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Welch einen Grund hat die junge Ärztin Lara Mallory, sich ausgerechnet in Eden Pass, einem verkommenen Nest in der
heißesten Hölle von Texas, niederzulassen? Seit Jahrzehnten hat dort der Tackett-Clan vom Öl über die Supermarktkette
bis zum Sheriff alles in der Hand. Lara, inzwischen Witwe eines Washingtoner Diplomaten, war die zentrale Figur in
einem Sexskandal um einen jungen, hoffnungsvollen Senator, an dessen Sturz und späterem Tod sie angeblich nicht ganz
unschuldig war: Clark Tackett. Schon nach kurzer Zeit ist die Stimmung in der Familie, und damit in der ganzen Stadt,
hochgradig explosiv. Und ausgerechnet Key Tackett, das schwarze Schaf der Familie, begeht den unverzeihlichen Fehler,
sich etwas zu oft in Begleitung der früheren Geliebten seines toten Bruders sehen zu lassen. Lange werden sie ihre
leidenschaftlichen Rendezvous nicht geheim halten können, in Eden Pass haben selbst die Wände Ohren.
Autorin
Sandra Brown arbeitete als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman Trügerischer Spiegel auf Anhieb
einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer
Bücher weltweit Spitzenplätze der Bestsellerlisten erreicht. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und
South Carolina.
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Kapitel 1
Wie jeden Morgen erhob sich Janellen Tackett beim ersten Schrillen des Weckers aus ihrem
schmalen Bett. Die Armaturen an der Badewanne quietschten, und die Heißwasserrohre, die die
Wände des Hauses durchzogen, klopften laut. Doch die Geräusche waren ihr so vertraut, dass sie
sie nicht einmal mehr wahrnahm.
Janellen hatte die ganzen dreiunddreißig Jahre ihres Lebens hier verbracht und konnte sich nicht
vorstellen, irgendwo anders zu wohnen, und hatte das auch nie gewollt. Ihr Daddy hatte das Haus
vor mehr als vierzig Jahren für seine Braut gebaut, und obwohl es über die Jahrzehnte immer
wieder renoviert und modernisiert worden war, waren die unauslöschlichen Narben geblieben,
die sie und ihre Brüder in den Wänden und auf dem Parkett hinterlassen hatten. Diese kleinen
Mängel unterstrichen jedoch lediglich den Charakter des Hauses wie Lachfältchen das Gesicht
einer Frau.
Für Clark und Key war es nie mehr als eine Bleibe gewesen. Janellen jedoch betrachtete es als
wichtigen Teil der Familie, ebenso wichtig für ihr Leben wie ihre Eltern selbst. Mit der
Aufmerksamkeit einer Liebhaberin fürs Detail hatte sie das Haus viele Male erforscht, so dass sie
vom Keller bis zum Boden jeden Winkel kannte. Es war ihr genauso vertraut wie ihr eigener
Körper. Vielleicht sogar mehr. Sie verschwendete nie viele Gedanken auf ihren Körper oder über
ihr Dasein, verharrte niemals, um über ihr Leben nachzudenken oder zu überlegen, ob sie
glücklich war. Sie akzeptierte die Dinge, wie sie waren.
Nach dem Duschen machte sie sich für die Arbeit zurecht. Sie entschied sich für einen
Khakirock und eine schlichte Baumwollbluse. Ihre Strümpfe waren hautfarben und die Schuhe
eher bequem als modisch. Das dunkle Haar fasste sie zu einem praktischen Pferdeschwanz
zusammen. Ihr einziger Schmuck war eine einfache Armbanduhr. Sie legte kaum Make-up auf –
nur ein wenig Mascara auf die Wimpern, ein Hauch Rouge auf die Wangen, ein Tupfer rosa
Lipgloss, und schon war sie bereit, den Tag zu begrüßen.
Die Sonne ging gerade auf, als sie die dunkle Treppe hinunterstieg, durch den Korridor ging
und die Küche betrat, wo sie die Deckenbeleuchtung einschaltete, die alle Ecken und Winkel mit
dem blauweißen Licht eines Operationssaals ausleuchtete. Janellen hasste das kalte, aufdringliche
Licht, das die sonst so gemütliche Küche ungastlich machte.
Aber Jody mochte es so.
Wie gewohnt, fast mechanisch, brühte sie Kaffee auf. Seit die letzte Haushälterin gegangen war,
vollführte sie dieses morgendliche Ritual wie eine religiöse Handlung. Mit fünfzehn hatte Janellen
erklärt, sie bräuchte keinen Babysitter mehr, könne sich selbst fertigmachen für die Schule und
ihrer Mutter das Frühstück zubereiten.
Maydale, ihre derzeitige Hilfe im Haushalt, arbeitete nur fünf Stunden am Tag. Sie war
zuständig für die grobe Hausarbeit, die Wäsche und das Vorbereiten des Essens. Um alles Übrige
kümmerte sich Janellen selbst, neben ihren Aufgaben bei der Tackett Oil & Gas Company.
Sie schaute im Kühlschrank nach, ob ein Krug mit frischem Orangensaft bereitstand, und füllte
ein Kännchen mit Büchsenmilch. Jody durfte ihren Kaffee gar nicht mit Sahne trinken, wegen des
Fettgehaltes, doch sie bestand darauf. Und Jody bekam immer ihren Willen.
Während die Kaffeemaschine geräuschvoll gurgelte, ließ Janellen eine Gießkanne mit
destilliertem Wasser volllaufen und ging damit zur geschützten rückwärtigen Veranda, um den
Farn und die Begonien zu wässern.
In diesem Augenblick bemerkte sie den Pick-up. Sie erkannte den Wagen nicht, aber er stand
auf diesem ganz besonderen Platz nahe der Hintertür, dort, wo sonst Key immer …
Ihre Miene hellte sich auf, und fast hätte sie den Inhalt der Gießkanne verschüttet, als sie diese
wieder auf die Anrichte stellte. Sie lief aus der Küche, über den Flur, umfasste im Laufen den
Pfeiler, schwang sich wie die Kinder daran herum und hastete die Stufen hinauf. Oben lief sie zur
letzten Tür rechts, klopfte kurz und stürmte ins Zimmer.
»Key!«
»Was ist?«
Er fuhr sich mit der Hand durchs zerzauste Haar, hob den Kopf vom Kissen und blinzelte sie an.
Dann stöhnte er, hielt sich die Seite und ließ sich wieder zurücksinken. »Meine Güte! Hast du
mich erschreckt! Tu das bloß nie wieder. Ein Beduine hat das mal bei mir gemacht, und ich hätte
ihn um ein Haar erstochen, bevor ich erkannte, dass er auf unserer Seite war.«
Sie schenkte seiner Mahnung keinerlei Beachtung, sondern warf sich auf das Bett und an seine
breite Brust. »Key! Du bist zu Hause! Wann bist du angekommen? Warum hast du uns nicht
geweckt? Ach, du bist wieder da! Danke, danke, danke, dass du gekommen bist!« Sie schlang ihm
die Arme fest um den Hals und drückte ihm Küsse auf Stirn und Wangen.
»Schon gut, ist ja gut, ich hab’s kapiert – du freust dich, dass ich da bin«, grummelte er, ihre
Küsse abwehrend. Doch als er schließlich in eine sitzende Position hochkam, lächelte er. »Na,
kleine Schwester?!« Er musterte sie aus blutunterlaufenen Augen. »Lass mal sehen. Noch keine
grauen Haare. Deine Zähne hast du auch fast alle noch und höchstens vier, fünf Pfund zugelegt.
Alles in allem muss man sich nicht für dich schämen.«
»Ich habe kein Gramm zugenommen, das möchte ich doch mal klarstellen. Und ich sehe wie
immer aus, völlig unscheinbar.« Ohne Koketterie fügte sie hinzu: »Du und Clark, ihr beiden habt
das gute Aussehen der Familie geerbt, schon vergessen? Ich bin die fade Jane. Oder Janellen, in
diesem Fall.«
»Wieso musst du mir gleich den Tag vermiesen?«, fragte er. »Wieso sagst du so etwas?«
»Weil es stimmt.« Sie zuckte leicht mit den Achseln, als hätte es wenig oder gar keine Bedeutung
für sie. »Komm, lass uns nicht über mich quatschen. Du musst mir alles erzählen – wo kommst du
her, und wann bist du heimgekommen?«
»Deine Nachricht hat mich über die Londoner Nummer erreicht, die ich dir gegeben hatte«,
sagte er mit einem breiten Gähnen. »War gerade in Saudi-Arabien. Bin drei, vier Tage unterwegs
gewesen. Schwer zu sagen, wenn man so viele Zeitzonen durchquert. Gestern bin ich in Houston
angekommen und habe den Firmenflieger abgeliefert. Irgendwann nachts war ich dann in Eden
Pass.«
»Warum hast du uns nicht geweckt? Wem gehört der Truck da draußen? Wie lange kannst du
bleiben?«
Er strich sich das Haar zurück und stöhnte dabei, als würde jedes einzelne Follikel schmerzen.
»Eine Frage nach der anderen, wenn ich bitten darf. Ich habe euch nicht geweckt, weil es schon
spät war und es keinen Grund gab. Den Pick-up hat mir ein Kumpel in Houston ausgeliehen, der
in ein paar Tagen eine Maschine nach Longview fliegen muss. Er holt ihn dann ab und fährt
damit zurück. Und … was war die letzte Frage?«
»Wie lange kannst du bleiben?« Sie faltete die Hände unter dem Kinn und sah dabei aus wie ein
kleines Mädchen beim Gutenachtgebet. »Sag bitte nicht ›ein paar Tage‹ oder ›eine Woche‹. Sag,
dass du ganz lange bleibst.«
Er nahm ihre gefalteten Hände in seine. »Der Vertrag, den ich mit dem Ausrüster in Saudi-
Arabien hatte, war sowieso fast ausgelaufen. Momentan steht nichts Besonderes auf dem Plan. Ich
habe meinen Abreisetermin offengelassen. Mal sehen, was kommt. Zufrieden?«
»Zufrieden. Danke, Key.« Tränen schimmerten in ihren hellblauen Augen. Was dieses
Familienerbe betraf, war sie nicht übergangen worden. »Ich belaste dich nur ungern mit unseren
Problemen hier, aber …«
»Es ist keine Belastung.«
»Nun, ich hatte aber das Gefühl. Jedenfalls hätte ich dich nicht gebeten herzukommen, wenn ich
nicht denken würde, dass deine Anwesenheit die Situation … verbessert.«
»Was ist hier los, Janellen?«
»Es ist Mama, Key. Sie ist krank.«
»Wieder der Blutdruck?«
»Nicht nur, schlimmer.« Janellen rang die Hände. »Ihr Gedächtnis lässt nach, sie hat echte
Lücken. Nicht für lange. Zuerst ist es mir gar nicht aufgefallen. Dann hat Maydale erwähnt, dass
Mama öfter Dinge verliert oder verlegt und ihr dann vorwirft, sie hätte sie gestohlen. Und sie
fängt plötzlich mitten im Gespräch mit Sachen an, über die wir gerade gesprochen haben.«
»Sie wird alt, Janellen. Wahrscheinlich sind das nichts weiter als erste Anzeichen von Senilität.«
»Vielleicht. Aber das glaube ich nicht. Ich fürchte, es ist mehr als nur das Alter. Es gibt Tage, da
sehe ich ihr an, wie schlecht es ihr geht, obwohl sie alles tut, um es zu kaschieren.«
»Was sagt der Arzt?«
»Sie weigert sich, zu einem zu gehen«, schnaubte Janellen frustriert. »Dr. Patton hat ihr ein
Mittel gegen den hohen Blutdruck verschrieben, aber das ist schon über ein Jahr her. Sie hat den
Apotheker gezwungen, das Rezept immer wieder zu erneuern, sagt, mehr bräuchte sie nicht. Sie
hört nicht auf mich, wenn ich ihr sage, dass sie zum Arzt muss.«
Er lächelte trocken. »Klingt ganz nach unserer Jody. Sie weiß es mal wieder besser als alle
anderen.«
»Bitte, Key, sei nicht so streng mit ihr. Hilf ihr. Hilf mir.«
Er knuffte sie sanft am Kinn und sagte: »Du hast dich schon viel zu lange ganz allein um alles
kümmern müssen. Wird Zeit, dass ich dir was abnehme.« Seine Lippen wurden schmal. »Wenn
ich kann.«
»Du kannst. Dieses Mal wird es anders sein zwischen dir und Mama.«
Er murrte skeptisch, schlug das Laken zurück und schwang die Füße über die Bettkante. »Gib
mir doch bitte mal die Jeans.«
Janellen wollte sich gerade umdrehen, um die Jeans, die zusammengeknüllt auf dem Sessel lag,
zu nehmen, als sie den Verband um seine Hüfte bemerkte. »Was hast du gemacht?!«, rief sie. »O
Gott, und der Knöchel!«
Er untersuchte gelassen den geschwollenen Fuß. »Meine Ankunft fiel ein bisschen grob aus,
schätze ich.«
»Wobei hast du dich verletzt? Ist es ernst?«
»Nein. Die Jeans, bitte.«
Er saß noch immer auf der Bettkante und streckte seinen Arm aus. Janellen sah die sture Pose
seines stoppeligen Kinns und reichte ihm die Hose. Dann kniete sie sich hin, um ihm zu helfen,
die Füße durch die Hosenbeine zu bekommen.
»Dein Knöchel ist auf die doppelte Größe angeschwollen«, murmelte sie besorgt. »Kannst du
überhaupt drauf stehen?«
»Mein Arzt hat gesagt, das sollte ich lieber nicht tun«, erwiderte er trocken. »Hilf mir mal.«
Sie stützte ihn, als er, das ganze Gewicht auf den linken Fuß verlagernd, aufstand, um die Hose
über die Oberschenkel und Hüfte zu ziehen. Während er den Hosenschlitz zuknöpfte, schenkte
er ihr ein freches Grinsen, das jeglichen Versuch der Aufrechterhaltung von Tugendhaftigkeit
schon im Keim erstickt hätte.
Janellen wagte gar nicht daran zu denken, wie viele Frauen dem Charme ihrer Brüder –
besonders Keys – erlegen sein mochten. Sie hatte immer davon geträumt, eine ganze Horde von
Neffen und Nichten verwöhnen zu dürfen, doch der Traum war nie in Erfüllung gegangen. Key
mochte Frauen, und zwar sehr viele von ihnen. Sie sah kein Indiz dafür, dass er an Heirat dachte.
»Du stellst dich ziemlich geschickt an, einem Mann in seine Hose zu helfen«, bemerkte er
neckend. »Wohl geübt in letzter Zeit, hmm? Hoffe ich zumindest«, fügte er noch an.
»Schhh!«
»Sag doch mal?«
»Nein!« Sie spürte, wie sie errötete. Key hatte es schon immer geschafft, sie verlegen zu machen.
»Wieso nicht?«
»Weil ich nicht daran interessiert bin, deshalb«, antwortete sie hochmütig. »Na ja, und bisher ist
auch noch keiner bei meinem berauschenden Anblick in Ohnmacht gefallen.«
»An deinem Anblick ist absolut nichts auszusetzen.«
»Aber er ist auch nicht gerade umwerfend.«
»Aber nur, weil du dir in deinen sturen Schädel gesetzt hast, dass du die fade Jane bist, und dich
entsprechend zurechtmachst. Du bist so …«, verächtlich deutete er auf ihre sittsame Bluse, »…
schrecklich zugeknöpft.«
»Zugeknöpft?«
»Ja. Was dir fehlt, ist Lockerheit. Mach ein paar Knöpfe mehr auf. Werde locker,
Schwesterchen.«
Sie tat, als sei sie entrüstet. »Ich als alte Jungfer verbitte mir derart geschmacklose Sprüche.«
»Alte Jungfer! Wer zum Teufel …? Jetzt hör mir mal zu, Janellen.« Er tippte ihr mit dem
Zeigefinger auf die Nasenspitze. »Du bist nicht alt!«
»Ich bin aber auch kein junger Hüpfer mehr.«
»Du bist zwei Jahre jünger als ich. Das macht vierunddreißig.«
»Noch nicht ganz.«
»Eben, dreiunddreißig sogar erst. Also noch lange keine alte Schachtel. Gott, heutzutage kriegen
die meisten Bräute doch erst mit vierzig ihre Kinder.«
»Diejenigen, auf die das tatsächlich zutrifft, würden es sicher nicht schätzen, ›Bräute‹ genannt zu
werden.«
»Du hast mich schon ganz gut verstanden. Du hast ja noch nicht mal deine sexuelle Höchstform
erreicht.«
»Key, bitte.«
»Und der einzige Grund, warum du dich als ›Jungfer‹ bezeichnen dürftest, wäre der, wenn du es
…«
»Ich habe es noch nicht getan.«
»Umso schlimmer … Weil du so zugeknöpft bist und vor jedem Typen davonrennst, der dir ans
Höschen will.«
Janellen, entsetzt über seine Unverfrorenheit, starrte ihn sprachlos an. Bei der Arbeit war sie acht
Stunden am Tag, fünf Tage die Woche von Männern umgeben, manchmal sogar an den
Wochenenden. Und natürlich war deren Ausdrucksweise derb und unverblümt, doch sobald Miss
Janellen in Hörweite war, rissen sie sich zusammen. Wenn ihre Angestellten mit ihr sprachen,
legten sie die Worte auf die Goldwaage.
Und Jody würde sowieso jeden auf der Stelle erschießen, der in ihrer oder in der Gegenwart
ihrer Tochter vulgäre Ausdrücke benutzte. Paradoxerweise bediente sich Jody allerdings selbst
eines ausgiebigen Wortschatzes an Obszönitäten und Blasphemien – eine Ironie, die ihr selber
jedoch nicht auffiel.
Die Tatsache, dass sie offensichtlich eine derartige Empfindlichkeit gegen ungehöriges und allzu
lässiges Benehmen entwickelt hatte, missfiel Janellen allerdings selbst. Tatsächlich empfand sie
diese Charaktereigenschaft eher als Belastung. Es ließ sie fühlen, dass sie anders war, und bewies,
dass sie für Männer in keiner Weise, nicht einmal auf freundschaftlicher Basis, attraktiv war. Sie
konnte nicht mal ein Kumpel sein, obwohl sie mit zwei älteren Brüdern hatte aufwachsen
müssen.
Sie war von Keys Ausdrucksweise weniger geschockt als vielmehr verblüfft. In gewisser Weise
betrachtete sie es als Kompliment, was Key natürlich nicht ahnen konnte.
»Ach, verdammt«, murmelte er reumütig, während er ihr über die Wange strich. »Es tut mir
leid. Ich wollte das nicht sagen. Es ist mir nur so rausgerutscht, weil du so streng mit dir selbst
bist. Tau mal auf, gönn dir was. Himmel noch mal. Nimm dir ein Jahr frei, und fahr nach Europa.
Mach einen drauf! Sei frecher! Riskier was Skandalöses! Erweitere deinen Horizont. Das Leben ist
zu kurz, um so ernst genommen zu werden. Du verpasst ja das Beste.«
Sie lächelte, nahm seine Hand und küsste den Handrücken. »Entschuldigung angenommen. Ich
weiß, dass du mich nicht beleidigen oder meine Gefühle verletzen wolltest. Aber du hast unrecht,
Key. Ich verpasse gar nichts. Mein Leben ist hier, und ich bin zufrieden damit. Ich bin so
beschäftigt, dass ich gar nicht die Zeit für Interessen romantischer oder sonstiger Natur finde.
Unbestritten, mein Leben ist lange nicht so aufregend wie deines, aber ich will es auch nicht
anders haben. Du bist der Globetrotter. Ich bin das Heimchen und absolut ungeeignet für
skandalöse oder drastische Dinge.« Sie legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Ich will mich nicht
mit dir streiten, wo du den ersten Tag hier bist seit Clarks …« Sie brachte es nicht über sich, den
Satz zu beenden, und nahm die Hand von seinem Arm. »Lass uns jetzt nach unten gehen. Der
Kaffee müsste fertig sein.«
»Prima. Ich könnte ein oder zwei Tässchen gebrauchen, ehe ich der alten Dame gegenübertrete.
Um welche Uhrzeit steht sie für gewöhnlich auf?«
»Die alte Dame ist bereits aufgestanden.«
In der Tür stand ihre Mutter. Jody Tackett.
Bowie Cato kam zu sich, als ihn eine Stiefelspitze unsanft in die Rippen trat. »He du, aufwachen.«
Bowie schlug die Augen auf und rollte sich auf den Rücken. Er brauchte mehrere Sekunden, bis
ihm wieder einfiel, dass er im Lager der Palme schlief, der lautesten, wildesten, verrufensten
Kneipe inmitten einer ganzen Reihe von lauten, wilden, verrufenen Kneipen zu beiden Seiten
des zweispurigen Highways am äußeren Stadtrand von Eden Pass.
Als erst kürzlich eingestellter Hausmeister begann seine Schicht meist erst nach zwei Uhr
morgens, wenn die Kneipe dichtmachte, jedenfalls an den ruhigen Tagen. Zusätzlich zu den
lumpigen Kröten, die er hier verdiente, hatte ihm der Besitzer erlaubt, seinen Schlafsack im
Lagerraum auszurollen.
»Was ist los?«, fragte er benommen. Er konnte noch nicht länger als zwei, drei Stunden
geschlafen haben.
»Hoch mit dir.« Wieder die Stiefelspitze, diesmal eher als Aufforderung. Sein erster Impuls war,
den nervenden Stiefel zu packen, umzudrehen und den Störenfried auf die Bretter zu schicken.
Aber wegen eines solchen Impulses hatte Bowie die letzten drei Jahre im Staatsgefängnis absitzen
müssen, und er war nicht gerade scharf drauf, für weitere drei dort zu landen.
Wortlos setzte er sich auf und schüttelte den brummenden Schädel. Dann blinzelte er in das
Sonnenlicht, das durchs Fenster hereinfiel, und sah die Silhouetten zweier Männer über sich
ragen.
»Tut mir leid, Bowie«, meinte Hap Hollister, der Eigentümer der Kneipe. »Ich habe Gus schon
gesagt, dass du die ganze Nacht hier warst seit gestern Abend sieben Uhr. Aber er meinte, er
müsste dich trotzdem sprechen, weil du ein Exknacki bist. Er und der Sheriff haben sich wegen
letzter Nacht umgehört, und bisher bist du der einzige Verdächtige in der Stadt.«
»Das bezweifle ich«, murmelte Bowie in sich hinein und kam dabei langsam auf die Beine.
»Schon gut, Hap.« Er schenkte seinem neuen Arbeitgeber ein grimmiges Lächeln und wandte sich
dann dem kahlköpfigen, aufgedunsenen, massigen Hilfssheriff zu. »Worum geht’s?«
»Worum es geht?« Der Hilfssheriff klang gereizt. »Mrs. Darcy Winston ist letzte Nacht beinahe
in ihrem eigenen Bett vergewaltigt und ermordet worden! Darum geht’s.« Dann gab er ihnen die
Einzelheiten des versuchten Einbruchs bekannt.
»Es tut mir wirklich leid, das zu hören.« Bowies Blick wanderte zwischen dem uniformierten
Hilfssheriff und Hap hin und her, doch sie starrten nur wortlos zurück. Er zuckte kurz und
fragend mit den Schultern. »Wer ist überhaupt diese Mrs. Darcy Winston?«
»Als ob du das nicht sehr genau wüsstest«, schnaubte der Hilfssheriff.
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Du hast dich gestern Abend mir ihr, äh, unterhalten, Bowie«, sagte Hap verlegen. »Sie war
während deiner Schicht hier. Rote Haare, große Möpse, hatte so ’ne enganliegende Kniehose an.
Jede Menge Klunker.«
»Oh.« Er erinnerte sich zwar nicht mehr an die Klunker, aber sehr wohl an diese Titten, und er
vermutete, dass es Mrs. Darcy genau darauf auch angelegt hatte. Wie Zitronenbrause hatte sie die
Margaritas gekippt und hatte jeden männlichen Gast angemacht, einschließlich ihm, einem
einfachen Kerl, der hier angestellt war, um aufzuräumen und sauberzumachen.
»Ich hab mit ihr geredet«, sagte er in Richtung des Hilfssheriffs. »Aber wir haben uns nicht mal
bekannt gemacht.«
»Sie hat jeden hier angequatscht, Gus«, unterbrach Hap.
»Aber er ist der Einzige mit ’nem Strafregister. Der Einzige auf Bewährung.«
Bowie verlagerte das Gewicht, um seine angespannten Muskeln ein wenig zu lockern. Verflucht,
er konnte förmlich riechen, wie da in vollem Galopp mächtiger Ärger auf ihn zukam. Er hoffte
zwar, dem noch aus dem Weg gehen zu können, aber die Umstände sprachen dagegen.
Mit diesem Zweihundertpfundkerl von Sheriff war nicht zu spaßen. Bowie hatte es in seinem
Leben schon mit zu vielen von seiner Sorte zu tun gehabt, um das nicht gleich zu erkennen. Ihm
waren große Massige und kleine Drahtige über den Weg gelaufen. Die Größe oder Stärke eines
Mannes hatte damit nichts zu tun. Das, was sie alle gemeinsam hatten, war dieser bestimmte
Ausdruck in den Augen, der besagte, dass ihr Motto lautete: Schlechtes wird mit Schlechtem
vergolten.
Zum ersten Mal begegnet war ihm das bei seinem Stiefvater, diesem versoffenen Hurensohn,
den seine verwitwete Mutter aus lauter Verzweiflung geheiratet hatte und der sich daran hochzog,
wenn er ihn – Bowie – verprügelte. Später erkannte er es im Sportlehrer wieder, dem nichts
mehr Spaß bereitete, als unsportliche Kinder bloßzustellen.
Mit seiner Auflehnung gegen den Stiefvater und der Verteidigung der bemitleidenswerten
Kinder gegen den Sportlehrer hatte der ganze Ärger angefangen, der Bowie schon als
Jugendlicher hinter Gittern gebracht hatte. Da er nur langsam lernte, brachte er es bis ins
Staatsgefängnis.
Doch das hier ging ihn nichts an. Er kannte Darcy Winston nicht mal, und es scherte ihn nicht
im Mindesten, dass jemand versucht hatte, sie sich zu schnappen. Also sagte er sich, dass es das
Beste wäre, einen kühlen Kopf zu bewahren. »Ich war die ganze Nacht hier in der Palme, wie
Hap Ihnen schon gesagt hat.«
Der Hilfssheriff musterte ihn. »Zieh die Klamotten aus.«
»Bitte?«
»Bist du taub? Runter mit den Klamotten.«
»Gus«, fiel Hap ein. »Muss das wirklich sein? Dieser Junge hier …«
»Halt dich da raus, Hap«, raunzte der Deputy. »Lass mich meine Arbeit machen, ja? Mrs.
Winston hat den Einbrecher angeschossen. Wir wissen, dass sie getroffen hat, weil auf ihrem
Balkon und am Pool Blut war. Der Kerl hat ’ne richtige Spur hinterlassen, als er sich durchs
Gebüsch davongemacht hat.« Er zog das Pistolenhalfter hoch, das unter seinem überlappenden
Bierbauch eingeklemmt war. »Wollen doch mal sehen, ob du irgendwo ’ne Schussverletzung hast.
Also, raus aus den Klamotten, Knastvogel.«
Bowies Geduld war am Ende. »Fick dich doch selbst.«
Der Hilfssheriff lief krebsrot an. Seine Schweinsaugen verschwanden fast in den Falten seiner
feisten Wangen.
Das sollte er ihm büßen …
Mit einem animalischen Grunzen langte der Deputy nach Bowie. Doch der wich ihm aus. Der
Sheriff holte aus, und Bowie duckte sich abermals. Hap Hollister drängte sich zwischen sie. »Hey,
ihr zwei! Ich will hier keinen Ärger! Und ihr bestimmt auch nicht.«
»Ich werde diesem kleinen Schwanzlutscher jeden einzelnen Knochen im Leib brechen!«
»Nein, wirst du nicht, Gus.« Gus wehrte sich dagegen, dass Hollister ihm die Arme festhielt, aber
Hollister, der sich oft genug gegen betrunkene Gäste zur Wehr setzen musste, war nicht gerade
ein Schwächling. Mit dem Hilfssheriff wurde er fertig. »Sheriff Baxter würde dir den Arsch
aufreißen, wenn du dich an einem Verdächtigen vergreifst.«
»Ich bin kein Verdächtiger!«, schnaubte Bowie.
Gus noch immer festhaltend, warf Hap Hollister Bowie einen Blick über die fleischige Schulter
des Deputys zu. »Reiß dein Maul bloß nicht so weit auf, Kleiner. Das ist dämlich. Und jetzt
entschuldige dich.«
»Den Teufel werd ich tun!«
»Mach schon!«, dröhnte Hap. »Zwing mich nicht zu bereuen, dass ich mich für dich eingesetzt
habe!«
Während der Hilfssheriff vor Wut schäumte, fochten Bowie und Hap ein Blickduell aus. Bowie
überlegte fieberhaft. Wenn er seinen Job verlor, würde ihm der Bewährungshelfer auf den Fersen
sein. Es war ein lausiger Job, der zu nichts führte, aber es war eben eine Erwerbstätigkeit, die
seinen Willen zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft bewies.
Er würde auf keinen Fall nach Huntsville zurückgehen. Selbst wenn er dafür diesem fetten
Schwanzgesicht mit dem Schildchen auf der Brust den Arsch küssen müsste.
»Ich entschuldige mich.« Sicherheitshalber knöpfte er das Hemd auf und zeigte dem Sheriff die
blanke Brust. »Keine Schussverletzung. Ich war die ganze Nacht hier.«
»Und dafür gibt es mindestens ein Dutzend Zeugen, Gus«, sagte Hap. »Irgendjemand anderes ist
letzte Nacht in Mrs. Darcy Winstons Haus eingebrochen. Bowie kann es nicht gewesen sein.«
Doch Gus wollte so leicht nicht zurückstecken, obwohl es offensichtlich war, dass er den
falschen Mann hatte. »Schon komisch, dieser Knastvogel kommt in die Stadt, und schon kriegen
wir die erste Meldung über ein ernsthaftes Vergehen seit Jahren auf den Tisch.«
»Zufall«, meinte Hap.
»So wird’s wohl sein«, murmelte der Deputy, wobei er nicht aufhörte, Bowie misstrauisch zu
beäugen.
Hap versuchte, ihn mit dem neuesten Klatsch abzulenken. Ȇbrigens, rate mal, wer gestern
Nacht eingeflogen ist – Key Tackett.«
»Ist nicht wahr?!«
Haps Ablenkungsmanöver hatte funktioniert. Der Deputy gab seine angestrengte Haltung auf,
entspannte sich, stützte den Ellenbogen auf ein Regal und vergaß für einen Moment Bowie und
den Grund seiner Anwesenheit in der Spelunke. Bowie wollte einfach nur wieder in seinen
Schlafsack krabbeln und noch ein paar Stunden ausruhen. Er gähnte.
Der Hilfssheriff fragte: »Und, wie sieht der alte Key aus? Hat er endlich ein paar Pfund
zugelegt?« Lachend schlug er sich selbstgefällig auf den feisten Bauch.
»Quatsch. Hat sich kein Stück verändert seit seinem letzten Jahr auf der Highschool, als er die
Schulmannschaft bis in die Endausscheidung katapultiert hat. Groß, schlank und dunkel wie der
Teufel selbst. Und mit diesen blauen Augen spießt er immer noch jeden auf. Auch noch derselbe
kleine Klugscheißer wie früher. Das erste Mal, dass er wieder hier ist, seit sie seinen Bruder
beerdigt haben.«
Bowie horchte auf. Er erinnerte sich an den Mann, von dem die Rede war. Tackett war die
Sorte Mann, die einen bleibenden Eindruck hinterlässt – bei Männern wie bei Frauen. Die
Männer wollten so sein wie er. Und dieser Key hatte kaum auf dem Barhocker Platz genommen,
als Mrs. Wie-war-gleich-ihr-Name mit dem roten Haar und den großen Titten sich an ihn
ranschmiss. Über eine halbe Stunde hatten sich die beiden mehr als angeregt unterhalten. Und
Tackett war nur wenige Minuten nach ihrem aufreizenden Abgang verschwunden.
Interessanter Zufall? Bowie schnaubte innerlich. Er glaubte nicht an Zufälle. Aber sie könnten
ihm die Zunge abschneiden und sie einem Kojoten vorwerfen, kein Sterbenswort würde er dem
Hilfssheriff davon sagen.
»Tja, Clarks Tod. War ein harter Schlag für die alte Jody«, sagte Gus.
»Ja.«
»Seitdem ist sie nicht mehr dieselbe.«
»Und zu allem Überfluss muss diese Ärztin jetzt auch noch in die Stadt ziehen und das Ganze
wieder aufrühren.«
Der Deputy starrte einen Moment ins Leere und schüttelte dann mitleidig den Kopf. »Was hat
die nur geritten, hier in Eden Pass aufzutauchen, nach dem, was zwischen ihr und Clark Tackett
war? Ich sag dir, Hap, die Leute heutzutage haben keinen Anstand mehr. Die scheren sich nur
noch um ihren eigenen Arsch.«
»Da hast du recht, Gus«, seufzte Hap und schlug dem Deputy auf die Schulter. »Hör mal, wenn
du nachher Schluss hast, komm doch auf ein Bier vorbei. Geht auf Rechnung des Hauses.« Bowie
war von Haps geschickter Diplomatie beeindruckt, als dieser den Deputy aus dem Lagerraum und
durch die verlassene Bar zum Ausgang bugsierte, über den schlechten Zustand der Welt
philosophierend.
Bowie legte sich wieder in den Schlafsack, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte
an die Decke. Spinnennetze formten einen interessanten Teppich zwischen den blanken Balken.
Ein emsiges Tier vervollständigte ihn, während er zusah.
Kurz darauf kam Hap zurück. Er ließ sich auf einer Kiste Beefeaters nieder und steckte sich eine
Zigarette an. Dann bot er Bowie ebenfalls eine an, der sich mit einem Tippen an den Kopf
bedankte, während Hap sie für ihn entzündete. Sie rauchten schweigend in bestem
Einvernehmen. Schließlich sagte Hap: »Solltest dich wohl besser nach einem neuen Job
umsehen.«
Bowie kam auf die Ellenbogen hoch. Es überraschte ihn nicht, aber er wollte die Neuigkeit
auch nicht einfach so einstecken. »Du schmeißt mich raus, Hap?«
»Nicht sofort, nein.«
»Ich hatte nichts mit der Schlampe am Hut!«
»Das weiß ich.«
»Wieso wird es mir dann zugeschoben? Wer ist die Tante überhaupt? So wie ihr über die
geredet habt, könnte man ja meinen, die ist die Königin von Saba!«
Hap kicherte. »Für ihren Mann ist sie das ganz sicher. Fergus Winston ist der Superintendent für
unser Schulsystem. Außerdem gehört ihm ein Motel am anderen Ende der Stadt, mit dem er kein
schlechtes Geschäft macht. Er ist gute zwanzig Jahre älter als Darcy. Hässlich wie ’ne Krähe und
nicht besonders pfiffig. Man sagt, sie hätte ihn nur wegen des Geldes geheiratet. Wer weiß das
schon?« Er zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nur, dass Darcy auf die Pirsch geht, sobald sie den guten Fergus abschütteln kann.
Geiles kleines Stück, immer scharf«, fügte er ohne Boshaftigkeit an. »Hatte selbst ein-, zweimal
meinen Spaß mit ihr. Schon lange her, als wir noch Kids waren.« Er deutete mit der Glut seiner
Zigarette auf Bowie. »Wenn das gestern ein Einbrecher war, dann hat sie ihn wahrscheinlich
angeschossen, weil er sie nicht vergewaltigt hat.«
Bowie fiel in sein Lachen ein, aber nur kurz. »Warum feuerst du mich, Hap?«
»Weil es besser für dich ist.«
»Solange ich nicht selber ausschenke, hat mein Bewährungshelfer gesagt, kann ich … «
»Darum geht’s nicht. Du tust die Arbeit, für die ich dich angeheuert habe.« Er musterte Bowie
mit müden Augen. »Ich führe einen ziemlich sauberen Laden. Trotzdem kann ich nichts gegen
das Gesocks tun, das abends durch die Tür marschiert. Hier kann alles passieren, und manchmal
tut es das auch. Nimm meinen Rat an, und such dir ’ne Arbeit, bei der du nicht so schnell in
Ärger verwickelt werden kannst. Kapiert?«
Bowie hatte kapiert. Es war die Geschichte seines Lebens. Er schien den Ärger anzuziehen, egal
was er tat oder nicht tat; und ein ehrlicher, hart schuftender Bursche wie Hap Hollister konnte
einen geborenen Unruhestifter wie ihn nicht in seiner Bar gebrauchen. Resigniert sagte Bowie:
»Die Bosse reißen sich nicht gerade um einen Exknacki. Gibst du mir ein paar Tage?«
Hap nickte. »Du kannst bleiben, bis du was Neues gefunden hast. Nimm meinen Pick-up, wenn
du wohin fahren musst.« Hap klemmte die Zigarette in den Mundwinkel und stand auf. »Okay,
muss mich noch um ein paar Rechnungen kümmern. Bleib ruhig noch liegen. War ’ne kurze
Nacht für dich.«
Als er allein war, legte sich Bowie wieder hin, obwohl er wusste, dass er kein Auge mehr zutun
würde. Er hatte von Anfang an gewusst, dass der Job in der Palme nichts Dauerhaftes war, aber
immerhin hatte er ein Dach über dem Kopf gehabt. Er hatte gedacht – gehofft –, hier eine Weile
Zuflucht zu finden, wie in einer Art Mittelding zwischen dem Gefängnis und der Welt dort
draußen. Aber nein. Dank einer Braut, die er nicht mal kannte, und einem verdammten
Hurensohn, der unbedingt bei ihr einsteigen musste, war er wieder ganz unten, bei null.
Wo er schon sein ganzes Leben lang steckte.
Kapitel 3
Jody Tackett und ihr Sohn starrten einander an. Zwischen ihnen war mehr als nur eine räumliche
Distanz – es war eine Distanz, die sie in sechsunddreißig Jahren nie überbrückt hatten, und Key
bezweifelte, dass dies jemals geschehen würde.
Er lächelte gezwungen. »Hallo, Jody.« Er hatte schon vor Jahren aufgehört, sie Mutter zu
nennen.
»Key.« Sie warf Janellen einen vorwurfsvollen Blick zu. »Ich vermute mal, das war deine Idee.«
Key legte seiner Schwester den Arm um die Schulter. »Gib nicht Janellen die Schuld. Es war
meine Idee. Ich wollte euch überraschen.«
Jody Tackett schnaubte, was ihre Art war, Key zu zeigen, dass sie ihm nicht glaubte. »Habe ich
eben nicht gehört, dass der Kaffee fertig ist?«
»Ja, Mama«, sagte Janellen schnell. »Ich mache dir und Key ein leckeres Frühstück zur Feier
seiner Ankunft.«
»Ich bezweifle, dass das ein Grund zum Feiern ist.« Jody drehte sich um und ging aus dem
Zimmer.
