der Natur stillstellt. Der
Friede, den die Maschine bringt, hat daher immer auch etwas von der
Friedlichkeit des Friedhofs.

Der Begriff Technik stammt ab vom griechischen Wort techne und


bezeichnet in seinem Ursprung jene Weise des zweckgerichteten
Herstellens, die auf einem Sich-Auskennen (episteme) in den Na-
turprozessen beruht. Damit ist bereits das spannungsvolle Verhältnis
der Technik zur Natur angesprochen: Einerseits liefert die Natur die
Vorgaben, nach denen technisches Herstellen sich richten muss; an-
dererseits leistet Technik die Lösung der menschlichen Lebensform
244
Technik und Bildung

aus den Abhängigkeiten vom unbeherrschten Naturprozess. Als Na-


turbeherrschung gründet sie auf systematischer und zunehmend wis-
senschaftlich betriebener Erforschung der Naturprozesse.
„Technik“ umfasst dabei sowohl die handelnde Verfügbarma-
chung von Naturprozessen auf der Grundlage von Wissen und unter
Einsatz von Mitteln (subjektive Technik) als auch das (wachsende)
Arsenal dieser Mittel (objektive Technik).
Herkömmliches Verständnis von Technik:
• zweckrationales Handeln (subjektive Technik/en; zum Bei-
spiel Kulturtechniken);
• Arsenal zweckmäßiger Mittel (gegenständliche Technik; zum
Beispiel Textverarbeitungssystem);
• Herstellung und Gebrauch zweckmäßiger Mittel (zum Bei-
spiel Erfindung und Herstellung neuartigen Schreibgeräts;
Nutzung und Anwendung desselben).
Zusammengefasst ist dies das instrumentelle Verständnis von
Technik. Technik erscheint als Ausdruck von Zweckrationalität: Es
gibt definierte Zwecke, und Technik ist das Insgesamt der Mittel und
Verfahrensweisen, diese Zwecke auf eine möglichst rationale, das
heißt effektive und ökonomische Weise zu erreichen.
Zugriff und Verfügung, Kontrolle und Steuerung sind die Wei-
sen, in denen sich Technik – instrumentelll verstanden – der Welt
zuwendet. Wird sie auf den Menschen selbst gewendet, so ist er es,
der dem Zugriff und der Verfügung der Technik ausgesetzt wird.
Nur der, der sich der Technik bedient, scheint ihrem Zugriff entzo-
gen, wendet er sie doch an, nämlich von sich weg auf anderes, das er
damit sich verfügbar zu machen hofft.

12.3 Verhältnis von Technik und Bildung


Begrifflich besteht zwischen Technik und Bildung in ihrem transiti-
ven Verständnis eine unübersehbare Verwandtschaft, wenn man un-
ter Technik die zweckmäßige Formung der äußeren Natur und unter
245
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

transitiver Bildung die zielgerichtete Formung der inneren Natur der


Menschen versteht. Dennoch haben sich Technik und Bildung ge-
schichtlich zwar immer mit Bezug aufeinander, doch auch in Abset-
zung voneinander entwickelt. Einerseits wurde Bildung transitiv in
Analogie zur Technik verstanden; der zu Bildende erschien dann als
Objekt der Bildung. Dieses Bildungsverständnis finden wir vor allem
in der Didaktik sehr verbreitet. Andererseits wurde unter Zugrunde-
legung eines intransitiven Bildungsbegriffs das Moment der Sponta-
neität, der Eigentätigkeit und des Eigensinns im Bildungsprozess und
damit die Unvergleichbarkeit von Technik und Bildung betont. Die-
ser Zwiespalt bestimmt bis heute die erziehungswissenschaftliche
Diskussion um das Verhältnis von Technik und Bildung.

Für die Beziehung von Technik und Bildung lassen sich fünf Ver-
hältnisbestimmungen unterscheiden:
• Bildung zur Technik und für Technik: Da unsere Lebenswelt in
zunehmendem Maße von Technik geprägt ist, muss Bildung als
Befähigung zur Lebensbewältigung auch die Vorbereitung zum
angemessenen Verhalten in einer technisierten Welt mit ein-
schließen. Als technische Bildung ist sie zuerst besondere fachli-
che Bildung, die eigene Bildungsanstalten, Bildungsgänge und
Unterrichtsfächer hervorgebracht hat. Heute ist anerkannt, dass
technische Bildung zudem als eine Form allgemeiner Bildung
beziehungsweise als Beitrag zur allgemeinen Bildung zu begrün-
den ist. Dies hängt damit zusammen, dass das Technische zu
einer so umfassenden und alles durchdringenden Dimension
unserer Lebenswelt geworden ist, dass sich Bildung, die sich als
Aufklärung aller Heranwachsenden über die Zusammenhänge
der Welt versteht, nicht mehr ohne Bezug auf die Technik denk-
bar ist (wenngleich in der Schulrealität das Technische bis heute
immer noch nicht entsprechende Berücksichtigung in der Allge-
meinbildung gefunden hat).
• Bildung mittels Technik: Wie alle gesellschaftlichen Praxisbereiche

246
Technik und Bildung

so wird auch der Bildungsbereich in wachsendem Maße durch


den Einsatz technischer Verfahren, Hilfsmittel und Medien
geprägt. Bildungstechnologie untersucht die Möglichkeiten und
Wirkungen von Technikeinsatz in Bildungsprozessen und ent-
wickelt hierzu Strategien. Diese Dimension des Verhältnisses von
Technik und Bildung mit ihrem engen Bezug zur Medienpäd-
agogik gewinnt angesichts der Entwicklung der neuen Informati-
ons- und Kommunikationstechnologien aktuell sehr an Bedeu-
tung.
• Bildung als Technik: Wird Bildung als zweckmäßige Formung
von Verhalten zur Ausbildung gewünschter oder benötigter Qua-
lifikationen verstanden, liegt die Analogie zu technischen Her-
stellungsverfahren nahe. Einem solchen technischen Bildungs-
verständnis geht es wesentlich um zweckrationale Optimierung
(möglichst umfassende Kontrolle und Steuerung) von Bildung
auf vorgegebene Ziele hin, nicht zuletzt unter Einsatz technischer
Hilfsmittel. Die Auffassung von Bildung als Technik wird durch
den fortschreitenden Einsatz von Technik, insbesondere der
Neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, in Bil-
dungsprozessen verstärkt. Die Zu-Bildenden sind gleichsam das
Material, an dem sich die pädagogische als technische Gestal-
tungskraft verwirklicht.
• Technik als Bildung: Diese Formulierung geht auf meinen Kolle-
gen Peter Euler am Institut für Pädagogik zurück. Sie bringt
erstens zum Ausdruck, dass sich in Technik Bildung objektiviert;
sie ist sozusagen geronnene, vergegenständlichte Bildung – und
insofern ist am Zustand unserer Technik immer auch unsere Bil-
dungsverfassung abzulesen. In Technik begegnet Bildung daher
nicht etwa einem ganz Anderen, sondern ihren eigenen Ergebnis-
sen und Wirkungen, ihrer eigenen Objektivität. Zum zweiten
weist die Formulierung „Technik als Bildung“ darauf hin, dass
Bildung immer auch die Gestaltung der Welt mit einschließt, in
der wir leben; und dass diese Gestaltung als Bildung der Welt

247
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

heute eben ausgeprägt technischen Charakter trägt.


• Bildung als Kritik der Technik: Dass Technik eine Grundform
menschlicher Lebensäußerung ist, ohne welche die menschliche
Lebensform nicht denkbar wäre, kann heute als pädagogisch
anerkannt gelten. Allerdings wird Technik dennoch von den mei-
sten Pädagoginnen und Pädagogen als ein besonderer Bereich
gesellschaftlichen Lebens angesehen, in dem besondere Regeln
und Gesetze gelten, welche in anderen Bereichen nicht gelten.
Wenn man also schon heutzutage im Leben um die Technik
nicht mehr herumkommt, dann soll doch dieser Auffassung nach
ihre Einseitigkeit durch andere nicht-technisch orientierte Hand-
lungsformen kompensiert und korrigiert werden. Die Bildung
selbst wird solchen nicht-technischen Handlungsbereichen bezie-
hungsweise -formen zugerechnet. Und in Bildung soll gegen das
Technische ein Gegengewicht durch die Pflege nicht-technischer
(musischer, literarischer …) Interessen und Fähigkeiten geschaf-
fen werden.
Wenn Technik somit doch weiterhin als zwar notwendige, von
Bildung jedoch grundsätzlich unterschiedene Handlungsform
verstanden wird, weil Bildung die Freisetzung von Personen zur
subjektiven Selbstbestimmung, Technik aber die Zurichtung von
Sachen zu zweckmäßiger Verfügbarkeit intendiere, kann Bildung
bei aller Akzeptanz der Unausweichlichkeit von Technik nur in
einem grundsätzlich kritischdistanzierten Verhältnis zu dieser ge-
dacht werden: Bildung zur Kritikfähigkeit gegenüber der Tech-
nik; Begrenzung technischen Mitteleinsatzes in Bildungsprozes-
sen; Betonung des nicht-technischen Charakters von Bildung
selbst.

248
Technik und Bildung

12.4 Perspektiven des Verhältnisses


von Technik und Bildung
12.4.1 Technik statt Bildung
Schon die Frage nach dem Verhältnis von Technik und Bildung als
solche muss als irrelevant erscheinen, wenn überhaupt jegliche Diffe-
renz von Technik und Bildung bestritten wird. Mit der Entwicklung
der Neuen Informationstechnologien gewinnt neuerdings ein radikal
konstruktivistisches Weltbild an Boden, das in der Maschine das
Modell allen physischen und geistigen Lebens sieht (Künstliche In-
telligenz; Künstliches Leben; Virtuelle Realität). Der transitive Bil-
dungsbegriff wird hier bis zur Konsequenz weitergedacht, die Bil-
dung von Menschen überflüssig zu machen durch die Konstruktion
„intelligenter“ Maschinen. Flankiert wird diese Perspektive mit dem
Hinweis darauf, dass schließlich auch der Mensch nichts anderes sei
als ein „informationsverarbeitendes System“ – wie der Computer.
Ich möchte diese Perspektive daher am Beispiel der neuen Erwar-
tung an die Pädagogik und die Bildung erörtern, sie möge die Her-
anwachsenden und nicht nur diese, sondern auch die Erwachsenen,
die es ebenso nötig hätten, auf eine Welt vorbereiten, die sich im
Übergang befinde zur „Informationsgesellschaft“.
Da Gesellschaft sich immer in Veränderung befindet und inso-
fern auch immer im Übergang zu …, ist dies an sich nichts Besonde-
res. Und immer ist es der Pädagogik aufgetragen, die nachwachsende
Generation auf diese Veränderungen, auf diesen Übergang zu … vor-
zubereiten. Nicht immer klar ist jedoch, wie hierbei „Vorbereitung“
gemeint ist:
• als Vorbereitung auf Veränderungen, die nötig sind, aber
nicht von alleine kommen, weshalb auf das Verändern als
aktive Tätigkeit vorzubereiten wäre;
• oder als Vorbereitung auf Veränderungen, die sowieso kom-
men oder schon in Gang sind, aber ohne aktive Beteiligung
der nachwachsenden Generation nicht so stattfinden, wie sie

249
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

sollten; hier wäre auf Mitwirkung an den Veränderungen vor-


zubereiten;
• oder als Vorbereitung auf Veränderungen, die ohnehin kom-
men oder schon in Gang sind und die über den einzelnen
gnadenlos hinweggehen werden, wenn er sich nicht ein- und
anpasst.
Im Ursprung der Bildungsidee, das heißt etwa um 1800 herum,
stand der erste Gedanke noch im Vordergrund. Das gesellschaftlich
Neue, das kommen sollte, konnte nur von den Menschen ausgehen.
Und dazu gehörte Bildung als Befähigung zur aktiven Gestaltung der
Welt. Das Erneuerungspotenzial, also das, was Entwicklung der Ge-
sellschaft vorantreibt, wurde im Menschen gesehen.
Wenn heute an die Pädagogik die Forderung gestellt wird, auf ge-
sellschaftliche Veränderungen vorzubereiten, liegen ihr die anderen
beiden Auffassungen zugrunde. Es hat eine Verschiebung stattgefun-
den, was das gesellschaftsentwickelnde Moment betrifft: eine Ver-
schiebung vom Subjektiven ins Objektive; oder vom Menschen zu
seinen Hervorbringungen. Diese erscheinen längst als mit einer Ei-
gendynamik versehen, die es fraglich werden lässt, wieweit die Men-
schen überhaupt noch als Gestaltungspotenzial anzusehen sind und
nicht vielmehr als bestenfalls Funktionselemente, wenn nicht gar
Störfaktoren eines sich selbst organisierenden und reproduzierenden
dynamischen Systems.
Bei der höchst aktuellen Forderung, die Pädagogik möge die
nachwachsende Generation auf die kommende Informationsgesell-
schaft vorbereiten, lässt sich diese Verschiebung ins Objektive sogar
als eine Verschiebung ins Apparative beobachten. Information er-
scheint zwar zunächst noch als ein Terminus, mit dem eine Kommu-
nikation zwischen wenigstens zwei Subjekten angezeigt wird: die eine
Person informiert eine andere. Aber die Informationsgesellschaft
heißt nicht deswegen so, weil die Menschen miteinander in dieser
Gesellschaft – wie immer schon, nur jetzt in noch größererm Umfang
und in höherer Frequenz – Informationen austauschen. Sondern sie

250
Technik und Bildung

heißt so, weil Technologien sich ausbreiten, die dem Terminus In-
formation einen anderen, eben technischen, apparativen Bedeu-
tungsgehalt geben. Es sind technische Systeme, Geräte, die Informa-
tionen (das meint Signalfolgen) austauschen, deren Bedeutung in
wachsendem Maße nur in der Auslösung apparativer Funktionen
liegt, also dem technischen System immanent bleibt. Und die Infor-
mationsgesellschaft ist gedacht als eine Gesellschaft, die durch das
Vordringen dieser technischen Kommunikation zur beherrschenden
Form der Kommunikation charakterisiert sein soll.
Hierauf vorzubereiten, meint nicht, die Menschen dazu zu befä-
higen, sich Informationen zu beschaffen, Informationen weiterzuge-
ben, Informationen zu beurteilen undsoweiter, oder dazu, besser mit-
einander zu kommunizieren oder gesellschaftliche Veränderungen als
Kommunikationsprozesse zu initiieren (immerhin gäbe es genügend
Anlässe zur Kommunikation über gesellschaftliche Veränderungen:
die Bewältigung der ökologischen Krise zum Beispiel; oder die Lö-
sung der Nord-Süd-Problematik; oder die alte Frage der sozialen Ge-
rechtigkeit und Wohlfahrt …). Sondern es meint die Befähigung der
Menschen, mit technischen Informations- und Kommunikationssy-
stemen umzugehen. Das Veränderungspotenzial wird nicht mehr
primär im Menschen, sondern in der von ihm hervorgebrachten
Technik gesehen, die „sich“ entwickelt, gesellschaftliche Verände-
rungen bewirkt und schließlich sogar die Ziele für die Entwicklung
der Menschen durch Bildung vorgibt. So erscheint verrückterweise
die Computertechnologie gegenwärtig als die große, auch pädago-
gisch reformative Innovationskraft.
Die technische Entwicklung gestaltet die Bildung, nicht umge-
kehrt? Wir fangen tatsächlich an zu glauben und uns damit abzufin-
den, dass sich subjektive Gestaltungsmacht aus unseren Köpfen in
die Technik verlagert, zumal in die Computertechnik; dass Technik
an die Stelle der Bildung tritt; und dass daher die Schule ihre über-
kommene Funktion verliert, subjektive Gestaltungsfähigkeit auszu-
bilden. Statt die Heranwachsenden an ihre eigenen Möglichkeiten

251
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

heranzuführen, soll sie sie fortan an die Möglichkeiten der Technik


heranführen.
Wenn also der Titel einer Ringvorlesung an dieser TU lautet: So-
zialorientierte Gestaltung von Informations- und Kommunikations-
technologie, dann steckt darin die Auffassung: Die Technik gestaltet
Information und Kommunikation. Aber wir Menschen gestalten die
Technik, und zwar orientiert an den Bedürfnissen unseres humanen
Zusammenlebens. So gesehen intendiert der Titel dieser Ringvorle-
sung einen Gegenentwurf zur Auffassung, Technik sei die neue sozia-
le Gestaltungsmacht. Zumindest soll es den Menschen noch möglich
sein, vermittelt durch die Technik als Medium gestaltend wirksam zu
werden. Man kann auch sagen – und das freut den Pädagogen natür-
lich –: der Intention dieser Ringvorlesung liegt noch die klassische
Bildungsvorstellung zugrunde.
Mit welcher Berechtigung aber halten wir überhaupt an dieser
klassischen Idee fest? Ist das nicht bloßer Kulturtraditionalismus, der
eben die Zeichen der Zeit nicht wahrhaben will? Vor unseren Augen
geht eine Funktion nach der anderen, die früher von Menschen aus-
geübt wurden, auf technische, computergesteuerte Systeme über.
Weshalb sollte nicht auch die soziale Gestaltungsfähigkeit auf solche
Systeme übergehen? Brauchen wir noch das menschliche Potenzial,
wenn doch ständig neue technische Systeme konstruiert werden kön-
nen, die den Menschen an Leistungsfähigkeit übertreffen?
Was im Menschen befähigt ihn zur sozialen Gestaltung? Und ist
dies etwas, worin er sich von einem technischen System grundsätzlich
unterscheidet? Was also niemals konstruiert, sondern immer nur ge-
bildet werden kann?
Die Antwort darauf ist nicht selbstverständlich. Immerhin hat
nicht nur die Unterscheidung des Menschen von der Maschine, son-
dern auch die Identifizierung des Menschen mit einer Maschine eine
lange Tradition.
Nach einer Aussage von Newell und Simon, zwei US-amerikani-
schen Künstliche-Intelligenz-Forschern, gehören Computer und

252
Technik und Bildung

Menschen derselben Species an: der species „informationsverarbei-


tender Systeme“. (Das ist auch unter dem Gesichtspunkt eine in-
teressante Aussage, als hierin zugleich der instrumentelle Charakter
noch des Menschen festgestellt wird. Worum es geht, ist die Informa-
tion. Menschen und andere Systeme verarbeiten diese nur. Man
könnte ja auch den Standpunkt vertreten, dass der Mensch die Infor-
mation schlechthin sei. Dass nur der Mensch Information ist und
nur der Gehalt an Menschlichem Informationsgehalt ausmacht.) Sy-
steme, die Informationen verarbeiten, verändern ihre Zustände in
Abhängigkeit von den Informationen, die sie verarbeiten. Es gibt eine
Definition von Lernen, die genau dies besagt: Lernen ist Zustands-
veränderung aufgrund von Informationsverarbeitung. Folgt man die-
ser Aussage, sind sowohl Menschen als auch Computer lernfähige Sy-
steme.
Ist Bildung also auch nur eine – möglicherweise antiquierte –
Form der Konstruktion von Lernsystemen? Wäre sie dies, dann wür-
de dies wohl die Austauschbarkeit der Bildung von Menschen gegen
die Konstruktion von Lernsystemen bedeuten. Und damit natürlich
die Austauschbarkeit gebildeter Menschen gegen konstruierte Syste-
me. Das hieße: die neuen Informationstechnologien leisten nichts
anderes, als sich die Pädagogik bisher auch schon vorgenommen hat.
Nur sind sie dabei effektiver.