Key stieß einen tiefen Seufzer aus. Er hatte nicht mit einer warmherzigen Begrüßung gerechnet,
nicht einmal mit einer obligatorischen Umarmung. Seine Mutter und er hatten diese Art
Verhältnis nie gehabt. Solange er zurückdenken konnte, hatte Jody sich ihm gegenüber unnahbar
gegeben, und er hatte entsprechend reagiert.
Jahrelang hatten sie mit dieser unausgesprochenen Wahrheit nebeneinanderher gelebt. Wenn sie
zusammen waren, verhielt er sich ihr gegenüber höflich und erwartete von ihr, dass sie ihm
dieselbe Höflichkeit entgegenbrachte. Manchmal tat sie es, manchmal nicht. Heute Morgen war
sie ihm mit extremer Feindseligkeit begegnet, obwohl er ihr einziger noch lebender Sohn war.
Vielleicht gerade deshalb.
»Du musst Geduld mit ihr haben, Key«, flehte Janellen. »Es geht ihr nicht gut.«
»Das habe ich gesehen«, bemerkte er gedankenvoll. »Seit wann sieht sie so alt aus?«
»Schon länger als ein Jahr. Sie hat sich nie ganz erholt von … Du weißt schon.«
»Ja.« Er hielt inne. »Ich werde versuchen, sie nicht aufzuregen, solange ich hier bin.« Er sah seine
Schwester mit einem schwachen Lächeln an. »Es sind nicht zufällig ein paar Krücken in diesem
Haus aufzutreiben?«
»Doch. Die von deinem Autounfall sind noch da.« Sie ging zum Wandschrank und holte ein
Paar Aluminiumkrücken aus der Ecke hervor.
»Da du gerade am Schrank bist, bring mir doch gleich ein Hemd mit«, bat er sie. »Mein altes ist
gestern hinübergegangen.«
Er ignorierte ihren fragenden Blick und zeigte auf die Hemden im Schrank. Sie brachte ihm ein
schlichtes weißes Baumwollhemd, das schwach nach Mottenkugeln roch. Er schlüpfte hinein, ließ
es allerdings aufgeknöpft. Dann klemmte er sich die gepolsterten Griffe der Krücken unter die
Achseln und nickte mit dem Kinn in Richtung Tür. »Dann los.«
»Du siehst blass aus. Fühlst du dich auch gut genug?«
»Nein. Aber ich werde den Teufel tun und Jody mit dem Frühstück warten lassen.«
Jody saß bereits am Küchentisch, trank Kaffee und rauchte, als er hereingehumpelt kam.
Janellen, die sich daranmachte, das Frühstück zuzubereiten, wurde keine weitere Beachtung
geschenkt. Key setzte sich seiner Mutter gegenüber und lehnte die Krücken gegen die Tischplatte.
Er war sich sehr wohl bewusst, dass er unrasiert und unfrisiert war.
Jody sah wie immer tadellos aus, auch wenn sie keine attraktive Frau war. Die texanische Sonne
hatte Flecken und Runzeln auf ihrer Haut hinterlassen. Da sie für Eitelkeit nichts übrighatte, war
ihr einziges Zugeständnis an die Verschönerung ihrer äußeren Erscheinung ein Hauch Puder aus
der Sonderangebotsecke der Drogerie. Außerdem ließ sie sich einmal wöchentlich im
Schönheitssalon das Haar waschen und legen. Das hatte sie ihr ganzes Leben lang so gehalten, aber
nur, weil es ihr lästig war, es selbst zu tun. Ihr kurzes graues Haar brauchte zwanzig Minuten
unter der Haube, um zu trocknen. Während dieser zwanzig Minuten ließ sie sich von einer
Maniküre die kurzen, breiten Nägel schneiden, lackieren allerdings nie.
Ein Kleid trug sie lediglich sonntags zur Kirche und bei gesellschaftlichen Anlässen, bei denen es
sich absolut nicht vermeiden ließ. An diesem Morgen trug sie ein kariertes Baumwollhemd und
eine Hose, beides adrett gebügelt und gestärkt.
Während sie die Zigarette ausdrückte, fragte sie Key in einem Ton, der genauso einschüchternd
war wie ihr Blick: »Und, was ist es diesmal?«
Ihre Worte beinhalteten eindeutig die Unterstellung, er allein sei schuld an seinem Zustand. Was
in diesem Fall auch stimmte, aber das spielte keine Rolle, denn er hätte auch das Opfer einer
Laune des Schicksals gewesen sein können. Unfälle waren immer seine Schuld gewesen.
Als er als Junge vom Baum gefallen war, auf den er mit Clark geklettert war, hatte Jody gesagt,
er hätte es nicht anders verdient, als sich das Schlüsselbein zu brechen, wenn er so etwas Dummes
tun würde. Als ein Schlagmann aus der Little League seine Schläfe traf und er sich eine
Gehirnerschütterung zuzog, hatte sie geschimpft, er hätte sich nicht richtig aufs Spiel konzentriert.
Und als ihm ein Gaul auf den Fuß trat, behauptete Jody, er hätte das Pferd erschreckt. Als am 4.
Juli ein Feuerwerkskörper in seiner Hand explodierte und ihm den Daumen aufriss, war er von
Jody bestraft worden. Clark war ungeschoren davongekommen, obwohl er derjenige gewesen
war, der seinen Bruder mit den Knallern beworfen hatte.
Einmal jedoch war Jodys Mitleidlosigkeit berechtigt gewesen. Wenn Key nicht im betrunkenen
Zustand mit hundertfünfzig die Landstraße hinuntergerast wäre, hätte er die Kurve wahrscheinlich
gekriegt, den Baum verpasst und den Traum seiner Mutter – eine Karriere als Quarterback im
NFL-Team zu machen – erfüllen können. Dass er die Pläne, die sie für sein Leben gehabt hatte,
mit diesem Unfall durchkreuzte, würde sie ihm niemals vergeben.
Wegen dieser Erlebnisse wusste Key es besser, als so etwas wie mütterliche Zuneigung zu
erwarten. Dennoch machte ihr vorverurteilender Ton ihn wütend.
Seine Antwort war kurz und bündig. »Verstauchter Knöchel.«
»Und was ist damit?«, fragte sie und deutete mit der Kaffeetasse auf seinen Verband.
»Hat mich ein Hai erwischt.« Er zwinkerte seiner Schwester zu und grinste dabei.
»Mach dich ruhig über mich lustig!« Jodys Ton war scharf wie ein Peitschenschlag.
Und los geht’s, dachte Key verbittert. Gott, das brauchte er nicht. »Es ist nichts, Jody. Gar
nichts.« Janellen stellte eine dampfende Tasse Kaffee vor ihn hin. »Danke, Schwesterchen. Das
reicht mir zum Frühstück.«
»Willst du gar nichts essen?«
»Nein, danke. Hab keinen Hunger.«
Sie verbarg ihre Enttäuschung hinter einem zögerlichen Lächeln, das ihm das Herz brach. Arme
Janellen. Sie musste sich tagein, tagaus mit der alten Hexe herumschlagen. Jody hatte das Talent,
aus jeder Nachfrage eine Inquisition zu machen, aus jeder Beobachtung eine kritische Bemerkung
und mit jedem Blick ihre Verachtung auszudrücken. Wie konnte Janellen diese Intoleranz
ertragen? Warum tat sie es? Warum suchte sie sich nicht einen netten Burschen und heiratete?
Was machte es schon, wenn es nicht die große Liebe war? Nichts konnte schrecklicher sein, als
mit Jody zusammenzuleben.
Allerdings war Jody Janellen gegenüber lange nicht so kritisch wie bei ihm. Auch bei Clark war
es anders gewesen. Er, Key, schien mit dem Fluch behaftet zu sein, sich den Zorn seiner Mutter
zuzuziehen. Wahrscheinlich war es so, weil er das lebende Abbild seines Vaters war, und, weiß
Gott, Clark junior hatte sie bis zum Tag seines Todes getriezt. Nicht eine Träne hatte sie bei
seiner Beerdigung vergossen.
Key schon. Nie zuvor hatte er geweint – und auch später niemals mehr –, doch an Clark juniors
Grab hatte er geheult wie ein kleines Baby, aber nicht etwa, weil sein Vater ein
aufopferungsvoller Dad gewesen wäre. Die meisten seiner Erinnerungen an ihn kreisten um
Abschiede, die Key stets das Gefühl gegeben hatten, er sei allein gelassen worden. Doch so rar die
wenigen anderen Momente mit seinem Daddy gewesen sein mochten – der laut war, lachte und
Witze erzählen konnte und der mit seinem Charme immer eine ganze Schar Bewunderer um sich
versammelte –, es waren dennoch die einzigen glücklichen Erinnerungen an seine Kindheit.
Key war erst neun Jahre alt, als sein Vater getötet wurde, doch er spürte mit der unerklärlichen
Weisheit von Kindern, dass in diesem Sarg auch seine einzige Chance begraben wurde, geliebt zu
werden.
Als könne sie seine Gedanken lesen, fragte Jody plötzlich: »Bist du nach Hause gekommen, um
mich sterben zu sehen?« Key warf ihr einen scharfen Blick zu. »Wenn ja, muss ich dich leider
enttäuschen. So schnell wirst du mich nicht los.«
Sie hatte es auf einen Streit angelegt, doch Key entschied sich, auf die unverschämte
Unterstellung mit einem Witz zu kontern. »Da bin ich aber erleichtert, Jody. Mein dunkler
Anzug ist nämlich noch in der Reinigung. Nein, eigentlich bin ich heimgekommen, um zu
sehen, wie’s euch geht.«
»Du hast dich doch noch nie darum geschert, wie es uns geht. Woher das plötzliche Interesse?«
Das Letzte, was Key wollte, war ein Streit mit seiner Mutter. Er war heute Morgen einfach nicht
in Form, und Jody war es schon immer gelungen, sein psychisches Wohlbefinden in Unordnung
zu bringen. Optimismus und Humor waren Fremdworte für sie. Er hatte das Wiedersehen so
unkompliziert wie möglich gestalten wollen, allein schon seiner armen, geplagten Schwester
zuliebe. Doch Jody schien alles daranzusetzen, dieses Vorhaben unmöglich zu machen.
»Ich bin hier geboren worden«, antwortete Key ruhig. »Dies hier ist mein Zuhause. Das war es
jedenfalls einmal. Bin ich etwa nicht mehr willkommen?«
»Natürlich bist du willkommen«, beeilte sich Janellen zu sagen. »Mama, möchtest du Schinken
oder Würstchen?«
»Egal.« Jody wedelte nervös mit der Hand, als verscheuchte sie eine Fliege. Während sie sich
eine neue Zigarette ansteckte, fragte sie Key: »Wo warst du die ganze Zeit?«
»Zuletzt in Saudi-Arabien.« Er schlürfte seinen Kaffee und erzählte Jody das, was er zuvor
Janellen schon berichtet hatte. Dass er auf Janellens Bitten nach Hause gekommen war, ließ er bei
seiner Schilderung aus.
»Ich habe unabhängige Kontrollmannschaften zu und von den brennenden Quellen geflogen.
Ab und an Ausrüstungen transportiert und manchmal auch Verletzte. Aber die sind da unten kurz
vor dem Abschluss, und mein Vertrag lief aus. Also dachte ich, ich schau mal vorbei.
Wahrscheinlich glaubst du es nicht, aber ich habe Eden Pass vermisst. Ich bin seit über einem
Jahr, seit Clarks Beerdigung, nicht mehr hier gewesen.«
Er nahm noch einen Schluck von seinem Kaffee. Mehrere Sekunden verstrichen, bis ihm auffiel,
dass Janellen ihn wie ein aufgescheuchtes Reh anstarrte und Jody stöhnte.
Langsam setzte er die Tasse auf den Unterteller ab. »Was ist denn los?«
»Nichts«, sagte Janellen hastig. »Möchtest du noch Kaffee?«
»Ja, aber ich bediene mich schon selbst. Ich glaube, der Schinken brennt an.« Rauch stieg von
der Pfanne auf.
Key humpelte zur Anrichte und schenkte sich nach. Er brauchte eine Schmerztablette, aber die
hatte er oben im Bad liegenlassen. Trotz der ärztlichen Warnung hatte er die beiden Tabletten
vor dem Schlafengehen mit einem Glas Whisky heruntergespült. Das hatte ihn durch die Nacht
gebracht.
Aber jetzt meldeten sich die Schmerzen zurück. Er wünschte, er hätte die Unverfrorenheit, sich
den Brandy zu schnappen, den Janellen zum Kochen nahm, und seinen Kaffee damit zu würzen.
Aber das würde Jody nur einen weiteren Anlass zum Streit geben. Momentan hatte er genug mit
dem pochenden Schmerz in der Seite und dem dumpfen im Knöchel zu kämpfen.
So unbekümmert er seine Verletzung auch abgetan hatte, als er zum Stuhl zurückhumpelte,
entfuhr ihm ein unfreiwilliges Stöhnen. »Verrätst du uns jetzt vielleicht, wobei du dich so
zugerichtet hast?«, fragte Jody.
»Nein.«
»Ich hasse diese Heimlichtuerei.«
»Glaub mir, du willst es nicht wissen.«
»Daran habe ich keinen Zweifel«, bemerkte Jody säuerlich. »Ich habe nur keine Lust, die
erbärmlichen Einzelheiten über Dritte zu erfahren.«
»Denk einfach nicht darüber nach. Es geht dich nichts an.«
»Es geht mich sehr wohl etwas an, wenn du am ersten Abend deiner Rückkehr bereits im
Krankenhaus landest.«
»Ich war nicht im Krankenhaus, sondern in Dr. Pattons Praxis, und da war diese Ärztin.
Wirklich hübsch, die Kleine«, sagte er mit einem breiten Grinsen. »Sie hat mich versorgt.«
Janellen ließ den metallenen Pfannenheber auf den Herd fallen. Zuerst dachte Key, dass sie das
hochspritzende Fett verbrannt hätte, aber dann bemerkte er den harten, unversöhnlichen
Ausdruck des Zornes auf Jodys Gesicht, den er nur zu gut kannte.
»Was ist? Warum seht ihr mich an, als hätte ich gerade auf ein Grab gepinkelt?«
»Weil du genau das getan hast.« Jodys Ton verriet tiefen, donnernden Groll. »Du hast auf das
Grab deines Bruders gepinkelt.«
»Wovon zum Teufel sprichst du überhaupt?«
»Key … «
»Die Ärztin!«, unterbrach Jody, wütend mit der Faust auf den Tisch hämmernd, ihre Tochter.
»Hast du sie nicht erkannt?«
Key versuchte, sich zu erinnern. Er war nicht so schwer verletzt gewesen, dass ihm alle
Einzelheiten entgangen wären – zum Beispiel erinnerte er sich noch sehr gut an ihre
ausdrucksvollen braunen Augen, das attraktiv zerzauste Haar, die langen, schlanken Beine. Er
hatte sich sogar die Farbe ihrer Fußnägel eingeprägt und ihren Duft. Er erinnerte sich
ausgezeichnet an diese intimen Details, aber ihr Name wollte ihm einfach nicht einfallen.
Außerdem, wieso ging das Janellen oder Jody etwas an? Es sei denn, sie hatten wegen des einen
Vorfalls allgemein Vorurteile gegen weibliche Mediziner.
Während er noch überlegte, stieg ein nagendes Gefühl in seinem Inneren auf. Gott, das konnte
nicht sein. »Wie heißt sie?«
Jody starrte ihn nur an. Er schaute fragend auf Janellen. Die wrang nervös einen Lappen aus. Sie
wirkte ganz elend. »Sie führt die Praxis unter ihrem Mädchennamen, Lara Mallory«, flüsterte sie.
»Ihr eigentlicher Name ist … «
»Lara Porter«, beendete Key für sie mit leiser, tiefer Stimme.
Janellen nickte.
»Jesus.« Er presste die Handballen an die Augen und stellte sich im Geist die Frau vor, die er in
der Nacht zuvor kennengelernt hatte. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit den Fotos in den
Zeitungen. Weder ihre Geschicklichkeit noch ihre offene Art entsprachen dem Bild, das er sich
von Lara Porter gemacht hatte, jener Frau, die das Verderben seines Bruders gewesen war und die
– wie viele Kenner der Politik behaupteten – den Lauf der amerikanischen Geschichte beeinflusst
hatte.
Schließlich senkte Key die Hände und zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich hatte keine Ahnung.
Sie hat sich nicht vorgestellt, und ich habe sie auch nicht nach ihrem Namen gefragt. Ich habe sie
nicht wiedererkannt von den Fotos, die ich gesehen hatte. Das Ganze ist immerhin schon – wie
lange? – fünf, sechs Jahre her?«
Er hasste sich selbst für die gestotterten Entschuldigungen, da er genau wusste, dass der Schaden
bereits angerichtet war und Jody ihm niemals vergeben würde, was er jetzt auch sagte. Also
schwenkte er um und fragte: »Was hat diese Lara Porter überhaupt hier in Eden Pass verloren?«
»Zählt das irgendwie?«, fragte Jody schroff. »Sie ist hier. Und du wirst dich von ihr fernhalten,
verstanden? Wenn ich mit ihr fertig bin, wird sie sich auf demselben Weg aus der Stadt
schleichen, wie sie sich hineingeschlichen hat. Und bis dahin werden die Tacketts und alle, die
Wert auf unsere Bekanntschaft legen, ihr mit der Verachtung begegnen, die sie verdient hat. Das
schließt auch dich ein. Besonders dich.« Sie zeigte mit der Zigarette auf ihn, um ihre Worte zu
unterstreichen. »Du kannst jede Schlampe in der Stadt vögeln, Key. Aber halte dich von ihr fern.«
Key wechselte sofort in die Defensive und schrie genauso laut zurück: »Was hältst du mir
eigentlich vor? Ich habe mich schließlich nicht mit ihr im Bett erwischen lassen. Das war Clark!«
Jody sprang auf, beugte sich vor, über Ketchup und Tabascoflaschen, und schrie wütend auf
ihren jüngeren Sohn ein: »Wie kannst du es wagen, so von ihm zu sprechen?! Hast du keinen
Funken Anstand im Leib, keinen Respekt vor deinem Bruder?«
»Clark!«, schrie Key, erhob sich ebenfalls und stellte sich seiner Mutter entgegen. »Sein Name
war Clark, und du, die du noch nicht mal seinen Namen über die Lippen bringst, willst mir was
von Respekt erzählen?«
»Es tut so weh, von ihm zu sprechen, Key.«
»Warum?« Er drehte sich zu Janellen um, die die schüchterne Bemerkung eingeworfen hatte.
»Weil, nun … weil sein Tod so verfrüht war. So tragisch.«
»Ja, das war er. Aber das ist kein Grund, Clarks Existenz zu leugnen.« Er wandte sich wieder
Jody zu. »Daddy hat dafür gesorgt, dass Clark und ich etwas Spaß im Leben hatten, bevor er starb.
Er wollte, dass wir uns nahestehen, im Gegensatz zu dir. Und das taten wir. Gott weiß, Clark und
ich waren wie zwei entgegengesetzte Pole, aber wir waren Brüder. Ich habe ihn geliebt. Ich habe
um ihn getrauert, als er starb. Und ich weigere mich, seine Existenz zu leugnen, nur um eure
Gefühle zu schonen.«
»Du hast kein Recht, den Namen deines Bruders in den Mund zu nehmen.«
Das tat weh. Selbst jetzt noch traf es ihn wie ein Messerstich, wenn sie so etwas sagte. Sie ließ
ihm keine andere Wahl, als zurückzuschlagen. »Wenn er so verdammt perfekt war, wieso führen
wir dann dieses Gespräch, Jody? Wenn er so unfehlbar war, würde es keine Lara Porter in
unserem Leben geben. Keinen Skandal. Keine Presseberichte. Keine Schande. Clark wäre für
immer als der Goldjunge vom Capitol Hill in die Geschichte eingegangen.«
»Hör auf!«
»Gern!« Er schnappte sich die Krücken und humpelte zur Hintertür.
»Key, wo willst du hin?«, rief Janellen ihm mit Panik in der Stimme nach.
»Ich habe einen Termin beim Arzt.«
Er schleuderte Jody einen wütenden Blick zu und schlug die Tür hinter sich zu.
Lara hatte kaum ein Auge zugetan. Schon unter normalen Umständen war sie keine
Tiefschläferin. Oft wurde sie von Alpträumen geweckt und lag dann lange Zeit wach im Bett. Sie
lauschte nach dem Weinen, das sie nie wieder hören würde. Trauer war der Grund für ihre
häufige Schlaflosigkeit.
Und in der vergangenen Nacht hatte Key Tackett den Schlaf praktisch unmöglich gemacht. Sie
war mit einem dumpfen Kopfschmerz aufgewacht und hatte dunkle Ringe unter den Augen, die
sich selbst mit Schminke nicht ganz verdecken ließen. Zwei Tassen starker Kaffee hatten den
Kopfschmerz vertrieben, nicht jedoch die Gedanken an den späten Besucher.
Sie hatte es für unmöglich gehalten, jemals wieder einem derart attraktiven Mann wie Clark zu
begegnen – bis sie Key gesehen hatte. Die Brüder waren vom Typ völlig unterschiedlich, sicher.
Clark hatte das makellose, glatte Auftreten eines Marineoffiziers. Nie war auch nur eine Strähne
seines blonden Schopfes unordentlich. Seine maßgeschneiderten Anzüge waren stets tadellos
gebügelt, und in seinen Schuhen konnte man sich spiegeln. Er war die Verkörperung des netten,
gutaussehenden Jungen von nebenan, der All-American-Boy, den sich jede Mutter für ihre
Tochter wünschen würde.
Key war ein Bursche, vor dem die Mütter ihre Töchter versteckten. Obwohl er genauso
gutaussehend wie sein Bruder war, unterschieden sie sich wie ein Mitglied einer Straßengang von
einem Anführer der Pfadfinder.
Key war von Beruf Pilot. Laut Clark konnte er ein Flugzeug nach Gefühl steuern und verließ
sich mehr auf seinen Instinkt und Erfahrung als auf aeronautische Instrumente. Er griff nur dann
auf die Technik zurück, wenn ihm keine andere Möglichkeit blieb. Clark hatte damit geprahlt,
dass es kein Flugzeug gäbe, das sein Bruder nicht fliegen könnte. Aber Key zog es vor,
unabhängig zu bleiben, statt sich von einer kommerziellen Fluglinie anheuern zu lassen.
»Zu viele Regeln und Bestimmungen für ihn«, hatte Clark gesagt und nachsichtig, aber voller
Zuneigung über seinen kleinen Bruder gelächelt. »Er will nur sich selbst gegenüber verantwortlich
sein.«
Jetzt, da Lara ihn kennengelernt und die Wirkung seines verschlagenen Lächelns
höchstpersönlich zu spüren bekommen hatte, konnte sie sich Key Tackett unmöglich in einer
Pilotenuniform, mit wohltönender Stimme seinen Gästen die Wetterbedingungen des
Zielflughafens ansagend, vorstellen.
Die vielen Stunden, die er in Cockpits verbracht hatte, machten sich in den attraktiven Linien
bemerkbar, die von seinen Augen ausgingen – Augen vom selben strahlenden Blau wie Clarks.
Aber Clark war der helle, blonde Typ gewesen. Keys Augen waren von dichten schwarzen
Wimpern umrahmt. Er war eindeutig das schwarze Schaf der Familie, selbst in physischer
Hinsicht. Sein Haar war dicht und dunkel und genauso widerspenstig wie er, Clark war stets
tadellos rasiert gewesen. Key hatte keinen Drei-, sondern mindestens einen Fünftagebart gehabt.
Merkwürdigerweise hatten die Stoppeln seiner Attraktivität keinen Abbruch getan, im Gegenteil.
Beide Brüder waren Prachtexemplare der menschlichen Gattung. Clark war korrekt und
gebildet gewesen, Key dagegen ungezähmt. Lara stellte sich vor, dass er knurrte, wenn man ihn
reizte oder wütend machte.
»Guten Morgen.«
Sie schreckte auf, als wäre sie bei etwas ertappt worden, dessen sie sich schämen müsste. »Oh,
guten Morgen, Nancy. Ich habe Sie gar nicht hereinkommen hören.«
»Das hat man gemerkt. Sie waren ja Millionen Kilometer weit weg.« Die Arzthelferin verstaute
ihre Handtasche in der Hängeablage und schlüpfte in einen pastellfarbenen Laborkittel. »Was ist
mit dem Telefon im Untersuchungszimmer passiert?« Sie war zur Hintertür hereingekommen.
Lara saß in der schmalen Nische, in der sie Getränke und kleine Snacks aufbewahrten. Die Küche
des angeschlossenen Hauses war für Laras persönlichen Bedarf vorbehalten.
»Ach, das hatte einen Wackelkontakt. Ich werde es auswechseln lassen.«
Da sie sich ihrer Gefühle über Key Tacketts Besuch in der Praxis noch nicht ganz im Klaren
war, wollte sie Nancy noch nichts davon erzählen. »Kaffee?« Sie hob die Kanne hoch.
»Und ob.« Die Schwester rührte zwei Löffel Zucker in die dampfende Tasse, die Lara ihr
gereicht hatte. »Es sind nicht zufällig noch ein paar Doughnuts da?«
»Doch, im Schrank. Ich dachte, Sie sind auf Diät.«
Nancy Baker fand die Doughnuts und biss von einem gleich die Hälfte ab. Dann leckte sie sich
den Zuckerguss von den Fingern. »Habe ich abgebrochen«, erklärte sie ohne Reue. »Ich bin zu
beschäftigt, um Kalorien zu zählen. Außerdem könnte ich bis zum Jüngsten Tag Diät halten, und
aus mir würde trotzdem kein Model werden. Clem liebt mich so, wie ich bin. Er sagt immer,
dann hat er mehr von mir.«
Lara lächelte. »Wie war Ihr freier Tag?«
»Toll«, antwortete Nancy und schnalzte mit den Lippen. »Alles in allem betrachtet war es
wunderbar. Unsere Hündin ist läufig, und Klein-Clem hat die Steppschuhe seiner Schwester
entdeckt, ist dann den ganzen Tag mit dem rechten Schuh auf dem linken Fuß und umgekehrt
herumstolziert. Als wir versucht haben, sie ihm auszuziehen, hat er Zeter und Mordio gebrüllt,
also haben wir ihm seinen Willen gelassen. Er sah absolut albern aus, aber mit Steppen kann ich
leben, mit Brüllen nicht.«
Nancys Anekdoten über ihren chaotischen Haushalt waren immer amüsant. Sie tat, als würde sie
sich über die Hektik beschweren, über die drei Kinder, die ständig irgendwelche »Phasen«
durchmachten, aber Lara wusste, dass sie ihren Mann und die Kinder über alles liebte und mit
niemandem auf der Welt tauschen würde.
Nancy hatte sich auf die Annonce beworben, die Lara im Lokalblatt aufgegeben hatte, und Lara
hatte sie gleich nach dem ersten Treffen eingestellt, zum Teil natürlich auch, weil Nancy die
einzige Bewerberin gewesen war. Nancy hatte sehr gute Qualifikationen trotz ihrer Babypause,
die sie sich vor zwei Jahren genommen hatte, als sie Klein-Clem bekam.
»Jetzt, wo es Zeit wird, ihn ans Töpfchen zu gewöhnen, überlasse ich gern Granny Baker die
Ehre.«
Lara hatte Nancy sofort ins Herz geschlossen und war sogar ein wenig eifersüchtig auf sie. Auch
sie hatte chaotische Zeiten in ihrem Leben erfahren, doch nie von der fröhlichen Art, die Nancys
Alltag bestimmte. Ihr Chaos hatte ihr Leben geprägt, hatte Wunden und tiefe Narben
hinterlassen. Die Katastrophen, die sie erlebt hatte, waren unwiderruflich gewesen.
»Wenn Clem nicht gewesen wäre«, sagte Nancy, als sie ihren zweiten Doughnut vertilgt hatte,
»hätte ich wahrscheinlich den Hund und die Kinder gekillt und mir dann die Haare ausgerissen.
Aber als er nach Hause kam, hat er mich überredet, die Kinder bei seiner Mutter abzuladen und
mit ihm essen zu gehen. Wir haben uns Beltbusters mit Zwiebelringen im Dairy Queen geleistet.
Köstlich!
Als Klein-Clem endlich eingeschlafen war, habe ich die Steppschuhe oben im Schrank versteckt,
damit er heute nicht mehr daran denkt. Und Clem ist mit der Hündin zum Tierarzt gefahren, wo
sie entweder besamt oder sterilisiert wird. Ach übrigens, falls sich ein williger Spender findet,
wollen Sie vielleicht ein nettes kleines Hündchen von dem Wurf abhaben?«
»Nein, danke«, sagte Lara lachend.
»Kann ich verstehen. Wahrscheinlich werde ich auf dem ganzen verdammten Wurf
hockenbleiben.« Sie wusch sich die Hände über dem Becken. »Ich werd jetzt mal besser im
Terminkalender nachsehen, wer heute kommt.«
Dabei wussten sie beide, dass es kaum Termine gab. Tatsächlich fanden sich mehr Lücken als
Eintragungen in dem Buch. Schon seit mehr als einem halben Jahr war Lara jetzt in der Stadt,
aber ihre Praxis lief noch immer nicht. Wenn sie das Ersparte nicht gehabt hätte, hätte sie schon
längst schließen müssen.
Doch mehr als die Finanzen machte ihr die berufliche Situation Sorgen. Sie war eine gute
Ärztin. Sie wollte praktizieren – obwohl sie sich aus freien Stücken wohl kaum Eden Pass als
Niederlassung ausgesucht hätte.
Eden Pass war für sie ausgesucht worden.
Diese Praxis war ihr zum Geschenk gemacht worden, als sie überhaupt nicht damit gerechnet
hatte, obwohl damit ein Plan in greifbare Nähe gerückt war, den sie seit langem entwickelt hatte.
Sie hatte eine glaubwürdige Ausrede gebraucht, wie sie Key Tackett kennenlernen konnte, und
als sich die Möglichkeit geboten hatte, praktisch sein Nachbar zu werden, hatte sie zugegriffen.
Allerdings nicht, ohne sich bewusst zu sein, dass ihre Situation als einziger Arzt im Ort schwierig
werden würde.
Und auch für die Einwohner, die an Doc Patton und sein kleines überladenes Sprechzimmer
gewöhnt waren. Die Diplome, die jetzt die Wände zierten, hatte sie bekommen. Ihr gehörten die
medizinischen Bücher in den Regalen. Trotzdem trug das Zimmer noch immer den Stempel
ihres männlichen Vorgängers. Sobald sie finanziell etwas besser dastand, wollte sie die dunkle
Verkleidung streichen und die schweren Ledermöbel gegen ein etwas luftigeres, zeitgemäßeres
Mobiliar austauschen.
Diese geplanten Veränderungen waren rein kosmetischer Natur. Die Einstellung in den Köpfen
der Leute zu ändern, das würde mehr Zeit und Anstrengung bedürfen. Doc Patton war vierzig
Jahre lang Arzt in Eden Pass gewesen, bevor er sich zur Ruhe gesetzt hatte, und er hatte sich in all
den Jahren keinen einzigen Feind gemacht. Manchmal wurde Lara gefragt: »Wo ist der Doc?« Mit
demselben Misstrauen in der Stimme, das auch Key Tackett in der vergangenen Nacht gehabt
hatte, als er sie fragte. Als hätte sie den alten Arzt aus purem Egoismus vertrieben.
Lara Mallory hatte einen langen Weg vor sich, wenn sie dasselbe Vertrauen zu den Menschen in
Eden Pass aufbauen wollte, das Doc Patton genossen hatte. Und sie wusste, dass ihr niemals
dieselbe Zuneigung wie ihm entgegengebracht werden würde, denn sie würde für sie immer die
liederliche Frau bleiben, mit der Clark sich eingelassen hatte. Jeder hier in seiner Heimatstadt
wusste davon. Deshalb hatte ihr Auftauchen sie auch so überrascht. Lara hatte gehofft, dass sie sich
bald von ihrem anfänglichen Schock erholen, sie als die qualifizierte Ärztin, die sie war,
anerkennen und den Skandal vergessen würden.
Unglücklicherweise hatte sie dabei Jody Tacketts Einfluss in der Gemeinde unterschätzt.
Obwohl sie sich nie persönlich kennengelernt hatten, tat Clarks Mutter alles, um Laras Vorhaben
schon im Keim zu ersticken.
Eines Nachmittags, als sie sich besonders niedergeschlagen fühlte, sprach sie Nancy darauf an.
»Ich denke, es ist kein Geheimnis für Sie, weshalb die Leute von Eden Pass lieber zwanzig
Minuten mit dem Auto zum nächsten Arzt fahren, als zu mir zu kommen.«
»Natürlich nicht«, hatte Nancy geantwortet. »Jody Tackett hat verbreiten lassen, dass jeder, der
sich auf weniger als zehn Meter Ihrer Praxis nähert, und wenn er noch so krank ist, auf ihre
schwarze Liste kommt.«
»Wegen Clark?«
»Mmh-hmm. Hier weiß jeder über die Affäre von Ihnen beiden Bescheid. Nachdem sie ihn
beerdigt hatten, verstummte der Klatsch fast. Aber dann tauchten Sie ein paar Monate später auf.
Jody war stinkwütend und beschloss, Sie zur Aussätzigen zu stempeln.«
»Warum sind Sie dann bereit, für mich zu arbeiten?«
Nancy holte tief Luft. »Mein Daddy hat sich fünfundzwanzig Jahre lang für Tackett Oil & Gas
abgeschuftet. Das ist schon lange her, da war Clark senior noch der Boss.« Sie hielt inne. »Sie
wissen doch, dass Clark – Ihr Clark – die dritte Generation Clark Tacketts war, nicht wahr? Sein
Großvater war Clark senior und sein Vater Clark junior.«
»Ja, das weiß ich.«
»Okay, so weit, so gut. Jedenfalls passierte ein Unfall an einer der Quellen, bei dem mein Vater
umkam.«
»Haben die Tacketts die Schuld eingestanden?«
»Sie hatten ihn abgesichert, wie es vorgeschrieben war. Meine Mutter hat die
Versicherungssumme, die uns zustand, ausgezahlt bekommen. Aber keiner von denen kam zur
Beerdigung. Sie riefen nicht einmal an. Sie ließen vom Blumengeschäft ein großes Gebinde
Chrysanthemen schicken, aber keiner hat meiner Mama sein Beileid ausgesprochen. Ich war
damals noch ein Kind, aber ich dachte und denke es noch heute, dass es schäbig von ihnen war,
sie so allein zu lassen. Sicher, Daddys Tod hat keine Wellen auf ihrem schmierigen Öl geschlagen,
aber er war immer ein loyaler, hart arbeitender Angestellter gewesen. Seitdem habe ich eine
schlechte Meinung von den Tacketts, insbesondere von Jody.«
»Wieso Jody?«
»Die hat Clark junior doch nur geheiratet, weil sie auf Tackett Oil scharf war.« Nancy war auf
ihrem Stuhl näher herangerückt. »Sehen Sie, Clark Tackett senior war zur Blütezeit des Booms
unabhängiger Förderer. Er ist bei seiner ersten Bohrung auf Öl gestoßen und hat praktisch über
Nacht ein verdammtes Vermögen gemacht. Und er blieb erfolgreich. Dann kam Clark junior.
Seine Ambition im Leben war, sich eine schöne Zeit zu machen und möglichst viel von dem
Geld seines Vaters für Frauen, Whisky und am Spieltisch auszugeben.«
Sie seufzte bei der Erinnerung an ihn. »Er war der attraktivste Mann, der mir je begegnet ist.
Frauen aus der ganzen Gegend betrauerten seinen Tod. Nur eine nicht – Jody. Als er starb, hatte
sie endlich, was sie wollte.«
»Tackett Oil?«
»Die totale Kontrolle. Der alte Mann war bereits tot. Als Clark junior in diesem Gletscher
verunglückt ist – ich glaube im Himalaya – und sich das Genick brach, krempelte Jody die Ärmel
hoch und machte sich an die Arbeit.«
Nancy brauchte keine Ermunterung fortzufahren.
»Die ist zäh wie Stiefelleder. Stammt aus einer armen Farmerfamilie. Ihr Haus wurde von einem
Tornado zerstört. Sind alle dabei umgekommen, außer ihr. Eine Witwe hat sie aufgenommen und
für ihre Erziehung gesorgt. Jody war clever und bekam ein Stipendium an der Technischen Uni
von Texas. Gleich nach dem College fing sie bei Clark senior an. Sie kam vom Land und erwarb
für ihn ein paar der besten Grundstücke, selbst als alle Welt schon dachte, das Öl in Ost-Texas
wäre versiegt. Der alte Mann mochte sie. Jody war alles, was Clark junior nicht war –
verantwortungsbewusst, fleißig, ehrgeizig. Ich glaube, Clark senior stand hinter der Hochzeit von
den beiden.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, es hieß, Clark junior hätte eine Debütantin aus Fort Worth angebumst. Ihr Daddy hatte
Verbindungen zum Mob und war trotz seines ganzen Geldes und Ansehens nichts weiter als ein
aufgeblasener Zuhälter. Clark senior wollte nichts damit zu tun haben und drängte Clark junior
zur Heirat mit Jody. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber es wäre möglich. Clark junior liebte la
dolce vita. Er hätte jede Frau haben können. Welchen Grund hätte es für ihn gegeben, Jody zu
nehmen, außer den, dadurch der Mafia zu entkommen? Jedenfalls heirateten sie. Clark der Dritte
ließ lange Jahre auf sich warten. Böse Zungen behaupten, Clark junior hätte so lange bei Jody
gebraucht, die noch nie eine Schönheit gewesen war. Aber sie hat ja auch nie etwas aus sich
gemacht. Schätze, die denkt, dass Grips und Schönheit einander ausschließen.«
»Hat es ihr nichts ausgemacht, dass Clark junior so ein Schürzenjäger war?«
Nancy zuckte mit den Achseln. »Wenn, dann hat sie’s sich nicht anmerken lassen. Sie hat seine
Affären ignoriert und sich ums Geschäft gekümmert. Ich glaube, er war ihr weit mehr egal als
zum Beispiel der Preis von Rohöl. Wenn sie ihm die Geschäfte überlassen hätte, wäre die Firma
schon längst pleite. Jody ist eine rücksichtslose Geschäftsfrau. Sie blüht erst auf, wenn andere
hinter ihr auf der Strecke bleiben.«
»Von der Rücksichtslosigkeit habe ich schon ein paar Kostproben bekommen«, sagte Lara leise.