12.4.2 Zurückhaltende Technik


In eine ganz andere Richtung führt der von mir favorisierte Gedanke
einer im Doppelsinne „zurückhaltenden Technik“: einer Technik,
die einerseits die Zwänge einer unbeherrschten Natur zurückhält, an-
dererseits sich selbst zurückhält. Die wesentliche Leistung der Tech-
nik inner und außerhalb der Bildung wird hierbei weniger in der
zweckrationalen Weltgestaltung als in der Schaffung eines Mög-
lichkeitsraums gesehen, in dem frei von den Zwängen der Natur
ebenso wie von den Zwängen einer durchtechnisierten Welt das
NichtTechnische, auch der nichttechnische Grund der Technik sich

253
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

ereignen und so u.a. Kreativität entbunden werden kann, welche die


Chance wahrnimmt, in ihren technischen Schöpfungen Potenziale
einer menschlicheren Welt zu entbergen. Darauf möchte ich nun nä-
her eingehen.
Die doppelte Zurückhaltung einer „zurückhaltenden Technik“
bezieht sich erstens auf die Zurückhaltung einer äußeren Welt, an-
fangs der unbeherrschten Natur, die die Menschen mit ihren Zwän-
gen, Gewalten, Nötigungen bedrängt und zu Reaktionen zwingt.
Technik, die dies leistet, ist zwar selbst noch Reaktion auf den Natur-
zwang; aber dies auf eine Weise, welche Raum schafft für die Entbin-
dung von dieser notwendenden Reaktion. Wir können uns das vor-
stellen am Beispiel des Hausbaus. Die Wände des Hauses schaffen
nach außen hin Schutz vor den äußeren Naturgewalten, halten diese
zurück. Nach innen hin ermöglichen sie den Menschen, sich im
Schutze des Hauses frei zu bewegen. Vom Naturzwang befreit Tech-
nik dadurch, dass sie ihn zurückhält, indem sie den Zwang der Na-
turgewalt durch technische Gegengewalt überwindet. Sie schlägt so-
zusagen eine Schneise oder Lichtung in die Natur und baut aus dem
dabei der Natur abgewonnenen Material ein menschliches Zuhause,
einen „Oikos“ (griech. = Haus, Zuhause). Der menschliche „Oikos“
ist ein Freiraum, in dem Menschen dem Naturzwang weder bedin-
gungslos gehorchen noch durch technische Gegengewalt begegnen
müssen. Dies ist der Raum, in dem Bildung und eine Bildung för-
dernde Pädagogik möglich werden. Technik räumt Bildung ein. Und
Bildung entbindet technische Kreativität.
Wenn Technik in dieser Weise verstanden und realisiert wird,
dann geht ihre humane Leistung nicht auf im Herstellen, im Machen
oder in instrumenteller Praxis, sondern erhält eine Qualität, die gera-
de für Pädagogik und Bildung von besonderer Bedeutung ist: sie ist
eine einräumende, raumgebende, entbindende, ermöglichende Pra-
xis.
Zweitens bezieht sich die postulierte Zurückhaltung aber auf die
Technik selbst: sie muss auch sich selbst zurückhalten in ihrer In-

254
Technik und Bildung

anspruchnahme der Menschen, damit der freie Raum, den sie schafft,
auch tatsächlich frei bleibt und nicht von ihr selbst wieder mit nun-
mehr technisch erzeugten Nötigungen besetzt wird.
Dies schlägt auch auf die Bildung selbst durch. Denn der techni-
sche Zugriff auf die Welt schließt den technischen Zugriff auf den
Menschen mit ein. In ihrer zielgerichteten Umsetzung in pädago-
gisches Handeln erhält auch die Beziehung zum einzelnen Menschen
einen technischen Zug: An und in ihm soll die vom Arbeitsmarkt
nachgefragte Ausbildungs-Qualität realisiert werden. Wie alle Tech-
nik ist so auch die Pädagogik in dieser Hinsicht durchaus gewaltför-
mig. Die pädagogische Bildhauerei meißelt nicht nur eine intendierte
Gestalt heraus, sie arbeitet darin auch die Roheit und Wildheit der
ungebildeten Natur weg. Aber wie Technik überhaupt, so geht auch
die technische Seite der Pädagogik nicht im totalen Verfügungsan-
spruch auf. Pädagogik hat ihre gesellschaftliche Funktion auch im-
mer in der Bereitstellung eines geschützten Freiraums für die Ent-
wicklung der Heranwachsenden aus ihren eigenen Potenzialen
gesehen. Wir können die Schule insgesamt als eine Großtechnik in
diesem Sinne verstehen. Das Wort selbst weist in seiner ursprüng-
lichen Bedeutung darauf hin, dass es nicht nur um Verfügbarma-
chung von Menschen, sondern auch um die Bereitstellung eines
Raums für Entwicklung ging (griechisch scholé = Muße, freie Zeit).
Die Schule nimmt Kinder und Jugendliche aus dem „clinch“ mit
der äußeren Welt heraus. Aus der Distanz und in Anspruchnahme
von freier Zeit kann die Welt anders als in ihrer vereinnahmenden
und überwältigenden Gegebenheit, nämlich in Bezug auf ihre noch
verborgenen, zu erschließenden positiven oder negativen Möglich-
keiten, Gefahren und Chancen wahrgenommen werden. Der engli-
sche Psychoanalytiker D.W. Winnicott hat hierfür den Begriff des
Potentiellen Raums geprägt (Winnicott 1974, 124). Davon war in ei-
ner früheren Vorlesung schon die Rede. Schule könnte Potentieller
Raum sein, vorausgesetzt, sie nimmt nun nicht ihrerseits die Schüle-
rInnen so in Anspruch, wie dies die Welt tun würde, von der sie sie

255
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

fernhält, so dass ihnen kein Raum zum Distanznehmen, keine Zeit


zum Nachdenken und Zu-sich-selbst-Kommen zugestanden wird.
Ihrer technischen Seite nach ist Pädagogik nicht nur Zurichtung,
Qualifizierung, Ausbildung; sie ist auch Ermöglichung von Bildung.
Deshalb stehen technische Seite der Pädagogik und die Bildungsidee
nicht im Gegensatz zueinander, sondern im wechselseitigen Fundie-
rungsverhältnis. Ebenso stehen transitive und intransitive Bildung
zueinander in einem Fundierungsverhältnis. Intransitive Bildung
kann sich nur entfalten auf der Grundlage von Ausbildung und im
Rahmen von Ausbildung, das heißt transitiver Bildung. Durch er-
folgreiche Ausbildung wird jene Verhaltenssicherheit und Orientie-
rungsfähigkeit in einer je gegebenen Welt geschaffen, welche es dem
einzelnen Menschen dann erlaubt, sich auch noch um etwas anderes
zu kümmern als um die Frage, wie er es schaffen kann, sich in dieser
Welt zu behaupten.

12.4.3 Poietische Technik


Wenn wir Pädagogen von Bildung sprechen, ist damit zwar auch eine
Handlungsform gemeint; aber nicht nur. Bildung ist außer dem, dass
Menschen handelnd etwas zu ihr beitragen, auch ein Geschehen. Der
Begriff Entwicklung weist eine entsprechende Doppeldeutigkeit auf:
ein Handeln, aber auch ein Geschehen zu bezeichnen.
Bildung befindet sich damit in einem begrifflichen Spektrum, das
vom Wachsen als einem bloßen Geschehen auf der einen Seite (reine
Intransivität) bis zum konstruierenden Herstellen als reinem Tun
(reine Transitivität) auf der anderen Seite reicht. In diesem Spektrum
vollzieht sich zugleich der Übergang von der Natur zur Technik.
Ich möchte dies zunächst im Rückgang auf zwei griechische Be-
griffe verdeutlichen, am Begriff der genesis und am Begriff der poie-
sis. Zur genesis gehört die physis; und zur poiesis gehört die techne:
• das Wachsen (genesis) der physis,
• das Hervorbringen (poiesis) der techne,
• das Herstellen der modernen Technik, das von anderer Art ist

256
Technik und Bildung

als die poiesis.


Betrachten wir das Sich-selbst-Hervorbringen der physis, das
spontane Wachsen und Werden der Natur, so sehen wir, dass die In-
itiative, der Impuls zu ihrer Weise des Hervorbringens in den Na-
turdingen selbst liegt. Ferner sehen wir, dass die physis in der Ent-
äußerung ihrer Potenzialität in die vorliegenden Naturdinge zugleich
auch in ihre Potenzialität zurückkehrt. Die Hervorbringungen der
physis sind keine End- und Fertigprodukte, sondern bewahren die
Initiative zu weiterem Hervorbringen verborgen in sich. Die Natur-
dinge sind also nicht einmal aus der Verborgenheit hervorgekom-
men, und jetzt liegen sie vor in fix und fertiger, unveränderlicher Ge-
stalt; sondern sie sind weiterhin Ausgangspunkte weiteren Werdens,
Entstehens und Vergehens. Das Hervorbringen der Natur geschieht
nicht produktorientiert.
Anders ist es mit dem Hervorbringen und den Hervorbringungen
der techne. Die Initiative, der Impuls zu dieser Weise des Hervor-
bringens liegt nicht in den Dingen selbst, sondern geht von außen
aus, eben von dem hervorbringenden Menschen. Und auch das Her-
vorgebrachte hat seine weitere Bestimmung nicht in ihm selbst, in
der ihm eigenen Potenzialität, sondern außer sich, nämlich in dem
Menschen, der es gebraucht und verbraucht.
Das Sich-selbst-Hervorbringen (genesis) der physis ist die ur-
sprüngliche Weise des Entstehens, Werdens und Hervorbringens, in
der alle anderen wurzeln. Auch die techne, die nun den vom Men-
schen ausgehenden Impuls einbringt, befindet sich noch in unmittel-
barer Nähe zur physis, auch wenn sie mit dieser nicht mehr identisch
ist. Das Wesentliche an ihr sind nämlich nicht die äußerlichen Ver-
richtungen und Hilfsmittel, die wir als Technik gewöhnlich identifi-
zieren. Das Wesentliche an der Technik ist nicht das Werkzeug. Ent-
scheidend für die Technik ist vielmehr das Sichauskennen,
griechisch: die episteme, und dieses Sichauskennen verdankt sich der
physis, indem diese dem Menschen zeigt, wie es geht. Die zugrunde-
liegende Empirie ist allerdings keineswegs eine Naturerfahrung der

257
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Art, wie wir sie machen können, wenn wir den Duft einer Blumen-
wiese genießen, sondern gezielte Beobachtung, gezielt nämlich durch
das Interesse an bestimmten Naturprodukten. Indem der Mensch die
physis daraufhin beobachtet, wie sie es macht, wenn sie die Dinge,
beispielsweise Früchte hervorbringt, an denen er Interesse hat, ahmt
er, wenn er es ihr nachmacht, scheinbar die physis nach, liest seine
Technik von ihrer ihr immanenten „Technik“ ab. In Wahrheit hat er
dabei jedoch schon zuvor in seinem eigenen interessierten Blick in
die physis Technik projiziert. Technik beginnt nicht beim Tun und
bei den Mitteln, sondern beim interessierten Blick, bei der theoria.
Die technische theoria betrachtet die Natur, als ob ihre Prozesse pro-
duktorientiert angelegt seien.
Das Sichauskennen der techne bezieht sich auf eben das, worin
sich die Naturdinge von den durch Menschenhand hergestellten
Dingen unterscheiden, nämlich auf die Initiative, den Impuls, die
Potenzialität des Hervorbringens. Der Aufbruch, den die Naturdinge
in sich selbst tragen, enthält nämlich auch (aber keineswegs aus-
schließlich) den potentiellen Aufbruch in die Nutzbarkeit; und kennt
der Mensch sich hierin aus, gewinnt er Einsicht in diese, ihn spezi-
fisch interessierenden Potenzen der physis , dann vermag er sie auch
aktiv zu entbergen, also aus der physis hervorzuholen.
So verkehrt sich die Perspektive. Genesis ist ein durch alle Her-
vorbringungen hindurch offener Prozess. Poiesis geschieht pro-
duktorientiert. Sie legt genesis in ihrem Produkt still. Der Tisch soll
Tisch bleiben. Aus ihm sollen keine Zweige wachsen; er soll aber
auch nicht vermodern. Das Produkt, jedes Produkt der techne ist
weiterhin aus physis hervorgegangen, aber es gilt nicht mehr als ein
Ding, dessen zukünftiger Werdensprozess als verborgene Initiative
des Hervorbringens in ihm selbst liegt. Was aus ihm wird, soll allein
im Menschen liegen, der es gebraucht und verbraucht. Die perspek-
tivische Verkehrung liegt darin, dass das Hervorbringen nun vom
Hervorzubringenden, vom Produkt her bestimmt wird, also eine
vom Menschen bestimmte, offenbare Möglichkeit ist, die bekannten

258
Technik und Bildung

Eigenschaften der Dinge auf eine bestimmte Weise nutzbar zu ma-


chen.
Über die episteme bleibt techne der physis und bleibt poiesis der
genesis verbunden. Episteme ist Verstehen der Natur. Sie ist darauf
verwiesen, dass die Natur sich dem Menschen in ihren Mög-
lichkeiten der Nutzbarmachung zeigt. Deshalb enthält techne ein
Moment der mimesis, der Anschmiegung an die Natur, der Nach-
ahmung der Natur.
Das Verhältnis von techne und physis ändert sich, wenn die Men-
schen sich nicht mehr mit dem begnügen, was die Natur ihnen von
sich aus zeigt, sondern die Natur zwingen, sich ihnen so zu zeigen,
dass das, was sichtbar wird, die Antwort auf spezifische Fragestel-
lungen an die Natur ist. Wenn also, wie Kant sagte, die Natur durch
die Menschen gleichsam einem Verhör unterzogen wird, in dem sie
genötigt wird, nichts von sich aus zu sagen, sondern nur auf das zu
antworten, was sie gefragt wird. Die Natur wird zu einer Reaktion auf
den Menschen. Ihr Eigensinn wird ignoriert. Ein solches Verhör ist
das naturwissenschaftliche Experiment, das genau genommen eine
Form technischer Bearbeitung der Natur ist. Die Technik folgt nun
nicht mehr der genesis. Sie entledigt sich ihres mimetischen Mo-
ments. Natur wird unterworfen. Sie wird verwandelt in Material; das
heißt sie wird vollständig dem Produktionszweck unterworfen, ohne
eigenen Sinn, beliebiger Formung ausgesetzt.
Der Endzweck dieser Technik ist nicht mehr die Vermittlung mit
Natur, sondern deren vollständige Verwandlung in eine Maschine.
Er wird legitimiert mit dem Hinweis auf die Maschinenhaftigkeit des
Menschen: auch der Mensch sei nur eine – wenn auch sehr komplexe
– Maschine. Marvin Minsky, einer der bekanntesten USamerikani-
schen Propagandisten der Künstlichen Intelligenz, zeigt zwar Ver-
ständnis für die Abwehr gegen eine Gleichsetzung von Menschen mit
Maschinen: „Ein Mensch sollte sich in der Tat beleidigt fühlen, wenn
man ihn mit einer trivialen Maschine vergleicht.“ Aber – fährt er fort
– Maschinen seien heute nicht mehr das, was sie einmal waren, näm-

259
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

lich: trivial. Der Komplexitätsgrad heutiger Computer nähere sich


immer mehr dem des menschlichen Gehirns an. Wenn man sich die-
sen Wandel dessen bewusst mache, was „Maschine“ bedeuten könne,
„werden wir mehr Selbstachtung aus dem Wissen schöpfen, welch
wunderbare Maschinen wir sind“ (Minsky, 1990, S. 30). Humanisie-
rung der Welt würde demnach nichts anderes bedeuten als die Ver-
wandlung der Welt in eine allumfassende „wunderbare Maschine“.
Bisher wurden Maschinen von Menschen hergestellt. Die Tech-
nik brauchte den Techniker. Aber wenn es stimmte, dass die Techni-
ker im Grunde auch nur Maschinen sind, dann steht der Vorstellung
nichts mehr im Wege, Maschinen von Maschinen entwerfen und
konstruieren zu lassen. Maschinen generierten Maschinen. Maschi-
nen pflanzten sich selbst fort. Und schließlich wäre vom Menschli-
chen nur noch das Technische in der Welt, nicht aber mehr das Na-
türliche, das Leibliche.
Was freilich der Maschinenentwicklung dann fehlte, wäre der
kreative Impuls, der spontane Einfall, der aus der „Natalität“ des
Menschen (Arendt), der aus intransitiver Bildung entspringt. Er
steckt in jeder Maschine, insofern in ihr menschliche Kreativität
steckt. Und damit steckt in jeder Maschine auch die Sehnsucht nach
einer humanen Welt, welche der menschlichen Natur entgegen-
kommt, ihr zugewandt ist, sie aufnimmt, ihr Resonanz gibt. Eine
poietische Technik wäre eine Technik, die sich ihrer eigenen Bil-
dungs-Quellen bewusst ist und deshalb Raum gibt für deren Entfal-
tung; die sich versteht als Resonanz auf die sehnsüchtige menschliche
Natur. Eine Technik, die ihr mimetisches Moment wieder erweckt.
Denn: In jeder Maschine schläft ein Lied. Es wäre zu hoffen, dass dies
kein Totenschlaf wird.