»Nun, Sie müssen verstehen, wieso sie sich so benimmt.« Nancy beugte sich vor und senkte die
Stimme, obwohl niemand dagewesen wäre, der mithören könnte. »Das Einzige, was Jody mehr
liebte als Tackett Oil, war ihr Junge, Clark. Sie hielt ihn für den Sonnengott persönlich. Ich
glaube, für sie konnte er nichts Falsches tun. Sie hatte seine Zukunft schon geplant, einschließlich
seines Antritts im Weißen Haus. Und sie gibt Ihnen die Schuld daran, dass ihre Träume zerstört
sind.«
»Sie und alle anderen anscheinend auch.«
Nach einem kurzen Moment der Besinnung fügte Nancy noch hinzu: »Seien Sie vorsichtig, Dr.
Mallory. Jody hat Macht und Geld und ein persönliches Interesse. Das macht sie gefährlich.« Sie
tätschelte Laras Hand. »Ich für meinen Teil halte erst mal zu jedem, der nicht auf ihrer Seite
steht.«
Damit war Nancy allerdings in der Minderheit. In den Monaten, die auf das Gespräch folgten,
konnten sie keinen Anstieg des Patientenaufkommens verzeichnen. Es gab nur eine Handvoll
Leute in Eden Pass, die es riskierten, bei Jody in Ungnade zu fallen, indem sie zu Lara gingen.
Ironischerweise gehörte auch Jodys eigener Sohn dazu.
Key Tackett hatte seinen Irrtum inzwischen bestimmt erkannt. Und wahrscheinlich prallte ihr
Name in diesem Moment gerade mit der Wucht eines Querschlägers von den Wänden des
Tackett-Hauses.
Sollten sie sie doch verfluchen. Sie war mit einem bestimmten Ziel vor Augen nach Eden Pass
gekommen, und das beinhaltete nicht, das Wohlwollen der Tacketts zu erringen. Sie wollte etwas
von ihnen, aber keine Anerkennung. Wenn die Zeit gekommen sein würde einzufordern, was sie
ihr schuldig waren, kam es nicht darauf an, ob sie sie mochten oder nicht.
Es war ein verhältnismäßig geschäftiger Vormittag. Gleich fünf Patienten hatten sich bis zum
Mittag angemeldet. Die Erste war eine ältere Dame, die über eine ganze Reihe von Beschwerden
klagte. Nachdem Lara sie untersucht hatte, stellte sie fest, dass die Frau kerngesund war, wenn
auch ein bisschen einsam. Sie verschrieb ihr ein Medikament – Multivitamintabletten – und
erzählte ihr von dem spannenden Kursangebot der Methodistenkirche.
Nancy führte den nächsten Patienten ins Sprechzimmer, einen quengeligen kleinen dreijährigen
Jungen, der Ohrenschmerzen und neununddreißig Grad Fieber hatte. Lara erklärte der
erschöpften Mutter gerade die Symptome der Krankheit, als sie vom Empfangsbereich einen
seltsamen Radau vernahm. Sie setzte den Jungen auf den Arm der Mutter, entschuldigte sich und
ging auf den Flur, um nachzusehen.
»Nancy, was ist denn hier los?«
Doch es war nicht die Schwester, die um die Ecke gebogen kam, sondern Key Tackett. Seine
Krücken hinderten ihn nicht, auf Lara zuzustürmen. Er war sichtlich aufgebracht.
Obwohl er nur wenige Zentimeter vor ihr haltmachte, blieb Lara ungerührt stehen. »Ihr Termin
ist erst heute Nachmittag, Mr. Tackett.«
Die Mutter war Lara auf den Flur hinaus gefolgt und stand jetzt hinter ihr. Das Kind auf ihrem
Arm brüllte mittlerweile mit ohrenbetäubender Lautstärke. Nancy tauchte hinter Key auf, um
Lara notfalls zu Hilfe zu kommen. Lara und Key waren zwischen ihnen, doch nur Lara fühlte sich
wie in einer Falle.
»Warum haben Sie mir letzte Nacht nicht gesagt, wer Sie sind?«
Die Frage ignorierend, sagte sie: »Wie Sie sehen, bin ich heute Morgen sehr beschäftigt. Ich
habe Patienten im Wartezimmer. Wenn es etwas gibt, das Sie mit mir besprechen möchten, lassen
Sie sich von meiner Mitarbeiterin einen Termin geben.«
»Und ob ich etwas mit Ihnen zu besprechen habe«, donnerte er. Der Schweiß lief ihm an den
Schläfen herunter. Ihm war fast alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. Beides Anzeichen von
starken Schmerzen.
»Ich glaube, Sie sollten sich besser setzen, Mr. Tackett. Sie sind in einem geschwächten Zustand.
Sie sollten auf keinen … «
»Hören Sie mit dem medizinischen Gequatsche auf!«, brüllte er. »Warum haben Sie mir gestern
Abend nicht gesagt, dass Sie die Nutte sind, die das Leben meines Bruders zerstört hat?«
Kapitel 4
Die hässlichen Worte trafen sie wie Ohrfeigen. Ihr wurde schwindlig, und sie musste tief Luft
holen. Die Wände des Flurs schienen näher zu kommen. Sie musste sich mit der Hand an der
Täfelung abstützen.
Nancy drängte sich an Key vorbei und baute sich vor ihm auf. »Key Tackett, du kannst hier
nicht einfach in die Praxis stürmen und so einen Aufstand veranstalten.«
»Nancy, ich würde ja liebend gern mit dir über die guten alten Zeiten plauschen, aber jetzt bin
ich hier, um mit Frau Doktor zu reden.« Er sprach es wie eine Beschimpfung aus.
Lara hatte inzwischen die Fassung wiedergewonnen. Sie bedeutete Nancy, sich um die Mutter
mit dem weinenden Kind zu kümmern. »Sagen Sie Mrs. Adams, dass ich sofort wieder bei ihr
bin.«
Nancy zögerte zunächst, warf Key einen drohenden Blick zu und bugsierte Mutter und Kind
zurück ins Sprechzimmer. Geräuschvoll schloss sie die Tür hinter sich.
Lara schob sich an Key vorbei und wandte sich an die Patienten, die neugierig auf den Flur
spähten. »Bitte, nehmen Sie doch wieder Platz«, sagte Lara so gefasst wie möglich. »Wir haben
eine kleine Änderung im Ablauf. Mr. Tackett hier ist verletzt und muss sofort behandelt werden.
Es wird nicht lange dauern.«
»Darauf würde ich nicht wetten.«
Die wartenden Patienten hörten die Bemerkung und sahen Lara unsicher an. »Ich werde gleich
wieder für Sie da sein«, versicherte sie ihnen. Dann drehte sie sich zu Key um und sagte: »In mein
Büro, bitte.«
Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, machte sie ihrem Ärger Luft. »Wie können Sie
es wagen, so etwas vor meinen Patienten über mich zu sagen! Ich hätte Sie verhaften lassen
sollen!«
»Sie hätten es gar nicht zu dieser Szene kommen lassen müssen!«, sagte er und deutete mit dem
Kopf in Richtung Flur. »Wenn Sie mir gestern Abend gesagt hätten, wer Sie sind!«
»Sie haben mich nicht nach meinem Namen gefragt. Und ich habe Ihren auch erst ein paar
Sekunden, bevor Sie gegangen sind, erfahren.«
»Tja, jetzt kennen Sie ihn.«
»Ja, und es überrascht mich nicht, dass Sie ein Tackett sind. Arroganz liegt bei Ihnen
anscheinend in der Familie.«
»Hier geht es nicht um die Tacketts. Es geht um Sie. Was zum Teufel haben Sie in unserer Stadt
zu suchen?«
»In Ihrer Stadt? Merkwürdig, das ausgerechnet von jemandem zu hören, der kaum hier ist. Clark
hat mir erzählt, Sie seien so gut wie nie in Eden Pass. Welchem Anlass verdanken wir denn die
Ehre Ihres Besuches?«
Er kam einen drohenden Schritt auf sie zu. »Ich habe Ihnen vorhin schon gesagt – lassen Sie das
dumme Gequatsche. Ich bin nicht hergekommen, um mit Ihnen zu plaudern. Also lenken Sie
jetzt nicht vom Thema ab!«
»Und das wäre?«
»Was Sie hier zu suchen haben!«, brüllte er.
Plötzlich schwang die Tür auf, und Nancy steckte den Kopf herein. »Dr. Mallory? Ist … Kann
ich Ihnen irgendwie helfen?«
Key zuckte nicht mal mit der Wimper; er ließ sich nicht anmerken, dass er die Unterbrechung
überhaupt wahrnahm.
Unterbewusst hatte sich Lara auf diesen Zusammenstoß schon vorbereitet, und sein wütender
Auftritt kam nicht überraschend für sie. Da sich die Konfrontation ohnehin nicht vermeiden ließ,
beschloss sie, es lieber gleich hinter sich zu bringen.
Sie warf der Schwester einen Blick zu. »Nein, danke, Nancy. Beruhigen Sie irgendwie die
Patienten, bis ich hier fertig bin.« Dann, in Keys zorniges Gesicht schauend, fügte sie hinzu: »Ich
werde schon mit Mr. Tacketts unbegründetem Temperamentsausbruch zurechtkommen.«
Nancy missbilligte Laras Entscheidung offensichtlich, ließ sie aber dennoch allein. Lara deutete
auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich, Mr. Tackett. Sie sehen aschfahl aus.«
»Ich bin in Ordnung.«
»Kaum. Sie schwanken ja.«
»Ich habe gesagt, ich bin okay«, wiederholte er gereizt.
»Nun gut, wie Sie wollen. Aber ich denke doch, dass uns beiden nicht daran gelegen ist,
Zuhörer zu haben, würden Sie also bitte etwas leiser sprechen?«
Er stützte sich auf die Krücken und beugte sich vor, bis sein Gesicht nur noch Zentimeter von
ihrem entfernt war. »Sie wollen nicht, dass uns jemand zuhört, weil Sie Angst haben, dass die
Handvoll Leute, die noch nicht wissen, dass man Sie mit nacktem Arsch bei meinem Bruder im
Bett erwischt hat, es erfahren.«
Sie hatte diese Worte schon so viele Male gehört, und dennoch hatten sie nichts von ihrer
Gemeinheit eingebüßt. Die Zeit schien ihre Wirkung nicht zu mildern.
Sie wandte ihm den Rücken zu und ging zum Fenster, das den Blick auf den Schotterparkplatz
hinter dem Haus freigab. Eine der Patientinnen aus dem Wartezimmer stieg soeben in ihr Auto.
Sie hätte nicht verlegener aussehen können, wenn sie einen Zeitschriftenladen mit einer Tüte
voller Pornomagazine verlassen hätte. Ihr anfahrender Wagen wirbelte eine Staubwolke auf.
Sie zu beobachten ließ Lara Zeit, eine Antwort zu finden. »Ich versuche mein Bestes, den
Zwischenfall mit Ihrem Bruder zu vergessen und mit meinem Leben fortzufahren.«
Sie drehte sich wieder zu ihm um, fühlte sich mit der Distanz zwischen ihnen wesentlich
wohler, obwohl er trotz der Entfernung noch immer bedrohlich wirkte. Er hatte sich auch heute
nicht rasiert und wirkte zerknitterter als in der Nacht zuvor. Am erschreckendsten aber war seine
ungeheure sexuelle Ausstrahlung. Sie spürte sie. Intensiv. Und dass sie das tat, schien ihn in seiner
geringschätzigen Meinung von ihr zu bestätigen, was ihr alles andere als recht war.
Den Blick senkend, sagte sie: »Verdiene ich keine zweite Chance, Mr. Tackett? Was geschehen
ist, liegt sehr lange zurück.«
»Ich weiß, wie lange es her ist. Genau fünf Jahre. Jeder in diesem Land erinnert sich an das
Datum, weil Sie, als man Sie an diesem Morgen im Bett mit meinem Bruder erwischt hat, den
Anfang von seinem Ende heraufbeschworen haben. Sein Leben war danach nie wieder dasselbe.«
»Meines aber auch nicht!«
»Das glaube ich gern«, schnaubte er sarkastisch. »Seitdem gelten Sie schließlich auch als die
Femme fatale der Nation.«
»Was ich mir nicht ausgesucht habe!«
»Daran hätten Sie denken sollen, bevor Sie mit Clark ins Bett gestiegen sind, verdammt.« Er
schüttelte verständnislos den Kopf. »Möchte wissen, was in Ihnen vorgegangen ist, fremdzugehen,
während der Ehemann nebenan im Zimmer schläft.«
Sie hatte gelernt, ihre Gefühle zu verbergen, weil sie anders nicht überlebt hätte. Als der Skandal
damals auf seinem Höhepunkt gewesen war, war sie fast nur noch mit einer undurchdringlichen
Maske herumgelaufen, die nichts von dem, was sie dachte oder fühlte, verriet. Diese Technik
wandte sie auch jetzt an. Um sich nicht durch die Stimme zu verraten, schwieg sie.
»Ein paar Sachen sind mir allerdings noch unklar«, sagte Key. »Klären Sie mich auf.«
»Ich habe diese Unterhaltung nicht gesucht. Abgesehen davon warten dort draußen Patienten
auf mich.«
»Ich bin auch Patient bei Ihnen – schon vergessen?« Er stellte die Krücke an den Tisch und
humpelte auf sie zu. »Ich bestehe auf einer gründlichen Behandlung.«
Die Anspielung war nicht zufällig. Sein unverschämtes Grinsen diente zur Unterstreichung. Lara
blieb ungerührt, jedenfalls äußerlich.
»Kommen Sie, Doc. Klären Sie mich auf. Clark hatte am Abend zuvor ein Essen gegeben,
richtig?«
Lara blieb stur bei ihrem Schweigen.
»Ich habe den ganzen Tag Zeit«, warnte er. »Nichts weiter zu tun, als meinen Knöchel zu
schonen. Und das kann ich hier genauso gut wie irgendwo anders. Mir ist das egal.«
Den Sheriff anzurufen und Tackett aus ihrem Haus entfernen zu lassen war eine Möglichkeit,
aber er hatte ihr schon gesagt, dass Sheriff Baxter ein alter Freund der Familie war. Ihn da mit
hineinzuziehen würde nur noch größeren Schaden anrichten. Was nutzte es auch, die Situation
hinauszuzögern, abgesehen von dem Versuch, das Gesicht zu wahren? Und der war schon vor
Jahren gescheitert. Seitdem war sie ein Profi, wenn es darum ging, den eigenen Stolz
hinunterzuschlucken.
»Clark hatte einige Bekannte aus Washington eingeladen, einen Abend auf dem Lande zu
verbringen«, sagte sie. »Randall und ich waren auch unter den Gästen.«
»Es war nicht das erste Mal, dass Sie Clark in seinem Cottage in Virginia besuchten, stimmt’s?«
»Richtig.«
»Sie waren mit dem Haus also vertraut?«
»Ja.«
»Und zwar weil Clark Junggeselle war und Sie ihm viele Male als Gastgeberin ausgeholfen
haben.«
»Ich habe ihm mehrmals dabei geholfen, Dinnerpartys auszurichten.«
»Und dabei seid ihr beide euch nähergekommen.«
»Wir mussten die Menüfolge gemeinsam besprechen …«
»O ja, natürlich …«
»Clark war eine Person des öffentlichen Lebens. Selbst zwanglose Zusammenkünfte mussten
geplant und vorbereitet werden.«
»Habe ich das etwa bestritten?«
Seine Verachtung war mindestens so verletzend wie seine wütenden Anschuldigungen. Lara
bemerkte mit einem Mal, dass sie die ganze Zeit über die Fäuste geballt hatte. Sie zwang sich
dazu, die Hände zu entspannen.
»Die Planung und Vorbereitung dieser Dinnerpartys und so muss Sie doch eine Menge Zeit
gekostet haben.«
»Ich hatte Spaß daran. Es war eine willkommene Abwechslung zu meiner Arbeit im
Krankenhaus.«
»Mmh-hmm. Und bei dieser Arbeit sind Sie – Sie und Clark, meine ich – sich dann immer
vertrauter geworden.«
»Ja«, antwortete sie leise. »Ihr Bruder war ein charismatischer Mann. Er hatte eine starke
Ausstrahlung. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder jemanden mit so viel Energie und Verve
kennengelernt habe. Er schien immer in Bewegung, selbst wenn er ruhig dastand. Er konnte sich
begeistern für die Dinge und hatte hohe Ideale. Er hatte so ehrgeizige Pläne, nicht nur für sich
selbst, auch für die Nation. Für mich war es kein Wunder, dass die Texaner ihn in den Kongress
wählten.«
»Gleich nach seinem Abschluss in Rechtswissenschaften«, betonte Key, obwohl sie das bereits
wusste. »Er hat nur eine Amtszeit im Repräsentantenhaus verbracht, bevor er sich entschloss, für
den Senat zu kandidieren. Er hat seinen Vorgänger und Gegner um Längen geschlagen.«
»Ihr Bruder war ein Mann mit Visionen. Ich konnte ihm stundenlang zuhören. Sein
Enthusiasmus und seine Überzeugungskraft waren einfach ansteckend.«
»Klingt, als wäre es Liebe gewesen.«
»Ich habe bereits zugegeben, dass wir uns sehr nahe standen.«
»Aber Sie waren verheiratet.«
»Ja. Clark und Randall waren Freunde. Randall hat uns miteinander bekannt gemacht.«
»Aha.« Er hob den Zeigefinger. »Auch das noch. Der arme Gehörnte. Was für ein Klischee.
Immer der Letzte, der erfährt, dass seine Frau fremdgeht. Dazu noch mit seinem besten Freund.
Ist der gute Randall nicht misstrauisch geworden, als Sie die Nacht über in Virginia bleiben
wollten, statt mit den anderen Gästen zusammen nach Washington zurückzukehren?«
»Es war Clarks Idee. Er und Randall hatten eine Verabredung zum Golf für den nächsten Tag.
Es wäre albern gewesen, den ganzen Weg nach D. C. zurückzufahren, nur um am nächsten
Morgen wiederzukommen. Randall sah das auch so.«
»Das war doch bestimmt bequem für Sie, Doc. Ich meine, wenn der eigene Ehemann einem
auch noch so entgegenkommt – haben Sie vielleicht vorher auch noch mit ihm gebumst, damit er
nichts merkt?«
Sie schlug ihn. Hart. Die Bewegung kam für sie genauso überraschend wie für Key. Sie hatte in
ihrem ganzen Leben noch nie jemanden geschlagen. Sie hätte nicht gedacht, dass sie dazu
überhaupt in der Lage war.
Beherrschung zu lernen war ein wichtiger Punkt in ihrer Erziehung gewesen. Seinen Gefühlen
nachzugeben war in ihrem Elternhaus etwas Undenkbares gewesen. Lautes Lachen oder heftiges
Schluchzen, jegliche Form von Gefühlsbeweisen, wurde als unakzeptables Benehmen gewertet.
Die Fähigkeit, innerlich abzuschalten, war ihr in Washington äußerst dienlich gewesen.
Sie wusste nicht, wie Key es geschafft hatte, durch ihre Emotionsbarriere zu brechen, aber es
war ihm gelungen. Wenn ihre Handfläche nicht so schlimm gebrannt hätte, wäre es ihr
unmöglich erschienen, dass sie ihn tatsächlich geschlagen hatte.
Doch ehe sie es ganz begreifen konnte, umklammerte er ihr Handgelenk, zog sie an sich und
drehte ihr den Arm auf den Rücken. »Tun Sie das nie wieder.« Er stieß die Worte zwischen
zusammengepressten Lippen hervor. Seine Augen blickten so direkt und scharf wie Laserstrahlen.
»So dürfen Sie nicht mit mir reden.«
»Ach nein? Und warum nicht?«
»Weil Sie nicht das Recht haben, über mich zu urteilen.«
»Das sehe ich anders! In anderen Teilen der Welt werden Frauen, die untreu waren, noch
gesteinigt!«
»Wären Sie dann zufrieden, wenn man mich gesteinigt hätte? Glauben Sie mir, von den Medien
durch den Dreck gezogen zu werden ist mindestens so brutal.« Ihre Hand wurde taub. Sie spreizte
die Finger. »Sie tun mir weh.«
Er ließ sie langsam los und wich einen Schritt zurück. »Reine Reflexbewegung.«
Mehr würde sie von ihm als Entschuldigung nicht erwarten können. So merkwürdig das im
Moment auch schien, aber sie hatte das Gefühl, es täte ihm leid, ihr weh getan zu haben.
Er stöhnte auf und presste seine Hand gegen die Seite.
»Haben Sie Schmerzen?«
»Es ist nichts.«
»Soll ich Ihnen etwas geben?«
»Nein.«
Als Ärztin wollte sie ihm instinktiv zu Hilfe kommen. Aber sie tat es nicht. Zum einen würde er
ihre Hilfe ablehnen. Doch vor allem wollte sie eine Berührung vermeiden. Erst jetzt, als der
Kontakt abgebrochen war, wurde ihr bewusst, wie eng er sie an sich gedrückt hatte. Während sie
ihre Hand massierte, um das Blut zum Zirkulieren zu bringen, versuchte sie die Situation mit
Humor zu nehmen, aber mehr zur eigenen Beruhigung. »Normalerweise schlage ich meine
Patienten nicht.«
Der Aufheiterungsversuch schlug fehl. Key schmunzelte nicht einmal. Er musterte ihr Gesicht.
»Ich habe Sie gar nicht wiedererkannt von den Fotos, die ich damals gesehen habe. Sie haben sich
verändert.«
»Ich bin fünf Jahre älter geworden.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, es ist mehr als nur das. Ihr Haar ist anders.«
Sie fasste sich unwillkürlich an den Kopf. »Ich helle es nicht mehr auf. Randall gefiel es besser,
wenn sie heller waren.«
»Ach ja, Ihr Mann. Armer Kerl. Schätze, er fühlte sich, als hätte man ihm den Boden unter den
Füßen weggezogen, hm? Was ich mich frage, ist – warum ist er bei Ihnen geblieben?« Sein Ton
hatte die Grenze zum Sarkasmus erreicht. »Ich meine, da waren Sie, Randall Porters rechtlich
angetrautes Weib, auf dem Titelblatt des National Inquirer als Liebhaberin von Senator Clark
Tackett zu sehen. Auf den Fotos hat Randall Sie im Bademantel aus dem Bett gezerrt.«
»Sie brauchen die Story nicht zu wiederholen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Berichte.«
»Und was macht der gute Randall?«, fragte er, als hätte sie nichts gesagt. »Er arbeitet fürs
Außenministerium, richtig? Ein Diplomat. Man könnte annehmen, er wäre sehr wortgewandt,
hätte auf alles eine Antwort. Aber streitet er die Anschuldigungen etwa ab? Nein. Tritt er vor und
nimmt Sie in Schutz? Nein. Verbittet er sich, Sie als Betrügerin zu bezeichnen? Nein. Lässt er
erklären, Sie hätten Ihren Fehler bereut und seien zu den Wiedergeborenen Christen
übergetreten? Nein.« Er stützte die Hände auf die Knie und beugte sich vor. »Randall gibt nicht
ein einziges Statement ab. Sagt gar nichts, flüchtet mit eingezogenem Schwanz in diese
Bananenrepublik, Sie im Schlepptau. ›Kein Kommentar‹ war alles, was die Medien je aus ihm
herausgequetscht haben.« Dann zuckte er mit den Achseln. »Na ja, andererseits, was kann er auch
schon groß sagen, wenn die eigene Frau vor seiner Nase mit dem besten Freund rummacht und
diese Affäre zu einem Politikum mit nationaler Bedeutung wird?«
»Nicht viel.« Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht noch einmal die Fassung zu verlieren, so
provokativ er auch werden mochte.
»Auch wenn Randall den Märtyrertod für sein Heimatland gestorben ist – für mich bleibt er ein
Feigling.«
»Nun, ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gebeten, Mr. Tackett. Und Sie sind der Letzte, mit
dem ich mich über mein Privatleben unterhalten würde, aber da wir schon beim Thema sind –
was ist mit Ihrem Bruder? War er etwa nicht feige? Hat er vielleicht versucht, meine Ehre zu
verteidigen oder die Sache zu bestreiten?« Clark hatte sich wie ihr Mann weder entschuldigend
noch erklärend zu dem Vorfall geäußert. Er hatte es ihr allein überlassen, die Schande auf sich zu
nehmen. Das gemeinsame Schweigen der beiden Männer kam einem Eingeständnis gleich und
war für sie die schlimmste Demütigung – sowohl öffentlich wie auch privat – von allen gewesen.
»Die Bombe war geplatzt. Was konnte er schon tun?«
»Oh, er tat eine Menge. Glauben Sie etwa, dass Randall zufällig nach Montesangrines versetzt
wurde?«
»Darüber habe ich nie nachgedacht.«
»Na, dann tun Sie es eben jetzt. Das Land ist die reine Hölle«, sagte sie aufgebracht. »Eine
einzige Jauchegrube. Eine hässliche, schmutzige, korrupte Republik. Und in politischer Hinsicht
ein Pulverfass, das jeden Augenblick hochgehen konnte. Randall ist nicht freiwillig dorthin
gegangen, Mr. Tackett. Er hat um die Versetzung nicht gebeten. Ihr Bruder hat dafür gesorgt«,
sagte sie verächtlich. »Das war seine Art, mit dem Skandal umzugehen. Er hat alles unter den
Teppich gekehrt, statt sich zu stellen.«
»Wie sollte er das geschafft haben? Dank Ihnen wollte doch niemand mehr etwas mit ihm zu tun
haben. Seine sogenannten Freunde haben ihm danach doch allesamt den Rücken zugekehrt.«
»Aber im Außenministerium gab es noch einige, die ihm einen Gefallen schuldig waren. Er hat
seine Beziehung spielen lassen, und – presto – schon hatte Randall einen Posten in einem der
damals gefährlichsten Gebiete der Welt. Kennen Sie die Geschichte von König David und
Bathseba?« Ohne seine Antwort abzuwarten, erklärte sie: »König David sandte Bathsebas
Ehemann an die vorderste Kriegsfront, um ihn sprichwörtlich umkommen zu lassen. Was auch
geschah.«
»Aber da enden die Parallelen auch schon«, sagte er, ließ sich von der Tischkante gleiten und
blieb direkt vor Lara stehen. »König David behielt Bathseba bei sich. Das spricht nicht gerade für
Sie, nicht wahr?«, fragte er mit einem Schnauben. »Sie haben Clark nicht so viel bedeutet, dass er
Sie um sich haben wollte. Sie müssen wirklich eine lausige Liebhaberin abgegeben haben.«
Auf ihren Wangen erschienen Flecken des Zorns. »Nach dem Skandal gab es für Clark und mich
keine Zukunft.«
»Für ihn ganz bestimmt nicht. Sie haben ihn die politische Karriere gekostet. Er hat seiner Partei
sogar die Peinlichkeit erspart, sich noch einmal zur Wahl zu stellen. Er wusste, dass die
Amerikaner Politiker leid waren, die sich mit ihren Miezen im Bett erwischen ließen.«
»Ich bin keine Mieze!«
»Oh, ich vergaß. Sie können ja bestimmt tippen«, bemerkte er in ätzendem Ton. »Tatsache
bleibt doch, dass mein Bruder Washingtons Goldjunge war, bis Sie auftauchten. Nach diesem
bewussten Morgen wurde er zum Paria auf dem Capitol Hill.«
»Kommen Sie mir nicht mit dem ›armen Clark‹! Ihr Bruder wusste um die möglichen
Konsequenzen seines Tuns!«
»Und er war gewillt, das Risiko einzugehen?«
»Präzise.«
»Sie müssen ja die Wahnsinnsnummer im Bett sein, wenn Sie es schaffen, einen Mann um
seinen gesunden Verstand zu bringen.«
»Das ist mir einfach zu dumm, um darauf zu antworten«, schnaubte sie wütend. »Glauben Sie,
Clark war der Einzige, für den die Sache Konsequenzen hatte?« Sie legte die Hand auf die Brust.
»Auch ich habe viel verloren. Zum Beispiel meine Karriere, die mir genauso wichtig war wie
Clark die seine.«
»Sie haben das Land verlassen.«
»Darum ging es nicht. Selbst wenn ich nicht mit Randall nach Montesangrines gegangen wäre,
ich hätte nie wieder eine Anstellung in oder um Washington bekommen. Ich würde noch immer
vergeblich versuchen, irgendwo meinen Beruf auszuüben, wenn Clark mir aus lauter schlechtem
Gewissen nicht dieses Haus hier vermacht hätte.«
»Was?« Sein Kopf zuckte zurück.
Lara schnappte nach Luft. Ihm stand vor Verblüffung der Mund offen. Es war offensichtlich, dass
sein Erstaunen echt war. »Sie wussten es nicht?«
Seine Brauen zogen sich über seinem Nasenrücken gefährlich zusammen.
»Ich fasse es nicht«, murmelte sie. Sorgfältig seine Reaktion beobachtend, fuhr sie fort: »Clark
hat Dr. Patton die Praxis abgekauft, als der sich zur Ruhe setzte. Danach hat er sie mir
überschrieben.«
Er starrte sie mehrere gespannte Augenblicke an – es fiel ihr schwer, seinem intensiven Blick
standzuhalten, doch sie tat es, ohne zu blinzeln. Verwirrung und Misstrauen drückten sich in
seinen Augen aus. »Sie lügen.«
»Sie müssen mir nicht glauben, Sie können sich im Rathaus selbst davon überzeugen.«
»Ich war dabei, als Clarks Testament verlesen wurde, und Sie wurden mit keinem Wort darin
erwähnt.«
»Er hat es so arrangiert. Fragen Sie Ihre Schwester, Ihre Mutter. Sie hat mir wiederholt gedroht,
das Erbe anzufechten, aber Clark hat dafür gesorgt, dass sein Vermächtnis nicht angezweifelt
werden kann.« Sie richtete sich auf. Keys Unwissenheit über diese Tatsache verschaffte ihr einen
Vorteil. »Ich habe es selbst erst nach seinem Tod erfahren. Sein Anwalt hat mich benachrichtigt.
Ich war geschockt, dachte, es müsste ein Irrtum sein, weil Clark und ich seit dem Skandal
keinerlei Kontakt mehr gehabt hatten.«
»Sie erwarten, dass ich Ihnen das glaube?«
»Es ist mir, verdammt noch mal, egal, ob Sie es glauben oder nicht!«, erwiderte sie patzig.
»Mein Bruder soll Ihnen einfach so ein Anwesen vermacht habe, das mehrere Hunderttausend
wert ist?« Er schnaubte verächtlich. »Unsinn. Sie müssen ihm das eingeredet haben.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, wir haben uns seit damals weder gesehen noch gesprochen«,
beharrte sie. »Ich wollte es nicht. Wieso hätte ich mit einem Mann sprechen sollen, der mich im
Stich gelassen und an einen gottverlassenen Ort verbannt hat? Der entscheidend
mitverantwortlich war für den Tod meines …« Sie brach ab.
»… Mannes?« Key grinste gehässig. »So schnell vergessen?«
»Nein, Mr. Tackett. Für den Tod meines Kindes.« Sie wandte sich ab, aber nur, um ein Foto
vom Tisch zu nehmen. Mit ausgestrecktem Arm hielt sie es ihm direkt vors Gesicht.
»Darf ich vorstellen – Ashley. Meine kleine Tochter. Mein wunderbares Baby. Sie wurde auch
in Montesangrines getötet. Oder wie Sie es so treffend ausdrückten: Sie starb den Märtyrertod im
Dienst an ihrem Land.« Lara traten die Tränen in die Augen und ließen Keys Bild verschwimmen.
Dann drückte sie plötzlich das Foto fest an ihre Brust.
Key murmelte eine Art Entschuldigung. Nach einer langen Pause sagte er: »Das mit Ihrem Kind
tut mir leid. Ich war damals in Frankreich und habe in einer englischen Zeitung darüber gelesen.
Ich erinnere mich auch, dass Clark an der Trauerfeier für Porter und Ihre Tochter teilgenommen
hat.«
»Ja, Clark war da, aber ich nicht. Ich lag noch im Krankenhaus von Miami und erholte mich
von meinen Verletzungen.« Müde strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und stellte die
Fotografie zurück an ihren Platz. »Ihr Bruder hat nicht versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen,
und darüber war ich erleichtert. Ich glaube, ich hätte ihn damals umbringen können, weil er
maßgeblich für die Verbannung nach Montesangrines verantwortlich gewesen war.«
»Aber so sehr gehasst, dass Sie sein Vermächtnis an Sie abgelehnt hätten, haben Sie ihn
offensichtlich nicht.«
»Nein. Wegen meines schlechten Rufs bekam ich keine Arbeit mehr. In all den Jahren nach
meiner Genesung ist es mir nicht gelungen, irgendwo länger zu bleiben – ich war immer nur so
lange angestellt, bis die Bosse daraufkamen, dass Dr. Lara Mallory eigentlich Lara Porter heißt. Es
war nicht wichtig, wie gut ich in meinem Job war, man forderte mich jedes Mal auf zu gehen.
Clark muss davon gewusst haben. Und er glaubte offenbar, dass er mir etwas schuldig war für all
das, was ich verloren hatte. Es war sein Versuch, meine berufliche Zukunft zu sichern. Wieso
hätte er mir sonst eine voll ausgestattete Praxis schenken sollen?« Spekulativ neigte sie den Kopf
zur Seite. »Merkwürdig, dass er, nur wenige Tage nachdem er diesen Zusatz ins Testament hatte
aufnehmen lassen, ertrank.«
Er reagierte auf die Bemerkung sichtlich gereizt. Es war ihm anzusehen, noch ehe er etwas sagte.
»Was zum Teufel wollen Sie damit andeuten?«
»Sie haben doch sicher auch die Gerüchte über seinen Tod gehört. Die Spekulation, dass es kein
Unfall war, sondern Selbstmord.«
»Sie sind doch krank«, zischte er. »Genau wie alle anderen, die das allen Ernstes annehmen.
Clark ist zum Angeln auf den See hinausgefahren. Wie ich ihn kenne, war er wahrscheinlich zu
stur, um die Schwimmweste anzulegen. Ich hätte es ja auch nicht gemacht.«
»Clark war ein guter Schwimmer. Er hätte sich an Land retten können.«
»Normalerweise«, entgegnete er. »Irgendetwas muss passiert sein.«
»Was denn? Es war kein Sturm an diesem Tag, es gab keine Probleme mit dem
Außenbordmotor. Das Boot ist nicht gekentert. Was könnte denn Ihrer Meinung nach passiert
sein?«
Er kaute auf seiner inneren Wange. Er wusste auch keine Antwort. »Ich weiß nur, dass mein
Bruder sich niemals das Leben genommen hätte. Und was immer der Grund dafür gewesen sein
mochte, dass er Ihnen das Haus hier kaufte, er hat ihn mit ins Grab genommen.«
»Der Grund ist nicht mehr wichtig, oder? Ich bin jetzt hier.«
»Was mich zu meiner anfänglichen Frage zurückbringt. Weshalb sind Sie hergekommen? Clark
war der Lieblingssohn der Stadt. Sie gelten als die Hure, die seine politische Karriere zerstört hat.
Meine Mutter wird dafür sorgen, dass sich an diesem Ruf nie etwas ändert.« In Anbetracht der
aufgebrachten Atmosphäre wäre es nicht sonderlich geschickt gewesen, den wahren Grund ihrer
Anwesenheit in Eden Pass zu nennen. Das hatte Zeit, bis sich die Feindseligkeit zwischen ihnen
gelegt hatte – falls das überhaupt möglich war. Im Moment war es sicherer, auf seine letzte
Bemerkung einzugehen.
»Ich habe keinen Zweifel, dass sie das versucht.«
»Ist das hier …« – er beschrieb mit der Hand einen Kreis – »… wirklich den ganzen Kummer
wert? Und glauben Sie mir, Jody weiß, wie man Kummer bereitet.«
»Ich möchte praktizieren, Mr. Tackett. Ich bin eine gute Ärztin. Ich erwarte nicht mehr, als
ungestört arbeiten zu können.«
»Das wird nicht ganz so einfach werden, denke ich. Tatsächlich habe ich den Eindruck, dass Ihr
Leben hier in Eden Pass die Hölle wie ein Kinderspielplatz aussehen lassen wird.«
»Soll das eine Drohung sein?«
»Nein, eine reine Feststellung, Doc. Niemand in Eden Pass wird es wagen, es sich mit Jody zu
verscherzen, indem er bei Ihnen Patient wird. Darauf können Sie sich verlassen. Zu viele
Familien sind finanziell von Tackett Oil abhängig. Die werden es eher in Kauf nehmen, vierzig
Meilen für ein Aspirin zu fahren, statt Ihre Schwelle zu übertreten.« Er grinste. »Es wird lustig sein
zu beobachten, wie lange es dauert, bis Sie einpacken und dahin verschwinden, woher Sie
gekommen sind. Und bevor das passiert, werden wir noch Spannendes zu sehen bekommen.
Vielleicht sollten wir Ihnen dankbar sein, weil Sie ein bisschen Abwechslung in das Kaff bringen.«
Er klemmte die Krücken unter die Achseln und humpelte in Richtung Ausgang.
Dann drehte er sich noch einmal um und sah Lara abschätzend von oben bis unten an. »Clark
war ein verdammter Narr, sein Leben für eine Frau hinzuschmeißen. Ich kann es mir nur so
erklären, dass Sie wirklich heiß im Bett sind. Aber kann ein Fick mit Ihnen wirklich so toll sein,
dass man dafür alles aufs Spiel setzt? Das bezweifle ich stark.« Sein Blick wanderte über ihren
Körper. »So gut sehen Sie nicht aus.«
Er ließ die Tür hinter sich offen stehen, ein eindeutiges Zeichen der Verachtung. Lara wartete,
bis sie ihn durch die Haustür gehen hörte, und setzte sich erst dann hin. Ihre Knie fühlten sich
weich an. Sie stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und barg ihr Gesicht in den Händen. Ihre
Stirn war kühl und feucht, aber ihre Wangen glühten.
Sie senkte die Hände und betrachtete das Foto von Ashley. Traurig lächelnd, strich sie über die
pummeligen Wangen ihrer Tochter, doch alles, was sie spürte, war kaltes, abweisendes Glas. Aus
diesem unschuldigen Lächeln, den blitzenden Augen zog Lara ihre Kraft. Sie würde jeden
Widerstand, jede Härte, die ihr die Tacketts entgegenbringen konnten, überwinden, bis sie
bekam, was sie wollte.
Nancy rauschte herein. »Dr. Mallory, sind Sie in Ordnung?«
»Ich kann ihn zwar nicht weiterempfehlen«, antwortete sie und zwang sich zu einem Lächeln,
»aber ja, mir geht es gut.«
Die Schwester verschwand und kam gleich darauf mit einem Glas Eiswasser in der Hand zurück.
»Trinken Sie das. Oder möchten Sie was Stärkeres? Key Tackett hat das Talent, einen völlig
durcheinanderzubringen.«
»Danke.« Lara trank gierig. »Nur zu Ihrer Information, Nancy, er war letzte Nacht hier. Er hatte
sich den Knöchel verstaucht und dachte, Dr. Patton sei noch hier.« Um Key und sich selbst zu
schützen, verschwieg sie die Schusswunde, die sie eigentlich den Behörden hätte melden müssen.
Ohne aufgefordert zu sein, ließ sich Nancy auf den Stuhl am Schreibtisch plumpsen. »Key
Tackett war schon immer ein gemeiner Kerl. Ich weiß noch, wie er einmal eine Klapperschlange
in einem Sack mit zur Schule brachte und uns Mädchen damit terrorisierte. Gott weiß, wie er es
geschafft hat, nicht selbst gebissen zu werden. Ich glaube, die Schlange hatte zu viel Respekt vor
ihm und wollte sich nicht mit ihm anlegen. Er sieht toll aus, aber das weiß er selbst auch ziemlich
gut. Für diese blauen Augen und dieses Grinsen haben schon viele die Beine breitgemacht. Ich
glaube, er ist bestimmt auch dabei phantastisch. Übung hatte er ja genug. Die Frauen würden
Schlange stehen, um mir recht zu geben. Na ja, ich für meinen Teil fand allerdings immer, dass er
ein eingebildetes Arschloch ist.«
Lara zwang sich zu einem Lächeln und sagte: »Nancy, ich würde gern noch ein paar Minuten
allein sein und mich ein bisschen frisch machen, bevor der nächste Patient drankommt.«
»Ach, Dr. Mallory«, sagte Nancy schonend, »einem Patienten nach dem anderen fiel plötzlich
etwas ein, was sie ›unbedingt‹ noch erledigen müssen.« Dann schickte sie alle Formalitäten zum
Teufel und fügte hinzu: »Süße, da draußen wartet keine Menschenseele auf uns.«
Kapitel 5
Janellen saß hinter ihrem Schreibtisch im Bürogebäude des Tackett-Konzerns. Der quadratische
Bau war zu Clark seniors Glanzzeit errichtet worden, von Männern für Männer entworfen. Jody
hatte keinen Gedanken an so etwas wie Dekor verschwendet. Die meisten der Männer hier
arbeiteten schon seit vielen Jahren für Tackett Oil und waren an das Gebäude gewöhnt und
zufrieden damit, so wie es war. Und obwohl Janellen hier mehr Zeit als jeder andere verbrachte,
war ihr niemals in den Sinn gekommen, es renovieren oder verschönern zu lassen, nur um es
gemütlicher zu haben.
Die einzige persönliche Note, die sie hinzugefügt hatte, war ein Efeu, den sie in einen Tontopf
in der Form eines Häschens gepflanzt hatte. Das Häschen kauerte in einer Ecke ihres
Schreibtischs, fast verdeckt unter einem Berg an Briefen, Rechnungen und anderer
Korrespondenz.
Für Janellen war es eine Frage des Stolzes, das Büro in Schuss zu halten. Jeden Morgen, Punkt
neun, schloss sie es auf, hörte den Anrufbeantworter ab, kontrollierte das Fax, ob über Nacht
Sendungen eingetroffen waren, und sah dann in ihrem großen Kalender nach, auf dem sie alles
Mögliche eintrug, angefangen von »Kirche anrufen wg. Blumen für den Altar« bis zum
Geburtstag ihres verstorbenen Vaters und »Zahnarzttermin, Longview«.
An diesem Morgen jedoch war sie noch ganz in Gedanken bei ihrer Mutter, deren Gesundheit
und der Feindseligkeit zwischen ihr und Key. Seit dem Morgen nach seiner Rückkehr hatten sie
sich nicht mehr gestritten, doch die Atmosphäre knisterte vor Spannung, wenn sich beide im
selben Raum aufhielten.
Janellen versuchte ihr Bestes, als Puffer zu wirken, doch ohne großen Erfolg. Jody hatte über die
gut funktionierende Gerüchteküche von Eden Pass von Keys zweitem Besuch in Lara Mallorys
Praxis erfahren. Sie warf ihm vor, ungehorsam zu sein, woraufhin er sie daran erinnerte, dass er
kein Kind mehr war, dem man sagen musste, was es zu tun oder zu lassen hatte. Sie sagte, er hätte
sich zum Narren gemacht; er sagte, da hätte er ein phantastisches Vorbild gehabt.
Und so weiter und so fort.
Die gemeinsamen Mahlzeiten waren besonders qualvoll. Es fiel Janellen zu, so etwas wie
Konversation zu entwickeln, was sich als äußerst strapaziös erwies. Jody war noch nie eine große
Rednerin bei Tisch gewesen und war es jetzt umso weniger.
Key war zugutezuhalten, dass er sich wenigstens bemühte. Er unterhielt sie mit Anekdoten von
seinen Reisen. Aber Jody fand seine Geschichten nicht amüsant. Sie erstickte jeglichen Ansatz von
Humor und kam immer wieder auf das Thema Dr. Mallory zurück, womit sie es regelmäßig
schaffte, Keys Zorn zu entfachen. Sobald sie mit dem Essen fertig waren, suchte er nach einer
Ausrede, das Haus zu verlassen. Janellen wusste, dass er trinken ging, weil er selten vor
Morgengrauen zurückkam und für gewöhnlich schwankenden Schrittes die Treppe hinaufging.
Wahrscheinlich hatte er auch Frauen, aber was dieses Thema anging, versagte die
Gerüchteküche von Eden Pass.
Seit einer Woche war Key jetzt daheim, doch seine Anwesenheit im Haus hatte den genau
gegenteiligen Effekt, den Janellen sich erhofft hatte. Statt Jody aufzumuntern, machte er sie nur
noch unwirscher. Es war merkwürdig. Wenn er fort war, beschwerte sich Jody, dass er nie etwas
von sich hören ließ, und sorgte sich um sein Wohlergehen. Sie zeigte ihre Gefühle nicht, aber
Janellen hatte ihr oft genug den erleichterten Ausdruck auf ihrem Gesicht angesehen, wenn eine
Karte von ihm eintraf, auf der er sie wissen ließ, dass es ihm gutging.
Doch jetzt, da er zu Hause war, war ihr nichts mehr recht. Wenn er schweigsam war, triezte sie
ihn. Wenn er sich mit ihr versöhnen wollte, wies sie ihn zurück. Sie sprang auf die leiseste
Provokation an, und wie Janellen zugeben musste, konnte ihr Bruder sehr provokant sein. Die
beiden schienen sich einfach nicht zu vertragen. Sie waren wie Wasser und Öl.
An dem Abend, als er sie auf Clarks Verfügung im Testament angesprochen hatte, war es zu
einer besonders hässlichen Szene gekommen. »Warum bin ich nicht darüber informiert worden,
dass Clark das Haus Lara Mallory übereignet hat?«
»Weil es dich nichts anging«, hatte Jody geschnaubt. Für sie war Clarks Entschluss absolut
unverständlich. Janellen wusste, wie sehr sie sich darüber grämte. Es wäre ihr lieber gewesen, Key
hätte es nie erfahren. Da es schon passiert war, wünschte sie, er hätte Jody nie darauf
angesprochen.
»Weil es mich nichts anging?«, wiederholte er ungläubig. »Findest du nicht, dass ich ein Recht
darauf habe, von einem derart dummen Entschluss in Kenntnis gesetzt zu werden? Immerhin
betrifft er uns alle.«
»Ich weiß nicht, was Clark zu diesem Schritt veranlasst hat«, hatte Jody geschrien. »Aber ich
weiß, dass du als Letzter das Recht hast, deinen Bruder dumm zu nennen!«
»Das habe ich nicht getan! Ich habe gesagt, der Entschluss war dumm!«
»Das ist dasselbe.«
Die darauffolgende hitzige Auseinandersetzung hatte über eine halbe Stunde gedauert – mit dem
Ergebnis, dass Key furchtbar wütend war und Jodys Blutdruck in die Höhe schoss. Niemand
würde je erfahren, was Clark zu dem Entschluss bewegt hatte. Janellen fand es müßig, den Grund
für sein Handeln zu suchen. Sie konnte nur eines ganz sicher sagen, nämlich, dass ihr älterer
Bruder entsetzt gewesen wäre, wenn er gewusst hätte, was er damit ausgelöst hatte. Ihr Zuhause
war ein unfreundlicher, feindseliger Ort geworden. Janellen bemühte sich verzweifelt, das zu
ändern. Bisher vergeblich.
»Ma’am?«
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie unwillkürlich beim Klang der männlichen Stimme
hochschreckte. Der Mann stand in der Tür, die Sonne im Rücken und das Gesicht im Schatten.
Es war ihr peinlich, beim Tagträumen ertappt worden zu sein. Sie kam sofort auf die Füße und
strich unsicher ihre Bluse glatt. »Oh, entschuldigen Sie. Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«
»Schon möglich. Hoffe ich jedenfalls.«
Er nahm seinen Strohhut ab und kam näher. Seine Beine waren leicht krumm. Er war ein gutes
Stück kleiner als Key, nicht ganz eins achtzig, schätzte sie. Er war nicht unbedingt muskulös,
wirkte aber drahtig und kräftig. Seine Kleidung war sauber und schien neu zu sein.
»Ich such einen Job, Ma’am. Hab mich gefragt, ob Sie vielleicht etwas hätten.«
»Tut mir leid, aber wir stellen momentan leider niemanden ein, Mr. … «
»Cato, Ma’am. Bowie Cato.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Cato. Ich bin Janellen Tackett. An welche Art Arbeit
hatten Sie gedacht? Wenn Sie neu in der Gegend sind, könnte ich Sie vielleicht an ein anderes
Unternehmen weiterempfehlen.«
»Danke für das Angebot, aber machen Sie sich keine Mühe. Ich habe mich schon überall
umgehört. Hab mir das Beste bis zum Schluss aufgehoben, sozusagen«, fügte er mit einem Grinsen
hinzu. »Scheint, dass momentan keiner Leute einstellt.«
Sie schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln. »Ich fürchte, das ist leider nur zu wahr, Mr. Cato.
Die wirtschaftliche Lage in Ost-Texas ist ziemlich angespannt, besonders bei uns in der
Ölbranche. Es gibt praktisch keine neuen Testbohrungen. Natürlich wird an den bereits
existierenden Quellen noch gefördert.«
Seine betrübte Miene hellte sich auf. »Na ja, Ma’am, das ist genau mein Job. Was ich gelernt
habe – als Pumper. Habe für ein anderes Unternehmen mehrere Quellen gewartet.«
»Dann haben Sie Erfahrung? Sie kommen aus der Branche?«
»O ja, Ma’am. Von drüben, aus West-Texas. Bin in einem kleinen Pisskaff – oh, verzeihen Sie,
in einer Kleinstadt aufgewachsen, bei Odessa. Habe auf den Permian-Basin-Feldern gearbeitet,
seit meinem zwölften Lebensjahr.« Er hielt inne, als wollte er ihr die Möglichkeit lassen, es sich
noch einmal zu überlegen, jetzt, da sie seine Qualifikationen kannte. Als sie nichts sagte, ließ er
resigniert den Kopf sinken. »Na, jedenfalls danke, Ma’am.«
»Warten Sie!« Als Janellen merkte, dass sie ihm bereits automatisch die Hand entgegengestreckt
hatte, zog sie sie hastig wieder zurück und presste sie an den Bauch.
Er musterte sie neugierig. »Ja, Ma’am?«
»Wenn Sie schon einmal hier sind, könnten Sie doch einen Bewerbungsbogen ausfüllen. Sobald
wir wieder eine freie Stelle haben … Ich denke da an nichts Konkretes, aber es kann ja nichts
schaden, wenn ich den Bogen schon mal dahätte.«
Er überlegte einen Moment. »Ja, ich denke, schaden könnte es nicht.«
Janellen nahm wieder Platz und deutete auf einen Stuhl. In der untersten Schublade bewahrte sie
neben anderen Unterlagen auch einen Stapel Bewerbungsbögen auf. Sie reichte ihm einen.
»Brauchen Sie etwas zu schreiben?«
»Ja, bitte.«
»Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«
»Nein, danke.«
Er nahm den Stift, den sie ihm gegeben hatte, neigte den Kopf und fing an, den Bogen
auszufüllen.
Janellen schätzte ihn auf Keys Alter, obwohl er mehr Charakterfalten im Gesicht trug als ihr
Bruder und sich an den Schläfen das erste Grau zeigte. Sonst war sein Haar braun. Sein Hut hatte
einen ringförmigen Abdruck darin hinterlassen.
Er schaute plötzlich auf, und ihre Blicke trafen sich. Ohne nachzudenken, platzte sie heraus: »M-
möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?« Dann erinnerte sie sich, dass sie ihm vor zehn
Sekunden bereits schon einmal eine angeboten hatte. »Tut mir leid. Ich hatte Sie schon gefragt,
nicht wahr?«
»Ja, Ma’am. Das ist sehr nett, aber ich möchte keinen Kaffee. Danke.« Er wandte sich wieder der
Bewerbung zu.
Janellen spielte mit einer Büroklammer und wünschte sich insgeheim, sie hätte das Radio vorhin
nach den Nachrichten noch angelassen, wünschte sich irgendein Geräusch, das die furchtbare
Stille überbrücken würde; wünschte sich, sie wäre nicht so hilflos, wenn es um Smalltalk ging.
Schließlich war er fertig mit Ausfüllen und gab ihr Blatt und Stift zurück. Sie überflog die Daten
in den oberen Reihen und stellte erstaunt fest, dass er wesentlich jünger war als Clark, tatsächlich
sogar zwei Jahre jünger als sie selbst. Er musste ziemlich harte einunddreißig Jahre hinter sich
haben.
Ihr Blick wanderte weiter hinunter. »Sie sind momentan in der Palme angestellt, in diesem
Schuppen?«
»Das stimmt, Ma’am.« Er räusperte sich und hob unbehaglich die Schultern. »Na ja, ist nur
vorübergehend. Kein fester Job.«
»Das sollte nicht abwertend klingen«, versicherte sie hastig. »Irgendjemand muss ja dort
arbeiten.« Auch das klang wie eine Beleidigung. Sie biss sich auf die Unterlippe. »Mein Bruder ist
dort praktisch Stammgast.«
»Ja, hab ihn schon öfter dort gesehen. Sie allerdings noch nie.«
Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass er ein Grinsen unterdrückte. Nervös fasste sie sich an den
Kragen ihrer Bluse und fing an, mit den Knöpfen zu spielen. »Nein, ich … äh, ich war noch nie
dort.«
Sie befeuchtete sich die Lippen. »Mal sehen«, sagte sie mit dem Blick auf die Bewerbung. »Vor
der Palme haben Sie im Staats …«
Sie stolperte über das deutlich ausgeschriebene nächste Wort. Sie war zu verblüfft, um ihn
ansehen zu können, und starrte so lange vor sich auf das Blatt, bis die Zeilen verschwammen.
»Das stimmt schon, Ma’am«, sagte er leise. »Ich habe im Staatsgefängnis von Huntsville
eingesessen. Ich bin auf Bewährung. Deshalb brauche ich auch dringend einen Job.«
Sie nahm all ihren Mut zusammen und hob den Blick. »Ich bedaure aufrichtig, aber ich habe
nichts für Sie, Mr. Cato«, sagte sie und merkte konsterniert, dass sie es tatsächlich so meinte.
»Schon gut«, sagte er und erhob sich. »Ich wusste, dass es nicht klappt.«
»Warum sagen Sie so etwas?«
Er zuckte mit den Achseln. »Als Exknacki und so …«
Sie hatte nicht vor, zu lügen und zu behaupten, dass seine Vorstrafe keinen Einfluss auf seine
Chancen auf einen Job bei Tackett Oil gehabt hätte. Jody wäre strikt dagegen, ihn einzustellen.
Doch Janellen war nicht wohl dabei, ihn ohne ein ermunterndes Wort gehen zu lassen. »Haben
Sie noch etwas anderes in Aussicht?«
»Nicht dass ich wüsste.« Er setzte seinen Hut wieder auf und zog ihn tief in die Stirn. »Danke,
dass Sie sich Zeit für mich genommen haben, Miss Tackett.«
»Auf Wiedersehen, Mr. Cato.«
Er ging rückwärts aus dem Büro, schloss die Tür hinter sich, schlenderte über die Betonveranda
und lief die Stufen zu seinem Pick-up hinunter.
Janellen sprang auf und lief eilig zur Tür. Sie beobachtete durch die Jalousie, wie er davonfuhr.
Er bog auf den Highway ein.
Noch deprimierter als zuvor setzte sie sich wieder an den Schreibtisch. Der Papierkram wartete
auf sie, aber sie war zu sehr in Gedanken, um sich mit der gewohnten Disziplin daranzusetzen.
Stattdessen nahm sie noch einmal den Bewerbungsbogen von Bowie Cato zur Hand und las
sorgfältig jede einzelne Stelle.
Bei Familienstand hatte er »ledig« angekreuzt und die Zeile unter »nächste Familienangehörige«
freigelassen. Mit einem Mal wurde Janellen sich bewusst, dass sie ihn hatte ausspionieren wollen.
Es gab gar keine freie Stelle, die sie ihm hätte anbieten können, selbst wenn Jody einverstanden
wäre, einen ehemaligen Sträfling zu beschäftigen.
Wütend über sich selbst, dass sie den halben Morgen vertrödelt hatte, verstaute sie den
Bewerbungsbogen von Bowie Cato in der Schublade und machte sich an die Arbeit.
»Fergus, um Himmels willen nicht diese Krawatte!«, rügte Darcy Winston mit einem tiefen
Seufzer ihren Mann. »Siehst du denn nicht, dass die nicht zu deinem Hemd passt?«
»Zuckerschnäuzchen, du weißt doch, ich bin völlig farbenblind«, antwortete er mit einem
unschuldigen Achselzucken.
»Mag sein, ich aber nicht. Binde diese hier um.« Sie nahm eine andere Krawatte vom Bügel und
warf sie ihm zu. »Und beeil dich. Schließlich sind wir die Hauptattraktion des Abends, und
deinetwegen werden wir noch zu spät kommen.«
»Ich habe mich doch schon für meine Verspätung entschuldigt. Eine Busladung Rentner aus
Fayetteville hat unplanmäßig Rast bei uns im Green Pine eingelegt. Siebenunddreißig an der Zahl.
Ich bin an der Rezeption eingesprungen. Ganz netter Haufen, die Leutchen. Waren vierzehn
Tage in Harlington, haben den Mex beim Bau einer Baptistenkirche geholfen. Bibelstunden und
so gehalten. Die haben erzählt, dass die kleinen Mexikanerkinder kein Eis wie … «
»Gute Güte, Fergus, das interessiert mich nicht!«, unterbrach sie ihn ungeduldig. »Bist du jetzt
vielleicht bald fertig?! Ich sehe schon mal nach, wo Heather bleibt.«
Darcy stakste über den oberen Flur ihres geräumigen Hauses zum Zimmer ihres einzigen
Kindes. »Heather, bist du so weit?«
Sie klopfte, trat aber – wie üblich –, ohne auf Antwort zu warten, ein. »Ich bin fertig, Mutter.
Ich telefoniere nur noch mit Tanner, bis wir fahren.«
»Wir fahren jetzt.« Darcy nahm ihrer Tochter den Hörer aus der Hand, sagte im zuckersüßen
Ton: »Adieu, Tanner.«, und legte auf.
»Mutter!«, rief Heather entsetzt. »Wie kannst du nur? Ich glaube, ich sterbe! Warum bist du
immer so gemein zu ihm? Wieso tust du das?«
»Weil wir in diesem Augenblick in der Schule erwartet werden, deshalb!«
»Aber es ist noch nicht mal halb sieben. Und wir sollen um sieben Uhr da sein.«
Darcy ging zum Schminktisch ihrer Tochter, suchte unter den Flakons, bis sie einen Duft fand,
der ihr gefiel, und sprühte ihn sich auf.
Pikiert fragte Heather: »Warum nimmst du nicht dein eigenes Parfüm? Du hast Dutzende
Fläschchen. Warum kommst du zu mir?«
»Du telefonierst zu viel mit Tanner«, sagte Darcy, Heathers Beschwerde ignorierend.
»Tue ich nicht.«
»Jungs stehen nicht auf Mädchen, die zu leicht zu haben sind.«
»Bitte, Mutter, wühl nicht wieder in meinem Schmuckkasten herum. Du hast letztes Mal schon
alles völlig durcheinandergebracht.« Heather langte um Darcy herum und klappte den Deckel zu.
Darcy riss ihren Arm beiseite und öffnete demonstrativ erneut die lilafarbene Samtschachtel.
»Was hast du hier drin denn versteckt, das ich nicht finden soll?«
»Nichts.«
»Falls du dir angewöhnt hast, Joints zu rauchen …«
»Habe ich nicht!«
Darcy kramte den Inhalt des Schmuckkastens durch, fand aber lediglich ein Sortiment von
Ohrringen, Armbändern, Ringen, Anhängern und die Perlenkette, die Fergus ihr am Tag ihrer
Geburt geschenkt hatte.
»Siehst du? Hab ich dir doch gesagt.«
»Nicht so frech, junge Dame.« Sie schlug den Deckel zu und musterte Heather. »Und die Hälfte
von der Schminke kommt wieder runter. Du siehst ja aus wie ein Flittchen.«
»Das stimmt nicht.«
Darcy zog ein Kleenex aus der Box und stopfte es Heather in die Hand. »Du siehst nicht nur so
aus, wahrscheinlich benimmst du dich auch wie eins, wenn du mit diesem Tanner-Jungen
ausgehst.«
»Tanner ist anständig.«
»Und Schweine können fliegen. Er will dir nur ans Höschen, so wie alle anderen Männer später
auch.«
Heathers Protest verhallte ungehört. Darcy verließ das Zimmer. Sie war zufrieden mit sich. Sie
war der Meinung, dass man Kindern nie die Oberhand lassen durfte, und so wachte sie mit
Argusaugen über ihre Tochter. Heather musste über jede freie Minute Rechenschaft ablegen.
Darcy wollte wissen, wo ihre Tochter war, mit wem sie zusammen war und wie lange sie
wegbleiben würde. Nach Darcy Winstons Ansicht konnten nur umfassend informierte Eltern die
notwendige Kontrolle über das Heranwachsen ihrer Teenager haben.
Im Großen und Ganzen war Heather auch folgsam. Ihr enger Stundenplan ließ ihr nur wenig
Zeit, in eventuelle Schwierigkeiten zu geraten, doch im Sommer, wenn die Ferien kamen, boten
sich reichhaltig Gelegenheiten für Dummheiten.
Darcys hartes Durchgreifen resultierte zum Teil aus ihren mütterlichen Instinkten, aber auch aus
den Erfahrungen der eigenen Teenagerzeit. Sie kannte sämtliche Tricks der Jugendlichen, ihre
Eltern zu hintergehen, weil sie jeden einzelnen selbst ausprobiert hatte. Gott, sie hatte sie sich
selber ausgedacht!
Wenn ihre Mutter ihr Kommen und Gehen strenger beobachtet hätte, wäre Darcys Jugend
nicht so kurz ausgefallen. Sie hätte wahrscheinlich noch nicht mit achtzehn heiraten müssen.
Ihr Vater verließ sie, als sie neun war, und obwohl Darcy zunächst Mitleid mit ihrer Mutter
verspürte, wandelte sich das Gefühl bald in Verachtung. Und mit den Jahren resultierte aus dieser
Verachtung offene Rebellion. Als sie in Heathers Alter gewesen war, zog sie mit einer wilden
Bande durch die Gegend, die sich jede Nacht betrank und des Öfteren die Sexpartner
untereinander tauschten.
Sie machte ihren Abschluss an der Highschool buchstäblich auf dem Zahnfleisch – indem sie
dem Biolehrer mit den dicken Brillengläsern und den feuchten Händen einen blies. Im
darauffolgenden Sommer wurde sie vom Schlagzeuger einer Country & Western Band
geschwängert. Sie verfolgte seine Spur bis nach De Ridder, Louisiana, wo sie ihn zur Rede stellte.
Mit dem Ergebnis, dass er abstritt, sie je im Leben gesehen zu haben. Darcy war beinahe froh, dass
er jede Verantwortung leugnete, denn er war ein elender Verlierer, ohne jedes Talent, ein Kiffer,
der sich seinen armseligen Anteil an den Bandeinnahmen in den Kopf schniefte, rauchte oder
durch die Venen jagte.
Um ihre Zukunft sah es düster aus, als sie nach Eden Pass zurückkehrte. Aus purem Zufall
stoppte sie am Green Pine Motel, um zu frühstücken, wo sie von Fergus Winston, Junggeselle in
den besten Jahren, am Eingang des Coffeeshops, das Pferdegebiss zu einem strahlenden Lächeln
verzogen, willkommen geheißen wurde.
Anstelle der Karte studierte Darcy Fergus, der die Kasse bediente. Nach der Hälfte ihrer ersten
Tasse Kaffee traf sie eine Entscheidung, die ihr Leben verändern sollte. Nach nur zwei Stunden
hatte sie einen Job. Und nach nur zwei Wochen einen Ehemann.
Fergus glaubte von ganzem Herzen, dass er es in der Hochzeitsnacht mit einer Jungfrau zu tun
hatte. Und einige Wochen später, als Darcy verkündete, sie sei schwanger, wäre es ihm niemals in
den Sinn gekommen, dass jemand anderes als er der Vater des Babys sein könnte.
Und auch in all den Jahren danach nicht, obwohl Heather, die fast acht Wochen »zu früh« kam,
ein gesundes kleines Ding von stolzen sieben Pfund gewesen war.
Fergus blieb gar keine Zeit, sich über diese Ungereimtheiten Gedanken zu machen, da Darcy
ihn mit dem Motel auf Trab hielt. Mit der Zeit gelang es ihr, ihn zu überzeugen, dass ein cleverer
Geschäftsmann investieren musste, wenn er Gewinne erzielen wollte. Und Fergus polierte den
Essensservice auf, modernisierte die Einrichtung des Motels und mietete Werbeflächen am
Highway an.
Nur in einem Punkt ließ er sich nicht reinreden. Nur er hatte Zugang zu den Büchern des Green
Pine. Wie sehr Darcy ihn auch umgarnte, er allein erledigte die Buchführung. Sie vermutete, dass
er dem Finanzamt gegenüber nicht alles angab, womit sie einverstanden war. Doch was sie
ärgerte, war, dass er wahrscheinlich einige Hintertürchen übersah, die sie hätte aufstöbern
können. Aber es war ihr in sechzehn Jahren Ehe nicht gelungen, ihn umzustimmen. Es war einer
der wenigen Streitpunkte, bei dem Darcy zurückstecken musste.
Nach einer derart langen Phase als Junggeselle strahlte Fergus vor Stolz über seine hübsche,
junge rothaarige Frau und seine Tochter und betrachtete sich als den glücklichsten Kerl auf der
Welt. Er war ein großzügiger Mann. Er baute Darcy das prachtvollste Haus in ganz Eden Pass.
Und er ließ ihr freie Hand, es aus den nobelsten Geschäften in Dallas und Houston einzurichten.
Sie fuhr jedes Jahr einen neuen Wagen. Und Fergus betete seine Tochter an, die es schaffte, ihn
genauso leicht um den kleinen Finger zu wickeln wie ihre Mama.
Er war gutgläubig und hegte kein Misstrauen, selbst dann nicht, als Darcy sich drei Monate nach
der Geburt ihrer Tochter einen Liebhaber gönnte. Es war ein Gast im Motel, ein Vertreter für
Sättel aus El Paso, auf der Durchreise nach Memphis. Sie benutzten Zimmer Nummer 203.
Fergus hatte geglaubt, sie würde für ein paar Stunden ihre Mutter besuchen.
Trotz ihrer gelegentlichen Seitensprünge war Darcy aufrichtig um ihren Mann bemüht. In der
Hauptsache, weil seine Stellung in der Gemeinde auch ihr Ansehen hob und er ihr jeden
materiellen Wunsch erfüllte. Deshalb lächelte sie ihm jetzt zu, als er Arm in Arm mit Heather die
Treppe herunterkam. »Ihr zwei gebt wirklich ein hübsches Paar ab«, sagte sie. »Die ganze Stadt
wird heute Abend da sein, und alle Blicke werden auf die Winstons gerichtet sein.«
Fergus legte ihr den Arm um die Schulter und küsste sie auf die Stirn. »Ich bin stolz, mit den
beiden hübschesten Ladys von Eden Pass auf der Bühne stehen zu dürfen.«
Heather verdrehte die Augen.
Fergus war zu ernst, um die Geste zu bemerken. »Was mir nur Sorgen macht, ist der Grund für
die Versammlung«, seufzte er, während er das Gesicht seiner geliebten Frau studierte. »Wenn ich
bedenke, was der Einbrecher dir alles hätte antun können …«
»Ja, auch ich kriege jetzt noch eine Gänsehaut.« Darcy tätschelte ihm die Wange und wand sich
dann ungeduldig aus seiner Umarmung. »Wir sollten jetzt wirklich aufbrechen, sonst kommen wir
noch zu spät. Andererseits«, fügte sie mit einem selbstzufriedenen Lachen hinzu: »Ohne uns
können sie gar nicht anfangen, stimmt’s?«
Kapitel 6
Lara fuhr ziellos durch die Gegend. Es war eine klare und warme Nacht. Der leichte Wind
brachte keine Linderung, sondern verteilte nur die Hitze, die der harte, krustige Boden in diesem
Landstrich abgab.
Texas.
»Texas ist nicht nur einfach ein Ort«, hatte sie Clark so oft sagen hören, »sondern eine
Lebenseinstellung. Xanadu in Cowboystiefeln.«
Lara war zuvor nie in Texas gewesen, und als sie vor sechs Monaten Clarks Geschenk
angenommen hatte, hatte sie zum ersten Mal texanischen Boden betreten. Sie war mit all ihren
Vorurteilen hergekommen, die aus bekannten Hollywoodfilmen herrührten – die trockene,
windgepeitschte Landschaft, die wirbelnden Steppenläufer, wie sie es aus Filmen wie Giganten
oder Die letzte Vorstellung kannte. Diese Filme hatten ein treffendes Bild von Texas gezeichnet,
aber nur des westlichen Teils.
Der Osten von Texas war grünes Land. In den üppigen Wäldern gab es verschiedene
Hartgehölze, aber hauptsächlich sah man Kiefern, dunkel und so gerade aufgereiht, als hätte die
Natur sie mit einem Lineal ausgerichtet. Im Frühling waren diese Wälder gesprenkelt mit den
Pastelltönen des blühenden Hornstrauchs und wilder Obstbäume. Das Vieh graste in Herden auf
saftigen Weiden. Seen, in denen sich die Fische tummelten, wurden gespeist von Flüssen und
Bächen, die bekannt dafür waren, dass sie über die Ufer traten.
Und überall die schier endlose Weite des Landes – etwas, was Texaner, die nie im viel dichter
bevölkerten Nordosten waren, für selbstverständlich hielten.
Und für ebenso selbstverständlich erachteten sie ihre Eigenarten; mit Yankees konnte hier
niemand etwas anfangen. Stur und unbeirrbar hielten die Menschen an den Legenden und der
Lebensart fest, für die Texas berühmt und berüchtigt war.
So schwer es Lara fiel, die Menschen zu verstehen, so begeistert war sie auf Anhieb von dem
Land. Die Landstraßen erstreckten sich von Eden Pass wie die Speichen eines Wagenrads. Lara
hatte sich willkürlich für irgendeine entschieden, als sie das Gelände der Highschool verließ, und
war ohne Ziel etwa eine Stunde lang herumgefahren. Sie war schon ein gutes Stück über die
Stadtgrenze hinaus, doch obwohl sie nicht wusste, wo genau sie war, fühlte sie sich nicht
verloren.
Kies knirschte unter den Rädern, als sie an den Straßenrand fuhr; sie stellte den Motor ab. Und
mit einem Mal versank sie im vielstimmigen Chor der Zikaden, Grillen und Ochsenfrösche. Der
Wind raschelte in den Blättern der Pyramidenpappeln, die am seichten Graben zu beiden Seiten
der Straße wuchsen.
Sie verschränkte die Arme über dem Lenkrad und legte ihre Stirn darauf. Sie saß lange so da und
machte sich Vorwürfe, weil sie sich von Key Tackett so sehr hatte aus der Reserve locken lassen.
Er hatte ja recht: Sie hatte mit Steinen geworfen, ohne die Fakten wirklich zu kennen. Es gab
unzählige mildernde Umstände, die ein anderes Licht auf das warfen, was auf den ersten Blick wie
eine schäbige Affäre aussehen mochte. Der Schein konnte trügen. Oft waren es die Fakten, die
einem nicht bekannt waren, die den Unterschied ausmachten zwischen Richtig und Falsch,
zwischen Gut und Böse, zwischen Unschuld und Schuld. Hätte sie das nicht besser wissen müssen
als jeder andere?
Plötzlich fühlte sie sich beengt und eingesperrt, also stieg sie aus dem Wagen. Eine offene Weide
erstreckte sich, so weit ihr Blick reichte, zu beiden Seiten der Straße. Unter einem ausladenden
Pekannussbaum hatte sich eine Herde Rinder für die Nacht niedergelassen. Mehrere rhythmisch
arbeitende Ölpumpen zeichneten sich als dunkle, sich bewegende Schatten vor dem
Nachthimmel ab. Sie nickten mit ihren an Pferde erinnernden Köpfen wie ergebene Schüler beim
Gebet.
Wahrscheinlich waren es Ölpumpen der Tacketts.
Seit mehr als einer Woche hatte es nicht mehr geregnet, und dementsprechend war der Graben
ausgetrocknet. Lara sprang hinüber und näherte sich dem Stacheldrahtzaun, der die Weide
umgab. Vorsichtig lehnte sie sich gegen einen der Holzpfosten und schaute hinauf zum
funkelnden Sternenzelt und dem hell leuchtenden Halbmond.
»Was tust du eigentlich hier, Lara?«
Manchmal fragte sie sich das selbst. Bereits vor Clarks Tod hatte sie mit dem Gedanken gespielt,
herzukommen und ihn zu fragen, wie er die Angelegenheit abgelten wolle. Sie wollte ihm die
Rechnung präsentieren für all das, was sie verloren hatte.
Aber er starb, bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen konnte. So tragisch sein Tod auch war,
er hatte dennoch kaum Auswirkungen auf ihre Ziele. Clark war nicht entscheidend bei ihrem
Vorhaben. Key war es.
Key. Er hasste sie. Aus diesem Grund würde es nicht einfach werden. Doch Schwierigkeiten
konnten ihre Entschlossenheit nicht schmälern. Die Medizin hatte sie gelehrt, dass die Dinge
manchmal erst schlechter werden mussten. Bevor eine Wunde heilte, musste sie gereinigt und das
Gift ausgewaschen werden. Sie war bereit, alles zu ertragen, egal wie schmerzlich es sein mochte,
um die Geister, die sie verfolgten, endlich abzuschütteln.
Erst dann würde sie den Frieden wiederfinden, den sie seit dem Tod ihrer Tochter nicht mehr
gehabt hatte. Erst dann würde sie die Vergangenheit begraben und ihr Leben fortsetzen können –
hier in Eden Pass oder an irgendeinem anderen Ort der Welt.
Die Jahre nach ihrer Rückkehr aus Montesangrines, nach Randalls und Ashleys Tod, waren eine
öde Aneinanderreihung von Tagen, Wochen und Monaten gewesen. Sie hatte nicht gelebt, sie
hatte nur existiert. Erfüllt von Verzweiflung, Schmerz und Einsamkeit hatte sie sich durch die
Tage geschleppt, ohne eine Verbindung zur Außenwelt aufzunehmen. Arbeit hätte den Schmerz
betäuben können, aber diese Möglichkeit hatte sie abgelehnt. Sie war eine Ausgestoßene, ein
Objekt der Neugierde und des Spotts, Clark Tacketts Hure.
So hatte Key sie genannt. Eine Hure. Auch Jody sah sie so. Lara hatte die unverhohlene
Verachtung in ihrem Blick gesehen. Sie hatte nichts anderes erwartet.
Selbst ihre eigenen Eltern verachteten sie. Sie hatten nie ein herzliches Verhältnis zu ihrem
einzigen Kind gehabt, doch seit dem Skandal war es besonders angespannt geworden. Sie konnten
einfach nicht verstehen, weshalb sie ausgerechnet an einem abgelegenen Ort wie Eden Pass,
Texas, ihre Praxis eröffnen wollte, vor allem nicht, da es Tackett-Territorium war.
»Sie brauchen dort einen Arzt«, hatte Lara erklärt, als sie ihr Unverständnis für ihre Entscheidung
ausgedrückt hatten.
»Ärzte werden überall gebraucht«, hatte ihr Vater argumentiert. »Wieso ausgerechnet dort?«
»Weil sie sich schon immer die schwierigsten Situationen von allen ausgesucht hat, Liebling«,
hatte ihre Mutter mit kalter Stimme gesagt. »Das ist eine Angewohnheit von ihr, um uns zu
ärgern.«
Und ihr Vater hatte hinzugefügt: »Es ist kein Verbrechen, den Weg des geringeren Widerstandes
zu gehen, Lara. Nach allem, was passiert ist, hätte ich angenommen, dass du das weißt.«
Sie wären entsetzt gewesen, wenn sie ihnen den wahren Grund für ihren Umzug nach Texas
genannt hätte, also verschwieg sie ihn lieber. Sie versuchte auszuweichen, indem sie zu ihrer
Verteidigung sagte: »Ich weiß, es wird nicht einfach werden, mir dort eine Praxis aufzubauen,
aber es ist das beste Angebot, das ich bekommen habe.«
»Und daran bist nur du selbst schuld wie an allem anderen Unglück, das dir zugestoßen ist, auch.
Wenn du auf deine Mutter und mich gehört hättest, wäre dein Leben jetzt nicht so verpfuscht.«
Sie hätte sie daran erinnern können, dass sie es gewesen waren, die sie zur Heirat mit Randall
Porter ermutigt hatten. Sie waren von seinen Referenzen bereits beeindruckt gewesen, noch ehe
sie ihn überhaupt kennengelernt hatten. Er war charmant und weltgewandt gewesen. Er sprach
drei Sprachen und hatte eine vielversprechende Position im Außenministerium inne; was ihre
Eltern nur zu gern in ihrem Bekanntenkreis erwähnten.
Für sie war Randall noch immer ein Heiliger, weil er sie nicht verlassen hatte nach dem, was
Lara sich mit Senator Tackett geleistet hatte. Würden sie anders denken, wenn sie wüssten, wie
unglücklich sie mit Randall gewesen war, schon lange bevor er ihr Clark vorgestellt hatte? Das
fragte sie sich manchmal.