260
Dreizehnte Vorlesung
Schule

13.1 „Hurra hurra, die Schule brennt …“


13.2 Schule als Gegenstand pädagogischer Forschung
und Theorie
13.2.1 Schulgeschichtsschreibung
13.2.2 Theorie der Schule
13.3 Schule als Institution der Bürgerlichen Gesellschaft
13.3.1 Bestimmungen der Schule
13.3.2 Zur Entstehungsgeschichte der modernen Schule
13.4 Schule als Irrtum: Illichs radikale Schulkritik
13.5 Die Gegenposition: Schule als notwendige Organisationsform
von Bildung
13.6 Perspektiven der Schule

Musik:
Extrabreit – Hurra hurra, die Schule brennt (1980).
Vom Album „Ihre größten Erfolge“ (1980)

13.1 „Hurra, hurra, die Schule brennt …“


Nein, leider brannte sie nicht, die Schule, die ich neun Jahre lang bis
zu meinem Abitur besucht habe. Es war ein Humanistisches, also alt-
sprachliches Gymnasium mit mehrhundertjähriger Tradition. Wie
gerne hätte ich sie brennen sehen. Und das dürfen Sie ganz ernst neh-
men: Diese Schule hätte ich auch selbst ohne moralische Skrupel in
Brand setzen können. Was mich daran gehindert hat, war wohl in er-
ster Linie nur die Angst, erwischt zu werden. (Das verbreitete Phäno-

261
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

men des Vandalismus ist mir aus meiner eigenen Gefühlslage als
Schüler emotional sehr verständlich.)
Es wäre ein symbolischer Akt gewesen. Die Schule brennen zu se-
hen, hätte die Bedeutung gehabt, der Vernichtung dieses Systems
von Erniedrigung, Verdummung, Arroganz und Elitarismus zu-
schauen zu können, als das ich die Schule erlebt habe. Ich sehe dies
heute in einem milderen Lichte. Aber das soll nicht heißen, dass ich
jetzt sagen würde, ich hätte mich damals völlig getäuscht.
Ich sagte, eine Brandstiftung, welche meiner Schule gegolten hät-
te, wäre ein symbolischer Akt gewesen. Denn es hätte ja nur das Ge-
bäude gebrannt mit seinem Inventar. Und in Wirklichkeit waren es
schließlich die Lehrer, deren Verhalten jenen Hass auf die Schule in
mir auslöste.
Nicht, dass ich meine Lehrer nicht auch als Personen verantwort-
lich gemacht hätte für die Gemeinheiten, die den Schulalltag be-
herrschten und denen vor allem die schwächeren Schüler erbar-
mungslos ausgesetzt waren, von denen es dann hieß, sie gehörten
nicht an eine solche Schule; sie seien nicht gut genug für diese Schule.
Ein Urteil, das völlig bedenkenlos verbunden wurde mit einer Her-
absetzung ihres menschlichen Werts. Aber obwohl ich die Lehrer
durchaus persönlich verantwortlich machte dafür, dass diese Schule
mir als ein Gefängnis erschien, war ich nicht der Meinung, dass ich
also vielleicht nur Pech gehabt hätte mit meinen Lehrern und es an
anderen Schulen anders zuginge. Es ging nach dem, was ich so hörte,
an anderen Schulen nicht so anders zu. Vielleicht war, bedingt durch
den arroganten Elitarismus der Lehrer an dieser Anstalt, das Klima
dort besonders stickig. Aber wie mir schien, herrschte an anderen
Schulen ebenfalls nicht gerade der frischeste freiheitliche Wind.
Ich glaubte damals: So wird man, wenn man Lehrer wird. Oder:
Solche Leute werden Lehrer. Niemals wollte ich auch so werden.
Und niemals wollte ich mit solchen Leuten mal zusammenarbeiten
müssen. Also wusste ich, als ich Abitur machte, zwar nicht, was ich

262
Schule

beruflich mal werden wollte. Aber ich wusste ganz genau: eines auf
keinen Fall, nämlich Lehrer.
Woher schließlich mein Sinneswandel kam, kann ich jetzt nicht
darstellen. Jedenfalls habe ich ja schließlich das Erste Staatsexamen
für das Lehramt an Gymnasien gemacht; und mir eine wissen-
schaftliche Disziplin ausgesucht, in der die Schule zum theoretischen
Thema und die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern zur prak-
tischen Aufgabe wurde. Meine Staatsexamensarbeit habe ich über
„Gesellschaftspolitische Aspekte der Gesamtschulreform“ geschrie-
ben; das war 1971. Und meine Doktorarbeit trug den Titel: „Die
Schule der bürgerlichen Gesellschaft. Kritik der öffentlichen Bil-
dungsinstitution“. Das war 1975.
Diese beiden Titel deuten aber schon an, womit mein Sinneswan-
del zu tun hatte. Zum einen hat sich mir im Zusammenhang mit der
Studentenbewegung die politische Dimension von Pädagogik er-
schlossen. Bildung wurde für mich zum Schlüsselbegriff für ge-
sellschaftliche Veränderung hin zu menschenwürdigeren Verhält-
nissen; eine Veränderung, die eben in den Köpfen und Herzen der
Menschen beginnt; aber auch eine Veränderung von Verhältnissen,
die mehr Menschen substantielle Bildung ermöglichen sollte. Und
die Schule war und blieb die Institution, die zumindest dafür vor-
gesehen ist, dass in ihr Bildung für alle möglich gemacht werden soll.
Zum zweiten aber bot die theoretische Beschäftigung mit der
Schule mir die Möglichkeit, meinen Hass auf die Schule zu ratio-
nalisieren: also zu begreifen, wodurch das, was ich selbst in meiner
Schulzeit erfahren hatte und wovon ich ja schon ahnte, dass es nicht
nur die zufällige personelle Besetzung des Lehrerkollegiums war, die
dafür veranwortlich zu machen war, durch welche gesellschaftlichen
Bedingungen und durch welche institutionellen Strukturen dies be-
gründet war. Mein Hass auf die Schule erhielt die Form der theore-
tischen Kritik. Man könnte sagen: Ich ließ die Schule jetzt in der
Theorie „brennen“.

263
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Aber das trifft es nicht ganz. Denn beides zusammen: die Ent-
deckung der Bildung als gesellschaftsverändernder Kraft und die
theoretische Kritik der Schule als Institution machten aus der Schule
für mich etwas Neues. Sie war jetzt nicht mehr eine übermächtige
Gegebenheit, in der schicksalhaft die individuelle Deformation sich
vollzog, sondern sie wurde sozusagen transparent für mich hinsicht-
lich der Potenziale, die in ihr steckten und die es lediglich wahrzu-
nehmen galt; „wahrzunehmen“ in dem Doppelsinne: man musste
diese Potenziale sehen und man musste sie praktisch nutzen. Die
Schule musste nicht mehr „brennen“, nicht mehr vernichtet, sondern
sie musste erobert und verändert werden.

13.2 Schule als Gegenstand pädagogischer


Forschung und Theorie
Wie ich schon sagte, veränderte sich in der Zeit der Studentenbe-
wegung und beeinflusst durch die theoretischen Impulse dieser Zeit
mein Blick auf die Schule. Aber es war nicht nur mein persönlicher
Blick auf die Schule, der sich in dieser Zeit veränderte, sondern die
Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin begann, die Schule neu zu
betrachten.
Die Schule war schon länger Gegenstand der Pädagogik; einmal
in der Schulgeschichtsschreibung; zum zweiten in der Theorie der
Schule.

13.2.1 Schulgeschichtsschreibung
Die bis dahin in Westdeutschland vorherrschende Schulgeschichts-
schreibung verfuhr historistisch. Das heißt: Sie rekonstruierte aus
dem in Archiven vergrabenen Quellenmaterial die Entstehung und
Entwicklung des Schulwesens, um zu zeigen, „wie es wirklich gewe-
sen ist“ (Leopold von Ranke). Wie – nicht: warum es so gewesen ist.
Es ging um eine möglichst authentische Wiedergabe dessen, was an

264
Schule

Tatsachen den Quellen zu entnehmen war. Mit Pädagogik hatte und


hat eine solche historistische Forschung, auch wenn sie die Schule
zum Gegenstand hat, an sich wenig zu tun. Das wäre erst dann der
Fall, wenn das, was in diesen Schulen geschehen ist, in eine Bezie-
hung zum gesellschaftlichen Bildungsauftrag gebracht und die Frage
nach den Bedingungen und Gründen für ihre Art und Weise gestellt
würde, diesem Bildungsauftrag zu entsprechen. Denn an der Bil-
dungswirklichkeit in den Schulen lässt sich ablesen, wie eine Gesell-
schaft zu einem gegebenen Zeitpunkt Bildung faktisch bestimmt hat
(unabhängig von allen Idealen, die zu der Zeit ebenfalls formuliert
worden sein mögen). Und das wirft eben die Frage auf, wie es zu ver-
stehen und zu erklären ist, dass Bildung so und nicht anders be-
stimmt wurde. Ende der 60er Jahre entstand eine kritische, die gesell-
schaftlichen Bedingungen mit einbeziehende Schulgeschichtsfor-
schung. Sie stützte sich zum Teil auf Arbeiten, die in der DDR
entstanden waren. (Wobei ergänzt werden muss, dass der kritische
Impuls der DDR-Geschichtsschreibung sich allein auf die „überwun-
dene“ bürgerliche Schule bezog und völlig aussetzte, wo es um die
Schulgeschichte der DDR ging.)

13.2.2 Theorie der Schule


Die pädagogische Theorie der Schule hatte bis dahin versucht, die
Schule als Resultat des Versuchs darzustellen, für den Bildungsauf-
trag die geeignete Organisationsform, den geeigneten Rahmen zu
schaffen. Dass die Schule möglicherweise Ausdruck anderer als päd-
agogischer Interessen sein könnte, dass Bildung in der Realität nicht
nur als das gedacht sein könnte, was Pädagogen mit ihr verbinden,
diese kritische Perspektive wurde von ihr nicht eröffnet.
Auch das wurde Ende der 60er Jahre anders. Es entstand eine kri-
tische Theorie der Schule. Die Kritik kam aus unterschiedlichen
Richtungen. Es wurde zum einen eine politisch motivierte Kritik an
der Schule formuliert. Dieser Kritik ging es darum, die Schule als
eine Institution zu kritisieren, welche die Kinder und Jugendlichen

265
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

nicht über die Unmenschlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse


aufkläre und ihnen damit verunmögliche, sich gegen politische Herr-
schaft zur Wehr zu setzen und die gesellschaftlichen Verhältnisse ak-
tiv im Sinne des humanen Fortschritts mitzugestalten. Zum andern
entwickelte sich eine pädagogische Kritik an der Schule, welche ihr
vorwarf, gesellschaftliche Funktionen etwa der Auslese und der Qua-
lifizierung nach Maßgabe wirtschaftlichen Bedarfs zu erfüllen, statt
sich am pädagogischen Auftrag zu orientieren, jeden einzelnen Men-
schen bestmöglich in seiner Entwicklung aus eigenem Sinn zu för-
dern. Während die erste Position der Schule vorwarf, ihre gesell-
schaftliche Verantwortung nicht wahrzunehmen, warf die zweite
Position ihr vor, sich zu sehr an gesellschaftlichen Erwartungen und
zu wenig an ihrem pädagogischen Auftrag zu orientieren.
In der ebenfalls in dieser Zeit entstehenden Kritischen Bildungs-
theorie H.J. Heydorns und G. Koneffkes wurden diese beiden Posi-
tionen zusammengeführt. Der pädagogische BildungsAuftrag der
Schule wurde von Heydorn entmystifiziert und auf die politisch-öko-
nomischen Interessen der Bürgerlichen Gesellschaft zurückgeführt.
Nicht die pädagogische Idee fundiert den Bildungsauftrag der Schu-
le, sondern das ökonomische Interesse – so Heydorn. Und dieser
Auftrag sei eben deshalb in sich widersprüchlich: Zum einen solle
Bildung den einzelnen Menschen dazu befähigen, sich autonom in
den gesellschaftlichen Verhältnissen zurechtzufinden und aktiv und
bewusst an ihrer Entwicklung mitzuwirken – und zwar nicht, weil
die Pädagogen dies so forderten, sondern weil die Gesellschaft um ih-
rer eigenen Reproduktion willen solche „mündigen“ Bürger benöti-
ge. Zum zweiten aber dürfe Bildung nicht zur Einsicht in den herr-
schaftsförmigen Charakter des kapitalistischen Fundaments dieser
Gesellschaft führen, sondern sei zurückzubinden an eine grundsätzli-
che Bejahung dieser Gesellschaft und habe sich in deren Dienst zu
stellen. Damit verband sich zudem die Schulgeschichtsschreibung
mit der Schultheorie: Schule als gesellschaftliche Organisationsform
pädagogischer Bildungspraxis ist entstanden aus den Bedürfnissen ei-

266
Schule

ner spezifischen Gesellschaftsform heraus, die sich vor ca. zweihun-


dert Jahren in Europa durchgesetzt hat. Für Heydorn und Koneffke
war die pädagogische Kritik nicht von der politischen zu trennen,
weil die Aufgabe der Pädagogik im gesellschaftlichen Zusammen-
hang nicht ohne ihre Begründung in den gesellschaftlichen Ver-
hältnissen zu begreifen sei.
Meine eigene Dissertation „Die Schule der Bürgerlichen Gesell-
schaft. Kritik der öffentlichen Bildungsinstitution“ knüpfte an diese
Forderung an und versuchte, die Schule als notwendig falsche Orga-
nisationsform von Bildung begreifbar zu machen. „Notwendig“ im
Sinne der Erhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsform; „falsch“
im Sinne des Widerspruchs der Schule als Organisationsform gegen
das, was Bildung bedeutet, nämlich: selbstbestimmte Entwicklung
aus eigenem Sinn.
Ich möchte nun zunächst eine kurze Darstellung der Entste-
hungsgeschichte der Schule geben. Das bezieht sich auf den Aspekt
der „Notwendigkeit“ dieser Institution für eine bestimmte, nämlich
unsre heutige Gesellschaftsform. Danach werde ich auf die „Falsch-
heit“ dieser Organisationsform, gemessen an ihrem Bildungsauftrag,
zu sprechen kommen, wie er sich in der radikalen Schulkritik aus-
drückt.