Mit diesen unangenehmen Erinnerungen ging sie zum Wagen zurück und wollte gerade
einsteigen, als sie ein sonderbares Geräusch aus der Luft vernahm. Als sie hochblickte, sah sie ein
Flugzeug. Noch war es nicht mehr als ein leuchtender Punkt am Horizont, aber es kam näher
und flog tief. Tatsächlich hielt es sich in gefährlich niedriger Höhe und streifte fast die Wipfel des
Waldes, der an die Weide grenzte. Es war ein kleines Flugzeug – eine einmotorige Maschine,
vermutete sie mit ihren geringen Kenntnissen von Flugzeugen.
Die Maschine flog über die Wiese und kreuzte die Straße ungefähr hundert Meter vor ihrem
Wagen. Lara hielt den Atem an, als sich das Flugzeug dem Wald näherte. Erst unmittelbar vor
dem Waldrand wurde es im letzten Moment in einem dramatischen Winkel hochgezogen, dann
folgte eine scharfe Linkskurve, ehe die Maschine wieder eine sichere Höhe erreichte. Lara sah ihr
nach, bis die Lichter verschwunden waren.
Konnte es sein, dass jemand um diese Tageszeit noch Insektenvertilgungsmittel über das Land
verteilte? Wurde überhaupt gesprüht, wenn das Vieh auf der Weide war? Nein, das musste ein
Kunstflieger gewesen sein.
»Idiot«, murmelte sie, als sie einstieg und den Motor startete.
Doch für die Leute war sie die Närrin, weil sie nach Eden Pass gekommen war und mit dem
roten Tuch vor den Nasen der Tacketts herumwedelte. Aber wenn man nichts mehr zu verlieren
hat, schreckt man auch vor großen Risiken nicht mehr zurück. Was konnten die Tacketts schon
sagen oder tun, was man ihr nicht schon gesagt und angetan hätte?
Wenn sie erst ihre Forderungen erfüllt hätten, würde sie nur zu gern die Stadt wieder verlassen.
Bis dahin scherte es sie nicht, was sie dachten. Trotzdem musste sie es schaffen, dass sie mit ihr
sprachen. Aber wie?
Jody war unerreichbar.
Key verhielt sich ihr gegenüber abschätzig und ausfallend, und sie wollte nicht mehr als
unbedingt nötig mit ihm zu tun haben.
Janellen? Sie hatte geglaubt, in Clarks Schwester einen Funken Neugier entdeckt zu haben,
bevor Jody dazwischengekommen war. Konnte Neugier vielleicht die Formel sein, mit der sie
den Panzer der Tacketts knacken würde?
Einen Versuch war es wert.
Janellen ärgerte sich über sich selbst. Eigentlich hatte sie sich für den heutigen Tag vorgenommen,
die fälligen Rechnungen zu bezahlen, und alles vorbereitet. Doch als sie den entsprechenden
Aktenordner zur Hand nehmen wollte, fiel ihr ein, dass sie ihn am Tag zuvor in den Laden
mitgenommen hatte, um die Rechnungen mit dem angelieferten Material zu vergleichen und
sicherzugehen, dass alles seine Richtigkeit hatte. Eine derartige Schusseligkeit sah ihr gar nicht
ähnlich; und sie schimpfte mit sich, als sie die eine Meile vom Büro zum Laden – wie die Arbeiter
den Weg nannten – zurückfuhr.
Der Laden war wesentlich schäbiger als die Zentrale. Mit den Jahren war das ursprüngliche
Gebäude immer wieder erweitert worden, um die laufend modernisierte Ausrüstung, das
Zubehör und die Fahrzeuge unterbringen zu können. Heute, am Samstag, war das Gelände
verlassen. Janellen parkte in der Nähe einer der rückwärtigen Türen, die direkt zu einem
winzigen Kabuff führte, das als Büro diente. Hier hatten die Männer Zugang zum Telefon und
konnten Kühlschrank, Mikrowelle und Kaffeemaschine benutzen. Es gab ein Schwarzes Brett,
und hier waren auch ihre persönlichen Fächer, in denen Janellen alle vierzehn Tage die
Lohnschecks hinterlegte.
Sie schloss mit ihrem eigenen Schlüssel auf und trat ein. Sie ignorierte die Pin-up-Kalender und
den Gestank von kaltem Rauch und ging zu dem Metalltisch hinüber, an dem sie den Ordner
zuletzt benutzt hatte. Sie fand ihn, klemmte ihn sich unter den Arm und wollte gerade wieder
gehen, als sie ein Geräusch hinter der Tür, die das Büro mit der Garage verband, hörte. Sie
öffnete die Tür und wollte etwas rufen, aber der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie verstummen.
Die übergroße Garage war geschlossen und nur schwach beleuchtet, weil es kaum Fenster gab.
Ein Pick-up hatte sich zwischen zwei ihrer Firmenlaster gequetscht. Und einer ihrer Arbeiter war
dabei, kleinere Maschinen, Rohre und anderes Zubehör ihrer Ausrüstung auf die Fläche des
Pickups zu laden. Er überprüfte seine Beute mit Hilfe einer Liste, die er aus der Brusttasche seines
Hemdes zog. Ein letzter kurzer Check, und er kletterte in die Fahrerkabine des Pick-ups.
Janellen kam aus ihrem Versteck und lief ihm vor die mit toten Insekten verklebte Kühlerhaube,
um ihm den Weg zu verstellen.
»Miss Janellen!«, rief er. »Ich … ich wusste gar nicht, dass Sie heute hier sind!«
»Was haben Sie hier an einem Samstag zu suchen, Muley?«
Sein Gesicht lief unter seiner Sonnenbräune rot an, und dann zupfte er leicht am Schirm seiner
Kappe mit dem blauen Tackett-Oil-Logo. »Sie wissen doch, dass ich heute Morgen von meiner
Tour wiedergekommen bin.«
»Nach der Sie offiziell frei hatten.«
»Dachte mir, ich fahr am Montag gleich von zu Hause los. Hab nur ein paar Sachen abgeholt.«
»Bei geschlossener Garagentür und im Dunkeln?« Sie zeigte auf die Ladefläche. »Und wieso
laden Sie die Ausrüstung auf Ihren Privatwagen und nicht auf den Firmenlaster? Muley, ich habe
Sie beim Klauen erwischt, nicht wahr?«
»Das ist lauter altes Zeug, Miss Janellen. Das braucht kein Mensch mehr.«
»Und deshalb haben Sie beschlossen, sich zu bedienen?«
»Das benutzt doch niemand mehr. Es verrottet nur.«
»Aber es ist mit Geld von Tackett Oil bezahlt worden. Es gehört nun mal nicht Ihnen.« Janellen
richtete sich auf und holte tief Luft. »Laden Sie es wieder ab.«
Als er damit fertig war, klemmte er die Daumen in den Gürtel und sah Janellen streitlustig an.
»Werden Sie mir jetzt den Lohn kürzen, oder was?«
»Nein, ich werde Ihnen nicht den Lohn kürzen. Ich werde Sie feuern.«
Er veränderte augenblicklich die Haltung, zog die Daumen aus dem Gürtel und ballte die Fäuste
an den Seiten. Er trat zwei Schritte auf sie zu. »Das können Sie gar nicht. Jody hat mich
eingestellt, und nur sie kann mich entlassen.«
»Was sie, ohne mit der Wimper zu zucken, tun wird, wenn sie hört, dass Sie gestohlen haben,
aber erst wird sie Ihnen die Hand abhacken.«
»Das denken Sie! Sie können mir nichts beweisen. Nur zu Ihrer Information, ich wollte Ihnen
die Ausrüstung abkaufen.«
Sie schüttelte fast traurig, im Wissen, betrogen worden zu sein, den Kopf. »Nein, das wollten Sie
nicht, Muley. Sie haben kein Angebot gemacht. Sie haben sich heimlich an einem Samstag hier
reingeschlichen und das Zeug auf Ihren Pick-up geladen. Es tut mir leid. Mein Entschluss steht
fest. Sie können sich Ihren letzten Gehaltsscheck am Fünfzehnten abholen.«
»Sie reiche Hexe«, sagte er höhnisch. »Ich gehe, aber nur weil ich glaube, dass diese Firma
sowieso am Ende ist. Hier weiß doch jeder, dass es Jody nicht mehr lange macht. Glauben Sie
ernsthaft, Sie könnten die Geschäfte genauso clever führen?« Er schnaubte. »Niemand nimmt Sie
für voll. Wir lachen über Sie, wussten Sie das nicht? Ja, wir Burschen treffen uns hier nach unserer
Schicht und reden über Sie. Es ist doch armselig mit anzusehen, wie Sie sich abrackern, um Ihre
Mama zu ersetzen, nur weil Sie nichts Besseres mit Ihrer Zeit anzufangen wissen. Statt ordentlich
zu vögeln, hocken Sie im Büro. Wir haben eine Wette laufen, wissen Sie? Ob Sie Ihre Perle noch
haben oder nicht. Ich behaupte, die ist so sicher wie in Beton gegossen. Selbst wenn Sie das ganze
schöne Geld eines Tages mal erben – wer will schon eine Braut ficken, die zerbröselt, wenn man
sie besteigt?«
Janellen wurde schwindlig bei den hässlichen Worten. Ihre Ohren klingelten laut, und ihre Haut
prickelte, als sei sie von tausend Feuerameisen gebissen worden. Doch wie durch ein Wunder
blieb sie ruhig. »Wenn Sie nicht in zehn Sekunden verschwunden sind, werde ich Sheriff Baxter
anrufen und Sie verhaften lassen.«
Er zeigte ihr den Mittelfinger und stieg in seinen Pick-up. Dann ließ er den Motor an und
schoss wie eine Rakete aus der Garage.
Janellen stolperte zum Schalter an der Wand und schloss die Garagentür. Dann lief sie ins Büro
zurück und verriegelte auch diese Tür.
Sie sank auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch, beugte sich leicht vor und schlang die Arme um
sich. Sie hatte sich soeben gegen einen zweihundert Pfund schweren Kerl durchgesetzt, aber jetzt,
da es vorbei war, zitterte sie unkontrollierbar und klapperte mit den Zähnen.
Im Rückblick war es dumm gewesen, Muley derart herauszufordern. Er hätte sie schlagen,
vielleicht sogar töten können, und niemand hätte ihn verdächtigt. Man hätte angenommen, dass
irgendein Landstreicher sie umgebracht hätte – vielleicht der, der bei den Winstons eingebrochen
hatte.
Sie wiegte sich auf der defekten Polsterung vor und zurück, was war nur in sie gefahren, ihn so
zu reizen? Scheinbar hatte sie doch einen Funken Mut geerbt, von dem sie noch gar nichts
gewusst hatte. Er hatte in ihr die Kühnheit entfacht – gerade rechtzeitig.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie sich wieder beruhigt hatte. In der Zwischenzeit wurde ihr
klar, welche Auswirkungen ihre Impulsivität hatte. Ihre spontane Reaktion, ihn auf die Straße zu
setzen, war richtig gewesen. Sie musste es Jody sagen. Vielleicht sollte sie es besser erst erwähnen,
wenn sie schon einen Ersatz gefunden hatte. Aber wie sollte sie das so schnell bewerkstelligen? Es
würde nicht einfach sein, einen qualifizierten Mann aufzutreiben. Muley hatte die Quellen gut
gewartet …
Bowie Cato.
Der Name schoss ihr durch den Kopf, und ihr Herz begann zu flattern. Sie dachte viel an Cato –
mehr, als sich schickte, und öfter, als sie zugeben mochte. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich
seinen leicht krummen Gang vorstellte und seine braunen Augen mit dem traurigen, zynischen
Blick auf die Welt vor sich sah.
Sollte sie es wagen, ihn anzurufen und zu fragen, ob er noch an einem Job interessiert war?
Wahrscheinlich hatte er die Stadt längst verlassen.
Und wie dumm musste man sein, einen Exsträfling einzustellen, wenn man gerade einen
Arbeiter wegen Diebstahls entlassen hatte?
Jody würde ein Heidenspektakel veranstalten. Ihr Blutdruck würde raketenartig in die Höhe
schießen, und es würde ihre – Janellens – Schuld sein, wenn Jody ernsthaft krank würde.
Sie zählte mindestens ein Dutzend berechtigter Einwände, griff zum Hörer und wählte die
Nummer der Palme. Jemand hob beim ersten Läuten ab.
»Ist dort … Hallo, ich möchte gern … Wer spricht denn?« Ihr ganzer Mut war anscheinend
schon wieder dahin.
»Wen möchten Sie denn sprechen?«
»Also, hier ist Janellen Tackett. Ich suche …«
»Er ist nicht hier.«
»Bitte?«
»Ihr Bruder. Er ist nicht hier. Er war gestern Abend da, nach der Versammlung. Blieb ungefähr
’ne halbe Stunde. Hat drei Doppelte in Rekordzeit gekippt. Dann verschwand er wieder. Sagte,
er wolle noch ’ne Runde fliegen.« Der Mann gluckste. »Mich hätten keine zehn Pferde in das
Flugzeug gekriegt. Nicht bei der Menge Scotch, die er intus hatte, und der miesen Stimmung, in
der er war.«
»Oje«, murmelte Janellen. Das Zuhälter-Mobil hatte heute Morgen nicht an seinem gewohnten
Platz gestanden. Aber sie hatte gehofft, der Grund dafür sei, dass Key früh aus dem Haus gegangen
war, und nicht, dass er gar nicht nach Hause gekommen war.
»Ich bin Hap Hollister, Miss Janellen. Mir gehört die Palme. Wenn Key reinkommt, soll ich ihm
etwas von Ihnen ausrichten? Soll er Sie anrufen?«
»Ja, bitte. Ich würde gern wissen, ob es ihm gutgeht.«
»Ach Teufel, Sie kennen doch Key. Der passt schon auf sich auf.«
»Ich weiß. Richten Sie es ihm bitte trotzdem aus.«
»Wird gemacht. Wiedersehen.«
»Moment, Mr. Hollister«, warf sie hastig ein. »Eigentlich habe ich aus einem ganz anderen
Grund angerufen.«
»Ja?«, fragte er, als sie zögerte.
Janellen wischte sich die feuchte Hand am Rock ab. »Sagen Sie, arbeitet dieser junge Mann
noch bei Ihnen? Bowie Cato?«
Lara jätete gerade das Petunienbeet, als ein blauer Kombi quietschend um die Ecke bog, über die
Gehsteigkante hoppelte, ihre Auffahrt hinaufbrauste und auf dem losen Schotter zum Halten kam.
Die Fahrertür wurde aufgestoßen, und ein junger Mann in Badehose sprang heraus. Er hatte
Panik im Blick.
»Doktor! Meine kleine Tochter! Sie … ihr Arm … O Gott, bitte, helfen Sie uns!«
Lara ließ augenblicklich die Hacke fallen und schoss wie eine Sprinterin vom Startblock aus dem
Beet. Sie streifte im Laufen die Gartenhandschuhe ab, rannte zur Beifahrertür und riss sie auf. Die
Frau im Wageninneren war noch hysterischer als der Mann. Sie hielt ein etwa dreijähriges Kind
im Arm. Alles war voller Blut.
»Was ist passiert?« Lara langte in den Wagen und drückte vorsichtig die Arme der Mutter vom
Körper der Tochter. Das Blut war hellrot. Arterielles Blut.
»Wir kamen vom See«, schluchzte der Mann. »Letty saß hinten, hielt den Arm aus dem Fenster.
Ich konnte doch nicht ahnen, dass ich so nahe dran war, als ich abbog. Der Telefonmast … o
Gott … o Jesus, hilf.«
Der Arm des Kindes war fast abgetrennt worden. Die Schulterkugel war grotesk entblößt. Blut
sprudelte aus der verletzten Arterie. Seine Haut war blau, sein Atem ging flach und schnell. Es
reagierte nicht.
»Geben Sie mir ein Handtuch.«
Der Mann fischte eins von einem Stapel Strandtücher auf der Rückbank und reichte es ihr. Sie
presste es fest gegen die Wunde. »Halten Sie das so, bis ich wieder zurück bin.« Die Mutter nickte
unter Schluchzen. »Drücken Sie, so fest Sie können.« Zum Vater sagte sie: »Räumen Sie die
Rückfläche frei.«
Sie rannte zum Praxiseingang. Dann suchte sie gleichzeitig die notwendigen Utensilien für einen
Glukosetropf zusammen und rief die Nummer der Luftrettung im Mutter-Frances-Hospital in
Tyler an.
»Hier spricht Dr. Mallory aus Eden Pass. Ich brauche einen Hubschrauber. Der Patient ist ein
Kind. Schock, zyanotisch, hoher Blutverlust, keine Reaktion. Der rechte Arm ist beinahe
abgetrennt. Keine Anzeichen für Verletzungen an Kopf, Rücken oder Nacken. Das Kind ist
transportfähig.«
»Können Sie es zum Dabbert-County-Landeplatz bringen?«
»Ja.«
»Beide Helikopter sind momentan im Einsatz. Wir leiten Ihre Meldung weiter.«
Lara hängte ein, griff nach dem Notfallkoffer und rannte wieder nach draußen. Der Vater musste
wie ein Wahnsinniger in seiner Panik die Rückbank leer geräumt haben. Auf der Auffahrt lagen
abgelassene Luftmatratzen, Blasebälge, ein Picknickkorb, Sechserpacks Limonade, zwei
Thermoskannen, eine Kühlbox und eine alte Decke.
»Helfen Sie mir, sie auf die Fläche zu legen.«
Zusammen mit dem Vater hob Lara das Kind vom Schoß der Mutter und trug es zur
Heckklappe des Wagens. Lara kletterte rückwärts hinein und senkte den Körper des Kindes
langsam auf die mit Teppich ausgeschlagene Fläche ab. Auch die Mutter kletterte hinein und
hockte sich neben ihre Tochter.
»Geben Sie mir die Decke.« Der Mann brachte sie ihr, und Lara deckte das Mädchen zu, um die
Körperwärme zu konservieren. »Fahren Sie zur County-Landebahn. Ich hoffe, Sie wissen, wo das
ist.«
Er nickte.
»Ein Hubschrauber wird sie ins Krankenhaus nach Tyler bringen.« Er schlug die Klappe zu und
lief zur Fahrertür. Zwei Minuten nach ihrer Ankunft waren sie wieder unterwegs.
Lara arbeitete schnell, als sie das blutgetränkte Handtuch von der Schulter des Mädchens nahm
und es durch große sterile Tupfer ersetzte. Sie presste diese auf die Wunde und umwickelte die
Schulter dann fest mit einer Bandage. Die Blutung konnte tödlich sein, wenn sie nicht bald gestillt
wurde.
Als Nächstes suchte sie auf dem Handrücken der Kleinen nach einer Vene. Die Patientin begann
zu würgen. Ihre Mutter heulte vor Entsetzen auf. Ruhig sagte Lara: »Drehen Sie sie auf die Seite,
damit sie sich nicht an dem Erbrochenen verschluckt.« Die Mutter tat wie geheißen. Die
Atemwege des Kindes waren frei, doch seine Atmung war schwach, genau wie der Puls.
Der Vater fuhr wie ein Wahnsinniger, hupte die anderen Wagen von der Straße, überfuhr rote
Ampeln und fluchte unter Tränen. Die Mutter schluchzte lauthals.
Lara fühlte mit ihnen. Sie wusste, was für ein Gefühl es war, hilflos zusehen zu müssen, wenn
das eigene Kind einen blutigen Tod starb.
Unzufrieden mit der winzigen Vene, die sie auf dem Handrücken lokalisiert hatte, entschloss sie
sich spontan zu einem Einschnitt. Sie zog den Fuß des Kindes unter der Decke hervor und schnitt
unter dem entsetzten Blick der Mutter mit dem Skalpell in den Knöchel, fand eine Vene, tätigte
noch einen Schnitt, führte einen schmalen Katheter ein und schloss den Tropf daran an. Mit
flinken, geschickten Fingern verschloss sie die kleine Wunde mit einer Klammer, um den
Katheter zu sichern.
Der Schweiß tropfte ihr von der Stirn, und sie wischte ihn sich mit dem Ärmel ab. »Gott sei
Dank«, entfuhr es ihr, als sie sah, dass sie am Landeplatz angekommen waren.
»Wo ist der Hubschrauber?«, schrie der Vater.
»Drücken Sie auf die Hupe!«
Ein Mann mit wässrigen Augen kam im ölverschmierten Overall aus dem Hangar auf den Fahrer
zugelaufen.
»Sind Sie Dr. Mallory?«, fragte er.
Der Vater zeigte nach hinten zur Ladefläche des Kombi. Der Mechaniker beugte sich herunter
und starrte mit offenem Mund auf die blutige Szene, die sich ihm bot. »Doc?«
»Hat sich das Hospital schon bei Ihnen gemeldet?«
»Ja, der eine Chopper ist draußen am Palestine, um einen Mann mit einem Herzinfarkt
abzuholen, der andere ist bei der Interstate 20, da war ein Autounfall.«
»Ist das Medical Center verständigt worden?«
»Ja, aber deren Hubschrauber ist auch bei der Autobahn. Scheint ’ne böse Karambolage gegeben
zu haben. Die haben nur gesagt, dass sie die Meldung weiterleiten.«
»Die Kleine kann nicht warten!«
»O Gott, mein Baby«, jammerte die Mutter. »Sie wird sterben, nicht wahr? O Gott!«
Lara sah zu dem winzigen Körper und spürte, wie das Leben aus ihm wich. »Gott, steh mir bei.«
Sie vergrub das Gesicht in den Händen, die nach frischem Blut rochen. Dies war ein immer
wiederkehrender Alptraum. Zusehen zu müssen, wie ein Kind starb. Verblutete. Unfähig zu sein,
etwas dagegen zu tun.
»Doktor!«
Der Vater des Kindes packte sie am Arm und schüttelte sie. »Was jetzt? Sie müssen etwas tun!
Unser Baby stirbt!«
Dessen war sie sich nur allzu bewusst. Sie wusste auch, dass sie allein mit einer so ernsthaften
Verletzung nicht fertigwerden würde. Sie konnte den Schock vorübergehend unter Kontrolle
halten, aber das Mädchen würde mit Sicherheit den Arm, wenn nicht sogar das Leben verlieren,
wenn es nicht bald versorgt wurde. Das kleine County-Krankenhaus war nicht gut genug
ausgestattet, um mit einem Trauma diesen Ausmaßes umzugehen. Eine schlimme Schnittwunde,
ein komplizierter Bruch, ja, aber nicht so etwas. Sie dorthin zu bringen wäre Vergeudung
wertvoller Minuten.
Sie wandte sich dem hilflosen Mechaniker zu. »Können Sie uns hinfliegen? Es geht um Leben
und Tod.«
»Ich bastle nur an den Dingern rum. Fliegen hab ich nie gelernt. Aber es gibt einen Piloten hier,
der könnte Sie vielleicht fliegen.«
»Wo ist er?«
»Da hinten«, er deutete mit dem Daumen ins Hangarinnere. »Er ist nur selbst ziemlich schlecht
beieinander.«
»Gibt es auch ein Flugzeug, das wir nehmen könnten? Am besten einen Hubschrauber?«
»Dieser Profigolfer, der sich vor ’ner Weile hier zur Ruhe gesetzt hat, der hat einen
Hubschrauber. Schickes Ding. Fliegt damit ein-, zweimal in der Woche nach Dallas zum Golf
spielen. Der ist ganz in Ordnung. Glaube nicht, dass er was dagegen hätte, wenn Sie ihn
benutzen. Zumal es ja ein Notfall ist.«
»Beeilen Sie sich!«, drängte die Mutter.
»Kann dieser Pilot da drinnen einen Hubschrauber fliegen?«, fragte Lara den Mechaniker.
»Klar, aber ich sagte Ihnen doch, der ist nicht gut … «
»Halten Sie den Tropf hoch«, wies sie die Mutter an. »Sie achten auf ihre Atmung«, befahl sie
dem Vater. Sie ging ein Risiko ein, den Eltern die Aufsicht über das Kind zu lassen, aber sie
befürchtete, der Mechaniker könne dem Mann im Hangar die Dringlichkeit der Situation nicht
richtig klarmachen.
Sie lief an ihm vorbei in die Halle. Drinnen standen mehrere in Einzelteile zerlegte Maschinen.
Sie konnte niemanden entdecken. »Hallo! Hallo?!«
Sie ging durch die Tür zu ihrer Linken und kam in einen kleinen, stickigen Raum. In der Ecke
stand eine Liege. Ein Mann lag dort ausgestreckt auf dem Rücken und schnarchte laut. Es war
Key Tackett.
Kapitel 8
Es stank wie in einer Brauerei. Lara beugte sich über ihn, packte ihn bei der Schulter und rüttelte
ihn unsanft. »Aufwachen. Sie müssen mich nach Tyler fliegen. Sofort!« Er murmelte etwas
Unverständliches und rollte sich auf die Seite.
In dem rostigen, schnarrenden Kühlschrank fand Lara mehrere Dosen Bier, etwas faulig
stinkenden Käse, eine verschrumpelte Orange und einen Kanister Wasser, nach dem sie gesucht
hatte. Sie schraubte den Deckel ab und goss Tackett den Inhalt über den Kopf.
Brüllend, mit geballten Fäusten und Mordlust im Blick fuhr er hoch. »Verdammte Scheiße, was
…?« Doch es verschlug ihm die Sprache, als er Lara mit dem tropfenden Plastikkanister vor sich
stehen sah.
»Ich brauche Sie. Sie müssen ein kleines Mädchen zum Mutter-Frances-Hospital fliegen. Sie
verliert sonst ihren Arm und vielleicht sogar das Leben. Wir haben keine Zeit zu diskutieren.
Können Sie uns heil hinbringen, ohne dass wir abstürzen?«
»Ich kann überall hinfliegen, zu jeder Zeit.« Er schwang sich von der Pritsche und hob seine
Stiefel auf.
Lara drehte sich um und stürmte aus dem Gebäude. Der Vater kam ihr entgegengelaufen.
»Haben Sie ihn gefunden?«
»Er kommt.« Mehr sagte sie nicht. Es war besser für ihn, wenn er nicht wusste, dass der Pilot
seinen Rausch noch nicht ganz ausgeschlafen hatte. Der Mechaniker stand neben dem
Hubschrauber und signalisierte mit erhobenem Daumen sein Okay. »Wie heißen Sie?«, fragte sie
den jungen Vater, während sie über den Asphalt liefen.
»Jack. Jack und Marion Leonard. Unsere Tochter heißt Letty.«
»Jack, helfen Sie mir, Letty zum Hubschrauber zu bringen.«
Gemeinsam hoben sie das Mädchen aus dem Kombi und trugen es eilig hinüber zum
Helikopter. Marion lief neben ihnen her und hielt den Beutel mit der Dextrose hoch. Als sie den
Hubschrauber erreichten, saß Key schon auf dem Pilotensitz.
Er hatte die Maschine bereits gestartet; die Rotorblätter drehten sich. Die Leonards waren zu
sehr in Sorge um ihre Tochter, um zu bemerken, dass sein Hemd offen war und er dringend eine
Rasur brauchte. Wenigstens hatte er die blutunterlaufenen Augen mit einer verspiegelten
Sonnenbrille getarnt.
Als sie alle an Bord waren, schaute Key in die Runde und fragte in Richtung Lara: »Startklar?«
Sie nickte. Der Helikopter hob ab.
Es war zu laut für eine Unterhaltung, aber es gab ohnehin nichts zu sagen. Die Leonards
klammerten sich aneinander, während Lara den Blutdruck und den Puls des Mädchens überprüfte.
Sie vertraute darauf, dass Key wusste, wie der Landeplatz am Mutter-Frances-Hospital zu
erreichen war. Er hatte einen Kopfhörer mit Mikrofon aufgesetzt, und sie sah, wie sich seine
Lippen bewegten.
Er rief ihr über die Schulter zu: »Ich bin auf ihrer Frequenz und habe die Notaufnahme dran. Sie
wollen wissen, in welchem Zustand die Kleine ist.«
»Blutdruck fünfzig zu dreißig, weiter abfallend. Puls schwach. Sagen Sie ihnen, wir brauchen
einen Vaskulär-chirurgen und einen Orthopädie-Spezialisten. Sie wird wahrscheinlich beide
benötigen. Ich habe einen Tropf angelegt.«
»Haben Sie ihr ein Antikoagulans gegeben?«
Sie hatte es in Erwägung gezogen, sich dann aber dagegen entschieden. »Sie ist zu jung. Die
Blutung ist vorübergehend unter Kontrolle.«
Key übermittelte die Information. Lara überprüfte immer wieder Lettys Blutdruck, die Atmung
und den Puls. Sie rang mit sich, emotional unbeteiligt zu bleiben, doch das war nicht einfach,
wenn die Patientin so jung, hilflos und so schwer verletzt war.
Von Zeit zu Zeit langte Marion herüber und strich ihrer bewusstlosen Tochter über das Haar
oder die Wange. Einmal fuhr sie mit dem Daumen über Lettys kleine Zehen. Diese instinktive
mütterliche Geste zerriss Lara das Herz.
Als die Randbezirke der Stadt unter ihnen auftauchten, sagte Key: »Das Trauma-Team steht
bereit. Sie haben uns die Erlaubnis zur Landung erteilt.«
Plötzlich setzte Lettys flache Atmung aus. Lara tastete ihren Hals fest ab, konnte aber keinen Puls
fühlen.
Jack Leonard schrie panisch: »Was ist los? Doktor? Doktor?«
»Ihre Atmung hat ausgesetzt.«
»Mein Baby! O Gott, mein Baby!«, schrie Marion hysterisch. Lara beugte sich über das Kind und
platzierte ihre Handballen direkt unter dem Sternum. Dann presste sie mehrmals, versuchte, das
Herz durch Druck auf den Brustkorb zu beleben. »Nein, Letty, nein! Du musst durchhalten!
Bitte! Wie weit ist es noch, Key?«
»Ich kann das Krankenhaus sehen.«
Sie beugte sich über das Gesicht der Kleinen und versuchte es mit Mund-zu-Mund-Beatmung.
»Du darfst nicht sterben, Letty«, flüsterte sie beschwörend.
»O Gott«, krächzte Jack. »Sie ist tot.«
»Letty!«, schrie Marion. »O Gott, bitte, nein!«
Lara hörte ihre hysterischen Schreie nicht einmal. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den
kleinen Körper vor ihr gerichtet, während sie rhythmisch presste und abwechselnd beatmete.
Als sie einen schwachen Pulsschlag spürte, stieß sie einen Schrei der Erleichterung aus. Die
Atmung setzte wieder ein, und der kleine Brustkorb hob und senkte sich. Lara unterstützte sie
weiter. Der Puls war sehr schwach, aber ihr Herz schlug wieder.
»Wir haben sie zurück!«
Key setzte mit dem Chopper auf.
Das Trauma-Team kam angelaufen, duckte sich unter den Rotorblättern. Lara übergab ihnen
die Patientin und half, Marion zurückzuhalten, während sie das Kind auf eine Bahre legten und in
die Notaufnahme schoben. Sie folgten ihnen, doch eine Schwester fing sie ab und führte sie in
einen Warteraum nebenan.
»Ich will zu meinem Kind.« Marion lief den mit der Bahre verschwindenden Ärzten nach.
»Es tut mir leid, Ma’am. Sie müssen hier draußen warten. Die Ärzte werden alles für Ihre
Tochter tun.«
Lara nickte der Schwester verständig zu. »Ich kümmere mich um sie. Vielen Dank.«
Sie führte Marion zusammen mit Jack in den Wartebereich zurück. Jack redete beruhigend auf
seine Frau ein. »Wir müssen die Familie anrufen, Marion.«
»Gehen Sie nur. Ich bleibe bei ihr.«
»Nein«, sagte Marion entschlossen und schüttelte den Kopf. »Ich gehe mit Jack.« Sie ließ sich
nicht überzeugen. Sie stützten sich gegenseitig und suchten ein Telefon.
»Wird die Kleine durchkommen?«
Beim Klang von Keys Stimme in ihrem Rücken wirbelte Lara herum. Er sah den Leonards
nach, die den Gang hinunter verschwanden.
»Es steht auf der Kippe.«
»Sie haben sie um ein Haar verloren, nicht wahr?« Sein Blick schweifte zu ihr. »Und Sie haben
wie der Teufel um sie gekämpft.«
»Das ist mein Job.«
Nach einer Pause fragte er: »Was ist mit dem Arm?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht wird sie ihn verlieren.«
»Mist.« Er steckte die Sonnenbrille in die Brusttasche seines Hemdes, das er zugeknöpft hatte,
ehe er ihnen ins Innere des Gebäudes gefolgt war. »Ich brauche dringend einen Kaffee. Wollen
Sie auch einen?«
»Nein, danke.«
»Sagen Sie Bescheid, wenn Sie bereit sind, nach Eden Pass zurück … «
Lara schüttelte den Kopf. »Ich werde mit den Leonards hier warten. Wenigstens so lange, bis das
Kind aus dem OP kommt. Sie müssen nicht bleiben. Ich komme schon irgendwie zurück.«
Er bedachte sie mit einem harten Blick, dann meinte er ungerührt: »Ich gehe Kaffee holen.«
Lara sah ihm nach, wie er mit aufrechtem Gang, während er fast unmerklich den verletzten Fuß
ein wenig nachzog, den kahlen Korridor hinunterging. Trotz seines ramponierten Äußeren wäre
man nie darauf gekommen, dass sie ihn erst vor kurzem aus einem Vollrausch geweckt hatte.
Er hatte den Chopper zwischen einem mehrstöckigen Parkhaus und dem Krankenhausgebäude
gelandet. Es war ein schwieriges Manöver gewesen. Seine Prahlerei, jederzeit überall hinfliegen zu
können, war kein leeres Versprechen gewesen.
Die Leonards kehrten von ihren Telefonaten mit der Familie zurück, und das lange Warten
begann. Key brachte ihnen mehrere Becher Kaffee und eine Kleinigkeit zu essen aus dem
Automaten. Lara machte ihn mit den besorgten Eltern bekannt.
»Wir können Ihnen gar nicht genug danken«, beteuerte Marion unter Tränen. »Wie es auch
ausgehen mag, wenn Sie nicht gewesen wären, hätten wir Letty … sie …«
Angesichts der Dramatik der Situation sparte sich Key hohle Floskeln, legte ihr stattdessen
mitfühlend die Hand auf die Schulter und drückte sie. »Ich bin bald wieder zurück.« Ohne ein
weiteres Wort der Erklärung war er verschwunden.
Aus dem OP sickerten nur langsam Informationen durch. Jedes Mal wenn die Schwester auf den
Gang herauskam, schreckten die drei Wartenden hoch. Doch sie versicherte ihnen nur, dass das
Ärzteteam alles unternehmen würde, um Lettys Zustand zu stabilisieren und ihren Arm zu retten.
Es war ein geschäftiger Morgen in der Notaufnahme. Bei dem Unfall auf der Autobahn waren
mehrere Personen schwer verletzt worden.
Drei Fahrzeuge waren daran beteiligt gewesen, einschließlich eines Reisebusses mit Rentnern
auf einer Kaffeefahrt. Das Personal hatte alle Hände voll zu tun, aber Lara merkte, dass alle
kompetent waren und effizient arbeiteten.
Nach etwa einer Stunde kehrte Key mit einer großen Einkaufstüte vom Supermarkt zurück. Er
reichte sie Lara und Marion. »Ich hab mir gedacht, Sie würden sich ein bisschen besser fühlen,
wenn Sie was Frisches zum Anziehen haben.«
Sie fanden Hosen und T-Shirts in der Tüte. Ihre eigenen Kleider waren von Lettys Blut ganz
steif geworden. Lara und Marion suchten den nächsten Waschraum auf, um sich frisch zu machen
und sich umzuziehen. Als Jack Key die Unkosten erstatten wollte, weigerte er sich, das Geld
anzunehmen.
»Sie sind doch Barney Leonards Sohn, richtig? Sie haben die Reinigung von Ihrem Dad
übernommen, stimmt’s?«
»Das stimmt, Mr. Tackett. Ich hatte nicht angenommen, dass Sie sich an mich erinnern.«
»Sie verstehen was von Ihrem Job. Hab noch nie so gute Hemden gehabt – genau die richtige
Menge Stärke«, sagte Key. »Somit sind wir quitt.« Jack schüttelte ihm die Hand.
Eine halbe Stunde später traf ihre Familie in Begleitung des Pastors ein. Die besorgte Gruppe
kam zusammen und betete für Lettys Leben. Lara hatte in ihrer beruflichen Laufbahn schon viele
solcher Szenen gesehen und hatte ihr Unbehagen angesichts persönlicher Tragödien wie dieser
abgelegt.
Was auf Key offensichtlich nicht zutraf. Unruhig wanderte er auf dem Flur auf und ab und
verschwand von Zeit zu Zeit. Jedes Mal wenn er ging, dachte Lara, er würde den geborgten
Hubschrauber nach Eden Pass zurückbringen, aber er kam immer wieder zurück und erkundigte
sich nach Lettys Zustand. Bei einer dieser nicht weiter erklärten Gelegenheiten hatte er sich rasiert
und das Hemd in die Hose gesteckt, woraufhin er einigermaßen präsentabel wirkte.
Fast sieben Stunden nachdem man Letty in den OP geschoben hatte, trat ein Mann in mittleren
Jahren mit Bauchansatz in einem blauen Kittel heraus und rief ihren Namen. Die Leonards
erhoben sich, fassten sich bei den Händen, um gewappnet zu sein für das, was kam.
»Ich bin Dr. Rupert.« Er stellte sich ihnen als der Chirurg für Vaskulärmedizin vor. »Ihre Kleine
hat es geschafft. Wenn keine unerwarteten Komplikationen auftreten, wird sie durchkommen.«
Marion wäre zusammengebrochen, wenn ihr Mann sie nicht gestützt hätte. Sie begann laut und
heftig zu schluchzen. »Danke. Ich danke Ihnen. Danke.«
»Was ist mit ihrem Arm?«, fragte Jack.
»Wir konnten ihn retten, aber ich kann Ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, inwieweit sie
ihn später gebrauchen kann. Die Durchblutung ist wiederhergestellt, aber die Nerven und das
Muskelgewebe könnten Schäden genommen haben, die sich erst später zeigen. Dr. Callahan,
unser Spezialist für Orthopädie, wird in Kürze herauskommen und Ihnen mehr sagen können. Er
wird Sie auch auf die spätere Physiotherapie ansprechen. Jetzt ist erst einmal wichtig, dass sie lebt
und ihr Zustand stabil ist.«
»Wann kann ich zu ihr?«, fragte Marion.