13.3 Schule als Institution der


Bürgerlichen Gesellschaft
13.3.1 Bestimmungen der Schule
Der Begriff „Schule“ kann vieles bedeuten, wie wir allein aus unserem
alltagssprachlichen Gebrauch des Wortes entnehmen können, das
vorkommt in Wörtern wie „Fahrschule“, „Baumschule“; oder in
Wendungen wie „Das hat Schule gemacht“. Auch historisch hat das
Wort zu verschiedenen Zeiten Unterschiedliches gemeint. Es kommt

267
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

aus dem Griechischen scholé und bedeutete da im Ursprung soviel


wie Muße, Raum zur Muße.
Ich will daher zunächst eingrenzen, wovon in dieser Vorlesung die
Rede sein soll, wenn es um „Schule“ geht. Gemeint ist Schule als ob-
ligatorische öffentliche Bildungsinstitution. Darin sind folgende un-
verzichtbare Begriffsbestimmungen enthalten:
• Sie ist eine Einrichtung, die den Auftrag erhalten hat, Bildung
zu vermitteln. (Schulen, die etwas anderes intendieren, sind
ausgeschlossen; zum Beispiel Fahrschulen.)
• Sie ist eine öffentliche Einrichtung; das heißt sie steht unter
staatlicher (nicht: privater) Aufsicht. (Das Privatschulwesen
gehört hier nur hinein, soweit es ebenfalls unter staatlicher
Aufsicht steht, das heißt mit dem staatlichen Schulwesen
einen Verbund bildet.)
• Ihr Besuch ist obligatorisch für alle Mitglieder der Gesell-
schaft. Zur Schule gehört die allgemeine Schulpflicht und das
allgemeine Recht auf Schulbesuch. (Schulen, deren Besuch
freiwillig ist, sind ein separates Thema.)
Es ist also von der modernen Schule die Rede, von der Schule, die
wir alle besucht haben und die – im Grundsatz, zu dem Ausnahmen
besonderer Gründe bedürfen – alle besuchen müssen. In diesem Sin-
ne gibt es die Schule in Deutschland erst seit gut zweihundert Jahren
auf dem Papier; und erst seit etwa hundert Jahren tatsächlich. Als sol-
che gehört sie zur Bürgerlichen Gesellschaft, ist sie „Schule der
Bürgerlichen Gesellschaft“. Zuvor befanden sich die Schulen für die
Masse der Bevölkerung, als Schulen der Feudalen Gesellschaft, unter
kirchlicher Hoheit.

13.3.2 Zur Entstehungsgeschichte der modernen Schule


Deutschland war im 18. Jahrhundert zersplittert in diverse Kaiser-
beziehungsweise Königreiche (Österreich und Preußen), Fürsten-
tümer und Grafschaften. Als einheitliches staatliches Gebilde ent-
stand es erst im 19. Jahrhundert, unter Führung Preußens und unter

268
Schule

Ausschluss Österreichs, das man damals ebenfalls noch den deut-


schen Staaten zurechnete. Deshalb möchte ich die Entwicklung an-
hand der Entwicklung in Brandenburg-Preußen betrachten.
Die Ablösung der kirchlichen durch staatliche Schulhoheit wurde
in Brandenburg-Preußen während des 18. Jahrhunderts eingeleitet.
Ein Edikt von 1717 verlangte, dass dort, wo Schulen existieren, die
Eltern auch ihre Kinder zur Schule schicken müssten. Mit diesem
(für Preußen) erstmaligen Erlass einer (noch eingeschränkten) allge-
meinen Schulbesuchspflicht artikuliert der preußische Herrscher ein
staatliches Interesse an der Schule, das 1763 im General-Landschul-
reglement u.a. durch präzisere Festlegung des Umfangs der Schul-
pflicht, Erwähnung gewisser Mindest-Inhalte und Ankündigung re-
gelmäßiger Schulinspektionen noch bekräftigt wird. Im Allgemeinen
Landrecht von 1794 schließlich wird die rechtliche Verfassung der
Schule proklamiert, wie sie für die bürgerliche Gesellschaft dann wei-
terhin Geltung hat: „Schulen ... sind Veranstaltungen des Staats“.
Aber noch können wir bezogen auf Preußen beziehungsweise
Deutschland nicht von einer Bürgerlichen Gesellschaft sprechen.
Zwar hat zu diesem Zeitpunkt das Bürgertum erheblich an wirt-
schaftlichem und kulturellem Einfluss gewonnen. Aber politisch
spielte es noch keine nennenswerte Rolle. In Deutschland herrschte
der Adel – im Unterschied zu England und Frankreich – noch unein-
geschränkt. In den Edikten und Gesetzen sprach sich das Interesse
der feudalen Zentralmacht aus.
Dies Interesse war primär ein politisches; sekundär ein wirtschaft-
liches. Politisch ging es darum, dass im Zuge der Zentralisierung der
feudalen Macht, die zum Absolutismus der feudalen Herrschaft führ-
te, auch die kirchliche Schulhoheit durch eine staatliche abgelöst
werden sollte. Während der alte feudale „Staat“ nur eine Resultante
der vielfach verflochtenen und abgestuften Herrschaftsbeziehungen
des Feudalsystems war, wurde der Staat im Absolutismus zur Zentral-
macht mit eigenen Institutionen und einem eigenen Apparat. Die
vormals verteilten und dezentralisierten Hoheitsfunktionen (zum

269
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Beispiel Heer, Finanzverwaltung, Rechtsprechung, äußere Beziehun-


gen) wurden bei Hofe zu konzentriert. Der Herrscher betrachtete alle
Einwohner seines Landes als seine unmittelbaren Untertanen und
war von daher daran interessiert, auch ideologisch ein unmittelbares
Verhältnis zwischen Untertanen und Staat herzustellen. So schickte
er sich an, selbst die Verantwortung zu übernehmen für eine gleich-
mäßige und ausreichende Schulbildung. Den Untertanensollte kom-
plementär die rechte Einstellung zur absolutistischen Staatsordnung
vermittelt werden. Macht und Einfluss der alten feudalen Partikular-
mächte, einschließlich der Kirche, wurden zunehmend zurückge-
drängt.
Aus diesem spezifischen Interesse des absolutistischen Staates an
Herrschaftssicherung erklärt sich die Schulinitiative des preußischen
Staates im 18. Jahrhundert mit seinem Versuch,
„alle Kinder zum Unterrichtsbesuch anzuhalten, das Schulwesen organisatorisch zu-
sammenzufassen, es nach einem einheitlichen Reglement zu verwalten und zu beauf-
sichtigen sowie nach Inhalten und Methoden effektiver zu gestalten ..., den Einfluss
der Kirche, wo er den Absichten des Staates entgegensteht, zurückzudrängen bezie-
hungsweise die Kirche für seine Zwecke in den Dienst zu nehmen“ (Michael/Schepp
1973, S. 28).
Das zweite zentrale Motiv war wirtschaftlicher Art. Es ging dem
preußischen Herrscher nicht nur um „bessere“, sondern auch um
„geschicktere Untertanen“. Die absolutistische Herrschaft hatte ei-
nen großen Finanzbedarf zur Unterhaltung des wachsenden Staats-
apparats. Sie konnte diesen nur decken, wenn die Wirtschaftskraft
des Landes ausreichend war. Mehr noch als die Erträge aus landwirt-
schaftlicher Produktion waren dafür die vor allem von der Finanz-
kraft des Bürgertums abhängigen Steuereinnahmen bedeutsam.
Der Absolutismus war ein politisches System, das „zum Schutz
des aristokratischen Eigentums und der aristokratischen Privilegien“,
also der alten feudalen Ordnung diente. Doch um diesen Schutz ge-
währleisten zu können, war der absolutistische Staat finanziell darauf
angewiesen, die Wirtschaftskraft des aufkommenden Bürgertums zu
stärken und das heißt sich ökonomischer Mittel zu bedienen, die „zu-

270
Schule

gleich die grundsätzlichen Interessen der aufkommenden Handels


und Manufakturklasse absichern konnten“ (Anderson 1979, S. 49).
Alle ökonomischen und politischen Maßnahmen, die „die Macht
und die Finanzkraft des spätfeudalen Staates“ steigerten, nützten
auch „der entstehenden Bourgeoisie: dieser wurde die Möglichkeit
zur Tätigung gewinnträchtigerer Geschäfte geboten, während der
Staat von den größeren Steuereinnahmen, die ihm durch die höheren
Gewinne zuflossen, profitierte“ (Anderson 1979, S. 51). Wirtschafts-
politik, welche die wirtschaftlichen Bedingungen des Bürgertums
verbesserte, und der Versuch, den durchschnittlichen Wissensstand
der Bevölkerung im Interesse effektiverer Produktion zu erhöhen,
spielten da zusammen.
So standen also Ende des 18. Jahrhunderts in Preußen zwei der
wesentlichen Bestimmungen von Schule schon einmal auf dem Pa-
pier: dass sie eine staatliche Einrichtung und dass ihr Besuch obliga-
torisch sei – mehr aber auch nicht. Eine Erhöhung des Wissens-
standes der Bevölkerung bedeutete noch kein Bekenntnis zum
Bildungsauftrag (dritte Bestimmung). Dazu war die Schule insge-
samt noch viel zu sehr auf die explizite Vermittlung einer Unter-
tanengesinnung ausgerichtet. Und auch die allgemeine Schulpflicht
und die staatliche Schulhoheit waren alles andere als realisiert. Der
feudale Staat überließ es nämlich den Behörden vor Ort, sich darum
zu kümmern, dass hierfür die nötigen materiellen Bedingungen ge-
schaffen wurden: Bereitstellung von Schulräumen (die im Winter be-
heizt werden mussten), Einstellung von Lehrkräften (die bezahlt wer-
den mussten), Beschaffung von Lehrmitteln für den Unterricht.
Dafür wiederum sollte die lokale Bevölkerung selbst herangezogen
werden. Vor allem die Armut der Landbevölkerung stand einer Rea-
lisierung des Gesetzes also schon einmal entgegen. Aber auch die Ma-
nufaktur und Fabrikkapitalisten sowie die Großgrundbesitzer waren
nicht sonderlich daran interessiert, dass Kinder in die Schule gingen,
statt zu arbeiten. So waren die staatlichen Schulinspektoren über
Jahrzehnte hinweg mit der Erstellung von Berichten über die Nicht-

271
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Realisierung der Schulpflicht beschäftigt. Es fehlten dem Staat die


materiellen Möglichkeiten, das, was auf dem Papier stand, auch
durchzusetzen, solange die Unternehmungen nicht selbst ihr Interes-
se an der Schule entdeckten.
Das dauerte in Deutschland letztlich bis zum Ende des 19. Jahr-
hunderts. Ein wichtiger Schritt war die Einschränkung beziehungs-
weise das Verbot der Kinderarbeit in den 30er Jahren. Auch dieses
war allerdings nicht aus dem Interesse an Bildung motiviert, sondern
aus dem Herrschaftsinteresse des immer noch feudalen Staates. Denn
wichtiger als die Qualifikation der Kinder war den kapitalistischen
Unternehmungen zunächst noch deren Ausbeutung in den Fabriken.
Kinderarbeit wurde in der Frühzeit kapitalistischer Industrialisierung
(also in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) zu einer Hauptprofit-
quelle. An Schulbesuch war nicht zu denken bei 12 bis 14 Stunden
täglicher Arbeitszeit. Der frühe Fabrikkapitalismus hatte mit Mas-
senbildung in jeglicher Form nichts im Sinn.
Preußischer Industriekapitalismus und preußischer Landadel gin-
gen vielmehr eine bemerkenswerte Interessenkoalition ein, indem sie
sich trotz aller politischen Differenzen gemeinsam beharrlich gegen
alle Bestrebungen des preußischen Staates sperrten, der allgemeinen
Schulbesuchspflicht auch endlich zur Verwirklichung zu verhelfen.
Es war die Befürchtung, als Folge der unmenschlichen Ausbeutung
der Kinder in den Fabrikbezirken z.T. schon vom vierten Lebensjahr
an kaum noch genügend militärdiensttaugliche junge Männer rekru-
tieren zu können, die in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts erste
Kodifizierungen einer Gesetzgebung anstieß, worin die Kinderarbeit
eingeschränkt und die Ermöglichung regelmäßigen Schulbesuchs
verlangt wurde. Damit letzteres nicht doch am Widerstand der Fa-
brikbesitzer und der Eltern der ausgebeuteten Kinder scheiterte, wur-
de allerdings die Möglichkeit zugelassen, der Pflicht zum Schulbe-
such in den Gebäuden der Fabrik selbst nachzukommen. Diese
„Fabrikschulen“ waren daher nicht Schulen für die Fabrik, sondern
nur Schulen in der Fabrik, von den Unternehmern hingenommenes

272
Schule

Übel, Abzug von Arbeitszeit und nicht aus ihrem Interesse an


Qualifikation der Arbeitskräfte begründet.
In dieser Anfangsphase ihrer eigenständigen, das heißt weitge-
hend von feudalen Fesseln befreiten ökonomischen Entwicklung
brauchte die bürgerliche Gesellschaft die Schule als obligatorische
öffentliche Bildungsinstitution nicht. Eher war die Tendenz zu ver-
merken, sie wieder zu begraben, soweit der absolutistische Staat
schon Ansätze für ihre Etablierung hervorgebracht hatte. Auch der
noch halbfeudale preußische Staat des 19. Jahrhunderts verteidigte in
der entscheidenden Phase die Schule nicht deshalb gegen Kapital und
Grundbesitz, weil ihm an ihren Bildungsinhalten besonders gelegen
wäre, sondern weil sie einen Schutz bot gegen die Zerstörung der
physischen Grundlagen seiner Macht – des Heeres.
Dass die bürgerliche Gesellschaft die Schule braucht, erwies sich
gerade nicht in der Zeit, wo sie tatsächlich an die Stelle der alten feu-
dalen Strukturen ihre eigenen neuen Strukturen setzte, insbesondere
ihre neue Produktionsweise durchsetzte, sondern erst dann, als diese
Ablösung praktisch vollzogen war. Sofern also der Übergang von der
feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft etwas Emanzipatorisches hat-
te, so hatte die Schule daran jedenfalls keinen Anteil. Erst gegen Ende
des 19. Jahrhunderts trat der Bedarf der bürgerlichen Gesellschaft an
elementarer Bildung für alle zu Tage, als die kapitalistische Produk-
tionsweise praktisch die gesamte nationale Wirtschaft beherrschte
und die Lebensweise der Gesellschaft insgesamt bürgerlich umge-
wandelt hatte. Dazu gehörte mit der Demokratisierung der Gesell-
schaft auch das allgemeine Bildungsziel der Mündigkeit. Sieht man
von der relativ kurzen Zeit der Weimarer Republik 1918-1933 ab, ist
dieser letzte Schritt zur konsequenten Durchsetzung der bürgerlichen
Gesellschaft und ihrer Schule in Deutschland überhaupt erst gegen
Mitte dieses Jahrhunderts erfolgt. Das heißt: Nahezu hundertfünfzig
Jahre brauchte das deutsche Bürgertum, bis es realisierte, dass seine
Gesellschaftsform die Schule nötig hat.

273
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

13.4 Schule als Irrtum: Illichs radikale Schulkritik


Indem die Schule Bildungsinstitution ist, ist ihr Auftrag zwangsläufig
widersprüchlich bestimmt. Ihre Einrichtung folgt gesellschaftlichen
Reproduktionsinteressen. Um ihres Fortbestandes willen braucht
diese Gesellschaft die Schule. Die Geschichte ihrer Entstehung zeigt,
dass es eine mühsame Angelegenheit war, bis das, was uns heute
selbstverständlich erscheint, tatsächlich durchsetzbar war. Man kann
sagen: Die Bildungs-Not, welche durch die Schule gewendet werden
soll, musste schon ziemlich groß sein, bis diese Gesellschaft bereit
war, ihre konsequente Einrichtung zu akzeptieren.
Als Einrichtung der Gesellschaft ist die Schule an vorgegebene
Funktionen gebunden. Sie soll den Bildungsbedarf der Gesellschaft
decken, der sich nicht nach den Entwicklungsbedürfnissen und -po-
tenzialen der Kinder und Jugendlichen richtet, sondern nach den
Maßgaben der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung.
Was tatsächlich an Bildung gefördert wird, ist daher immer durch die
gesellschaftlichen Bedingungen und Interessen beschränkt. Und
nicht nur dies, nicht nur beschränkt. Die Orientierung an der gesell-
schaftlichen Reproduktion steht auch im Gegensatz zu dem, was mit
dem Bildungsauftrag intendiert ist: der heranwachsende Generation
dabei zu helfen, zu einem freien, kritischen Verhältnis gegenüber den
gesellschaftlichen Gegebenheiten zu finden, um diese aktiv weiter-
entwickeln zu können.
Aus diesem Widerspruch resultiert ein grundsätzlicher Zweifel an
der Schule, wie er in den 70er Jahren im Anschluss an die Studen-
tenbewegung besonders radikal formuliert wurde.
Sie sei eine „Krankheit“ (Rosemann 1976), eine „Lernmaschine“
(Reimer 1972); ihre „Abschaffung“ wurde gefordert (Illich 1971), ihr
„Ende“ (Winkel 1974), ihr „Tod“ gar (Hoechstetter 1975) vorherge-
sagt. Vergleichbar sei sie allenfalls noch mit „Arbeitslagern“ (Illich
1972, S. 27); und als „logische Weiterentwicklung“ seien „vorbeu-
gende Konzentrationslager“ für Kinder mit destruktiven Anlagen

274
Schule

denkbar (Illich 1973, S. 25). Und es frage sich: „Wieviel Schule kön-
nen wir (noch) aushalten?“ (v. Hentig 1971, S. 11)
Diese Kritik richtete sich nicht mehr auf diese oder jene Erschei-
nungsform oder Folgeerscheinung schulischen Lernens. Sie wollte
nicht darauf hinaus, dass die Schule sich bessern solle, sie wollte die
Schule nicht reformieren, sondern stellte diese überhaupt in Frage.
Sie war „radikal“, soweit sie die Schule selbst und nicht etwa Irrtümer
und Fehler derjenigen, die mit Schule zu tun haben, verantwortlich
machte für die „Versklavung“ des kindlichen Geistes im Schulunter-
richt, und enthielt „die Idee einer vollständigen Loslösung von der
Schule“ (v. Hentig 1971, S. 28). So spottete Illich über die „Bil-
dungsreformer, die sich gedrängt fühlen, fast alles zu verdammen,
was das Wesen moderner Schulen ausmacht – und zugleich wieder
neue Schulen vorschlagen“ (Illich 1973, S. 62). Eine bloße Reform
der Schule könne keine Abhilfe bringen, weil nicht irgendwelche än-
derbaren Eigenschaften der Schule, sondern das, was Schule wesent-
lich ausmacht, also die Schule selbst abgeschafft werden müsse, um
eine Bildung zur freien Subjektivität wieder zu ermöglichen. Schule
werde „heute mit Bildung identifiziert, wie einst die Kirche mit Re-
ligion“. (Illich 1972, S. 13) In Wahrheit aber habe „das Schulwesen
die Bildung entwürdigt“, sei „die Schule bildungs und gesellschafts-
feindlich geworden ..., wie zu anderen Zeiten die Kirche antichrist-
lich wurde oder Israel dem Götzendienst verfiel“. (Illich 1972, S. 37)
Illich hatte seine Gedanken nicht mit Blick auf das Bildungswe-
sen in der BRD formuliert. Das von ihm in Cuernavaca (Mexiko) ge-
gründete Institut CIDOC hatte es sich zur Aufgabe gemacht, neue
gesellschaftliche Entwicklungsstrategien vor allem für die latein-
amerikanischen Länder auszuarbeiten. Doch ging er mit der Schule
so grundsätzlich ins Gericht, dass seine schulkritischen Schriften seit
Anfang der 70er Jahre auch bei uns größere Verbreitung fanden. Sei-
ne Analyse der Schule wurde als treffend auch für die Schulwirklich-
keit in den westlichen und östlichen Industrieländern angesehen oder
doch zumindest als anregende Polemik aufgegriffen.

275
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Die Aufgabe, die die Schule sich stellt, nämlich ihre Schüler für
die Bewältigung der gesellschaftlichen Anforderungen zu qualifizie-
ren, wurde von Illich und anderen Schulkritikern keineswegs als sol-
che in Frage gestellt. Aber die Schule sei die absolut falsche Einrich-
tung, sie zu erfüllen. Illichs Mitarbeiter E. Reimer, dessen schul-
kritische Ausführungen ebenfalls auf dem westdeutschen Buchmarkt
erschienen, schrieb:
„Die auf die Schule übertragenen Funktionen der Sozialisation sind tatsächlich not-
wendige Funktionen. Unser genereller Einwand ist der, dass sie von der Institution
Schule schlecht erfüllt werden und dass wir Alternativen zu den Schulen entwickeln
müssen.“ (Reimer 1972, S. 40)
Lernen, das heutigen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht wer-
den solle, müsse sich außerhalb der Institution Schule vollziehen,
welche durch ihren Zwangscharakter die Lernmotivation zerstöre
und daher trotz des ungeheuren Aufwands, den sie betreibe, völlig
uneffektiv sei. Indem sie aber das Lernen monopolisiere und dadurch
den Menschen die Verantwortung für ihre Bildung abnehme, erzeu-
ge sie allgemein ein verantwortungsloses, die eigene Entmündigung
betreibendes Bewusstsein, welches alle wichtigen gesellschaftlichen
Aufgaben und Ziele, alle menschlichen Werte wie „Gesundheit, Ler-
nen, Würde, Unabhängigkeit und schöpferisches Bemühen“ identi-
fiziere mit den „Leistungen der Institutionen, die angeblich diesem
Zweck dienen“ (Illich 1973, S. 17). Resultat sei die „neue Entfrem-
dung“ in einer „verschulten Gesellschaft“ (Illich 1972, S. 27):
„Indem die Schule die Notwendigkeit lehrt, belehrt zu werden, bereitet sie auf die
entfremdende Institutionalisierung des Lebens vor. Haben die Menschen diese Lek-
tion einmal gelernt, so verlieren sie jeden Anreiz, in Unabhängigkeit heranzu-
wachsen; sie ... verschließen sich den Überraschungen, die das Leben bietet, wenn es
nicht durch institutionelle Definition vorausbestimmt wird.“ (Illich 1973, S. 58)
Dass die Schule so ist, wie sie ist, sei keineswegs durch die Gesell-
schaft bedingt. Es sei falsch, „die Schule als eine Variable zu be-
trachten, die von der politischen und wirtschaftlichen Struktur ab-
hängig ist“ (Illich 1973, S. 83). Umgekehrt; wie Reimer es
formuliert:

276
Schule

„... es ist eine ungerechte Welt ... vor allem deshalb ..., weil sie sich aus fehlerhaften
Institutionen zusammensetzt. Diese Institutionen wiederum sind nichts anderes als
die kollektiven Gewohnheiten von Individuen, aber Individuen können schlechte
Gewohnheiten haben, ohne schlechte Menschen zu sein. Im allgemeinen sind die
Menschen sich ihrer Gewohnheiten, und besonders ihrer institutionalisierten Ge-
wohnheiten, gar nicht bewußt. Eine der Thesen dieses Buches lautet, daß die Men-
schen ihre schlechten Gewohnheiten erkennen und ändern können. Dann wäre die
Welt eine bessere Welt ...“ (Reimer 1972, S. 12)
Die Schule, als eine dieser „fehlerhaften Institutionen“, als eine sol-
che, sich besonders verheerend auswirkende „kollektive schlechte Ge-
wohnheit“ sei die Ursache für den entfremdeten Gesellschaftszustand
– nicht umgekehrt. Sie selbst sei nicht etwa in den objektiven gesell-
schaftlichen Bedingungen begründet, sondern beruhe auf einer „Illu-
sion“, derjenigen nämlich, „daß Lernen meistens das Ergebnis von
Unterricht sei“ (Illich 1973, S. 27). Doch ist sie selbst nunmehr Rea-
lität, und ebenso die angeblich von ihr hervorgebrachte entfremdete
Form der Gesellschaft – womit die Schule sich selbst sozusagen die
Gesellschaft geschaffen hat und täglich neu erschafft, auf deren
Grund ihr Existenzberechtigung zukommt.
Die nicht-entfremdete Gesellschaft hingegen, aus deren Perspek-
tive Illich „Alternativen zur Schule“ verlangte – sie existiert nur als
Ziel, als Wunschvorstellung. Wie der kritisierte fehlerhafte Zirkel
von entfremdetem Lernen und entfremdeter Gesellschaft (gleichsam
das Negativ zu Kants Selbstbegründungszirkel der Vernunft) nach Il-
lichs Auffassung nur auf einem Versehen beruht, zufällig ist, wie es
für die Schule keine gesellschaftliche Notwendigkeit geben sollte, so
ist auch nicht auszumachen, aus welcher realen Notwendigkeit her-
aus eine Entschulung Möglichkeit werden könnte. Auch Illich selbst
meinte, die von ihm zur Realisierung „eines neuen Stils von bilden-
den Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt“ (Il-
lich 1973, S. 81) „vorgeschlagenen Bildungseinrichtungen“ sollten
„einer Gesellschaft dienen, die es noch gar nicht gibt“ (Illich 1973, S.
82). Doch ist dies eine tautologische Aussage, soweit die „Gesell-
schaft, die es noch gar nicht gibt“, ja eben nur eine Gesellschaft ist,
„welche die Schule abgeschafft hat“ (Illich 1973, S. 81). An die Stelle

277
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

des fehlerhaften Zirkels von Schule und entfremdeter Gesellschaft


wurde von Illich postulatorisch der richtige Zirkel von neuer Bildung
und neuer Gesellschaft gesetzt. Die neue Gesellschaft brauchte dem-
nach nur subjektiv „neu“ zu sein, denn was sie ausmachen sollte, war,
dass sie von neuem Bewusstsein getragen wird. Ihre Objektivität je-
doch, die sachliche Struktur, mit der die Menschen sich praktisch
auseinanderzusetzen haben, konnte im wesentlichen unverändert
bleiben, wenn von ihr keine systematisch ausgewiesene Notwen-
digkeit für die eine oder andere Form des Lernens ausgeht.
Illichs Schulkritik war keine Kritik an den in der Schule vermittel-
ten Inhalten. Sie war auch keine Gesellschaftskritik. Sie war wirklich
„radikale“ Schulkritik, weil sie in der Schule als Organisationsform
die Wurzel des Übels sah, die es auszureißen gelte. Bildung sollte in
die Verantwortung der Gesellschaftsmitglieder zurückgegeben wer-
den, damit diese selbst wieder frei bestimmen können, wieviel Bil-
dung und was an Bildung sie sich leisten wollen. Ihm schwebte ein
freier Bildungsmarkt vor, der sich nach den Gesetzen von Angebot
und Nachfrage richtete. Dabei war er zuversichtlich, dass die Nach-
frage nach Bildung seitens der Gesellschaftsmitglieder schon das ent-
sprechende Angebot provozieren werde.

13.5 Die Gegenposition: Schule als notwendige


Organisationsform von Bildung
Illichs Thesen fanden Anfang der 70er Jahre in der pädagogischen Li-
teratur großen Widerhall. In der Regel wurde ihm zugestanden, dass
sein Bild der Schule so verzeichnet nicht sei. Ebenso wurde in der Re-
gel jedoch bestritten, dass es zur Schule eine Alternative geben könne.
Durch die mangelnde gesellschaftstheoretische Begründung bot sei-
ne Schulkritik hinreichend Angriffsfläche und erlaubte, die Gegen-
position in kaum besser begründeten Statements über die gesell-
schaftliche Notwendigkeit institutionalisierten Lernens zu beziehen.

278
Schule

„In einer Welt, in der die Beziehungen der Menschen zunehmend durch Technik
und Wissenschaft determiniert werden, sind, wie uns scheint, Schulen als konstitu-
tives Element einer unaufhebbaren Entfremdung zu deuten und zu akzeptieren“.
(Mitter 1975, S. 1018)
Auch Christa Berg gestand der Schule zu, dass sie durch ihren „in-
strumentalen Charakter“ immerhin „den Standard einer Gesell-
schaft“ garantiere und ihre Ablehnung „zur Flucht in reaktionäre In-
dustriefeindlichkeit kulturpessimistischer Provenienz“ gerate. (Berg
1973, S. 453) Überhaupt spielte der Verweis auf Industrialisierung,
technischen Fortschritt und Verwissenschaftlichung aller Lebensbe-
reiche eine Hauptrolle bei der Ablehnung von Illichs Thesen. Aus
den ablehnenden Stellungnahmen sowjetmarxistischer Wissen-
schaftler zu Illich wurde abgelesen, dass die Schule als eine universell
notwendige gesellschaftliche Einrichtung zu betrachten sei. Das
stützte die
„These..., daß Schulen als obligatorische und institutionalisierte Erziehungseinrich-
tungen in einem Zeitalter, in dem die Technik – in ihrer Wechselbeziehung zur Wis-
senschaft einen der wesentlichsten Bedingungsfaktoren darstellt, nicht ersetzbar
sind“ (Mitter 1975, S. 1017).
„Schulen sind so wichtig für die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft,
dass sie nur unter den massivsten politischen Angriffen zerfallen würden“ (Gintis
1974, S. 307).
Illich sah den Weg zur wirklichen und wahrhaften Selbstbestimmung
der Bildung in ihrer konsequenten Privatisierung: Abschaffung der
Schulpflicht; Abschaffung der staatlichen Verantwortlichkeit für die
Schule – das bedeutete Abschaffung der Schule. Was bliebe, wäre die
Bildung; aber jetzt nicht mehr als gesellschaftlicher Auftrag, sondern
als persönliches, individuelles Bedürfnis, das privat befriedigt werden
sollte.
Damit blendete Illich eine wesentliche Bestimmung von Bildung
aus: dass sie als Bildung für eine gegebene gesellschaftliche Realität
sich nicht nur qualifizierend auf diese Realität beziehen muss, son-
dern dass zu ihr auch ihre soziale Vermittlung gehört: die Aus-
handlung dessen, was Menschsein in unserer Gesellschaft für uns be-
deuten soll. Würde Bildung vollständig privatisiert, dann müsste

279
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

auch die Bestimmung dessen, was Menschsein heißen soll, wie wir
zusammen leben wollen, jedem einzelnen privat überlassen werden.
Gesellschaft zerfiele auf der Ebene unseres kulturellen Selbstverständ-
nisses in eine ungeheure Vielzahl unterschiedlichster persönlicher Le-
bensentwürfe.
Was dafür jeweils zu lernen wäre, könnte Bildungsqualität haben,
sofern der einzelne sich dafür entschiede. Aber es gäbe keine gesell-
schaftliche Sorge mehr für Bildung. Bildung würde – wie die Reli-
gion – zur Privatangelegenheit, die man sich leistet oder auch nicht,
an der man Geschmack findet oder auch nicht.
Was würde unter solchen Voraussetzungen aus dem gesellschaftli-
chen Zusammenhang? Woher würde er gestiftet?

13.6 Perspektiven der Schule


Ich denke, dass wir heute ahnen können, welche Alternative zur Bil-
dung sich abzeichnen könnte – und damit auch: welche Alternative
zur Schule. Wenn die gesellschaftliche Entwicklung sich nicht einmal
mehr dem Anspruch nach von den Menschen vorantreiben und in
ihrer Richtung bestimmen lässt, die in dieser Gesellschaft leben,
wenn vielmehr die Dynamik dieser Entwicklung sowohl faktisch als
auch im Bewusstsein der Menschen sich verlagert auf die Technik als
treibende Kraft, dann könnte dies in der Tat ein Ende der Schule als
Bildungsinstitution ankündigen. Es mag dann weiterhin Einrichtun-
gen geben, die diesen Namen tragen; aber sie hätten möglicherweise
eine andere – zum Beispiel eher sozialpädagogische – Aufgabe.
Vom Funktionsverlust der Schule ist ja schon viel die Rede. Und
dieses Reden deutet in die soeben benannte Richtung. Es ist die Auf-
gabe, das für die Zukunft relevante Wissen und die benötigten Fä-
higkeiten zu vermitteln, deren Bewältigung der Schule mehr und
mehr abgesprochen wird. Andere Einrichtungen, die schneller, fle-
xibler und differenzierter auf neue Qualifikationsanforderungen rea-
gieren können, nehmen der Schule mehr und mehr an Bil-
280
Schule

dungsfunktionen ab. Die Schule hastet – anscheinend mit geringer


Aussicht, den Anschluss halten zu können – der von der technischen
Entwicklung vorgegebenen Entwicklung hinterher. Qualifikationen
werden immer schneller entwertet. Die Erstausbildung in der Schule
reicht ohnehin nicht mehr aus, den gesellschaftlichen Anforderungen
ein Leben lang zu genügen. Lebenslanges Lernen ist angesagt; und
darauf ist die Schule nun tatsächlich nicht eingerichtet.
Was Illich im Namen der Bildung als Konsequenz seiner Schul-
kritik formulierte, das beginnt heute anscheinend im Zeichen des
Abdankens von Bildung langsam schon Realität zu werden: die Auf-
lösung der Schule als Bildungsinstitution zugunsten eines sich in er-
sten Anfängen entwickelnden Bildungsmarktes, auf dem private
Nachfrage und privates Angebot zueinander finden und die Inhalte
von Bildung bestimmen.
Dass eine solche Perspektive überhaupt am Zukunftshorizont er-
scheinen kann, deutet auf zweierlei hin: Es deutet erstens darauf hin,
dass der Bildungsauftrag der Schule so wenig im allgemeinen Be-
wusstsein verankert ist, dass seine Aufkündigung gar nicht so recht
wahrgenommen wird. Schule ist eben diesem Auftrag immer nur wi-
dersprüchlich nachgekommen. Und neben wirklichen Bildungs-
erfahrungen hat sie den meisten von uns (und wir gehören ja immer-
hin zu denen, die sich ziemlich erfolgreich durch diese Institution
bewegt haben) auch sehr viele gegenteilige Erfahrungen vermittelt –
ich sprach anfangs davon. Wer eine klammheimliche Freude nicht
leugnen könnte, sähe er seine Schule brennen, wird auch den Funk-
tionsverlust der Schule nicht gerade mit größtem Bedauern zur
Kenntnis nehmen.
Zweitens deutet dies aber auf einen gesellschaftlichen Wider-
spruch hin: dass sich die subjektive Gestaltungskraft von Menschen,
die sich in der Technik und ihrem Fortschritt ja sedimentiert, nur-
mehr in einer objektivistischen, apparathaften, quasi naturwüchsigen
Form zur Geltung bringt; in einer Form, in der die wachsende tech-
nische Macht sich für die Menschen als ihre eigene wachsende Ohn-

281
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

macht, in der sich wachsende technische Kontrolle und Steuerung als


wachsendes Ausgeliefertsein an verselbstständigte Prozesse zeigt.
Das Festhalten am Bildungsauftrag der Schule wäre ein Festhal-
ten an dem Anspruch, die gesellschaftliche Entwicklung nicht
unkontrollierten Kräften zu überlassen, sondern auf sie im humanen
Sinne Einfluss zu nehmen. Es wäre insofern kein bloß pädagogisches
Sonderinteresse, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Interesses
an Bildung. Die Schule müsste sich allerdings ändern. Sie müsste in
ihren Bildungsinhalten die Bedingungen menschlichen Subjektseins
in Gesellschaft klären; sie müsste Ort der Selbstbestimmung und so-
zialen Vermittlung von Bildung sein; und sie müsste ein Lernen
ermöglichen, das gerade angesichts des beschleunigten Veraltens von
anwendungsbezogenen Qualifikationen als allgemeine Bildung le-
benslange Relevanz bewahrt.