»Sie muss noch ein paar Tage auf der Intensivstation bleiben, aber Sie dürfen für kurze Zeit zu
ihr. Das Pflegepersonal gibt Ihnen Bescheid. Dr. Callahan wird gleich bei Ihnen sein.«
Während sich die Angehörigen um das Paar drängten und Jack und Marion umarmten, wandte
sich der Arzt an Key. »Dr. Mallory?«
»Nein, ich …«
»Ich bin Dr. Mallory«, sagte Lara und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin Ärztin für
Allgemeinmedizin in Eden Pass.«
»Gute Arbeit, wenn man die Umstände bedenkt. Sie waren wirklich blitzschnell hier.«
»Ich freue mich, dass sie es schafft«, erwiderte Lara mit einem erschöpften Lächeln. Sie senkte die
Stimme, als sie fragte: »Unter Kollegen – ist schon abzusehen, wieweit sie ihren Arm später wird
benutzen können?«
»Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, es besteht eine fünfzigprozentige Chance auf
Wiederherstellung. Sie ist jung genug, um mögliche Behinderungen auszugleichen. Sollte der
Eingriff voll gelungen sein, wird sie sich später kaum mehr an den Unfall erinnern.« Auch sein
Lächeln wirkte erschöpft. Die Anstrengung der siebenstündigen Operation machte sich auf seinen
Zügen bemerkbar. »Trotzdem mache ich jede Wette, dass sie nie wieder den Arm aus einem
fahrenden Auto halten wird.«
Sie gaben sich ein zweites Mal die Hand. Nachdem er noch einige abschließende Worte an die
Leonards gerichtet hatte, verschwand er. Die Leonards fielen Lara um den Hals und gingen dann
zum Telefon, um Freunden und Verwandten die gute Neuigkeit mitzuteilen.
Verloren blickte Lara zu Key hinüber. »Ich denke, für mich gibt es hier nichts mehr zu tun.«
»Bereit, wenn Sie es sind, Doc.«
Als sie in der Luft waren, fiel der Stress von Lara ab und wich einer völligen Erschöpfung. Die
Ereignisse des Tages forderten ihren Tribut. Ihre Muskeln schmerzten. Sie rollte den Kopf und
versuchte, die Knoten aus dem Nacken zu massieren.
Von hier oben aus gesehen, war die Abenddämmerung wundervoll, doch sie konnte den
Anblick nicht genießen, weil sie immer wieder daran denken musste, wie knapp Letty Leonard
dem Tod entronnen war.
Die Zerbrechlichkeit des Lebens kam einem voll zu Bewusstsein, wenn ein Kind Gefahr lief zu
sterben. Jeder Tod ging Lara nahe, doch der drohende Tod eines Kindes hinterließ einen
besonderen Eindruck bei ihr, weil es sie an den tragischen Moment erinnerte, als ihr Ashley
genommen wurde. In einer Sekunde hatte ihr wunderschönes kleines Mädchen noch fröhliche,
glucksende Babylaute von sich gegeben, in der nächsten hatte es blutüberströmt und leblos
dagelegen.
Lara stiegen Tränen in die Augen. Ihr Hals fühlte sich rau und wie zugeschnürt an. Wenn nicht
ausgerechnet Key Tackett in der engen Kabine neben ihr gesessen hätte, hätte sie bitterlich
geschluchzt.
Stattdessen zwang sie sich zur Beherrschung. Sie regte sich kaum, bis der Helikopter auf dem
Landeplatz von Dabbert County aufsetzte. Der Mechaniker empfing sie.
»Wie geht es dem kleinen Mädchen?«, fragte er, sobald Lara ausgestiegen war.
»Sie lebt, und sie haben ihren Arm gerettet.«
»Na, Gott sei Dank. Ich dachte schon, sie schafft es nicht. Hey, Key, ist ein Prachtstück, der
Chopper, was?«
»Erste Sahne, Balky«, bestätigte er und übergab dem Mechaniker die Schlüssel.
Lara deutete zum Kombi der Leonards. »Würden Sie sich vielleicht darum kümmern, dass er
gesäubert wird, bevor sie ihn abholen kommen?«
»Schon geschehen«, sagte der Mechaniker. »Bo hat ’nen Jungen von der Garage rübergeschickt.
Er hat das Blut ausgewaschen.«
»Das war sehr freundlich von Ihnen … Balky, richtig?«
Er nickte. »Balky Willis. Freut mich, Ma’am.« Er gab Lara die Hand.
Sie erwiderte seinen Händedruck. »Lara Mallory.«
»Ja, Ma’am. Hab ich mir gedacht, dass Sie das sind.«
»Ich bin sicher, die Leonards werden Ihnen sehr dankbar sein für Ihre Hilfe.«
»War nicht meine Idee mit dem Wagen, Ma’am. Key hat von Tyler aus angerufen und es
vorgeschlagen.«
Lara warf ihm einen überraschten Blick zu. Er zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, sie würden
so oder so nicht gern daran erinnert werden. Können wir los?«
»Los?« Erst da fiel ihr ein, dass sie ohne eigenen Wagen da war. »Oh, wenn es Ihnen nichts
ausmacht?«
Er deutete auf den gelben Lincoln, der am anderen Ende des Hangars geparkt stand.
Lara bat Balky, sich in ihrem Namen bei dem Golfer zu bedanken, der ihnen den Chopper
ausgeliehen hatte. »Sagen Sie ihm, er soll mir die Rechnung für die anfallenden Unkosten
zuschicken.«
»Geht klar.« Er salutierte vor ihr und verabschiedete sich auch von Key.
»Ich erwarte von Ihnen, dass Sie mir auch eine Rechnung schreiben, Mr. Tackett«, sagte sie auf
dem Weg zum Lincoln. »Wie hoch ist Ihr übliches Honorar?«
Er hielt ihr die Beifahrertür auf. »Kommt drauf an, für was.«
Sie lächelte nicht, als sie sich auf den Sitz gleiten ließ, sondern starrte stur geradeaus durch die
Windschutzscheibe.
Als sie auf dem Highway in Richtung Stadt fuhren, sagte Key: »Wissen Sie, Sie besitzen nicht
für zehn Cent Humor. Lachen Sie nie?«
»Doch, wenn ich etwas Lustiges höre.«
»Oh, kapiere. Sie finden mich nicht amüsant.«
»Anspielungen sexueller Art haben ihren Charme für mich verloren. Ich habe mir schon zu viele
gefallen lassen müssen, um sie lustig zu finden.«
Er streckte seine langen Glieder, rutschte in eine bequemere Position auf dem Sitz. Das Leder
knarrte unter ihm. »Ich schätze, das ist der Preis dafür, wenn man in einen Sexskandal verstrickt
war.«
»Nein, nicht man. Diesen Preis bezahlt nur die Frau.«
Er warf ihr einen prüfenden Blick von der Seite zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf
die Straße richtete. Sie schwiegen, während der Wagen über den zweispurigen Highway in die
zunehmende Dunkelheit glitt.
»Sind Sie hungrig?«
Sie hatte nicht darüber nachgedacht, aber als er fragte, musste sie eingestehen, dass sie halb
verhungert war. Alles, was sie am Morgen, bevor sie rausgegangen war, um das Blumenbeet zu
jäten, zu sich genommen hatte, war ein Joghurt und zwei Tassen schwarzen Kaffees gewesen.
»Schon«, sagte sie.
»Mögen Sie Spareribs?«
»Wieso?«
»Weil ich weiß, wo man die besten Spareribs der Welt kriegt. Dachte, wir könnten kurz
anhalten.«
Sie sah an sich herunter, auf die Kleidung, die er ihr gekauft hatte. »Ich glaube, ich bin nicht
unbedingt passend zum Ausgehen angezogen, so nett ich das mit den Sachen finde.«
Er lachte. »Für Barbecue Bobby sind Sie geradezu rausgeputzt!«
»Na ja, den passenden Namen hat er.«
»Ja, aber den hat er nicht wegen seiner Grillkünste, sondern weil er selbst einmal gegrillt wurde.«
Sie sah ihn fragend an. »Das war so: Bobby Sims kannte einen Rodeoreiter, einen Kerl namens
Little Pete Pauley. Eines Abends bekamen die beiden beim Tanz nach dem Rodeo Streit wegen
einer Frau. Pete zog den Kürzeren, und Bobby machte Witze über Little Pete, der schon von
jeher empfindlich war, was seine eins sechzig in Stiefeln anging.
Später in der Nacht rächte sich Little Pete an Bobby, indem er ihm das Haus über dem Kopf
anzündete. Bobby kam gerade noch davon. Er war so weit okay, bis auf sein Haar, das dabei
versengt wurde. Er lief ganze sechs Monate wie ’ne kahlköpfige Eidechse durch die Gegend und
roch immer leicht nach verbranntem Holz. Alle nannten ihn nur noch Barbecue. Tja, von da an
stand seine weitere Zukunft schon fest.«
Lara vermutete, dass er ihr einen Bären aufbinden wollte, aber ehe sie ihre Zweifel aussprechen
konnte, bogen sie auf einen Parkplatz vor einer Kneipe ein. »Hmm, ganz schön was los heute
Abend.«
»Aber das ist eine richtige Spelunke!«, protestierte sie. Um den Dachgiebel war ein einzelner
Strang mit gelben Lichtern geschlungen, die meisten davon defekt. Das war die ganze Dekoration
des Etablissements. »Da kann ich unmöglich reingehen.«
»Oho!«, spottete er. »Wohl zu fein, die Dame, wie?«
Er hatte sie in die Ecke gedrängt. Wenn sie sich weigerte, mit ihm dort hineinzugehen, hätte er
einen weiteren Grund, sie eine Heuchlerin oder einen Snob zu nennen – eine, die mit Steinen
warf, obwohl sie selbst im Glashaus saß.
Andererseits wollte sie auf jeden Fall vermeiden, dass das Gerücht umging, sie würde mit Key
Tackett durch die Gegend ziehen. Sie wusste, wie schnell das gehen konnte. Diese Ärztin, die
den armen Senator Tackett ins Unglück gestürzt hat, hat sich jetzt auch noch den kleinen Bruder
unter den Nagel gerissen, würden die Leute sagen.
Doch eventuelle Gerüchte waren Zukunftsmusik, Keys Verachtung dagegen etwas, womit sie
hier und jetzt fertigwerden musste. Sie öffnete die Tür und stieg aus. Er trug ein unverschämt
selbstgefälliges Grinsen im Gesicht, als er ihr zum Eingang folgte und die Tür aufhielt.
Die Inneneinrichtung der Kaschemme war kaum ansehnlicher als die Außendekoration. Eine
dicke Qualmwolke hing in der Luft und trübte die ohnehin schummrige Beleuchtung. Der
Gestank von Bier war beinahe ebenso betäubend wie der Bass, der aus der knalligen Jukebox in
der Ecke dröhnte. Mehrere Pärchen tanzten auf einer winzigen Tanzfläche. Die Theke nahm die
eine Wand in voller Länge ein, an die andere Wand geklemmt standen kleine Tische.
Als sie eintraten, drehten sich alle Köpfe zu ihnen um. Die Frauen musterten Key, Lara war das
Opfer der Männerblicke. Verunsichert ließ sie sich von ihm zu einem der Tische führen.
»Trinken Sie Bier?«
Sie richtete sich bei dem herausfordernden Ton auf. Das war ein weiterer Test. »Zu Spareribs?
Natürlich.«
Er stieß einen schrillen Pfiff auf zwei Fingern aus. »Hey, Bobby, zwei Bier!«
»Ich glaub, mich tritt ein Pferd«, dröhnte der Barkeeper. »Zwei Bier für den guten alten Key
Tackett! Kommt sofort!«
Key nahm Lara gegenüber Platz und schob die Gewürze, die in der Mitte des Tisches standen,
an den Rand. »Da retten Sie an ein und demselben Tag einem Kind das Leben und trinken mit
mir Bier. Sie lieben die Herausforderung, nicht wahr, Doc?«
Er erwartete keine Antwort, und sie kam auch nicht dazu, weil in diesem Moment ein feister
Mann mit einer ehemals weißen, aber nun von Bratenspritzern und Barbecuesauce verschmierten
Schürze vor ihnen auftauchte. In der einen Hand hielt er zwei schlanke Bierflaschen, mit der
anderen schlug er Key auf die Schulter.
»Lange nicht gesehen!« Donnernd stellte er die Flaschen auf den Tisch. Lara langte schnell zu,
damit ihre Flasche nicht umkippte. Bobby merkte es gar nicht. Er begrüßte immer noch Key.
»Hab schon gehört, dass du von den Scheichs zurück bist. Stimmt das, dass die einem den
Schwanz abschneiden, wenn man ihre Weiber schräg anschaut? Wie bist du geiler Bock denn da
lebend wieder rausgekommen? Hab mich schon gefragt, wann du dich endlich hier blicken lässt,
du Mistkerl.«
»Sieht klasse aus hier, Bobby. Das Geschäft blüht, was?«
»Teufel, und wie! Solange die Leute futtern, saufen und ficken, kommen sie zu mir, weil sie hier
alles drei kriegen. Rundumbedienung, sag ich immer. Das ist meine Geschäftsphilosophie. Und
wen haben wir da?« Er zeigte auf Lara.
Key stellte sie vor. Der Kneipier bemühte sich erst gar nicht, seine Verblüffung zu verbergen.
»Das ist also die Lady mit dem zweifelhaften Ruf, von der ich schon so viel gehört habe. Du
kleiner gerissener Bastard.« Er musterte sie unverhohlen, was Lara lieber war als die versteckten
Blicke der anderen.
»Sie haben sich in der Stadt niedergelassen, richtig? In der Praxis vom alten Doc Patton.«
»Das stimmt.« Lara lächelte. Sie bemerkte die Brandnarben über seinen Brauen und am
Haaransatz.
»Tja, was alles so passiert auf der Welt.« Sein Blick wanderte zwischen den beiden hin und her.
»Dachte nicht, dass ihr beide so dicke miteinander seid.«
»Sind wir auch nicht. Aber wir haben beide zufällig Hunger. Kriegen wir jetzt was zu essen,
oder willst du noch den ganzen Abend hier rumstehen?«
Barbecue Bobby grinste. »Aber klar kriegt ihr was. Für Geld tue ich alles. Was darf’s sein?«
»Zweimal Spareribs. Für mich ohne Sauce.«
»Ich bringe die Sauce extra, dann könnt ihr euch selbst bedienen. Noch zwei Bier?«
»Wenn du das Essen bringst.«
»Kann’s gar nicht abwarten, bis ich mal krank werde«, sagte er mit einem Zwinkern in Richtung
Lara. Dann schlurfte er, kopfschüttelnd über die Wechselfälle des Lebens, wieder hinter seinen
Tresen.
Key nahm mehrere große Schlucke aus seiner Flasche. Lara nippte an ihrer. »Sind Sie letzte
Nacht geflogen?«
Er hielt inne, setzte die Flasche aber nicht ab, sondern rieb die Öffnung müßig über die Lippen.
»Wieso?«
Lara wandte den Blick von seinem Mund und der Flasche ab. »Nur so.«
»Ja, ich bin letzte Nacht in der Luft gewesen. Mit ’ner Piper Cup. Wissen Sie, was das ist?« Sie
schüttelte den Kopf, auch wenn sie schon eine vage Vorstellung hatte, wie die Maschine aussah.
»Ganz hübsche kleine Kiste, wenn man ein paar Runden drehen will. Wieso fragen Sie?«
Auf keinen Fall wollte sie zugeben, dass sie gestern Abend nach ihrer Auseinandersetzung auf
dem Schulparkplatz dringend frische Luft gebraucht hatte und vor die Stadt gefahren war und
dabei einen tollkühnen, aber hochtalentierten Piloten bei seinem Flirt mit dem Tod beobachtet
hatte.
»Ich habe an Ihren Knöchel gedacht«, log sie. »Ich war nicht sicher, ob Sie schon fliegen
können, weil Sie ihn beim Gehen immer noch leicht schonen.«
»Stimmt, er tut noch weh. Aber wenn ich noch länger am Boden hätte festkleben müssen, wäre
ich wahnsinnig geworden.«
»Dann ist dieser Leerlauf für Sie eher ungewöhnlich?«
»Die Fliegerei ist mein Job. Ich fliege für jeden, der mich anheuert. Wenn mir jemand einen
interessanten Auftrag anbietet, bin ich dabei.«
»Das ist Ihr Kriterium? Der Job muss interessant sein?«
»Ja, genau wie die Bezahlung«, sagte er mit einem Grinsen. »Mich kriegt man nicht für einen
Apfel und ein Ei.«
»Demnach können Sie sich Ihre Kunden aussuchen?«
»Ja, so ziemlich. Manche Vereine sind eins a. Die haben die neuesten und teuersten Maschinen.
Die machen sogar Auflagen, wie lange ein Pilot maximal ohne Schlaf unterwegs sein darf und
wann er das letzte Bier gekippt haben darf. Die erwarten von einem, dass man jede Menge
Papierkram erfüllt. Auflagen von der FAA. Dann gibt es aber auch welche, deren Maschinen nicht
gut gewartet sind. Manchmal sind die Landebahnen am Zielflughafen katastrophal. Bei denen
kommt’s lediglich drauf an, dass man wenigstens ein Auge richtig aufkriegt.«
»Unter solchen Bedingungen sind Sie schon geflogen?«
»Unter ›solchen Bedingungen‹ habe ich die größten Scheine verdient.«
Wenn sie ihm so zuhörte, war sie überzeugt, dass Geld der letzte Grund war, weshalb er flog.
»Sie lieben es, stimmt’s?«
»Stimmt. Außer Sex gibt’s nichts Besseres. Manchmal ist es sogar noch besser als Sex, weil es
kein Vorspiel gibt und Flugzeuge nicht reden können.«
Sie ging nicht darauf ein.
Er fuhr fort. »Da oben ist alles so klar. Kein Scheißkram, der einem den Verstand vernebelt.« Er
senkte den Blick, als suchte er nach den richtigen Worten. »In der Luft sind die Dinge so
unkompliziert.«
»Es sieht aber enorm kompliziert aus.«
»Fliegen ist total automatisch«, sagte er mit einem brüsken Kopfschütteln. »Entweder man ist
dazu geboren oder nicht. Es kommt aus dem Bauch, nicht aus dem Kopf. Man ist entweder gut
oder schlecht. Und die Entscheidungen sind entweder richtig oder falsch. Wenn du’s vermasselst,
bist du tot. So einfach ist das. Es gibt keinen Graubereich, keine Zeit für große Analysen. Man
muss sich sofort entscheiden, und dann kann man nur zu Gott beten, dass man recht hatte.«
»Ganz so simpel war es heute nicht«, erinnerte sie ihn.
»Doch, für mich schon. Ich war an dem Notfall nicht beteiligt. Mein Job war es, die Maschine
zu fliegen. Das habe ich getan.«
Lara nahm ihm nicht ab, dass er so lässig war, wie er behauptete. Er war innerlich mehr
engagiert gewesen, Letty Leonards Leben zu retten, als er zugeben wollte, und es hätte ihm ganz
sicher etwas ausgemacht, wenn sie auf dem Transport zum Krankenhaus gestorben wäre.
Barbecue Bobby kam mit dem Essen und zwei frischen Bier. Auf jedem der Teller befanden sich
saftige Rippchen, Pommes frites, frischer Krautsalat, eine Scheibe rote Zwiebeln, zwei Scheiben
Weißbrot und eine Peperoni von der Größe einer kleinen Banane. Key biss in eine Schote, als
handelte es sich um eine Frucht. Allein der Duft trieb Lara die Tränen in die Augen, und sie sah
lieber davon ab. Die Rippchen jedoch waren tatsächlich so köstlich, wie Key versprochen hatte.
Das Schweinefleisch, das viele Stunden im Rauch des Mesquiteholzes gehangen hatte, fiel
förmlich vom Knochen.
»Wollten Sie schon immer Pilot werden?«, fragte Lara zwischen zwei Bissen.
»Wollten Sie schon immer Ärztin werden?«
»Solange ich denken kann.«
Er schenkte ihr ein verschlagenes Grinsen. »Dann wollten Sie, als Sie klein waren, bestimmt
immer nur Doktorspielchen machen, was?«
»Das wollte ich wirklich, ja«, entgegnete sie mit einem Lächeln. »Aber nicht so, wie Sie es
meinen. Meine Freundinnen hatten irgendwann keine Lust mehr und wollten lieber ›Schule‹,
›Filmstar‹ oder ›Model‹ spielen. Ich war erst zufrieden, wenn sie von oben bis unten wie die
Mumien einbandagiert waren. Ich habe ihnen mit Eisstielen die Temperatur gemessen und mit
Fleischspießen Spritzen gegeben.«
»Autsch.«
»Meine Eltern haben immer gehofft, dass sich meine Begeisterung wieder legen würde. Was
nicht der Fall war.«
»Sie haben Sie nicht überredet, Medizin zu studieren?«
»Nein, im Gegenteil. Sie wollten, dass ich eine Dame der Gesellschaft werde, die mit ihren
Freundinnen den Lunch einnimmt, sich ehrenamtlich engagiert und Wohltätigkeitsbälle
organisiert. Nicht, dass irgendetwas daran falsch wäre – für etliche Frauen bedeutet so etwas
Erfüllung und Herausforderung. Aber für mich war das kein Leben.«
»Und das konnten Mommy und Daddy nicht verstehen?«
»Nein, das konnten Mutter und Vater nicht.« Er quittierte die Unterscheidung mit
hochgezogener Augenbraue. Lara erklärte: »Ich war ein spätes Kind. Tatsächlich war ich
unerwartet und auch unerwünscht. Aber da ich nun einmal da war, beschlossen meine Eltern, das
Beste aus der Situation zu machen, und planten mein Leben für mich. Und weil ich den Weg,
den sie für mich so sorgfältig ausgesucht hatten, nicht beschreiten wollte, ließen sie mich nie
vergessen, welche Last ich für sie war. Was manchmal allerdings auch stimmte«, fügte sie lachend
hinzu.
»Einmal habe ich eine Freundin mehrere Stunden auf meiner ›Intensivstation‹ eingesperrt, bis
ihre Eltern sie suchen kamen. Sie fanden sie in meinem Zimmer, mit Strohhalmen in den
Nasenlöchern, durch die sie atmen musste. Ich wundere mich bis heute, dass sie nicht erstickt ist.
Eine andere Freundin habe ich auf eine Gehirnoperation vorbereitet, indem ich ihr das Haar
streichholzkurz schnitt.«
Glucksend tupfte sich Key mit der Serviette den Mund ab.
»Und dann war da noch Molly.«
»Was haben Sie mit Molly angestellt?«
»Aufgeschnitten.«
Er verschluckte sich beinahe an seinem Bier. »Bitte?«
»Molly war die Nachbarshündin, ein Golden Retriever. Ein schönes Tier. Ich habe, seit ich
krabbeln konnte, mit ihr auf dem Hof zwischen unseren Häusern herumgetollt. Dann wurde
Molly krank, und … «
»Sie haben sie operiert?«
»Nein, sie starb. Unsere Nachbarn waren untröstlich und brachten es einfach nicht über sich, sie
noch am gleichen Tag zu beerdigen. Deshalb wickelten sie sie in Plastikfolie und ließen sie über
Nacht in der Garage.«
»Meine Güte, und Sie haben eine Autopsie durchgeführt?«
»Ja, eine ziemlich primitive. Ich überredete eine meiner Freundinnen, die immer behauptet
hatte, sie wolle Krankenschwester werden, sich mit mir nachts in die Garage zu schleichen. Und
aus der Küche haben wir uns Besteck geklaut.«
Lachend fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. »Bisher kannte ich nur Mädchen, die mit
Barbiepuppen gespielt haben.«
Lara verteidigte sich: »Na ja. Molly konnte doch keinen Schmerz mehr spüren, und ich sah
nichts Schlimmes darin, sie aufzumachen und hineinzuschauen. Ich wollte etwas über die
Anatomie erfahren, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal das Wort kannte.«
»Und was geschah dann?«
»Als ich anfing, ihre Organe zu entfernen, fing meine angebliche Freundin an zu schreien.
Mollys Herrchen hörte die Schreie und rief die Polizei. Sie trafen ungefähr zu demselben
Zeitpunkt ein, in dem meine Eltern feststellten, dass ich und meine Freundin verschwunden
waren. Sie stürmten zur Garage, sahen den Kadaver, und dann war der Teufel los.
Meine Eltern waren verständlicherweise geschockt und warfen sich gegenseitig vor, die
›schlechten Gene‹ ihrer Verwandtschaft seien an meiner Veranlagung schuld. Die Nachbarn
schworen, nie wieder ein Wort mit uns zu wechseln. Die Eltern meiner Freundin redeten meinen
Eltern ein, dass ›irgendetwas mit mir nicht stimmen‹ würde und dass ich dringend in
psychiatrische Behandlung müsste, bevor ich mir oder anderen noch etwas antun würde.
Meine Eltern stimmten dem zu. Nach vielen Wochen und endlosen und kostspieligen Sitzungen
kam der Psychiater zu dem Ergebnis, dass ich eine vollkommen normale Elfjährige sei. Meine
einzige ungewöhnliche Veranlagung war ein ausgeprägtes Interesse an der menschlichen
Anatomie vom strikt medizinischen Standpunkt.«
»Ich schätze, Ihre Leutchen waren erleichtert, dass sie kein Monster aufgezogen hatten.«
»Nein, nicht wirklich. Sie glaubten weiterhin, dass mein Wunsch, Ärztin zu werden, abartig sei.
Und in gewisser Weise denken sie das wohl auch heute noch.« Nachdenklich zeichnete sie mit
dem Finger die Spur eines Tropfens Kondenswasser auf ihrer Flasche nach.
»Meine Eltern legen viel Wert auf das Gesellschaftsleben. Das Bild nach außen ist ihnen sehr
wichtig, und sie hassen Überraschungen in ihrem gut geordneten Leben. Ich habe ihnen jede
Menge Überraschungen beschert, angefangen von meiner Geburt bis hin zu … « Sie hob den
Blick und sah ihm in die Augen. »Bis hin zu der Szene in Clarks Cottage. Genau wie Sie auch,
Mr. Tackett, haben sie mir zum Vorwurf gemacht, dass ich Ehebruch begangen hatte, und vor
allem, dass ich mich dabei habe erwischen lassen und die Affäre dadurch öffentlich bekannt
wurde.«
In diesem Moment krachte jemand der Länge nach auf ihren Tisch.
Kapitel 9
Das benutzte Geschirr schepperte zu Boden; die abgenagten Rippchen verstreuten sich wie
zerbrochene Stöckchen auf den dreckigen Dielen. Vier Flaschen fielen um; eine zerbarst.
Das Gewicht des Mannes ließ den Tisch im Fünfundvierziggradwinkel kippen. Fluchend und
mit blutender Nase rappelte sich der Kerl wieder auf und stürmte auf sein Gegenüber los, der ihm
den Schlag verpasst hatte.
»Sehen wir zu, dass wir hier rauskommen.« Key erhob sich und nahm Laras Arm. »Ihren ersten
Besuch bei Barbecue Bobby sollten Sie sich nicht durch eine Schlägerei verderben lassen.«
Lara war durch den plötzlichen Ausbruch der Gewalt wie gelähmt. Ein Kreis von Zuschauern
formierte sich um die beiden Streithähne – zwei junge Burschen – und feuerte sie grölend an, als
sie wieder aufeinander losgingen. Lara sah und hörte mit Entsetzen, wie Blut spritzte und
Knochen krachten.
»Die tun sich ernsthaft weh!« Als Key sie mit sich Richtung Ausgang ziehen wollte, wehrte sie
sich. Er schenkte dem keine weitere Beachtung, sondern zerrte sie einfach mit, nur kurz
innehaltend, um Bobby eine Zwanzigdollarnote in die Hand zu drücken. »War wie immer spitze.
Danke.«
»Alles klar. Lass dich bald mal wieder blicken.«
Bobby ließ die beiden Heißsporne, die sich widerliche Obszönitäten an den Kopf warfen und sie
mit Schlägen untermauerten, nicht aus den Augen.
»Ich kann jetzt nicht gehen«, protestierte Lara. »Vielleicht brauchen sie ärztliche Hilfe.«
Key warf den Männern einen gleichgültigen Blick über die Schulter zu, während er Lara durch
die Tür schob. »Ich glaube kaum, dass die sich über Ihre Hilfe freuen würden. Diese beiden sogar
ganz bestimmt nicht. Sie können es nicht leiden, wenn man sich in ihre Familienangelegenheiten
mischt.«
»Die sind miteinander verwandt?«, fragte Lara ungläubig.
»Verschwägert.« Mittlerweile saßen sie wieder im Wagen und bogen auf die Auffahrt zum
Highway. »Lem und Scoony sind schon seit ewigen Zeiten dicke Kumpels. Vor ein paar Jahren
fing Lem an, ein Auge auf Scoonys kleine Schwester zu werfen. Sie gingen dann miteinander. Das
passte Scoony, der Lem schon mit zu vielen Frauen gesehen hatte, überhaupt nicht, und er drohte
Lem, er würde ihm die Scheiße aus dem Leib prügeln, wenn der seine Schwester anbumst.«
Er konzentrierte sich auf das Überholen eines Holzladers.
Ungeduldig fragte Lara: »Und, was ist passiert?«
»Lem hat sie angebumst, und Scoony hat ihm die Scheiße aus dem Leib geprügelt.«
»Und seitdem sind sie verfeindet?«
»Ach was, die sind immer noch die besten Kumpels. Missy, Scoonys Schwester, hatte
spitzgekriegt, dass Scoony Lem an den Kragen wollte, und sie ging die beiden suchen. Sie fand sie
– ich glaube in der Palme – und stürzte sich ins Getümmel. Sie gab beiden einen Tritt, da, wo es
am meisten weh tut.
Als irgendwann der Sheriff auftauchte, lagen die beiden am Boden, hielten sich die Juwelen und
jammerten wie die Babys. Missy sagte Lem, er hätte die Wahl, sie zu heiraten, oder sie würde ihn
auf alle Zeiten entmannen. Und Scoony sagte sie, wenn er damit nicht einverstanden wäre, könne
er sich … na ja. Missy war bekannt dafür, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm. Jedenfalls,
Missy und Lem heirateten, bekamen einen kleinen Jungen, und alle waren glücklich.«
»Glücklich?«, rief Lara. »Und was war das eben?«
»Meine Güte, das war gar nichts. Die haben doch nur Dampf abgelassen. Wahrscheinlich geben
sie sich jetzt schon wieder gegenseitig einen aus.«
Lara schüttelte verständnislos den Kopf. »Diese Gegend … diese Leute … Ich habe immer
gedacht, dass die Geschichten über Texas nur erfunden wurden, um den Mythos
aufrechtzuerhalten. Wie die über Barbecue Bobby. Aber es stimmt tatsächlich, was Sie mir erzählt
haben, nicht wahr? Ein Rodeoreiter namens Little Pete Pauley hat ihm das Haus über dem Kopf
angezündet, und Bobby hat es dabei sämtliche Haare versengt. Daher hat er seinen Spitznamen.«
Er wirkte überrascht. »Haben Sie gedacht, ich würde lügen?«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll.«
Sie starrte durch die Windschutzscheibe, als würde sie durch die Landschaft eines fremden
Planeten fahren. Obwohl sie es Key gegenüber niemals zugegeben hätte, fühlte sie sich befremdet
und überwältigt. Würde sie jemals hierherpassen? Machte sie sich nur etwas vor, wenn sie glaubte,
sie könnte es schaffen? Selbst Eden Pass kam ihr manchmal so seltsam vor wie ein fremdes Land.
»Es ist alles so anders hier«, murmelte sie.
»Wohl wahr. Für Sie ganz bestimmt.« Er deutete auf die blinkenden Lichter der Stadt. »Über
jeden Einzelnen dort in Eden Pass gibt es eine eigene Geschichte. Ich könnte die ganze Nacht mit
Ihnen verbringen und würde sie dennoch nicht alle erzählen können.«
Lara reagierte, indem ihr Kopf plötzlich herumschwang. Seine Wortwahl war Absicht gewesen,
das spürte sie an der Art, wie er sie ansah.
In anzüglichem Ton fügte er hinzu: »Aber ich glaube kaum, dass wir die Nächte zusammen
verbringen werden, oder, Doc?«
»Nein, ganz sicher nicht.«
»Schließlich haben wir beide überhaupt nichts gemeinsam, was meinen Sie?«
»Nur eines – Clark.«
Bei der Erwähnung seines Bruders veränderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Sein Blick
wurde eiskalt.
»Na ja, er und ich hatten auch nicht viel gemeinsam, außer unseren Eltern und der Adresse. Wir
mochten uns, liebten uns sogar, aber Clark war immer derjenige, der sich an die Regeln hielt,
und ich derjenige, der sie brach. Ich nahm es zähneknirschend hin, dass er immer der Gute war,
und ich glaube, er war ein wenig neidisch auf meine Eigenschaft, mich einen Scheiß drum zu
scheren. Wir waren so verschieden, wie Brüder nur sein können, und trotzdem waren wir uns
nahe.« Sein Blick wanderte über Lara. »Worin wir uns wirklich unterschieden haben, war unser
Geschmack bei Frauen.«
»Und ich bezweifle, dass eine Frau Sie beide attraktiv finden könnte«, bemerkte sie frostig.
»Stimmt. Es wäre immer auf ein Entweder-oder hinausgelaufen. Zum Beispiel wären Sie heute
Abend ganz sicher nicht in den Genuss von Barbecue Bobbys Rippchen gekommen, wenn Clark
Sie ausgeführt hätte. Mit ihm hätten Sie sich schick gemacht und wären in den Country Club
gefahren. Sie hätten sich mit den Stützen der Gesellschaft vergnügt. Die zwar ebensolche Säufer,
Betrüger und Bastarde sind, aber lange nicht so ehrlich, was ihre Vergehen und ihr Versagen
betrifft, wie es die Leute unten bei Bobby sind.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Wenn ich es mir
recht überlege, passen Sie eigentlich auch viel besser zu diesen Country-Club-Heuchlern.«
Lara nahm die Beleidigung gelassen hin. »Was ärgert Sie eigentlich so an mir, Mr. Tackett?«
Einmal war ihr heute sein Vorname rausgerutscht, als die Krise mit Letty Leonard auf ihrem
Höhepunkt gewesen war. Jetzt schien ihr der Nachname wesentlich angebrachter. Es gab die
Kluft zwischen ihnen besser wieder.
Er brachte den Lincoln in der Auffahrt zu ihrem Haus zum Halten und verpasste nur um
Haaresbreite die verstreut herumliegenden Picknickutensilien der Leonards.
Er legte den Arm auf die Lehne des Beifahrersitzes und sah Lara an. »Was mich wirklich ärgert,
ist, dass die ganze Welt weiß, dass Sie eine Hure sind. Ihr Ehemann hat Sie in flagranti erwischt,
aber Sie wollen es einfach nicht eingestehen. Sie tun so, als seien Sie eine völlig andere Person.«
»Und was sollte ich Ihrer Meinung nach tun? Mir ein Mal auf die Brust tätowieren lassen?«
»Oh, ich bin sicher, dass eine ganze Menge Männer gut dafür bezahlen würden, um es zu sehen.
Ich, zum Beispiel.«
»Woher nehmen Sie sich eigentlich das Recht, über mich zu urteilen? Sie wissen nicht das
geringste bisschen von mir und noch weniger von meiner Beziehung zu Ihrem Bruder.« Sie
öffnete die Wagentür. »Was bin ich Ihnen für heute schuldig?«
»Vergessen Sie’s.«
»Ich möchte aber nicht in Ihrer Schuld stehen.«
»Das tun Sie bereits«, sagte er. »Sie haben Clark all das gekostet, was ihm wichtig war. Er ist
nicht mehr da, um diese Schuld einzutreiben, aber ich. Und bei mir wird es ziemlich teuer.«
»Das sehen Sie ganz falsch, Mr. Tackett. Ich bin diejenige, die im Besitz des Schuldscheins ist.
Und Sie sind derjenige, der ihn auslösen wird.«
»Und wie soll das aussehen?«
Sie sah ihn abschätzend an. »Sie werden mich nach Montesangrines fliegen.«
Sein arrogantes Grinsen erstarb, und einen Moment lang starrte er sie sprachlos an. Dann legte er
die Hand hinter das Ohr. »Sagen Sie das noch mal …«
»Sie haben mich sehr gut verstanden.«
»Ich habe Sie verstanden, aber ich kann es nicht glauben.«
»Besser, Sie tun es.«
Er konnte es einfach nicht fassen. »Können Sie etwas mit dem Ausdruck ›nicht, solange ich lebe‹
anfangen?«
»Sie werden mich dorthin fliegen, Mr. Tackett«, sagte Lara unbeirrt, während sie ausstieg. »Dafür
werde ich sorgen.«
»Aber klar, Doc.« Er lachte schallend, als er den Lincoln rückwärts aus der Auffahrt steuerte. Mit
schlingerndem Heck jagte er davon.
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Heather Winston und ihr Freund, Tanner Hoskins, lagen ineinander verschlungen auf der
Decke, die sie im hohen Gras ausgebreitet hatten. Neben ihnen schwappte das Wasser träge gegen
das steinige Ufer. Der Mond stand am Himmel, und sein Licht spiegelte sich auf dem See.
Selbst an den heißesten Sommertagen wehte eine kühle Brise am See, was es angenehm machte
für die jungen Liebenden, die hier rauskamen. Der See war der beliebteste Ort für Rendezvous in
Eden Pass. Wenn man mit jemandem hierherfuhr, hieß das, dass man fest miteinander ging.
Heather und Tanner hatten jetzt schon seit vier Monaten eine solche feste Freundschaft. Davor
war sie mit Tanners bestem Freund gegangen, der aber, wie sie herausfand, mit einem anderen
Mädchen herummachte. Auf diese Entdeckung war eine Szene vor dem Chemieraum gefolgt, die
für reichlich Gesprächsstoff gesorgt hatte, und es war dann Tanner gewesen, der Heather daheim
besuchte, um sie zu trösten.
Er war sehr süß gewesen, hatte seinen Freund einen »blöden Arsch« genannt und stand voll und
ganz auf Heathers Seite. Daraufhin hatte Heather sich Tanner genauer angeschaut und festgestellt,
dass er viel besser aussah als der Idiot, der sie hintergangen hatte.
Nach kurzer Rücksprache mit ihrer besten Freundin, die auch fand, dass Tanner ein guter Fang
war, begann sie, ihrem Verhältnis zu ihm eine neue Richtung zu geben. Bald hatte es sich in der
Schule herumgesprochen, dass sie »miteinander gingen«. Heather hätte nicht glücklicher sein
können – so, wie sich die Dinge entwickelt hatten.
Und da Heather Winston das beliebteste Mädchen in ihrem Jahrgang war, schwebte auch
Tanner auf Wolken. Gleich beim ersten Mal hatten sie einen Zungenkuss ausgetauscht, und ihm
wäre fast die Schädeldecke abgeflogen. Alle Jungs waren sich einig, dass sie einen
Wahnsinnskörper hatte – wie ihre Mutter, die unbestritten die heißeste Tussi in Eden Pass war. Es
gab jede Menge Spekulationen im Umkleideraum, wie weit der gute Hoskins bei Heather wohl
schon gekommen war.