282
Vierzehnte Vorlesung
Wert und Liebe

14.1 Kein Liebeslied


14.2 Annäherung
14.3 Sehnsucht nach Einheit
14.4 Pädagogische Verschmelzungsphantasien
14.5 „Thank you for tearing me apart“
14.6 Verschmelzung oder Vermittlung

Musik:
Public Image Limited – Not A Love Song (1983).
Von der EP „This Is Not A Love Song“ (1983)

14.1 Kein Liebeslied


Dies war „not a love song“, kein Liebeslied! Jeder zweite Pop-Song –
mindestens – handelt von der Liebe. Beim deutschen Schlager dürf-
ten es an die hundert Prozent sein. Liebe ist das Thema, das die Men-
schen bewegt, ihre Herzen ergreift. Aber ist es auch das Thema, das
die Köpfe in Anspruch nimmt? Über das mit den strengen Mitteln
des Denkens gehandelt wird? Ist es ein Thema der Wissenschaft?
Die Titel wissenschaftlicher Werke bilden sozusagen den Gegen-
pol zu den Titeln der Pop-Songs, Lieder und Schlager. Liebe kommt
so gut wie gar nicht vor. Was die Menschen im alltäglichen Leben am
meisten bewegt, was sozusagen ein, wenn nicht das Hauptthema im
„normalen“ Leben ist, ist für die Wissenschaften nur ein Randthema,
völlig vernachlässigt. Ein weiterer Beweis für die Lebensferne der

283
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Wissenschaften? Was immer die Wissenschaften sein mögen – auf je-


den Fall sind sie „not a love song“.
Aber ist das nicht ganz selbstverständlich? Liebe ist doch etwas so
Persönliches, so Intimes, dass sie zwar ein allgemeines Thema sein
mag, dass aber andererseits doch auch im Reden darüber, im Be-
singen und Bedichten niemals erreicht werden kann, was sie dem ein-
zelnen Menschen jeweils bedeutet. Die schönsten Liebeslieder, Lie-
besgedichte, Liebesgeschichten sind daher die, welche dem Hörer
oder Leser Raum lassen für seine eigene Vorstellung, seine eigenen
Bilder, seine eigenen Empfindungen und Gefühle, Erinnerungen,
Wünsche und Sehnsüchte. Und wo dieser Raum nicht gegeben wird,
wo Liebe identifiziert wird mit bestimmten Gefühlen, wo sie typisiert
und klassifiziert wird, wo sie bunt ausgemalt wird, da verfehlt das
Lied, das Gedicht, die Geschichte nur zu leicht genau das, was sich
für mich mit Liebe verbindet. Ihre Beschwörung wird zur Stereoty-
pie, zum Klischee, zum Kitsch, zur Schnulze.
Ganz anders wieder, wenn die Wissenschaft sich doch mal diesem
Thema nähert. Auch sie verallgemeinert ja notwendig; aber auf an-
dere Weise und auf anderer Ebene. Wo die Schnulze verallgemeinert,
indem sie ein Klischee in Anspruch nimmt, dessen Gefühlsgeladen-
heit uns eben wegen dieser Klischeehaftigkeit „falsch“ oder gar „ver-
logen“ erscheint, verallgemeinert die Wissenschaft, indem sie das ei-
gene Gefühl ausklammert und es ganz auf die Seite des Objekts, des
Phänomens Liebe, verlagert, also eine ganz strenge Trennung zwi-
schen sich und diesem Gegenstand vollzieht. Das Gefühl wird damit
zu etwas, das nur dem Objekt zukommt, an dem die Wissenschaft
oder der Wissenschaftler aber selbst nicht teilhat. Anders ausge-
drückt: Die Wissenschaft nähert sich dem Phänomen der Liebe ohne
Liebe. Dadurch wird aber durch die Wissenschaft genau das, was Lie-
be subjektiv ausmacht, das Gefühl, ausgeklammert. Indem es objek-
tiviert wird, wird es eliminiert. Die wissenschaftliche Beschreibung
raubt dem Gefühl seine subjektive Erlebensdimension und macht es
damit zu einer objektiv beschreibbaren Eigenschaft oder Verhältnis-

284
Wert und Liebe

bestimmung. Liebe wird zu einer kalten Angelegenheit, wenn wissen-


schaftliche Kälte sich ihrer annimmt. Wie will ich etwas über Liebe
sagen können, wenn ich sie nicht selbst empfinde?
Also: Wissenschaft ist kein Liebeslied, kein Liebesgedicht; und
auch keine Liebesgeschichte. Und so ist es wohl eher gut, dass sie sich
fernhält von diesem Thema.
Oder?
Die Feststellung, dass es wohl besser sei, wenn die Wissenschaft
sich fernhält vom Thema Liebe, begründet sich daraus, dass die Wis-
senschaft von jenem Empfinden und jenen Gefühlen, die mit Liebe
verbunden sind, sich getrennt hält, sich getrennt halten muss um ih-
rer Objektivität willen. Damit stellt sich aber die Frage, wie es über-
haupt mit der Triebkraft gestellt ist, welche in der Wissenschaft
wirkt. Oder anders formuliert: Welche Motive liegen der wissen-
schaftlichen Tätigkeit zugrunde? Und: Sind dies Motive, die ohne
Gefühl auskommen? Was macht die Begeisterung aus, die ein Wis-
senschaftler empfindet, wenn ihm eine neue Einsicht gekommen,
eine Lösung eingefallen ist? Was treibt die Menschen zum wissen-
schaftlichen Engagement?
Wenn wir so fragen, werden wir Antworten erhalten, bei denen
dann doch unversehens die Liebe wieder eine Rolle spielt. Allerdings
nicht in der Bedeutung, von der in Liebesliedern gesungen wird.
„Liebe zur Sache“, „Liebe zur Wahrheit“, „Liebe zum Detail“, „Liebe
zu …“ dieser oder jener Disziplin; gute Wissenschaftler „sind mit
Liebe bei der Sache“ undsoweiter Handelt es sich nur zufällig um das-
selbe Wort? Gibt es Bedeutungsvarianten des Wortes Liebe, die
nichts miteinander zu tun haben?
Unsere heutigen Wissenschaften sind in ihrer geschichtlichen Ge-
nese zum großen Teil aus der „Philosophie“ hervorgegangen. Das
Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie „Liebe“
(= philia) zur Weisheit (= sophia). Die Philosophie verstand sich im
Ursprung als ein von Liebe geleitetes Streben nach Weisheit. Sie ist
nicht die Weisheit; sondern nur die Liebe danach. Die Weisheit ist

285
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

etwas anderes als die Philosophie. Die Menschen haben sie nicht
(mehr). Aber offensichtlich sehnen sie sich danach. Und aus dieser
Sehnsucht heraus treiben sie Philosophie. Laut Duden-Herkunfts-
wörterbuch zeigen Wortzusammensetzungen mit „Philo-“ Bedeu-
tungsnähe zu Liebe und Freundschaft, aber eben auch zu Wissen-
schaft.
Meine These ist, dass alle Wissenschaft – auch heute – von dieser
Sehnsucht getrieben ist. Und dass diese Sehnsucht nicht eine andere
ist als jene Sehnsucht, die sich im Liebeslied ausdrückt.

14.2 Annäherung
Wir sprechen von Liebe jetzt also auf zwei Ebenen: von der Liebe als
Thema (des Lieds, der Wissenschaft) und von der Liebe als Beweg-
grund (des Lieds, der Wissenschaft). Wenn Liebende von ihrer Liebe
sprechen, dann weil sie lieben und dieser ihrer Liebe Ausdruck geben
wollen. Wenn ein Sänger ein Liebeslied singt, dann wird er versu-
chen, auch in seinen Gesang Liebe zu legen, also zugleich seine eigene
Empfindung zum Ausdruck zu bringen. Wenn er aber von der Liebe
singt und wir spüren: Er drückt nicht sich aus, sondern bedient ein
Klischee, dann empfinden wir seinen Gesang als verlogen; dann wird
das Lied zur Schnulze, sein Text zum Kitsch. Wenn die Wissenschaft
von der Liebe spricht, dann – so die übliche Position – nicht, um Lie-
be auszudrücken. Hier scheint klar: Das Thema ist nicht der Beweg-
grund. Dies ist fast so etwas wie eine wissenschaftliche Verhaltens-
norm. Und wenn die durchbrochen wird, dann handelt der oder die
Betreffende sich sehr leicht den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit,
der Gefühlsduselei ein.
Für die Pädagogik als einer Theorie von der Praxis für die Praxis
ist das ein besonderes Problem. Denn sie kann eine solche wohl nur
sein, wenn sie als Theorie die Beweggründe der Praxis – wenn auch
in reflektierter Form – teilt. Hier können wir die beiden Ebenen
nicht so sauber auseinanderhalten.
286
Wert und Liebe

Auf einer Tagung der Kommission Bildungs- und Erziehungs-


philosophie der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft
warf ein Referent in der Diskussion um seinen Vortrag die Frage
nach der Haltung auf, die dem pädagogischen Verhältnis zugrunde
liegt; und wagte es, in diesem Zusammenhang das Wort Liebe zu ge-
brauchen. Es war unübersehbar, dass dies unter den anwesenden Kol-
leginnen und Kollegen großes Unbehagen auslöste; als habe man mit
dem Gebrauch dieses Wortes den Boden der Wissenschaft verlassen
und sich auf das schlüpfrige und nebelverhangene Terrain irrationa-
ler Schwärmerei begeben. Einer der Kollegen äußerte zum Beispiel
klipp und klar, solange von sowas wie Liebe die Rede sei, werde er
sich an der Diskussion nicht beteiligen.
Der Kollege, der das Wort Liebe in die Diskussion einbrachte,
hatte reklamieren wollen, dass die pädagogische Haltung in Praxis
wie Theorie vom selben Motiv geprägt sei. Die Reaktion zeigte, dass
zumindest für die pädagogische Wissenschaft die Erörterung eines
solchen Motivs als jenseits der Diskussionswürdigkeit angesetzt wur-
de. Was zwei mögliche Konsequenzen hat: Entweder für Praxis und
Theorie werden die selben Motive zugrundegelegt (Pädagogik wäre
eine Theorie von der Praxis und für die Praxis), dann darf wie für die
Theorie das Motiv der Liebe auch für die Praxis keine grundsätzliche
Geltung haben. Oder man trennt Theorie und Praxis so voneinan-
der, dass die Theorie nur aus der Distanz und ohne Anteilnahme un-
tersucht, was in der Praxis geschieht (Pädagogik wäre nur eine Theo-
rie von der Praxis). Dann mag Liebe für die Praxis von
entscheidender Bedeutung sein. Die Theorie bliebe, indem sie dies
nüchtern konstatierte, selbst davon unberührt.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal eine Aussage Hegels auf-
greifen, die ich schon in einer früheren Vorlesung zitiert habe, als es
um das Verhältnis der Pädagogik zur Einzigkeit eines Menschen
ging. Hegel sagte:
„In der Schule ... verliert die Unmittelbarkeit des Kindes ihre Geltung; hier wird das-
selbe nur insofern geachtet, als es Wert hat, als es etwas leistet; hier wird es nicht

287
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

mehr bloß geliebt [wie in der Familie], sondern nach allgemeinen Bestimmungen
kritisiert und gerichtet …“ (Werke 10, S. 82).
Hegel nimmt in diesem Zitat eine Gegenüberstellung der Begriffe
Wert und Liebe vor, die ich dann auch für die Thematik der heutigen
Vorlesung aufgegriffen habe. Diese Gegenüberstellung mag auf den
ersten Blick seltsam und unverständlich erscheinen. Heißt Liebe
nicht, dass ein Mensch für einen anderen Menschen „wertvoll“ ist, ja
vielleicht „das Wertvollste“ überhaupt?
Es ist klar, dass Hegel den Begriff des „Werts“ nicht in diesem
höchst persönlichen und intimen Sinne gebraucht. „Wert haben“
wird in Zusammenhang damit gebracht, dass das Kind „etwas leistet“
und dass es in Hinsicht seiner Leistungsfähigkeit „nach allgemeinen
Bestimmungen kritisiert und gerichtet“ wird. Nach allgemeinen,
nicht nach individuellen, persönlichen Bestimmungen!
Es geht also um den „Wert“ eines Menschen, eines Kindes für die
Allgemeinheit, das heißt für die Gesellschaft. Und wenn wir uns
ansehen, was in der Schule geschieht, ist das ja auch höchst plausibel:
Ständig wird dort jedes Kind nach allgemeinen, also für alle in glei-
cher Weise geltenden, Bestimmungen „kritisiert und gerichtet“, be-
urteilt und bewertet. Ob es in dieser Klasse oder auch in dieser Schule
bleiben kann, wielange es dort bleiben kann, was es an Förderung er-
fährt, wieviel Geld die Gesellschaft für es aufwendet, dies alles ist ab-
hängig von seiner Leistung und damit von seinem darin manifestier-
ten und in Zeugnissen bezeugten „Wert“ für die Gesellschaft. Sollte
eine Lehrerin oder sollte ein Lehrer sich von persönlichen Motiven
verleiten lassen, ein Kind nach anderen Maßstäben zu bewerten als
die anderen Kinder, dann mag dies menschlich verständlich sein,
liegt darin aber eine Verfehlung des Amtsauftrags.
In der Tat, es ist, wie Hegel sagt: In der Schule wird das Kind
nicht einfach nur geliebt, wird es nicht einfach angenommen, wie es
ist, und ohne Ansehen seiner Leistungsfähigkeit, ohne Ansehen sei-
nes Werts nach Kräften gefördert und versorgt. Auch in der Familie
ist dies selbstverständlich keineswegs immer der Fall. Hegel will mit
seiner Gegenüberstellung von Familie und Schule auch nicht etwas
288
Wert und Liebe

darüber aussagen, wie es in Familien und Schulen tatsächlich zugeht.


Tatsächlich sind Lehrerinnen und Lehrer ihren Schülerinnen und
Schülern in unterschiedlichster Weise emotional zugetan und in ih-
rem Urteilsvermögen dadurch getrübt. Und tatsächlich werden Kin-
der auch von ihren Eltern hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit be-
wertet und keineswegs nur bedingungslos geliebt. Das weiß Hegel
natürlich auch. Aber wie gesagt, darüber spricht er nicht. Sondern
darüber, welches die gesellschaftliche Aufgabe von Familie und Schu-
le ist und wofür sie der institutionelle Ort sind.
Wenn im Zusammenhang mit Liebe vom „Wert“ einer Person
gesprochen wird, dann in einem anderen Sinne. Dieser „Wert“ ist
nichts, was durch „Bewertung“ und Beurteilung nach allgemein-
gültigen Maßstäben gebildet wird. Nichts, was diesem Menschen
aufgrund einer Prüfung zugemessen wird. Sondern etwas, was der an-
dere Mensch für mich einfach hat als dieser eine und einzige Mensch,
also gerade jenseits allen Messens und Urteilens und Kritisierens.
Weshalb sich Liebe auch nicht begründen lässt; oder einfordern; oder
abstellen.
Wie also sieht es nun mit der Liebe für die Pädagogik aus? Was ist
entscheidend für Erziehung und Bildung? Wert oder Liebe?