Tanners Entgegnungen auf diese Neckereien waren äußerst vage. Die meisten Jungs gingen
davon aus, dass er sich zwar holte, was er wollte, jedoch galanterweise bedacht war, Heathers Ruf
zu wahren. Die Zyniker unter ihnen vermuteten allerdings, dass er noch nicht mehr von ihr
gesehen hatte, als man auch in der Badeanstalt zu sehen bekam.
Die Wahrheit lag irgendwo dazwischen.
Heute Abend war er immerhin so weit gekommen, ihr die Bluse aufzuknöpfen und sie unter
dem BH zu streicheln. Heather erlaubte ihm das Petting oberhalb der Taille. Diese Linie hatte sie
sehr strikt gezogen.
Doch sie standen kurz vor einem Durchbruch. Die sanften Liebkosungen seiner Zunge auf ihren
Brustwarzen hatte sie sexuell in eine Höhe stimuliert, die sie nie zuvor erreicht hatte. Stöhnend
streichelte sie ihn über der Hose im Schritt.
Auch er stöhnte auf. Gequält sagte er: »Heather, bitte …«
Vorsichtig presste sie die Hand auf die Ausbuchtung in seiner Hose. Ihre Freundinnen hatten sie
gewarnt, dass »er« riesig und hart werden würde, trotzdem war sie eingeschüchtert von seiner
Erektion. Gleichzeitig aber auch neugierig. Und voller Verlangen. Und ihre Freundinnen
erklärten sie sowieso für verrückt, wenn sie nicht bald mehr machen würde.
»Tanner, soll ich es dir auch machen?«
»O Gott«, murmelte er und fummelte hektisch an seinem Reißverschluss herum.
Er führte ihre Hand unter das Gummi seines Slips, und bevor sie sich versah, war ihre Hand mit
seinem harten, pulsierenden Geschlecht gefüllt.
Tanner murmelte Unverständliches, während sie vorsichtig seine Form ertastete. Sie wusste, dass
dieses monströse Organ sich irgendwie mit ihrem Körper koppeln sollte, doch ihr war nicht ganz
klar, wie das gehen sollte. Trotzdem, die Vorstellung war erregend. Bilder, Ausschnitte erotischer
Aufnahmen von Hollywoods neuesten Traumfabrikanten; Filme, die Mutter ihr verboten hatte zu
sehen, tauchten vor ihrem inneren Auge auf.
Und dann vermasselte er es.
»O Gott«, schrie sie. »Was …? O Tanner! Iii-gitt!«
»Es tut mir leid, es tut mir leid«, stammelte er. »Ich konnte es nicht mehr aufhalten. Heather, ich
…«
Sie sprang auf, lief zum See und schloss dabei BH und Bluse. Als sie das kieselsteinbedeckte Ufer
erreichte, kniete sie sich hin und wusch sich die Hand. Sie war angeekelt, doch nicht so sehr von
der Substanz auf ihrer Hand, sondern von der Fummelei im Allgemeinen. Es war so kindisch, so
unromantisch und gewöhnlich gewesen. Es hatte überhaupt nichts von den schwülen
Liebesszenen in den Filmen.
Sie ging am Strand entlang, bis sie zum Fischerpier kam, ging bis zum Ende, setzte sich und
starrte aufs Wasser. Tanner kam kurz darauf nach. Er ließ sich neben ihr nieder.
Einen Moment lang sagte er nichts. Als er dann sprach, klang seine Stimme belegt: »Es tut mir
leid, Gott, ich wollte es nicht. Wirst du’s weitererzählen?«
Heather sah, wie niedergeschlagen er war, und sie bedauerte ihre entsetzte Reaktion auf das, was
nicht nur sein Fehler gewesen war. Sie streichelte ihm übers Haar. »Schon gut, Tanner. Ich hatte
nur nicht damit gerechnet. Ich habe mich albern benommen.«
»Nein, hast du nicht. Du hattest allen Grund, dich zu ekeln.«
»Ich habe mich nicht geekelt. Ehrlich. Es ist schon wieder gut. Ich werde natürlich niemandem
was sagen. Wie kommst du nur darauf? Vergiss es einfach.«
»Das kann ich nicht, Heather. Ich kann’s nicht, weil …« Er zögerte, als müsste er seinen Mut
zusammennehmen, dann sagte er: »Weil es eben nicht passiert wäre, wenn wir’s gleich richtig
gemacht hätten.«
Heather richtete ihren Blick wieder auf das mondbeschienene Wasser. Er hatte noch nie damit
rausgerückt und offen gesagt, dass er es mit ihr machen wollte. Aber er wollte – und sie wusste es.
Doch es zu wissen und es aus seinem Mund zu hören, das waren zwei verschiedene Dinge. Es zu
hören war viel bedrohlicher, weil es sie zwang, eine Entscheidung zu fällen.
»Werd nicht gleich sauer, okay? Hör mir erst mal zu. Bitte. Heather, ich liebe dich. Du bist das
hübscheste, süßeste, cleverste Mädchen, das ich je getroffen habe. Ich will dich, verstehst du? Ich
will dich ganz kennenlernen. Ich will wissen, wie du dich innen anfühlst«, fügte er leise hinzu.
Seine Worte schockierten sie auf eine erregende Art. Sie verursachten ihr ein Kribbeln an ihren
geheimsten Stellen. »Tanner, so was zu sagen ist obszön.«
»Ich sage es nicht nur so daher. Ich meine es ernst.«
»Das weiß ich.«
»Sieh dich doch mal um«, sagte er und nickte zu den parkenden Wagen. »Alle tun es.«
»Das weiß ich auch.«
»Glaubst du … ich meine … willst du es nicht auch?«
Sie sah in seine Augen voller Leidenschaft. Wollte sie es? Vielleicht. Nicht, weil sie ihn so sehr
liebte. Sie stellte sich ihr Leben nicht an der Seite von Tanner Hoskins vor, dem Sohn des
Lebensmittelhändlers, sie glaubte nicht, dass sie seine Kinder und Enkelkinder großziehen und mit
ihm zusammen alt werden wollte. Aber er war ganz süß, und er vergötterte sie.
Sie antwortete ihm mit einem eingeschränkten Ja.
Ermutigt rutschte er über die rauen Bohlen näher an sie heran. »Weißt du, du kriegst schon kein
Aids oder so: Wir sind ja keine Fremden. Und dass du nicht schwanger wirst, darauf passe ich
schon auf.«
Gerührt von seiner Besorgtheit, nahm sie seine Hand in ihre und drückte sie fest. »Über so etwas
mache ich mir keine Sorgen. Ich verlasse mich darauf, dass du aufpasst.«
»Was hält dich dann davon ab? Etwa deine Eltern?«
Ihr Lächeln verschwand. »Daddy würde dich wahrscheinlich erschießen, wenn er wüsste,
worüber wir reden. Und Mutter …« Sie seufzte. »Die glaubt, wir haben es schon längst getan.«
Das war die Krux an der Situation – ihre Mutter. Sie wollte auf keinen Fall die geringe Meinung
bestätigen, die ihre Mutter von ihr hatte.
Die Beziehung zu ihrem Vater war unkompliziert. Er vergötterte sie. Sie war sein ganzer Stolz,
sein kleines Mädchen. Für sie hätte er alles geopfert. Sie verließ sich auf seine bedingungslose
Liebe.
Die Beziehung zu ihrer Mutter war bei weitem nicht so eindeutig. Darcy hatte eine
aufbrausende und unberechenbare Art. Sie war nicht so leicht zu lieben wie der ausgeglichene
Fergus. Wenn er so verlässlich war wie der Sonnenauf- und -untergang, dann war Darcy so
unberechenbar wie das Wetter.
Heathers erste Kindheitserinnerungen waren die von ihrer Mutter, die sie rausgeputzt hatte, um
sie in der Stadt zu präsentieren. Sie flanierte dann mit Heather über die Bürgersteige der Texas
Street, bummelte durch die Geschäfte und sorgte dafür, dass die Leute sie sahen und ansprachen.
Darcy hatte sie immer gern vorgeführt.
Doch sobald sie wieder zu Hause gewesen waren, interessierte sich Darcy nicht mehr für sie. Sie
entzog ihr die Liebe, mit der sie sie in der Öffentlichkeit überschüttete, und begab sich an die
Planung für ihren nächsten großen Auftritt.
»Heather, du musst Klavier üben. Du wirst beim Wettbewerb keinen Blumentopf gewinnen,
wenn du nicht übst.«
»Geh aufrecht, Heather. Die Leute werden denken, du hast keinen Stolz, wenn du so schlurfst.«
»Hör auf, Fingernägel zu knabbern, Heather. Deine Hände sehen schrecklich aus. Außerdem ist
das eine ganz furchtbare Angewohnheit.«
»Wasch dir das Gesicht noch mal, Heather. Da sind ja noch lauter Mitesser auf deiner Nase.«
»Du musst turnen, Heather. Wenn du so unbeweglich bleibst, wirst du ganz sicher nicht bei den
Cheerleadern aufgenommen.«
Obwohl Darcy sie so triezte, weil sie das Beste für ihre Tochter wollte, vermutete Heather im
Stillen, dass sie es mehr zu ihrer eigenen Bestätigung brauchte. Sie vermutete außerdem, dass sich
hinter Darcys angeblicher mütterlicher Liebe eine tiefsitzende Abneigung verbarg, die an
Eifersucht grenzte. Das verwirrte Heather. Eltern sollten nicht auf ihre Kinder eifersüchtig sein.
Was hatte sie getan oder nicht getan, um diese unnatürliche Reaktion hervorzurufen?
Als Heather heranwuchs, nahmen auch ihre Auseinandersetzungen zu. Darcy ging davon aus,
dass ihre Tochter sexuell viel zu freizügig war. Ständig machte sie ihr unterschwellig Vorwürfe
oder versteckte Andeutungen in diese Richtung.
Wirklich ein Witz, dachte Heather höhnisch.
Ihre Mutter war diejenige, die sexuell freizügig war. Alle wussten um ihren Ruf, sogar ihre
Mitschüler, obwohl es ihr keiner so deutlich gesagt hätte. Das wagten sie nicht. Sie war zu beliebt
in der Schule.
Und dennoch erreichten die Gerüchte sie. Es war schwierig, sie zu ignorieren, vor allem wenn
sich ihre Mutter wieder einmal besonders gemein ihr gegenüber verhielt. Heather hätte sie schon
unzählige Male mit dem neuesten Klatsch über sie zum Schweigen bringen können, aber sie hatte
es nicht getan und würde es auch nicht tun. Aus Rücksicht auf Fergus. Sie würde nie etwas tun,
was ihrem Vater direkt oder indirekt schaden oder ihn verletzen könnte.
Deshalb ertrug sie schmollend und schweigend Darcys Vorhaltungen über ihre Freundschaft zu
Tanner und die bohrenden Fragen, wie weit sie bereits gegangen waren.
Abgesehen von Petting hatten sie noch nichts Verwerfliches getan. Der wahre Grund für
Heathers Zurückhaltung war der, dass sie auf keinen Fall so werden wollte wie ihre Mutter.
Offensichtlich hatte sie Darcys Lust am Sex geerbt, aber sie musste ihr ja nicht in allem nacheifern.
Das Letzte, was sie wollte, war, dass man ihr nachsagte, sie würde es mit allen treiben – wie die
Mutter, so die Tochter. Und sie würde auch niemals die Liebe ihres Vaters so ausnutzen, wie ihre
Mutter es tat.
Tanner saß schweigend an ihrer Seite, ließ ihr geduldig Zeit zu überlegen und abzuwägen.
»Tanner, ich fühle genauso wie du, ehrlich. Vielleicht drängt es mich nicht ganz so sehr«, fügte sie
mit einem Lächeln hinzu. »Aber ich liebe dich so sehr, dass ich mit dir schlafen möchte.«
»Wann?«, fragte er mit belegter Stimme.
»Wenn wir das Gefühl haben, dass der Zeitpunkt und die Stimmung richtig sind. Okay? Bitte,
dräng mich nicht.«
Die Enttäuschung war ihm anzusehen, dennoch beugte er sich vor und gab ihr einen zärtlichen
Kuss. »Ich bring dich jetzt besser nach Hause. Deine Mutter wird dich lynchen, wenn du auch
nur ’ne halbe Minute zu spät kommst.«
Sie trafen pünktlich ein. Trotzdem wurden sie bereits von Darcy erwartet, die an der Tür stand
und Tanner mit einem vielsagenden Blick begrüßte und Heather mit einem Vortrag darüber, dass
ein Mädchen gar nicht genug auf ihren guten Ruf bedacht sein könne.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen.«
Bowie Cato und Janellen Tackett sahen sich über den Tisch im überfüllten Büro des Ladens
hinweg an. Überrascht stellte Bowie fest, dass sie beide gleich groß waren; was ihm bei ihrer
ersten Begegnung gar nicht aufgefallen war. Sie hatte so zierlich, ja zerbrechlich hinter ihrem
wuchtigen Schreibtisch gewirkt und so nervös ausgesehen wie eine Hure in der Kirche.
Wieso fiel ihm ein solcher Vergleich ein, wenn er sich in Gegenwart einer Lady wie ihr befand?
Als hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen, brummelte er eine hastige Entschuldigung.
»Tut mir leid, dass ich nicht da war, als Sie in der Palme angerufen haben. Hap – Mr. Hollister –
hat mir gesagt, ich solle vorbeikommen, wenn es passt. Passt es Ihnen jetzt?«
»Ja. Und es war sehr nett von Mr. Hollister, dass er es Ihnen ausgerichtet hat.«
»Hap ist wirklich in Ordnung.«
»Nun, danke, dass Sie gekommen sind. Bitte nehmen Sie doch Platz.«
Sie deutete auf den Metallstuhl hinter ihm. Er wartete, bis sie sich wieder setzte. Sorgfältig strich
sie sich den Rock glatt und nahm mit einer fließenden Bewegung Platz. Viele ihrer Bewegungen
hatten eine gewisse Anmut, der sie sich gar nicht bewusst zu sein schien. Andererseits konnte sie
äußerst linkisch und unbeholfen wirken, besonders wenn sie ihn direkt ansah. Sie war so nervös,
wie er es selten bei jemandem erlebt hatte. Wenn er »Buh« gerufen hätte, wäre sie wahrscheinlich
auf der Stelle tot umgefallen.
Er konnte sich nicht vorstellen, dass Miss Janellen Tackett wegen dieses Gesprächs mit ihm
nervös war. Sie war es doch, die alle Trümpfe in der Hand hielt. Er brauchte sie. Seine Zukunft
stand auf dem Spiel, nicht umgekehrt.
»Ich …« Sie hatte falsch angefangen und begann noch einmal, nachdem sie sich geräuspert hatte.
»Wir hätten eine freie Stelle.«
»Ja, Ma’am.«
Ihre großen blauen Augen wurden noch riesiger. »Sie wissen es schon?«
Wann würde er endlich lernen, sein dummes Maul zu halten? »Ich, äh … na ja, ich habe gehört,
dass Sie einen Ihrer Angestellten wegen Verdacht des Diebstahls gefeuert haben.«
»Er hat gestohlen!« Ihre heftige Erwiderung kam für beide überraschend. Sie selber schien
darüber erschrockener als er. Bowie beschloss, es ihr etwas leichter zu machen und ein paar
Punkte von sich aus klarzustellen.
»Daran habe ich keine Sekunde gezweifelt, Miss Tackett. Sie machen auf mich nicht den
Eindruck, als würden Sie jemanden beschuldigen, wenn Sie nicht ganz sicher sind.«
Bowie hatte mitbekommen, wie der Typ, den alle nur Muley nannten, buchstäblich damit
geprahlt hatte, dass die »dürre Tackett-Hexe« ihn gefeuert hatte. Aber seine derben Ausdrücke
und die abfällige Art, mit der er sie beschrieb, hatten so gar nicht dem Eindruck einer
freundlichen, unsicheren Lady entsprochen, den Bowie von Janellen gewonnen hatte.
Er hatte sich vorsichtig erkundigt und erfahren, dass die Tacketts im Ruf standen, faire
Arbeitgeber zu sein. Sie erwarteten vollen Einsatz von ihren Arbeitern, bezahlten aber auch gut.
Miss Tackett war dafür bekannt, umgänglich und ihren Leuten gegenüber nachsichtig zu sein. Bill
Muley war offensichtlich ein ebenso großer Lügner, wie er ein Dieb war.
»Dieser Muley ist ein Großmaul, Miss Tackett. Ich habe gar nicht hingehört, was er geredet hat.
Was mich nur wundert, ist, weshalb Sie Ihre kostbare Zeit mit diesem Typen verschwenden.«
»Er war einer unserer Pumper.«
»Ich weiß, Ma’am.«
»Ich biete Ihnen seinen Job an.«
Sein Herz machte einen Sprung, doch seine Miene blieb ungerührt. Er hatte gehofft, dass sie
sich deshalb bei ihm gemeldet hatte, aber er war von Grund auf misstrauisch, wenn das Schicksal
ihm die Hand reichte, und rechnete immer mit einer Ohrfeige von der anderen. »Das klingt gut.
Wann soll ich anfangen?«
Sie fingerte nervös an den Knöpfen ihrer Bluse. »Woran ich gedacht hätte«, sagte sie zögernd,
»war erst mal eine Probezeit. Um zu sehen, wie Sie … wie Sie sich bei uns zurechtfinden.«
Da war sie, die Ohrfeige. »Jawohl, Ma’am.«
»Mr. Cato, sehen Sie, das hier ist ein Familienunternehmen. Ich führe es in der dritten
Generation, und ich habe eine gewisse Verantwortung, zu …«
»Haben Sie Angst vor mir, Miss Tackett?«
»Angst? Nein«, antwortete sie mit einem gekünstelten Lachen. »Um Himmels willen, wieso
sollte ich? Ich dachte nur, es könnte Ihnen vielleicht bei uns nicht gefallen. Immerhin ist eine
feste Anstellung eine große Entscheidung, wenn man bedenkt, dass Sie erst vor kurzem entlassen
wurden …« Sie wand sich auf ihrem Stuhl. »Falls beide Parteien nach dieser Phase
übereinstimmen, dass es funktioniert, biete ich Ihnen einen festen Job an. Wie hört sich das an?«
Sie schenkte ihm ein unsicheres Lächeln.
Bowie rutschte ebenfalls auf seinem Stuhl und betrachtete ausgiebig seinen Hut, dessen Krempe
er nervös zwischen den Fingern drehte. Wenn ihm irgendjemand sonst einen Job auf Probe
angeboten hätte, damit er sich bewährte, hätte seine Antwort »Leck mich am Arsch« gelautet, und
er wäre keine Sekunde länger geblieben. Doch er war sich seines Problems bewusst und riss sich
zusammen.
»Müssen Ihre Bewerber alle eine solche Probezeit bestehen?«
Sie benetzte ihre Lippen und fingerte noch nervöser an den Knöpfen. »Nein, Mr. Cato. Um
ganz offen zu sprechen – Sie sind der erste Bewerber, der auf Bewährung ist. Ich bin
verantwortlich für dieses Unternehmen und möchte nicht riskieren, einen Fehler zu machen.«
»Das tun Sie nicht.«
»Da bin ich sicher. Wenn ich es nicht wäre, hätte ich Sie nicht herkommen lassen.«
»Sie können sich bei der Bewährungsstelle erkundigen. Ich habe sehr viel Zeit für gute Führung
erlassen bekommen.«
»Ich habe bereits mit Ihrem Bewährungshelfer gesprochen.« Sein Blick schnellte zu ihr hoch,
und sie wurde rot. »Ich hatte das Gefühl, dazu verpflichtet zu sein. Ich wollte wissen, was Sie …
was Sie getan haben.«
»Und, hat er es Ihnen gesagt?«
»Schwere Körperverletzung.«
Er wandte den Blick ab und biss sich auf die Unterlippe. Wieder überkam ihn das Bedürfnis,
sofort zur Tür rauszumarschieren. Er schuldete ihr nicht das Geringste, und schon gar keine
Erklärung. Er hatte nicht das Gefühl, sich gegenüber irgendjemandem rechtfertigen zu müssen.
Doch sonderbarerweise war es ihm wichtig, dass Janellen Tackett verstand, weshalb er die Tat
begangen hatte. Er konnte nicht einmal genau sagen, warum das so war. Vielleicht, weil sie ihn als
einen ganz gewöhnlichen Menschen betrachtete, nicht wie einen Exsträfling.
»Der Bastard hatte es verdient.«
»Warum?«
Er richtete sich auf, bereit, die Fakten darzulegen und es ihr zu überlassen, sie zu deuten. »Er war
mein Vermieter. Er und seine Frau wohnten in der Wohnung unter mir. Es war ein Loch, aber
mehr konnte ich mir damals nicht leisten. Sie – seine Frau – war der freundlichste Mensch, dem
ich je begegnet bin. Hässlich wie die Sünde, aber ein Herz aus Gold, verstehen Sie?«
Janellen nickte.
»Sie hat mir kleine Gefallen getan, Knöpfe angenäht und so. Manchmal hat sie mir ein Stück
Kuchen gebracht. Sie hat immer gesagt, Junggesellen würden nicht anständig essen und der
Körper könnte sich nicht allein von Chili aus der Dose ernähren.« Er schlug den Hut aufs Knie.
»Eines Tages bin ich ihr auf der Treppe begegnet. Sie hatte ein blaues Auge. Sie versuchte, es vor
mir zu verstecken, aber ihre ganze linke Gesichtshälfte war geschwollen. Sie hat eine Geschichte
erfunden, aber ich wusste genau, dass der Alte sie geschlagen hatte. Ich hatte schon oft
mitgekriegt, wie er sie angeschrien hatte. Ich wusste allerdings nicht, dass er sie als Punchingball
benutzte. Ich stellte ihn zur Rede und sagte, wenn er sich prügeln wolle, stünde ich ihm gern zur
Verfügung. Er antwortete, ich solle mich um meinen eigenen Scheiß kümmern. Dann, ein paar
Wochen später, verprügelte er sie wieder. Diesmal beließ ich es nicht bei der Drohung. Ich hab
ihm ein paar verpasst, aber sie ging dazwischen und flehte mich an, ihm nicht weh zu tun.« Er
schüttelte den Kopf. »Das muss man sich mal vorstellen … Ich warnte ihn, ich würde ihn
umbringen, wenn er sie noch einmal anrührt. Einige Monate vergingen, und ich dachte schon, er
hätte die Botschaft kapiert. Dann wurde ich eines Nachts von dem Lärm wach. Sie schrie, weinte,
bettelte um ihr Leben. Ich rannte runter zu ihrer Wohnung und trat die Tür ein. Er schleuderte
die Frau so fest gegen die Wand, dass sie sich den Arm brach. Da kauerte sie an der Wand, und er
drosch mit einem Ledergürtel auf sie ein. Ich weiß nur noch, dass ich durch die Luft segelte und
ihm ins Kreuz sprang. Wie ein Verrückter habe ich auf ihn eingedroschen. Hab ihn fast
umgebracht. Zum Glück haben die anderen Mieter die Polizei gerufen. Wenn sie das nicht getan
hätten, würde ich jetzt wegen Totschlags hinter Gittern sitzen.« Er hielt inne. »Mein ganzes Leben
lang musste ich mich mit Kerlen wie dem herumprügeln. Ich hatte die Schnauze voll, schätze ich.
Und da ist irgendwas in mir ausgerastet.« Er schwieg einen Moment und betrachtete seine Hände.
»Bei der Verhandlung klappte er zusammen, heulte und schwor bei Gott, es täte ihm leid und er
würde nie wieder die Hand gegen seine Frau erheben. Mein Anwalt hat mir geraten zu
behaupten, ich könne mich an den Angriff nicht mehr erinnern, dass ich vorübergehend
ausgerastet sei und zu wütend war, um zu wissen, was ich tat. Aber da ich nun mal auf die Bibel
geschworen hatte, die reine Wahrheit zu sagen, habe ich denen erzählt, dass ich den Hurensohn
am liebsten umgebracht hätte. Jeder Mann, der eine wehrlose Frau schlägt, verdient es, getötet zu
werden, sagte ich. Und so habe ich es auch gemeint.« Er zuckte resigniert die Achseln. »Und
deshalb wurde er freigelassen, und ich marschierte in den Bau.«
Wieder folgte eine Stille, in der nur das Knarren von Janellens Stuhl zu hören war, als sie
aufstand und zum Regal hinüberging, um ein Formular herauszunehmen. Dann sagte sie: »Sie
müssen das hier bitte ausfüllen.«
Er blieb sitzen und sah zu ihr hoch. »Sie meinen, ich habe den Job?«
»Ja. Sie haben den Job.« Sie nannte ihm ein Gehalt, das ihm den Atem stocken ließ.
»Und nachdem ich Ihre Geschichte gehört habe, würde ich gern auf die Probezeit verzichten. Es
war sowieso eine alberne Idee.«
»Nein, so albern war das gar nicht, Miss Tackett. Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug
sein.«
Sein Lächeln schien sie zu verunsichern. Sie zögerte einen Moment, dann beugte sie sich
herunter und fächerte die Blätter auf dem Tisch vor ihm auf. »Das ist für die Steuer und das für
die Versicherung. Lästig, aber notwendig, fürchte ich.«
»Ich habe nichts gegen ein bisschen Papierkram, wenn ich dafür ’nen Job bekomme.«
Bowie versuchte, sich zu konzentrieren, während sie ihm die verschiedenen Formulare
erläuterte, doch dafür stand sie zu nahe bei ihm. Sie duftete gut. Nicht so aufdringlich wie die
Nutten, deren Dienste er nach seiner Entlassung in Anspruch genommen hatte.
Sie roch sauber, wie Seife und Laken, die an der Sonne getrocknet waren. Ihre Hände waren
schmal, zart und blass. Wie gebannt sah er zu, wie sie die Dokumente sortierte und auf die
gestrichelten Linien für die Unterschrift deutete.
Aus dem Augenwinkel konnte er ihr Profil sehen. Sie war nicht hübsch, aber auch keinesfalls
hässlich. Ihre Haut war weich und hell, praktisch durchschimmernd. In ihrem Ausdruck lag nichts
Hinterlistiges: Sie hatte nichts von den Frauen, denen man schon ansehen konnte, wie sie ihren
nächsten Schritt berechneten. Stattdessen wirkte sie geradeheraus, offen und freundlich:
Eigenschaften, denen man nicht oft begegnete. Er mochte auch den Klang ihrer Stimme, weich
und beruhigend, so wie er sich das Schlaflied einer Mutter vorstellte.
Und diese Augen … Teufel, mit diesen Augen hätte sie jeden Kerl auf fünfzig Meter Entfernung
flachlegen können, wenn sie gewollt hätte. Er konnte nicht nachvollziehen, weshalb Muley oder
auch die anderen sie immer eine »Bohnenstange« nannten. Sicher, selbst im Profil war zu
erkennen, dass sie nicht gerade gepolstert oder kurvenreich war – sie hatte schmale Hüften, eine
schmale Taille und einen kleinen Busen. Dabei glitt sein Blick immer wieder zu den Knöpfen, an
denen sie herumgefingert hatte, und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass er nichts dagegen
hätte, selbst einmal mit ihnen zu spielen. Er wusste aus Erfahrung, dass Frauen mit kleinen
Brüsten oft die empfindlichsten Brustwarzen hatten.
Er zwang sich, an etwas anderes zu denken. Was war nur in ihn gefahren, sich Miss Janellens
Brustwarzen vorzustellen? Sie war eine anständige, sittsame Dame. Wenn sie seine Gedanken
lesen könnte, würde sie wahrscheinlich die Polizei rufen.
»Danke, Miss Tackett. Ich glaub, ich komm jetzt schon allein damit klar«, sagte er schroff und
beugte sich über den Tisch, damit er sie nicht mehr ansehen musste.
Als er alles ausgefüllt hatte, schob er die Unterlagen über den Tisch und erhob sich. »So, das
wär’s. Wann möchten Sie, dass ich anfange?«
»Morgen, wenn es geht.«
»Morgen ist prima. Bei wem soll ich mich melden?«
Sie nannte ihm den Namen des Vorarbeiters. »Er ist schon lange bei uns und weiß, worauf wir
Wert legen.«
»Weiß er auch, dass ich gesessen habe?«
»Ich dachte, es ist nur fair, es ihm zu sagen. Aber er ist nicht der Typ, der so etwas gegen Sie
verwenden würde. Sie werden gut mit ihm auskommen. Er wird Sie morgen früh erwarten und
Sie zu den Quellen fahren, für die Sie ab jetzt verantwortlich sind. Er begleitet Sie die ersten Tage
auf Ihrer Tour, und Sie benutzen natürlich einen Firmenlaster. Ich gehe davon aus, dass Sie einen
Führerschein haben?«
»Habe ihn gerade verlängern lassen.«
»Wie kann ich Sie erreichen, wenn etwas ist?«
»Das könnte ein Problem sein. Ich habe noch keinen festen Wohnsitz. Hap lässt mich in seinem
Lager schlafen, aber auf Dauer ist das natürlich nichts.«
Sie zog die Schublade auf und holte ein Scheckbuch heraus. »Suchen Sie sich eine Wohnung,
und lassen Sie sich so bald wie möglich ein Telefon anschließen, damit Sie jederzeit für uns
erreichbar sind. Es kann immer mal was sein. Wenn die Telefongesellschaft eine Kaution verlangt,
sagen Sie, man soll mich hier anrufen.« Sie schrieb einen Scheck aus und reichte ihn ihm.
Dreihundert Dollar auf seinen Namen. Einfach so! Er wusste nicht, ob er beleidigt oder froh sein
sollte. »Ich nehme keine Almosen.«
»Das ist es auch nicht, Mr. Cato. Es ist ein Vorschuss. Ich werde Ihnen im ersten halben Jahr
fünfzig Dollar pro Monat vom Lohn abziehen. Sind Sie damit einverstanden?«
Derartiges Entgegenkommen war er nicht gewöhnt und wusste nicht, wie er reagieren sollte.
Bei Hap war das was anderes. Männer untereinander verstanden sich im Allgemeinen ohne viele
Worte, sie brauchten ihre Dankbarkeit nicht auszudrücken. Aber bei Frauen verhielt sich das ganz
anders, besonders wenn sie einen mit kristallblauen Augen von der Größe eines Zweimarkstückes
ansahen.
»Ja, vielen Dank«, sagte er und hoffte, dass sie ihm seine Verlegenheit nicht anmerkte.
»Gut.« Sie stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. Bowie starrte sie einen Moment an
und spürte das plötzliche Verlangen, seine Hand am Hosenbein abzuwischen, ehe er ihre ergriff.
Er schlug kurz ein und ließ gleich wieder los. Janellen zog die Hand hastig zurück. Es folgte ein
Augenblick verlegenen Schweigens, dann setzten sie beide gleichzeitig zum Sprechen an.
»Wenn Sie …«
»Bis …«
»Sagen Sie ruhig …«, meinte Janellen.
»Nein. Ladies first, bitte.«
»Ich wollte sagen: Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, darf ich Sie dann morgen zum
Arbeitsbeginn erwarten?«
»Und ich wollte sagen: Bis morgen.« Er setzte seinen Hut auf und ging zur Tür. »Wird guttun,
mal wieder richtig anzupacken. Ich freue mich auf die Arbeit. Nochmals vielen Dank, Miss
Tackett.«
»Gern geschehen, Mr. Cato.«
Er war schon fast aus der Tür, als er sich noch einmal umdrehte. »Reden Sie Ihre Arbeiter
immer mit dem Nachnamen an?«
Die Frage traf sie unerwartet. Sie schüttelte nur den Kopf.
»Dann sagen Sie doch Bowie, okay?«
Sie schluckte sichtbar. »Okay.«
»Und es wird Buu-ie ausgesprochen, wie Jim Bowie und das Bowie-Messer. Nicht wie David
Bowie, der Rockstar.«
»Natürlich.«
Wieso hatte er das gesagt? Was machte es für einen Unterschied, wie sie seinen Namen
aussprach? Er tippte sich an die Hutkrempe und ging.
Kapitel 10
Lara streckte sich, dehnte die harten Rückenmuskeln und verharrte einen Moment in dieser
Stellung. Dann entspannte sie sich wieder und rückte die Lesebrille auf ihrer Nase zurecht.
Nach einem frühen Abendessen und den Nachrichten hatte sie den Fernseher ausgeschaltet, weil
es nichts Interessantes mehr gab. Seit jenem Morgen in Virginia hatte sie auch jeglichen Spaß an
Unterhaltungslektüre verloren, da kein Roman so spannend, vertrackt und schicksalsträchtig sein
konnte wie die letzten fünf Jahre ihres eigenen Lebens. Es fiel schwer, sich mit einer Figur zu
identifizieren, deren Dilemma verglichen mit dem, in dem sie selber steckte, doch recht
undramatisch war.
Da sich also keine unterhaltsame Ablenkung fand, hatte sie beschlossen, die Krankenblätter ihrer
Patienten noch einmal durchzusehen. Nichts konnte spannender für sie sein als die
Vielschichtigkeit der Medizin.
Während die anderen Studenten das ganze Studium über gestöhnt hatten, kam Lara das Lernen
fast wie Ferien vor. Sie genoss es, unbegrenzten Zugang zu der Fachlektüre zu haben, und
vertrackte Fallstudien waren das reinste Vergnügen für sie. Sie verschlang sie wie ein Gourmet
eine endlose Folge von Delikatessen.
Anders als ihre Eltern warfen ihr ihre Professoren und Kommilitonen ihren unstillbaren
Wissensdurst nicht vor, und sie sagten auch nicht, dass sich ein Medizinstudium für eine junge
Dame aus gutem Hause nicht schickte.
Als Drittbeste ihres Jahrgangs schloss sie an der Johns-Hopkins-Universität mit Auszeichnung ab
und konnte sich das Krankenhaus aussuchen, in dem sie ihre Zeit als Assistenzärztin ableisten
wollte. Natürlich genoss sie die zerknirschte Bewunderung ihrer Kollegen, aber die eigentliche
Genugtuung fand sie darin, Menschen zu heilen. Das schlichte »Dankeschön« eines genesenen
Patienten war mehr wert als alles Lob aus Medizinerkreisen.
Zu ihrem Leidwesen war diese Art Belohnung jetzt nur noch sehr spärlich gesät. Deshalb sah
Lara die Krankenblätter ihrer wenigen Patienten so beflissen durch, verfolgte die Fälle vom
Erstellen der Diagnose bis zur Genesung.
Sie wurde vom Geräusch eines näher kommenden Autos unterbrochen. In Erwartung, dass es
vorbeifahren würde, sah sie verblüfft hoch, als es in ihre Auffahrt einbog und ums Haus zum
Praxiseingang fuhr. Sie legte ihre Lektüre beiseite und verließ eilig das Büro. Als sie zur Tür ging,
hatte sie das Gefühl eines Déjà-vu. Dieser Moment war dem, als Key Tackett, aus seiner
Schusswunde blutend, auf ihrer Türschwelle aufgetaucht war, beunruhigend ähnlich.
In der Tat so ähnlich, dass sie kaum überrascht war, als sie die Tür aufschloss und ihm tatsächlich
gegenüberstand. Nur dieses Mal war er nicht allein gekommen.
Lara sah erst das Mädchen an, dann ihn. »Ich habe ganz normale Sprechstunden, Mr. Tackett.
Das scheinen Sie des Öfteren zu übersehen. Oder zu ignorieren. Oder ist das etwa ein
Höflichkeitsbesuch?«
»Können wir reinkommen?«
Er war nicht in der Stimmung, sich mit ihr zu zanken. Seine Stirn lag in Falten, und die Lippen
waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Wenn er allein gekommen wäre, hätte Lara
ihm höchstwahrscheinlich die Tür vor der Nase zugeschlagen. Auch jetzt hatte sie kurz mit
diesem Gedanken gespielt, doch auf den zweiten Blick sah sie, dass das Mädchen geweint hatte.
Ihr triefte die Nase, die Augen waren gerötet und das Gesicht geschwollen. Das Taschentuch in
ihrer Faust hielt sie so fest zusammengeknüllt, dass ihre Knöchel schon ganz weiß waren.
Abgesehen von diesen unübersehbaren Zeichen von Stress vermittelte sie den Eindruck eines
kerngesunden jungen Mädchens. Sie war kräftig gebaut, hatte einen schweren Busen und volle
Hüften. Sie hatte ein hübsches Gesicht – oder hätte eines gehabt, wenn sie lächeln würde. Ihr
schulterlanges Haar war glatt und dunkel. Ihr Blick war so düster und ihre Miene so verzweifelt,
dass Lara sie einfach nicht vor der Tür stehen lassen konnte.
Sie trat zur Seite und bedeutete ihnen einzutreten. »Was kann ich für Sie tun?«
Das Mädchen schwieg. Key sagte: »Dr. Mallory, das ist Helen Berry. Sie braucht einen Arzt.«
»Sind Sie krank?«, fragte sie das Mädchen.
Helen sah verunsichert zu Key, ehe sie antwortete: »Nicht direkt.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen, solange Sie mir nicht sagen, worum es geht. Wenn es sich um
eine einfache Untersuchung handelt, können Sie gern morgen früh in die Praxis kommen.«
»Nein«, protestierte das Mädchen. »Ich meine … ich will nicht, dass mich irgendjemand sieht …
ich kann unmöglich …«
»Sie müssen Helen untersuchen.«
Lara wandte sich Key zu, der für Helen das Wort ergriffen hatte. »Aber wieso soll ich sie
untersuchen, wenn sie nicht krank ist?«
»Sie braucht eine gynäkologische Untersuchung.«
Lara schenkte ihm einen fragenden Blick, der weitere Erklärungen verlangte. Doch er schwieg.
Sein Ausdruck war unergründlich. Das Mädchen kaute nervös auf der Unterlippe.
»Helen«, fragte Lara behutsam. »Sind Sie vergewaltigt worden?«
»Nein.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Das ist es nicht.«
Lara glaubte ihr und war erleichtert.
»Ich werde draußen warten.« Key machte abrupt um hundertachtzig Grad kehrt und marschierte
den Flur hinunter zum dunklen Wartezimmer.
Sein Abgang hinterließ ein geräuschloses Vakuum. Erst nach mehreren Sekunden stieß Lara
ihren angehaltenen Atem aus. Sie schenkte Helen Berry ein aufmunterndes Lächeln und sagte:
»Kommen Sie bitte mit.« Das Mädchen folgte ihr ins Sprechzimmer, wo Lara auf den Tisch
deutete.
»Muss ich mich nicht ausziehen?«
»Nein. Ich werde erst eine Unterleibsuntersuchung vornehmen, wenn ich mehr Informationen
habe. Außerdem ist meine Schwester nicht hier, um mir zu assistieren. Ich führe nie
Untersuchungen ohne Assistenz durch.«
Das diente ebenso ihrem Schutz wie dem der Patienten. In einer prozesswütigen Gesellschaft
wie der heutigen musste man jederzeit mit einer Klage wegen fehlerhafter Behandlung rechnen.