14.3 Sehnsucht nach Einheit


„Der Mensch wird als Suche geboren. … Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose; aber
der Mensch hat tausendundeine Möglichkeit. Ein Mensch kann ein Judas sein, ein
Mensch kann ein Jesus sein. … Das Leben ist eine Suche, ein Forschen, ein Forschen
danach, wie man total, wie man ganz ist. Das ist die Würde des Menschen, das ist
seine Einzigartigkeit: weil er nicht vollständig ist, kann er wachsen; weil er noch
nicht ganz ist, kann er blühen, kann er lernen, kann er wer den. Der Mensch wächst,
entwickelt sich. Der Mensch ist eine Suche. Der Mensch ist kein Sein, sondern ein
Werden, ein Forschen. Das ist seine Schönheit, seine Herrlichkeit – ein Geschenk
Gottes.“ (Osho)

Das Zitat stammt von Osho, früher genannt Bhagwan Shree Raj-
neesh. Es sagt: Die menschliche Existenz ist nicht als in sich ruhendes

289
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Sein, sondern nur als Werden zu begreifen. Dieses Werden ist nicht
gleichbedeutend mit dem Werden in der Natur, das die Griechen mit
dem Wort genesis bezeichnet haben. Das Werden der Natur ist kein
Suchen. Natur ist das Ganze. Und ihr Werden ist die Entwicklung
des Ganzen, nicht aber die Entwicklung hin zu einem Ganzen.
Aber dies Ganze ist auch keine freie Konstruktion. Die Menschen
können ihr Menschsein nicht einfach frei entwerfen und dann her-
stellen, als ob es keine Bindungen gäbe, denen der Entwurf des
Menschseins entsprechen muss, wie dies in Utopien einer vollstän-
digen technischen Emanzipation von der Natur halluziniert wird
(Künstliche Intelligenz als „postbiologische Stufe der Evolution“;
Künstliches Leben aus der Retorte oder im Computer). Das Ganze,
Heile menschlicher Existenz, nach dem das Menschsein Suche ist,
könnte nur dann die freie Konstruktion sein, wenn aus diesem Gan-
zen die Leiblichkeit und damit die Einbindung der Menschen in eine
materielle Welt ausgeschlossen, das heißt die menschliche Existenz
vollständig in die Virtualität reiner kognitiver Strukturen aufgehoben
würde.
Die Suche nach dem Ganzen ist daher für das leibliche Wesen
Mensch immer auch gebunden an die Zugehörigkeit zu einer mate-
riellen Welt. Der einzelne Mensch kann allein für sich nicht existie-
ren. Er benötigt die Verbindung zu anderen Menschen und vermit-
telt darüber zur äußeren Welt insgesamt. Ganzwerden heißt Einswer-
den mit den anderen Menschen und der Welt: ganz aufgenommen
werden und im Ganzen aufgenommen werden: Trennungen und
Spaltungen überwinden, Wunden heilen, vom Leiden erlöst werden,
allgemeine Brüderlichkeit.
Woher kommt dieses Sehnen?
Der immer wieder zitierte Winnicott spricht von einer angebore-
nen Tendenz des Menschen zur Integration. Er nimmt an, dass dieses
Sehnen nach Ganzheit in der menschlichen Natur angelegt ist, als ein
ursprüngliches, spontanes Vereinigungsbegehren, das sich auf die
Welt richtet – welche am Lebensanfang sich darstellt als „das Objekt“

290
Wert und Liebe

beziehungsweise „das gute Objekt“, die Mutter oder die Person, die
ihre Stelle vertritt. Dieses Begehren bedarf der Resonanz: Die Welt
kommt auch ihrerseits dem Kind entgegen, nimmt seine Impulse auf
und gibt sie ihm in einer Form zurück, in der sie das Kind einholen
in diese Welt.
Das Kind wird dabei keineswegs in eine festgefügte bestehende
Weltordnung einfach eingepasst. Es wird vielmehr einem Strom ge-
schichtlichen Werdens eingegliedert, in dem sich die Suche der
Menschheit nach einer ihr gemäßen (menschenwürdigen) Welt aus-
drückt. Jeder einzelne Mensch trägt seinen einzigartigen Beitrag dazu
bei. Und jeder einzelne Mensch ist ein Anspruch an die Welt, so zu
sein, dass er in ihr ganz aufgehoben sein kann.
Der Anspruch, von dem ich spreche und der sich mit dem ur-
sprünglichen, spontanen Integrationsbegehren des Kindes verbindet,
ist nicht ein ausgedachtes oder willkürlich bestimmes Sollen. Er kann
nicht einfach gesetzt werden. Vielmehr findet jeder Mensch sich in
ihm immer schon vor, insofern er leiblich auf diese Welt kommt.
Dem menschlichen Leib ist ein Sollens-Anspruch an die Welt inhä-
rent, den ich in der Vorlesung über „Leiblichkeit und Vernunft“ als
„Paradiessehnsucht“ des Leibes bezeichnet habe. Darin wirkt eine
Idee von Natur, die aus der Natur kommt und doch auch über ihren
je gegebenen Zustand hinausweist, indem sie niemals in ihr das volle
Genügen hat. Der menschliche Leib findet sich außer in Momenten
der Ekstase niemals in vollständiger Einheit und Harmonie mit der
Welt, sondern immer auch als ein von dieser Welt mit Schmerz,
Krankheit und Tod bedrohtes Lebewesen.
So wird die leibliche Idee einer vollkommen menschenwürdigen
Natur (des Paradieses auf Erden) umgesetzt in die Bearbeitung der
Natur, ihre allmähliche Umwandlung in eine menschengemäßere
Umwelt. Die dem Leib inhärente Idee, sein Vermittlungsbegehren
müssen hierfür durch Bildung sozusagen ans Licht geholt werden,
bewusst gemacht und in Handlungsziele umgesetzt werden, ohne

291
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

dass dies letztlich doch so gelingen könnte, dass aus ihr ein techni-
sches Projekt zu werden vermag. Die Sehnsucht bleibt unstillbar.
Sie mag sich als eine Sehnsucht „Zurück zur Natur“ darstellen; als
eine Art Regression auf einen hypothetischen ursprünglichen Na-
turzustand der Menschheit, in dem sie noch in vollkommener Ein-
heit mit der Natur lebte. Einen solchen Zustand hat es nie gegeben.
Das Menschsein beginnt mit der Trennung in der Einheit. Es kommt
aus der Natur und bleibt in der Natur; aber in der Natur als einer
durch das Naturgeschöpf Mensch zu verändernden Natur. Die Ein-
heit liegt nur in der Zukunft. Deshalb ist die Sehnsucht nach ihr
grundsätzlich nicht rückwärtsgewandt, sondern auf ein Fortschrei-
ten, nicht auf Regression, sondern auf Progression gerichtet. Die Ein-
heit ist Utopie.
Liebe ist diese unstillbare Sehnsucht. Als Begehren des anderen
Menschen ebenso wie als Wunsch nach Versenkung in die innere
Natur. Und auch die geistige Tätigkeit ist von ihr motiviert: Durch
das Denken sollen die Möglichkeiten einer vollkommen menschen-
gerechten Welt erschlossen werden. Und im Denken wird die Welt
als geistig durchdrungene, als Begriff und Theorie dem Denken
selbst als wesensgleich anverwandelt. Im Erkennen stellt das Denken
zumindest in der Sphäre des Geistes die ersehnte Einheit mit dem
Gegenstand her – wenn es vergißt, dass der Begriff doch immer noch
auf etwas anderes, Nicht-Geistiges verweist, dem der Denkende als
leibliches Wesen selbst zugehört.

14.4 Pädagogische Verschmelzungsphantasien


Wie ist Einheit denkbar? Wie könnte sie herstellbar oder erreichbar
sein?
Wir können eine (unvollständige) Reihe verschiedener Möglich-
keiten ablesen an dem, was wir mit „totaler Liebe“ assoziieren:
Sich den andern einverleiben („zum Fressen gern haben“),
totaler Besitzanspruch (Eifersucht),
292
Wert und Liebe

sich in Liebe verzehren,


sich hingeben, sich aufopfern.
Diese Formen der Verschmelzung lassen die Differenz zwischen
dem Liebenden und dem Geliebten verschwinden, indem die eine
Seite in der anderen aufgehoben wird; entweder durch Selbstaufgabe,
Selbstverleugnung des Liebenden zugunsten des Geliebten; oder
durch die völlige Aneignung des Geliebten an den Liebenden, welche
mit dessen Auslöschung als eines Wesens mit eigenem Sinn verbun-
den ist.
Wir finden diese Formen wieder in charakteristischen pädagogi-
schen Verschmelzungsphantasien:
Eltern wollen, dass ihre Kinder das Leben der Eltern über deren
Tod hinaus fortsetzen. Die Erwachsengeneration verlangt, dass die
nachwachsende Generation ihr Kulturerbe unverändert übernimmt
und weitergibt.
Eltern formen ihre Kinder nach ihrem Ebenbilde. Kinder sollen
nichts sein, als was die Erwachsenen aus ihnen machen.
Eltern geben ihr eigenes Leben auf und opfern sich ganz ihren
Kindern. PädagogInnenen gehen total in ihrem Beruf auf.
Kinder und Jugendliche sollen sich der bestehenden Ordnung
restlos einfügen und ihre fremdartigen, störenden „Eigenarten“ able-
gen, ihren Eigensinn aufgeben.
Die Pädagogik wünscht sich, dass es neben ihr keine anderen Er-
zieher (Medien, Gleichaltrige) gibt.
Pädagogik plant die völlige „Abschaffung des Dunkels“ (Peter
Høeg): Die gesamte kindliche Existenz soll für die PädagogInnen
transparent werden; alles soll ins Licht des pädagogischen Blicks ge-
rückt werden. Die pädagogische Kontrolle duldet keine unein-
sehbaren Winkel. Das Kind ist eindeutig zu identifizieren.
Wir sehen an diesen Beispielen unschwer, dass Liebe etwas Ge-
fährliches sein kann; sozusagen tödlich für einen der beiden, den Lie-
benden oder den Geliebten. In der Pädagogik überwiegt wohl das

293
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Phänomen, dass der Geliebte dran glauben muss und sozusagen zu


Tode geliebt wird.

Musik:
Sinnead O‘Connor – Thank You (1994).
Vom Album „Universal Mother“ (1994)

14.5 „Thank you for tearing me apart“


Thank you for hearing me
Thank you for loving me
Thank you for seeing me
And for not leaving me
Thank you for staying with me
Thank you for not hurting me
You are gentle with me.
Thanks for silence with me
Thank you for holding me
And saying I could be
Thank you for saying Baby
Thank you for holding me
Thank you for helping me
Thank you for breaking my heart
Thank you for tearing me apart
Now I‘ve a strong strong heart
Thank you for breaking my heart.

Der Song ist vom Album „Universal Mother“, das Sinnead O‘Con-
nor aufgenommen hat in einer Zeit, in der sie sich mit ihrer eigenen
Mutterschaft intensiv auseinandersetzen musste. Das Album ist stark
geprägt von diesem Thema. Ich vermutete erst, dass dieser Song ihrer
eigenen Mutter gewidmet ist, ein Liebeslied als Dankeslied für emp-
fangene Liebe. Aber dann las ich, dass sie in ihrer Kindheit unter ei-
ner sehr gewalttätigen Mutter zu leiden hatte. Es ist also an jemand
anderen gerichtet. Wie ich inzwischen herausgefunden habe: an Peter
Gabriel, mit dem sie einige Jahre eine Liebesbeziehung hatte, die aber
nicht lange vor der Zeit, als sie diesen Song schrieb, zerbrochen war.

294
Wert und Liebe

Der Dank gilt jemandem, der ihr das gegeben hat, was sie sich si-
cher von ihrer Mutter ersehnt hätte; jemandem, der zugehört hat, der
sie wirklich gesehen, also wahrgenommen hat, der sie nicht im Stich
gelassen hat, der mit ihr ausgeharrt hat, der ihr nicht weh getan hat;
der sanft und zart zu ihr war; jemandem, der mit ihr schweigen konn-
te, der sie gehalten und nicht fallengelassen hat, der sie hat sein lassen,
ihr geholfen hat.
Und dann folgen merkwürdige Zeilen:
Danke, dass Du mir das Herz gebrochen hast;
danke, dass du mich auseinandergerissen hast.
Jetzt habe ich ein starkes starkes Herz.
Danke, dass Du mir das Herz gebrochen hast.
Nicht verschmelzen; nicht eins werden – sondern: zerbrechen,
auseinanderreißen. Und dafür Dank? In einem Liebeslied? Als Dank
für empfangene Liebe?
Hier wird von einer Liebe gesprochen, welche durch die Tren-
nung geht und sie übersteht, an ihr wächst, ohne sie rückgängig ma-
chen zu wollen. Wenn dieses Lied wirklich, wie ich erst vermutet hat-
te, an die Mutter gerichtet wäre, könnten wir dies verstehen: Die
Trennung des Kindes von den Eltern ist notwendig um seiner selbst
willen; Eltern müssen diese Trennung nicht nur ertragen oder hin-
nehmen, sie müssen sogar auf sie hinarbeiten, aus Liebe zu ihrem
Kind. Dann zerstört die Trennung von Eltern und Kind nicht ihre
Liebe, sondern lässt sie wachsen. Doch sind diese Zeilen eben nicht
auf das Eltern-Kind-Verhältnis bezogen. Sie meinen eine allgemeine-
re Erfahrung der Liebe. In ihnen ist ein Widersprechen; ein Wider-
sprechen gegen die Absolutheit des schmerzhaft enttäuschten Ver-
schmelzungsbegehrens, gegen den Totalitätsanspruch des Eins-Seins.
In ihnen wird der Durchgang durch die Trennung nicht als Wider-
spruch gegen die Liebe, sondern als einer ihrer wesentlichen Wege
angesprochen. In der Trennung bewährt sich Liebe.
Grundsätzlich gilt dies auch für die Pädagogik und ihre Motive.
Das Festhalten an der Identität und am Versuch ihrer pädagogischen

295
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Herstellung ist Ausdruck einer Liebe, welche den Andern in seinem


Eigensinn, seiner Einzigkeit, seiner Fremdheit nicht „sein lassen“
kann und deshalb gewaltsame, zerstörerische Züge bekommt. Sol-
cher Liebe fehlt mit der Fähigkeit zur Distanz die Achtung des angeb-
lich geliebten Menschen. Sie „verzehrt“.

14.6 Verschmelzung oder Vermittlung


Verschmelzung ist das Aufgehen in der Einheit, die Auslöschung aller
Differenz zwischen Liebendem und Geliebtem. Sie macht Vermitt-
lung überflüssig. Denn Vermittlung setzt die Differenz voraus.
Ich hatte vorhin Formen „totaler Liebe“ angesprochen, mit wel-
chen sich diese Vorstellung von Verschmelzung verbindet. Und ich
hatte gesagt, dass dies eine gefährliche Vorstellung sein könne, wenn
sie pädagogisch wird. Weil sie dem Kind, dem diese Liebe gelten soll,
sein Leben nimmt. (Denken Sie an die Schwarze Pädagogik, die sich
ja ebenfalls damit rechtfertigte, aus Liebe zu handeln.)
Wir verbinden mit Liebe aber gewöhnlich auch noch anderes,
zum Beispiel:
für den andern da sein,
bedingungslos annehmen,
achten, respektieren, anerkennen,
umsorgen, pflegen, schützen,
begleiten, helfen, unterstützen, fördern.
In diesen Vorstellungen wird der Andere als eigene Person respek-
tiert, und sofern der Liebende sich in diesem Anerkennen nicht selbst
aufgibt, ist die Aufrechterhaltung einer Differenz zwischen Lieben-
dem und Geliebtem enthalten. Wirkliche Anerkennung kann es auch
nur durch eine eigenständige Person geben, nicht aber durch einen
Menschen, der sich selbst aufgibt.
Die Formen der Liebe, die hier genannt wurden, erscheinen ge-
genüber den Formen der „totalen Liebe“ möglicherweise als „schwä-
cher“. Sie erscheinen als „schwächer“, weil sie gebrochen erscheinen,
296
Wert und Liebe

in sich durch zwei widerstreitende Momente gleichsam gehemmt.


Das verzehrende Moment wird durch das Moment der Anerkennung
der Differenz und Eigenheit gehemmt; das Moment der Selbstaufop-
ferung durch die Distanzierung, welche in der Anerkennung auch
liegt. In dieser Hemmung liegt jene „Zurückhaltung“, von der im
Zusammenhang mit den Themen Technik und Potentieller Raum
(Spiel) die Rede war und die alles andere ist als Gleichgültigkeit und
Abwendung. Sie ist eine Vernunft, aus der Liebe spricht. In dieser
„liebevollen“ Vernunft ist Vermittlungsfähigkeit begründet. Sie hätte
auch einer pädagogischen Theoriebildung zugrundezuliegen. Der
russische Neurophysiologe Alexander Lurija forderte dies sogar für
naturwissenschaftlich orientierte Disziplinen. Er propagiert eine „ro-
mantische Wissenschaft“:
„Der klassische Wissenschaftler zerlegt Ereignisse in ihre Bestandteile. Schritt für
Schritt nimmt er sich wesentliche Einheiten und Elemente vor, bis er schließlich all-
gemeine Gesetze formulieren kann. Dann betrachtet er diese Gesetze als Agenzien,
die den Erscheinungen im untersuchten Bereich zugrunde liegen. Diese Methode
führt unter anderem dazu, daß die lebendige Wirklichkeit in ihrer reichen Vielfalt
auf abstrakte Schemata reduziert wird. Die Eigenarten des lebendigen Ganzen gehen
verloren, ein Vorgang, der Goethe zu seinem beruhmten Satz «Grau, teurer Freund,
ist alle Theorie, und grün des Lebens goldener Baum» führte.
Der romantische Wissenschaftler läßt sich von genau entgegengesetzten Interes-
sen, Einstellungen und Vorgehensweisen leiten. Er folgt nicht dem Weg des Reduk-
tionismus, jener maßgeblichen Philosophie der klassischen Schule. Romantiker in
der Wissenschaft haben weder das Bedürfnis, die lebendige Wirklichkeit in elemen-
tare Komponenten aufzuspalten, noch wollen sie den Reichtum der konkreten Le-
bensprozesse in abstrakten Modellen darstellen, die die Phänomene ihrer Eigenhei-
ten entkleiden. Ihre wichtigste Aufgabe sehen sie darin, den Reichtum der
Lebenswelt zu bewahren, und sie erstreben eine Wissenschaft, die sich dieses Reich-
tums annimmt.“ (Lurija 1993, S. 177)
Die Hemmung und Zurückhaltung einer gleichwohl dem mensch-
lichen Reichtum zugewandten „liebevollen Vernunft“ ist auch im
Wort Sehnsucht enthalten. Sehnsucht ist nicht das alles verzehrende
Feuer. Sie hält die Spannung zur Nicht-Erfüllung des vollen Eins-
seins aus, ohne das Begehren aufzugeben. So enthält sie auch ein me-
lancholisches Moment; ein Moment der Trauer über die Vergeblich-
keit des Sehnens. Der Schmerz des Getrenntseins bleibt in sie immer
eingelassen. „Totale Liebe“ dagegen, der die Erfüllung versagt wird,

297
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

schlägt um in Wut und Vernichtungswillen beziehungsweise in Ver-


zweiflung. Deren mildere Formen, das Dauer-Gezeter über die Schü-
ler oder „die Jugend von heute“, den Selbsthass und die Resignation
ausgebrannter Pädagoginnen und Pädagogen, kennen wir alle: ent-
täuschte Liebe.
Was hat dies mit der Gegenüberstellung von Liebe und Wert zu
tun?
Im (gesellschaftlich bestimmten) Wert erfährt nur das an einer Sa-
che oder eben auch an einem Menschen Würdigung und Anerken-
nung (Geltung), was in seiner Existenz rückführbar ist auf menschli-
che Subjektivität. Am reinsten kommt dieser Wertbegriff im ökono-
mischen Wert zum Ausdruck, den eine Sache nur hat, soweit in ihre
Herstellung menschliche Arbeit eingegangen ist, soweit sie also ge-
macht, nicht geworden ist. Wert heißt insofern, dass am Gegenstand
oder am gegenüberstehenden Mensch dessen Differenz zu meiner ei-
genen Subjektivität ausgelöscht, dass er mir anverwandelt ist. Bewer-
tung verstehen wir entsprechend nicht als einen Vorgang der Aner-
kennung, sondern als Akt der Wert-Zumessung. So hatte - Sie erin-
nern sich – auch Hegel Wertung und Liebe unterschieden.
Martin Heidegger hat den Akt des Wertens gar als „nihilistisch“
bezeichnet:
Es gelte „einzusehen, daß eben durch die Kennzeichnung von etwas als ‚Wert‘ das so
Gewertete seiner Würde beraubt wird. Das besagt: durch die Einschätzung von et-
was als Wert wird das Gewertete nur als Gegenstand für die Schätzung des Men-
schen zugelassen. Aber das, was etwas in seinem Sein ist, erschöpft sich nicht in sei-
ner Gegenständigkeit, vollends dann nicht, wenn die Gegenständlichkeit den
Charakter des Wertes hat. Alles Werten ist, auch wo es positiv wertet, eine Subjek-
tivierung. Es läßt das Seiende nicht: sein, sondern das Werten läßt das Seiende ledig-
lich als Objekt seines Tuns – gelten.“ (Heidegger 1946, 349)
Vermittlung lässt die Differenz bestehen, ohne den Versuch der Ei-
nigung aufzugeben. Aus Vermittlung geht keine unterschiedslose
Identität und Einheit hervor, sondern eine Vereinigung des Unter-
schiedenen, eine Verbindung der Einzigen zu einem sozialen Soli-
daritätszusammenhang. Vermittlung schließt Anerkennung und Re-
spekt und Distanz ein. In der Vermittlung, nicht in der Ver-

298
Wert und Liebe

schmelzung, erschließt sich der Reichtum der einzigartigen


Individualitäten als sozialer Reichtum.
Auch das pädagogische Vermittlungsbemühen zwischen den
Generationen, zwischen Eigensinn und sozialem Sinn, zwischen
Selbst- und Fremdbestimmung, zwischen Individuum und Gesell-
schaft, zwischen Natur und Vernunft, kann misslingen, niemals aber
wirklich scheitern. Die Vermittlungsaufgabe ist ohnehin unab-
schließbar. Sie überdauert jedes Misslingen. „Niemals aufgeben“,
lautet die pädagogische Forderung. Aber auch niemals vergessen, dass
jeder Vermittlungsversuch unüberschreitbare Grenzen hat; Grenzen,
welche durch die Bewahrung dessen gezogen sind, was Winnicott als
eine Art „inneres Heiligtum“ eines jeden Menschen ansieht:
„Im Zentrum jeder Person ist ein Element des ‚incommunicado‘, das heilig und
höchst bewahrenswert ist. ... ich glaube, daß dieser Kern niemals mit der Welt wahr-
genommener Objekte kommuniziert, und daß der Einzelmensch weiß, daß dieser
Kern niemals mit der äußeren Realität kommunizieren oder von ihr beeinflußt wer-
den darf. ... Wenn auch gesunde Menschen kommunizieren und es genießen, so ist
doch die andere Tatsache ebenso wahr, daß jedes Individuum ein Isolierter ist, in
ständiger NichtKommunikation, ständig unbekannt, tatsächlich ungefunden.“
(Winnicott 1974, S. 245)

299
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

300
Literaturhinweise

In den Vorlesungen erwähnte oder zitierte Literatur


Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1966
Anderson, Perry: Die Entstehung des absolutistischen Staates. Frank-
furt a.M. 1979
Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München-Zü-
rich 1981
Berg, Christa: Ivan Illich – Entschulung von Gesellschaft und Erzie-
hung. In: Pädagogische Rundschau 1973. S. 436ff.
Bernfeld, Siegfried: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (1924).
Frankfurt a.M. 1967
Bettelheim, Bruno: Liebe allein genügt nicht. Die Erziehung emotio-
nal gestörter Kinder. Stuttgart 1970
Bodenmann-Ritter, Clara (Hg.): Joseph Beuys. Jeder Mensch ist ein
Künstler. Gespräche auf der documenta 5/1972. Frankfurt a.M.
1975
Boenicke, Rose: Bildung, absoluter Durchgangspunkt. H.J. Hey-
dorns Begründung einer kritischen Bildungstheorie. Weinheim
2000 (zugl. Habilitationsschrift TU Darmstadt 1998)
Böhme, Gernot: Leib: Die Natur, die wir selbst sind. In: ders.: Na-
türlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Re-
produzierbarkeit. Frankfurt a.M. 1992. 7793
Böhme, Hartmut/Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft. Zur
Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants.
Frankfurt a.M. 1985
Braunmühl, Ekkehart v.: Antipädagogik. Studien zur Abschaffung
der Erziehung. Weinheim-Basel 1975
Büttner, Jean-Martin: Sänger, Songs und triebhafte Rede. Rock als
Erzählweise. Frankfurt a.M. 1997

301
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Durkheim, Emile: Erziehung, Moral und Gesellschaft. Frankfurt


a.M. 1984
Euler, Peter: Technologie und Urteilskraft. Zur Neufassung des Bil-
dungsbegriffs. Weinheim 1999 (zugl. Habilitationsschrift Darm-
stadt 1998)
Flitner, Andreas: Konrad, sprach die Frau Mama ... Über Erziehung
und Nicht-Erziehung. Erw. Neuausg. München-Zürich 1985
Gehlen, Arnold: Anthropologische Forschung. Frankfurt a.M. 1961
Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Frankfurt a.M.
1957
Gintis, Herbert: Zu einer politischen Ökonomie der Erziehung. Eine
radikale Kritik an Ivan Illichs „Entschulung der Gesellschaft“. In:
M. Tohidipur (Hg.): Politische Ökonomie des Bildungswesens.
Weinheim 1974. S. 280ff.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften Bd. III. In: Werke, hg. v. E. Moldenhauer u.
K.M. Michel. Bd. 10. Frankfurt a.M. 1970.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des
Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse.
In: Werke, hg. v. E. Moldenhauer u. K.M. Michel. Bd. 7. Frank-
furt a.M. 1970.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Gymnasialreden. In: Werke, hg. v.
E. Moldenhauer u. K.M. Michel. Bd. 4. Frankfurt a.M. 1970.
305ff.
Heidegger, Martin: Brief über den Humanismus (1946). In: Weg-
marken. Gesamtausgabe Bd. 9. 313-364
Hentig, Hartmut v.: Cuernavaca oder: Alternativen zur Schule?
Stuttgart-München 1971
Heydorn, Heinz-Joachim: Über den Widerspruch von Bildung und
Herrschaft. Frankfurt a.M. 1970
Heydorn, Heinz-Joachim: Zu einer Neufassung des Bildungsbe-
griffs. Frankfurt a.M. 1972

302
Literatur

Hoechstetter, W.K.: Der Tod der Schule oder die Selbstbefreiung


der Belehrten. Starnberg 1975
Høeg, Peter: Der Plan von der Abschaffung des Dunkels. München-
Wien 1995 (dän. Orig. 1993)
Hofstadter, Douglas R.: Gödel – Escher – Bach. ein Endloses Ge-
flochtenes Band. Stuttgart 1987 (engl. Orig. 1979)
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der
Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792). In: ders.: Werke in
fünf Bänden. Bd. I. Darmstadt 1960. 56-233
Illich, Ivan: Die Entschulung der Gesellschaft. Entwurf eines demo-
kratischen Bildungssystems. Reinbek 1973
Illich, Ivan: Plädoyer für die Abschaffung der Schule. In: Kursbuch
24 (1971), S. 1ff.
Illich, Ivan: Schulen helfen nicht. Über das mythenbildende Ritual
der Industriegesellschaft. Reinbek 1972
Kant, Immanuel: Über Pädagogik (1803). In: Werke in zehn Bän-
den. Hg. W. Weischedel. Bd. 10. Darmstadt 1968. 693-761
Koneffke, Gernot: Integration und Subversion. Zur Funktion des
Bildungswesens in der spätkapitalistischen Gesellschaft. In: Das
Argument Bd. 54 (1969). 389-430
Laing, Ronald D.: Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über
geistige Gesundheit und Wahnsinn. München 1987 (engl. Orig.
1960)
Leboyer, Frederick: Geburt ohne Gewalt. München 1981
Lurija, Alexander: Romantische Wissenschaft. Frankfurt a.M. 1993
Mahler, Margaret S./Pine, Fred/Bergman, Anni: Die psychische Ge-
burt des Menschen. Symbiose und Individuation. Frankfurt a.M.
1980 (engl. Orig. 1975)
Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Roh-
entwurf) 1857-1858. Nachdruck der 1939 und 1941 in Moskau
erschienenen Ausgabe. Frankfurt a.M. o.J.
Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie. Bd. III:
Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion. Hg. v. Fried-

303
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

rich Engels 1894. Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 25. Berlin


1959
Marx, Karl: Die deutsche Ideologie (1846). In: Marx-Engels-Werke
(MEW) Bd. 3. Berlin 1973
Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jah-
re 1844. In: Marx-Engels-Werke (MEW) Ergänzungsband I. Ber-
lin 1973. 465-588
Mead, George Herbert: Sozialpsychologie. Hg. A. Strauss. Neuwied-
Berlin 1969
Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Ber-
lin 1966
Meyer-Drawe, Käte: Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische
Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität.
München 1984
Michael, Berthold/Schepp, Heinz-Hermann (Hg.): Politik und
Schule von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Bd.
1. Frankfurt a.M. 1973
Miller, Alice: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach
dem wahren Selbst. Frankfurt a.M. 1979
Minsky, Marvin: Mentopolis. Stuttgart 1990
Mitter, Wolfgang: Aspekte des Verhältnisses zwischen Entschulungs-
theorie und marxistischer Pädagogik. In: Pädagogische Rund-
schau 1975. S. 1005ff.
Montessori, Maria: Kinder sind anders. Stuttgart 1952
Oelkers, Jürgen: Ist Antipädagogik möglich? In: Westermanns Päd-
agogische Beiträge 1983. S. 543ff.
Reimer, Everett: Schafft die Schule ab! Befreiung aus der Lernma-
schine. Reinbek 1972
Rosemann, Hermann: Kinder im Schulstreß. Die Krankheit, die
Schule heißt. Berlin 1976
Rutschky, Katharina (Hg.): Schwarze Pädagogik. Berlin 1977
Schoenebeck, Hubertus v.: Antipädagogik im Dialog. Weinheim-
Basel 1985

304
Literatur

Sesink, Werner: Bildung ohne Pädagogik? Eine bildungstheoretische


Auseinandersetzung mit der Antipädagogik und ihrer pädagogi-
schen Kritik. Wuppertal 1989 (Arbeitspapiere des FB Wirt-
schaftswissenschaft der Gesamthochschule; 128)
Sesink, Werner: Der Eigensinn des Lernens. Die Dialektik der
menschlichen Natur und ihr Bildungsschicksal in Familie, Schu-
le, Arbeit und Staat. Weinheim 1990
Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschrei-
ben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt a.M.
1999
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum. Stuttgart 1972 (Erst-
ersch. 1844)
Winkel, Rainer: Das Ende der Schule oder: Alternativprogramme im
Spätkapitalismus. München 1974
Winkler, Michael: Stichworte zur Antipädagogik. Stuttgart 1982
Winkler, Michael: Über das Pädagogische an der Antipädagogik. In:
Zeitschrift für Pädagogik 1985. S. 65ff.
Winnicott, David Woods: Der Anfang ist unsere Heimat. Essays zur
gesellschaftlichen Entwicklung des Individuums. Stuttgart 1990
(engl. Original 1986)
Winnicott, David Woods: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt.
Frankfurt a.M. 1984 (engl. Orig. 1965)
Winnicott, David Woods: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1974
(engl. Orig. 1971)

305
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Ergänzende Literaturhinweise
zur Einführung in die Pädagogik
Einführungen
Giesecke, Hermann: Einführung in die Pädagogik. Weinheim-Mün-
chen 1991
Gudjons, Herbert: Pädagogisches Grundwissen. 5. Aufl. Bad Heil-
brunn 1997
Kaiser, Armin/Kaiser, Ruth: Studienbuch Pädagogik. 10. Aufl.
Frankfurt a.M. 2001
Lassahn, Rudolf: Einführung in die Pädagogik. 7. Aufl. Heidelberg
1995
Lenzen, Dieter (Hg.): Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Rein-
bek 1994

Geschichte der Pädagogik


Ballauff, Theodor/Klaus Schaller: Pädagogik. Eine Geschichte der
Bildung und Erziehung. 3 Bde. FreiburgMünchen 1969, 1970,
1973
Blankertz, Herwig: Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung
bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982
Dietrich, Theodor: Geschichte der Pädagogik in Beispielen. 18.-20.
Jahrhundert. Bad Heilbrunn 1970
Harney, Klaus/Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): Einführung in die
Geschichte von Erziehungswissenschaft und Erziehungswirk-
lichkeit. Opladen 1997
Menck, Peter: Geschichte der Erziehung. Donauwörth 1993
Reble, A.: Geschichte der Pädagogik. Stuttgart 1971
Tenorth, Heinz-Elmar: Geschichte der Erziehung. 2. Aufl. Wein-
heim-München 1992

306
Literatur

Hauptströmungen der Pädagogik


Benner, Dietrich: Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft.
Eine Systematik traditioneller und moderner Theorien. 3. Aufl.
Weinheim 1991
Krüger, Heinz-Hermann: Einführung in Theorien und Methoden
der Erziehungswissenschaft. Opladen 1997
Wulf, Christoph: Theorien und Konzepte der Erziehungswissen-
schaft. 3. Aufl. München 1983

Systematik pädagogischer Theorie


Dickopp, K.H.: Lehrbuch der systematischen Pädagogik. Düsseldorf
1983
Flitner, Andreas/Scheuerl, Hans (Hg.): Einführung in pädagogisches
Sehen und Denken. 13. Aufl. München 1993
Krüger, Heinz-Hermann/Helsper, Werner (Hg.): Einführung in
Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft. 3.
Aufl. Opladen 1998
Lenzen, Dieter: Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek
1994

Disziplinen der Pädagogik


Bernhard, Armin/Rothermel, Lutz (Hg.): Handbuch Kritische Päd-
agogik. Weinheim 1997
Krüger, Heinz-Hermann/Rauschenbach, Thomas (Hg.): Einfüh-
rung in die Arbeitsfelder der Erziehungswissenschaft. 2. Aufl. Op-
laden 1997
Macke, G.: Disziplinenformierung als Differenzierung und Speziali-
sierung – Entwicklung der Erziehungswissenschaft unter dem
Aspekt der Ausbildung und Differenzierung von Teildisziplinen.
In: Zeitschrift für Pädagogik 1990. 51-72

307
Werner Sesink: Einführung in die Pädagogik

Praxisfelder der Pädagogik


Bernhard, Armin/Rothermel, Lutz (Hg.): Handbuch Kritische Päda-
gogik. Weinheim 1997
Krüger, Heinz-Hermann/Rauschenbach, Thomas (Hg.): Einfüh-
rung in die Arbeitsfelder der Erziehungswissenschaft. 2. Aufl. Op-
laden 1997

Studium der Pädagogik; Wissenschaftliches Arbeiten


Leonhard, HansWalter: Pädagogik studieren. Stuttgart u.a. 1992
Sesink, Werner: Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten – ohne
und mit PC. 5. Aufl. MünchenWien 2000

308

You might also like