Und wegen des Skandals, der ihr anhaftete, war sie verletzlicher als die meisten.
Wieder traten ihrer Patientin die Tränen in die Augen. »Aber Sie müssen mich untersuchen. Ich
muss es wissen. Ich muss es jetzt gleich wissen, damit ich entscheiden kann, was ich tun soll.«
Sichtlich aufgelöst fing sie an, das Taschentuch zu zerfetzen. Lara nahm ihre Hände, um sie still
zu halten. »Helen …« Ihr Ton war ruhig, aber bestimmt. Jetzt kam es erst einmal darauf an, die
Patientin zu beruhigen. »Helen, bevor wir etwas unternehmen können, brauche ich weitere
Informationen von Ihnen.«
Sie langte nach einer Karteikarte und einem Stift und bat Helen um ihren vollen Namen. Der
Papierkram hätte Zeit gehabt, aber die Beschäftigung damit zwang das Mädchen, sich zu
sammeln. Durch Abfragen der Standardrubriken erfuhr Lara, dass das Mädchen aus der ländlichen
Umgegend stammte. Sie war achtzehn Jahre alt und hatte im vergangenen Mai die Highschool
abgeschlossen. Ihr Vater war bei der Telefongesellschaft angestellt, die Mutter Hausfrau. Sie hatte
zwei jüngere Schwestern und einen Bruder. Es war kein Fall von ernsthaften Erkrankungen in der
Familie bekannt.
»So«, sagte Lara und legte die Karte beiseite. »Wieso hat Mr. Tackett Sie zu mir gebracht?«
»Ich habe ihn darum gebeten. Ich konnte nicht anders.« Sie verzog das Gesicht und malträtierte
erneut ihre arme Unterlippe. Tränen strömten ihr über die runden Wangen.
Lara glaubte jetzt den Grund für Helens Verzweiflung zu kennen und fragte ganz direkt: »Helen,
glauben Sie, dass Sie schwanger sind?«
»O Gott! Ich bin so dumm!« Damit ließ sie sich auf den Untersuchungstisch plumpsen, zog die
Knie an die Brust und begann hemmungslos zu schluchzen.
Lara stellte sich neben sie und nahm ihre Hand. »Helen, beruhigen Sie sich. Wir wissen doch
noch gar nichts endgültig. Vielleicht ist es nur falscher Alarm.«
Sie bemühte sich, ruhig und gelassen zu klingen, aber am liebsten hätte sie mit den Zähnen
geknirscht. Sie wünschte, sie hätte eine Schrotflinte, mit der sie auf Keys Eier zielen könnte.
Gelangweilte Hausfrauen wie Darcy Winston flachzulegen war eine Sache, Mädchen von der
Highschool zu verführen eine ganz andere.
Lara strich Helen das Haar aus dem Gesicht. »Wann hatten Sie Ihre letzte Periode?«
»Vor sechs Wochen.«
»Dann sind Sie erst zwei Wochen überfällig? Das muss nicht unbedingt heißen, dass Sie
schwanger sind.«
Helen nickte heftig. »Doch. Ich war noch nie drüber.«
Vielleicht, dachte Lara, doch es gab unzählige Gründe für eine verspätete Mensis, und
Schwangerschaft war nur einer davon. Und doch hatte sie gelernt, dass die Patienten meist selbst
am besten über ihren Körper Bescheid wussten. Sie konnte Helens Schlussfolgerung nicht einfach
übergehen. »Hatten Sie denn während dieser Zeit Geschlechtsverkehr?«
»Ja.«
»Ungeschützt?«
Helen nickte.
Lara war bestürzt, dass die Jugendlichen Kondome, die einfach in der Handhabung waren und
trotzdem sicher vor Schwangerschaft und Krankheiten schützten und zudem noch preiswert
waren, immer noch ablehnten. In einer Gemeinde wie Eden Pass konnte man davon ausgehen,
dass der Versuch einer offenen Diskussion über Schutzmaßnahmen auf Gegenwehr seitens der
konservativ eingestellten Eltern oder auch religiösen Gruppierungen stoßen würde. Trotzdem war
es lebensnotwendig – im wahrsten Sinne des Wortes –, Teenager auf die Risiken aufmerksam zu
machen, die sie eingingen, wenn sie sich beim Geschlechtsverkehr nicht schützten.
»Spüren Sie ein Ziehen in der Brust?«
»Ja, aber nicht mehr als sonst, aber ich habe zu Hause schon einen Test gemacht.«
»Und der war positiv?«
»Eindeutig.«
»Diese Schwangerschaftstests sind im Allgemeinen ziemlich zuverlässig, aber es besteht immer
die Möglichkeit eines Fehlers.« Lara half ihr aufzustehen. »Gehen Sie ins Bad und benutzen Sie
einen der Becher. Ich brauche eine Urinprobe, damit ich noch einen Test durchführen kann.«
»In Ordnung. Aber ich weiß, dass ich schwanger bin.«
»Waren Sie vorher schon einmal schwanger?«
»Nein, aber ich weiß es eben. Er wird mich umbringen.«
Sie verschwand in der angrenzenden Toilette. Lara wäre am liebsten sofort zu Key Tackett
gegangen, der in ihrem Wartezimmer saß, und hätte ihm ihre Verachtung an den Kopf geworfen.
Aber die Patientin ging vor.
»Ich habe es auf den Spülkasten gestellt«, sagte Helen, als sie wieder herauskam.
»Fein. Legen Sie sich jetzt hin, und versuchen Sie, sich zu entspannen.«
Nach wenigen Minuten war Helens schlimmste Befürchtung bestätigt. »Ich wusste es ja«,
jammerte sie, als Lara ihr mitteilte, dass alle Anzeichen dafür sprächen. Sie fing wieder an zu
schluchzen. Lara legte die Arme um sie und wartete, bis aus dem heftigen Schluchzen ein
Schniefen geworden war.
»Ich will Ihnen jetzt lieber kein Beruhigungsmittel geben. Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«
»Ja, eine Cola, wenn Sie haben, bitte.«
Lara ließ sie für einen kurzen Moment allein, um die Cola zu holen. Als sie wiederkam, weinte
Helen leise, aber gefasster. Sie nahm mehrere Schlucke von der Cola.
»Helen, ist es ausgeschlossen, dass Sie den Vater des Kindes heiraten?«
»Ja«, murmelte sie. »Ein Baby ist das Letzte, was er wollte oder brauchen könnte.«
Eine Welle des Zornes ergriff Lara. »Ich verstehe. Was ist mit Ihren Eltern? Werden sie Sie
unterstützen?«
»Sie lieben mich«, sagte sie, und schon füllten sich ihre Augen erneut mit Tränen. »Sie würden
mich nicht vor die Tür setzen. Aber Daddy ist Diakon bei uns in der Kirche. Und Mom … O
Gott, sie werden vor Scham im Erdboden versinken.«
»Wollen Sie denn das Baby behalten?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie könnten es später zur Adoption freigeben.«
Sie schüttelte verzagt den Kopf. »Das würde er niemals zulassen. Außerdem, wenn ich es erst
einmal hätte, würde ich es auch nicht mehr hergeben können.«
»Haben Sie schon über die Möglichkeit einer Abtreibung nachgedacht?«
»Ich glaube, mir bleibt nichts anderes übrig.« Sie schluchzte und schnäuzte sich. »Es ist nur …
ich liebe ihn so. Wissen Sie? Ich will sein Baby nicht umbringen.«
»Sie müssen sich ja nicht heute Abend entscheiden«, sagte Lara und streichelte dem Mädchen
beruhigend über die Hand.
»Wenn ich mich zu einer Abtreibung entscheide, würden Sie es dann machen, damit es niemand
erfährt?«
»Es tut mir leid, aber ich führe keine Abtreibungen durch.«
»Warum nicht?«
Seit sie ihr eigenes Kind hatte sterben sehen, war es ihr unmöglich geworden, lebendes Gewebe
zu zerstören, es sei denn, das Leben der Mutter stand auf dem Spiel. »Das trifft nur auf mich zu«,
sagte sie dem Mädchen. »Falls Sie schwanger sind und sich dazu entscheiden sollten, werde ich
Ihnen natürlich helfen, die notwendigen Schritte einzuleiten.«
Helen nickte, doch Lara hatte ihre Zweifel, ob sie überhaupt etwas mitbekommen hatte. Die
Verzweiflung hatte sie ganz benommen gemacht. Lara tätschelte ihre Hand und sagte ihr, sie sei in
wenigen Minuten zurück. »Bleiben Sie noch ein bisschen ruhig liegen, und trinken Sie Ihre
Cola.«
Als sie auf den Flur hinaustrat, wappnete sie sich innerlich für die bevorstehende Konfrontation.
Sie knipste den Schalter hinter der Tür im Wartezimmer an, und gnadenlos kaltes Licht flammte
auf. Key hatte sich auf eines der kurzen Sofas gelümmelt. Um die Augen an die plötzliche
gleißende Helligkeit zu gewöhnen, blinzelte er mehrmals, während er langsam auf die Füße kam.
»Warum haben Sie sie zu mir gebracht?«, fauchte Lara wütend.
»Ich dachte, Sie könnten Kundschaft gebrauchen.«
»Vielen Dank für so viel Anteilnahme«, sagte sie sarkastisch, »aber ich ziehe es vor, nicht schon
wieder in eine Ihrer Eskapaden hineingezogen zu werden.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich entnehme Ihrem Ton, dass Helen recht hatte – sie
ist schwanger?«
»Es sieht so aus.«
Er ließ den Kopf sinken und fluchte in sich hinein.
»Und ich entnehme Ihrem Ton, dass Sie nicht gerade glücklich über die Nachricht sind?«
Sein Kopf schnellte hoch. »Verdammt richtig, Doc. Es ist eine schöne Scheiße.«
»Daran hätten Sie denken sollen, bevor Sie mit einem so unerfahrenen Mädchen wie Helen ins
Bett gegangen sind. Und wieso haben Sie sich nicht geschützt? Ein Mann von Welt wie Sie
müsste doch immer einen Vorrat an Kondomen bei sich haben. Oder widerspricht das etwa
Ihrem Macho-Image?«
»Jetzt aber mal halblang! Ich …«
»Clark hat mir alles über Ihren zweifelhaften Ruf erzählt. Ich dachte, er übertreibt, aber
offensichtlich hat er das nicht getan. ›Key Tacketts Frauen.‹ Müsste schon ein ganzer Verein hier
in der Gegend zusammengekommen sein, oder? Die einzige Aufnahmebedingung lautet: eine
Nacht mit Ihnen.« Sie sah ihn mit Verachtung im Blick an. »Vielleicht sollte man den
Vereinsnamen in ›Key Tacketts Mädchen‹ abändern«, schnaubte sie. »Was ist los mit Ihnen?
Verlieren Sie langsam Ihren jungenhaften Charme? Setzt das Alter Ihrem Ego zu? Sind Sie so
verunsichert, was Ihre Wirkung betrifft, dass Sie es schon nötig haben, Schulmädchen ins Bett zu
zerren?«
»Und, was könnte Sie das angehen?« Mit halb geschlossenen Lidern fügte er leise hinzu: »Etwa
eifersüchtig?«
Lara richtete sich auf, wütend auf sich selber, weil sie sich auf sein Niveau herabbegeben hatte.
Damit hatte sie ihm die Möglichkeit zum Gegenangriff gegeben. In kühlem, professionellem Ton
sagte sie schließlich: »Helen erwägt ernsthaft, eine Abtreibung durchführen zu lassen. Bis sie sich
endgültig im Klaren mit ihrer Entscheidung ist, bin ich gern bereit, die Vorsorge zu übernehmen.
Vorausgesetzt, sie kommt allein, ohne Sie, zu den Untersuchungen.«
»Sie wird überhaupt nicht mehr herkommen. Alles, was ich heute Abend von Ihnen wollte, war
ein Ja oder Nein.« Ärgerlich langte er in die Gesäßtasche seiner abgetragenen Jeans und fischte
eine Geldklammer heraus. »Wie viel bin ich Ihnen schuldig?«
»Das hier geht auf mich, aber ich will etwas zurück.«
»Und was soll das sein? Lassen Sie mich raten … einen Freiflug nach Timbuktu?«
Sie hatte sich schon gefragt, ob er auf ihre letzte Unterhaltung eingehen würde, und es wunderte
sie nicht im Geringsten, dass er es mit einer sarkastischen Bemerkung tat. Sie ging nicht darauf
ein. »Ich möchte, dass Sie mir etwas versprechen.«
»Frauen gegenüber mache ich keine Versprechungen. Hat Clark das etwa vergessen zu
erwähnen, als er Ihnen mein Liebesleben geschildert hat?«
Sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. »Ich möchte, dass Sie nie wieder Ihren Müll vor
meiner Tür abladen. Dies ist bereits das zweite Mal, dass ich mich um Ihre ›Unfälle‹ kümmern
muss. Halten Sie mich da raus. Ich möchte nicht in Ihre pubertären romantischen Eskapaden
reingezogen werden.«
»Ach, tatsächlich?«
»Ja, tatsächlich.«
Er kam drohend näher, so nahe, dass sich der Stoff ihrer Kleider berührte, als er schließlich
stehenblieb. Sie konnte die Hitze seines Körpers und seinen Atem auf ihrem emporgereckten
Gesicht spüren. Auch seine Wut war spürbar. Nur pure Willenskraft hielt sie davon ab
zurückzuweichen.
»Das ist komisch, Doc«, flüsterte er rau. »Und ich hatte gedacht, diese romantischen Eskapaden
wären ganz nach Ihrem Geschmack.«
Sie hielt dem Blick aus seinen blauen Augen so lange stand, wie sie es ertragen konnte, dann
wich sie ein paar Schritte zurück und drehte sich um. »Ich habe versucht, Helen einigermaßen zu
beruhigen«, sagte sie, »aber sie wirkt noch immer ziemlich mitgenommen. Wenn Sie noch einen
Funken Anstand besitzen, gehen Sie heute behutsam mit ihr um. Keine Schuldzuweisungen. Sie
braucht jetzt vor allem Verständnis und Geduld, bis sie sich endgültig entschieden hat, was sie tun
wird.«
»Na, das passt doch hervorragend. Schließlich bin ich der Inbegriff von Liebenswürdigkeit, oder
nicht?«
Sie schenkte ihm einen vernichtenden Blick, machte kehrt und ging aus dem Raum. Sie klopfte
an die Tür zum Sprechzimmer, ehe sie hineinging. Helen lag auf dem gepolsterten Tisch und
starrte auf die Dämmplatten an der Decke. Erleichtert stellte Lara fest, dass sie nicht mehr weinte.
Sie setzte ein Lächeln auf, in der Hoffnung, dass es nicht allzu gekünstelt wirkte. »Wie fühlen Sie
sich jetzt?«
»Ganz okay.«
»Gut. Key wartet draußen auf Sie.«
Sie half Helen vom Tisch und begleitete sie auf den Korridor. Key stand bereits an der Haustür.
Er sah aus, als wollte er möglichst schnell weg von hier. Zu behaupten, er hätte das
Moralempfinden eines streunenden Katers, wäre eine Beleidigung für alle streunenden Kater
gewesen. Es war zu schade, dass sein Charakter nicht seinem Äußeren entsprach.
Sein offenes Hemd ließ nur eine Ahnung von seinem breiten Brustkorb erkennen. Seine Jeans
schmiegte sich wie eine zweite Haut um seine schmalen Hüften und die langen Beine. Clark hatte
nur selten legere Kleidung getragen und niemals Levi’s Jeans. Sie hatte weder ihn noch Randall
jemals in Cowboystiefeln gesehen. Keys waren von Wind und Wetter gegerbt.
Key Tacketts Frauen, dachte sie verächtlich.
Bei seinem Aussehen war sein Erfolg bei Frauen nicht weiter verwunderlich. Innerhalb weniger
Wochen hatte er sowohl mit Darcy Winston als auch mit diesem achtzehnjährigen Mädchen
geschlafen. Wie viele andere gab es noch? Seine Affäre mit Darcy war weit weniger schockierend
als das Verhältnis mit diesem Mädchen, das viel jünger und unerfahrener war als er. Aus einem ihr
unerklärlichen Grund war sie enttäuscht von ihm.
Wenigstens nahm er Helen mit offenen Armen in Empfang, und sie flüchtete sich auch sogleich
hinein. Er drückte sie einen Moment fest an sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Helen nickte
schluchzend an seiner Brust.
Dann schob er sie ein wenig von sich und sagte: »Warte im Wagen auf mich, Kleines. Ich
komme gleich nach.«
Helen sagte Lara ein eiliges Danke auf ihrem Weg hinaus. Key wartete, bis sie außer Hörweite
war. »Ich werde mich darum kümmern, dass sie in Vorsorgebehandlung kommt, aber nicht bei
Ihnen.«
Lara tat es leid, wieder eine Patientin zu verlieren, aber sie schätzte, das war wohl der Preis, den
sie zahlen musste, wenn sie ihm eine Lektion für sein Schwerenötertum erteilen wollte. Anstatt
etwas zu sagen, was sie später bedauern könnte, nickte sie nur kurz. Sie war inzwischen so weit, es
auf sich beruhen zu lassen.
Nicht so Key. Er hatte sich noch einen besonderen Abschiedsgruß aufgehoben. »Übrigens, auf
dem Weg hierher habe ich im Radio gehört, dass Letty Leonard heute Nachmittag gestorben ist.«
Key war nicht der Einzige, der vom Tod des Kindes gehört hatte. Jody hatte es auch erfahren.
Eden Pass lag zwischen Dallas/Fort Worth und Shreveport, Louisiana. Durch diese
geographische Lage kamen die Einwohner in den Genuss einer großen Anzahl Fernsehkanäle.
Alle drei großen Sender hatten Niederlassungen in den Städten, die durch das örtliche
Kabelsystem zusammen mit CNN und anderen großen Kabelsendern verteilt wurden.
Wenn es allerdings um Lokalnachrichten ging, verließ sich Jody auf die kleine Station in Tyler.
Sie kannte den Eigentümer persönlich, ebenso wie den Moderator. Auf diesem Sender die
Nachrichten zu verfolgen war, als bekäme man von einem Mitglied der Familie den neuesten
Klatsch erzählt.
An diesem Abend fühlte sie sich ungewöhnlich müde. Ihre heftige Auseinandersetzung mit Key
hatte ihr die gesamte Energie geraubt. Das und die Unterhaltung über Clark junior hatten sie
mental angegriffen, emotional und physisch ausgelaugt. Auch wenn ihr Mann schon mehr als
zwei Jahrzehnte tot war – es löste noch immer Hassgefühle und Depressionen in ihr aus, an ihn zu
denken.
Sie hatte sich sofort nach ihrem schroffen Abgang aus dem Esszimmer hingelegt und kaum die
Augen bis zum Ende der Zehnuhrnachrichten offen halten können. Sie lag in ihrem Bett, einen
Berg Kissen im Rücken, und döste, als die Meldung über Letty Leonard sie wieder munter
machte.
Sofort war sie hellwach und stellte per Fernbedienung den Ton lauter. Es war nur ein kurzer
Beitrag. Die einzige Bebilderung war ein Schnappschuss von dem Kind, das mit einem
schlappohrigen Hund inmitten von unausgepackten Geschenken vor dem Weihnachtsbaum
hockte.
Der Sprecher erinnerte seine Zuschauer an den tragischen Unfall, der sich in Eden Pass ereignet
hatte, und an den komplizierten chirurgischen Eingriff, der Letty Leonards Leben für kurze Zeit
bewahrt hatte. Ihr plötzlicher Tod war von einer Lungenembolie ausgelöst worden. Ihr Tod war
für die Eltern ein Schock gewesen, aber ebenso für die behandelnden Ärzte, die davon
ausgegangen waren, dass Letty sich auf dem Weg der Genesung befand. Der ganze Bericht nahm
kaum mehr als zwanzig Sekunden Sendezeit ein.
Jody dämpfte die Lautstärke des Fernsehers, schlug die Bettdecke zurück und stieg aus dem Bett.
Dann zündete sie sich eine Zigarette an und inhalierte tief, während sie im Zimmer auf und ab
ging.
In dem Bericht war weder Keys noch Lara Mallorys Name aufgetaucht. Soweit es die
Öffentlichkeit betraf, hatte ihre gemeinsame Beteiligung an der Geschichte keine Konsequenzen
gehabt. Doch Jody drückte es wie ein Stein im Schuh – ein Affront, mit dem sie nicht leben
konnte.
Verdammt, sie hatte Key doch gesagt, er solle sich von der Frau fernhalten. Aber er hatte ihr
nicht nur nicht gehorcht, er musste dieser Ärztin auch noch helfen, ein vom Tode bedrohtes
Kind zu retten. Jody konnte nicht einfach untätig zusehen, wie Lara Mallory zur Heldin der
Gemeinde aufstieg.
Aber war sie überhaupt eine Heldin, jetzt, da das Kind gestorben war? Was genau war eine
Lungenembolie? Was konnte sie ausgelöst haben? Wie hätte sie verhindert werden können? Jody
wusste es nicht, aber sie würde es, verdammt noch mal, herausfinden, wenn Lara Mallory
irgendeine Mitschuld am Tod des Kindes treffen sollte.
Sie dachte noch über ihre Strategie nach, als Janellen hereinkam, um ihr eine gute Nacht zu
wünschen. Sie erwiderte Janellens Umarmung nicht. Diese Zurschaustellungen von Gefühlen
hatte ihr schon immer Unbehagen bereitet, selbst wenn sie nur Empfängerin von Zuneigung war.
Für sie war das reine Zeitverschwendung.
Es war töricht, sich an Erinnerungen zu klammern wie an die von den Rosen, die Clark junior
ihr zur Geburt von Clark dem Dritten geschenkt hatte. Warum konnte sie es nicht vergessen?
Warum war ihre Erinnerung nicht genauso verwelkt und abgestorben wie die Blütenblätter? Was
hatte es ihr genutzt?
»Gute Nacht, Mama. Versuch, ein wenig zu schlafen. Und steh nicht andauernd wieder auf, um
zu rauchen. Du weißt, dass dir das nicht guttut.«
Sobald sie wieder allein war, zündete sich Jody erneut eine Zigarette an. Sie konnte besser
nachdenken, wenn sie eine Zigarette in der Hand hielt. Oft lag sie nachts wach im Bett und
rauchte im Dunkeln. Was Janellen nicht wusste, machte sie auch nicht heiß.
Janellen. Was war nur mit ihrer Tochter los?, fragte sie sich. Sie wirkte neuerdings oft so
zerstreut, starrte lange mit einem verklärten Ausdruck ins Leere. Dann wieder verlor sie furchtbar
schnell über Kleinigkeiten die Fassung. Kleinigkeiten, die ihr vorher nichts ausgemacht hatten
und die sie jetzt an den Rand des Nervenzusammenbruchs trieben. Sie benahm sich überhaupt
nicht wie sie selbst. Es musste etwas mit den Hormonen zu tun haben.
Aber Jody konnte sich nicht auch noch um ihre Tochter Gedanken machen, solange Key da
war. Er war unmöglich und war es schon immer gewesen – seit seiner Geburt, sogar schon davor,
während der sechsundzwanzig Stunden quälender Wehen, die er sie hatte erleiden lassen.
Sechsundzwanzig furchtbare, schmerzerfüllte Stunden, die sie ganz allein durchstehen musste, weil
Clark junior nicht aufzutreiben gewesen war.
Key kam in dem Moment zur Welt, als sein Vater, nach dem Parfüm einer anderen stinkend, das
Krankenhaus betrat. Und genau da hatten die Schwierigkeiten mit Key begonnen. Sie war zornig
auf ihn gewesen, noch ehe er den ersten Atemzug getan hatte, und er hatte es schon als
Neugeborenes gespürt. Ihre gegenseitige Abneigung hatte während seiner Kindheit, als er
scheinbar nichts als Ärger machte, stetig zugenommen.
Sie hatte gewollt, dass er wie Clark der Dritte wurde, doch die beiden Jungs hätten nicht
unterschiedlicher sein können. Alles, was Clark tat, geschah unter der unbedingten Motivation,
ihr zu gefallen. Ihre Wertschätzung war unabdingbar für seinen Seelenfrieden. Er war untröstlich,
wenn er bei ihr in Missgunst gefallen war.
Und so sehr, wie sein Bruder bemüht war zu gefallen, war Key bemüht zu provozieren. Was
immer Jody von ihm verlangte oder erwartete, er unternahm alles, um das Gegenteil zu bewirken.
Er genoss ihre Ungnade, er pflegte sie. Sie hatte sich oft gefragt, ob er den Wagen aus purem
Trotz gegen den Baum gefahren hatte, nur damit sich ihr Traum von ihm als Footballprofi nicht
erfüllen konnte. Er war dickköpfig genug gewesen, lieber sein Leben zu riskieren, als sich ihrem
Wunsch beugen zu müssen.
Insgeheim war sie stolz auf seinen Erfolg, doch das konnte sie unmöglich zugeben, denn damit
hätte sie eingestanden, dass er sich selbst ein besseres Leben geschaffen hatte, als sie ihm
ermöglichen konnte.
Einer der Gründe, warum er seinen Job so liebte, war der, dass er ihn von zu Hause fernhielt.
Obwohl sie es beide abstritten, Jody wusste genau, dass Janellen ihn heimgeholt hatte, weil sie,
Jody, sterben würde. Sie hasste den Gedanken. Wenn sie Key egal war, dann war es eben so. Er
hatte sich nie gekümmert und würde es auch nie tun. So einfach war das. Wieso sollten sie eine
enge Beziehung vortäuschen, die nie existiert hatte? Er und Janellen glaubten, dass ihr Tod kurz
bevorstand. Sie konnte es ihnen an den Augen ablesen. Die würden sich noch wundern!
Sie kicherte in der Dunkelheit und verschluckte sich am Rauch. Die würden schön erschrecken,
wenn sie merkten, dass sie unsterblich war! Schließlich hatte sie Karriere gemacht, indem sie die
Leute überrascht hatte. Es zahlte sich nicht aus, Jody Tackett hinters Licht führen zu wollen.
Wenn sie das nicht glauben wollten, könnten sie ja Fergus Winston fragen.
Sie musste erneut kichern und auch husten, doch diesmal härter, was sie daran erinnerte, dass sie
doch nicht unsterblich war.
Stirnrunzelnd verfluchte sie ihr Schicksal. Sie war noch nicht bereit zu sterben. Sie hatte noch
etwas zu erledigen, musste diese Porter-Hexe aus Eden Pass vertreiben. Clark musste verrückt
gewesen sein oder unter dem Einfluss von Drogen gestanden haben, als er Doc Pattons Praxis
gekauft und sie ihr überschrieben hatte. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
Mehr als Janellen und Key ahnen konnten, stellte Lara Mallory eine wachsende Bedrohung für
sie und alles, was ihnen heilig war, dar, je länger sie sich in Eden Pass aufhielt.
Jody war immer noch nicht ganz dahintergekommen, warum die Ärztin hierhergezogen war.
Doch eines war ebenso sicher wie die Tatsache, dass die Sonne im Osten aufging – sie war nicht
nur hier, um Clarks Erbe anzunehmen. Sonst hätte sie die Praxis schon längst gewinnbringend
verkauft und nie wieder einen Fuß auf Tackett-Boden gesetzt. Sie war aus einem bestimmten
Grund hier. Und genau davor fürchtete sich Jody. Sie musste den Grund herausfinden, ehe sie
oder ihre Kinder in Lara Porters Falle tappten.
Sie, Jody Tackett, stammte aus ärmsten Verhältnissen und hatte den reichsten Mann der Gegend
geheiratet. Sie hätte sich nicht jahrelang an der Spitze eines unabhängigen Unternehmens gehalten
und wäre keine Frau, die gefürchtet und verehrt wurde, wenn sie auf dem Hintern gehockt und
sich Gedanken um die Motive anderer Leute gemacht hätte. Sie war diejenige, die den ersten
Schritt unternahm, ehe ein anderer die Chance dazu hatte. Eine Schlange biss zu, ehe man auf sie
trat.
Jody lag noch lange wach, schmiedete Pläne und rauchte. Als die letzte Zigarette bis auf den
Filter abgebrannt war, hatte sie sich ihren nächsten Schritt zurechtgelegt.
Darcy ließ die Seitenfenster herunter. Der Wind zerzauste ihre Frisur, aber er würde den
Zigarettenqualm verwehen, der ihr aus der Bar anhaftete. Fergus könnte sonst misstrauisch
werden. Im Pflegeheim, in dem ihre Mutter untergebracht war, war das Rauchen nicht gestattet.
Die Ausrede, ihre Mutter in dem kostspieligen Sanatorium zu besuchen, war eine phantastische
Möglichkeit, abends ausgehen zu können. In letzter Zeit war sie öfter als sonst unterwegs
gewesen, da ihr Ego dringend etwas Aufwertung benötigte. Dank Mr. Key Tackett war ihr
Selbstbewusstsein zutiefst erschüttert.
Das Gefühl, zurückgewiesen worden zu sein, nagte an Darcy und fraß an ihrem
Selbstbewusstsein wie eine bösartige Ratte. Deswegen hatte sie seit kurzem überhaupt keinen
Spaß mehr. Sie konnte sich einfach nicht auf einen anderen Mann einlassen und würde es auch so
lange nicht können, bis sie es Key Tackett heimgezahlt hatte.
Sie hatte ja nicht mal die Gelegenheit gehabt, ihm zeigen zu können, wie gleichgültig er ihr
war. Sonderbarerweise hing er nicht in den üblichen Kneipen herum. In der Stadt hieß es, er
wäre viel unterwegs, Kunden von Dallas nach Round Rock und sogar bis Corpus Christi, weit
unten im Süden, zu fliegen. Aber er konnte unmöglich jeden Abend arbeiten. Wohin ging er,
wenn er nicht in der Luft war? Womit verbrachte er seine freie Zeit?
Mit einer anderen Frau? Derartiges war ihr allerdings nicht zu Ohren gekommen, und es wäre
ihr garantiert nicht entgangen. Nie war sein Name im Zusammenhang mit einer Frau gefallen,
ausgenommen …
Darcy fuhr hoch, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen. »Aber das ist unmöglich«, protestierte
sie laut.
Key Tackett und Lara Mallory? Die beiden Namen waren in Verbindung mit dem kleinen
Mädchen gefallen, das sie nach Tyler geflogen hatten. Aber das hatte sicher nichts zu bedeuten.
Andererseits war diese Ärztin bekanntermaßen ein Vamp. Sie hatte es mit ihrem Liebhaber vor
der Nase ihres Ehemannes getrieben. Selbst Darcy besaß mehr Anstand – und Verstand.
Manche Männer allerdings mochten Frauen mit Sinn für Abenteuer. Das machte die Sache
spannender für sie. Schließlich hat James Bond auch keine unscheinbaren Mauerblümchen
gebumst, oder?
Sie umklammerte das Lenkrad fester. Sollte Key Tackett eine heimliche Affäre mit der Mätresse
seines verstorbenen Bruders haben, dann würde sie dafür sorgen, dass jeder in Texas davon erfuhr.
Wenn sie die Story in Umlauf brachte, würde er ganz sicher zur Witzfigur avancieren. Clarks
Resteverwerter? Das würde dem Bastard recht geschehen.
Aber das Gerücht musste wenigstens ein Körnchen Wahrheit beinhalten, sonst würde sie die
Witzfigur abgeben. Wie konnte sie herausfinden, ob er wirklich mit Lara Mallory schlief? Sie
hatte die Ärztin noch nie getroffen. Und Lara Mallory würde eine freundliche Annäherung ganz
sicher durchschauen. Sie war schließlich nicht dumm.
Wie konnte sie sich Lara Mallory nähern, ohne ihr Misstrauen zu wecken? Das war nicht
einfach, aber Darcy war sicher, dass ihr etwas einfallen würde.
Zu Hause angekommen, schlich sie auf Zehenspitzen ins Haus und machte auch kein Licht, um
Fergus und Heather, die oben schliefen, nicht zu wecken. Sie wollte es vermeiden, sich für ihr
spätes Heimkommen rechtfertigen zu müssen. Sie hasste es, ihren Mann anlügen zu müssen, und
vermied es wenn möglich.
Als sie an der offenen Tür zum Wohnzimmer vorbeikam, sah sie, dass der Fernseher noch lief.
Sie ging hinein, um das Gerät abzuschalten. Als sie das Sofa umrundete, schreckten zwei Personen
darauf hoch. Kleine Schreie der Überraschung ertönten, als eilig nach verstreuten Kleidern
gegriffen wurde.
Darcy knipste die Lampe an, erfasste die Situation mit einem Blick und fragte verärgert, obwohl
sie die Antwort bereits kannte: »Was zum Teufel geht hier vor?«
Kapitel 12
Der Geistliche der Ersten Baptistenkirche sprach ein letztes Amen über dem kleinen weißen Sarg.
Marion Leonards lautes Schluchzen hallte über den windigen Friedhof und ließ alle Anwesenden
erschaudern. Jack Leonard schwieg, doch auch ihm rollten die Tränen über die eingefallenen
Wangen, während er seine wehklagende Frau von dem Sarg ihrer Tochter fortzog. Es war eine
herzzerreißende Szene, die Abgeschiedenheit verdiente. Die Trauergäste zogen sich zurück.
Lara war am Rand der Menge stehengeblieben und hatte sich bemüht, möglichst nicht gesehen
zu werden. Als sie sich vom Sarg abwandte, explodierte der grelle Blitz einer Automatikkamera
vor ihrem Gesicht. Instinktiv riss sie einen Arm zum Schutz vor das Gesicht. Diesem ersten Blitz
folgte ein zweiter, dann ein dritter.
»Mrs. Porter, was haben Sie zu der angestrengten Klage wegen fehlerhafter Behandlung zu
sagen?«
»Bitte?« Man hielt ihr ein Mikrofon vor den Mund. Sie schob es beiseite. »Ich weiß nicht,
wovon Sie sprechen. Und mein Name ist Mallory!«
Als die lilafarbenen Flecken vor ihren Augen langsam verblassten, sah sie sich einer Horde von
Reportern gegenüber, die ihr den Weg verstellten. Sie wich aus. Die Meute setzte ihr nach.
Manche von ihnen waren offensichtlich vom Fernsehen – ihre Kameramänner trotteten, durch
Kabel mit ihnen verbunden, neben ihnen her. Andere waren Zeitungsreporter, sie hatten
Fotografen dabei, die sie mit Blitzen belagerten. Lara hatte vor fünf Jahren schon ausreichend
Bekanntschaft mit diesen Bluthunden machen müssen.
Was wollten die Medienleute hier? Vor allem – was wollten sie von ihr? Sie kam sich vor wie in
einem wiederkehrenden Alptraum.
»Bitte, lassen Sie mich vorbei.«
Sie blickte zurück und sah, dass die anderen Trauergäste in kleinen Grüppchen
zusammenstanden und aufgeregt über die Szene, die sich ihnen bot, flüsterten. Lara hatte das
Spektakel zwar nicht inszeniert, war aber dennoch der ungewollte Mittelpunkt.
»Mrs. Porter … «
»Ich heiße Mallory«, beharrte sie. »Dr. Mallory.«
»Aber Sie sind doch die Frau des verstorbenen US-Botschafters Randall Porter?«
Sie lief über das akkurat geschnittene Gras zur Friedhofsallee, wo sie ihr Auto hinter dem
weißen Leichenwagen und der Limousine abgestellt hatte.
»Sie sind doch dieselbe Lara Porter, die ein Verhältnis mit Senator Tackett hatte, richtig?«
»Bitte, treten Sie beiseite.« Endlich hatte sie den Wagen erreicht und durchwühlte ihre Tasche
nach den Schlüsseln. »Bitte, lassen Sie mich in Ruhe.«
»Was hat Sie nach Eden Pass verschlagen, Mrs. Porter?«
»Stimmt es, dass Senator Tackett Sie vor seinem Tod hierher mitgenommen hat?«
»Waren Sie da noch immer ein Paar?«
»Was sagen Sie zu seinem plötzlichen Tod durch Ertrinken, Mrs. Porter? Kann es Selbstmord
gewesen sein?«
»Hat Ihr Fehlverhalten zum Tod der kleinen Leonard geführt?«
Die anderen Fragen hatte man ihr schon unzählige Male gestellt, und sie prallten von ihr ab,
doch die letzte Frage durchdrang den Schutzwall. »Bitte?« Sie sah der jungen Reporterin, von der
die Frage gekommen war, direkt in die Augen und fragte: »Was haben Sie gesagt?«
»Hat Ihr Fehlverhalten zu der Embolie geführt, an der die kleine Leonard gestorben ist?«
»Nein!«
»Sie waren aber der erste Arzt, der sie behandelt hat.«
»Das ist richtig. Und ich habe alles getan, um ihren Arm und ihr Leben zu retten.«
»Offensichtlich sehen die Leonards das anders, sonst hätten sie wohl kaum Klage gegen Sie
eingereicht.«
Hätte Lara nicht Erfahrung darin gehabt, ihre Empfindungen auf bohrende Fragen und
Verbalattacken zu verbergen, wäre sie unter der Wucht dieser Anschuldigung
zusammengebrochen. Stattdessen starrte sie die Reporterin an, ohne sich etwas anmerken zu
lassen. Die Muskeln in ihrem Gesicht waren hölzern, trotzdem gelang es ihr irgendwie, die
Lippen ausreichend zu bewegen, um zu antworten.
»Ich habe alles in meiner Macht Stehende unternommen, um Letty Leonards Leben zu retten,
und ihre Eltern sind sich dessen sehr wohl bewusst. Ich weiß von keiner Klage wegen
Fehlbehandlung. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
Natürlich gab sich die Meute damit nicht zufrieden. Sie warfen ihr weiter Fragen wie Steine
hinterher und richteten ihre Mikrofone und Kameras auf sie, als ihr Wagen längst anrollte. Mit
schweißnassen Händen umklammerte sie das Lenkrad, hielt den Blick geradeaus gerichtet und
ignorierte die neugierigen Zuschauer, an denen sie vorbeikam.
Es war ein warmer und feuchter Morgen, doch bis die Reporter die hässliche Vergangenheit
wieder ausgegraben hatten, hatte ihr die Hitze nichts ausgemacht. Jetzt klebten ihr die Kleider auf
der feuchten Haut: Ihr schwirrte der Kopf, und ihr Herz pochte mit alarmierender Heftigkeit. Ihr
war schlecht.
Was hatte diese Aufmerksamkeit der Medien wachgerüttelt? Ihr Umzug nach Eden Pass war
unbemerkt verlaufen. Sie lebte seit über einem Jahr in Anonymität. Es hatte frischere Skandale
gegeben, sensationellere Storys zu enthüllen, sündigere Sünder als sie zu entlarven gegeben. Die
Geschichte von Lara Porter und Senator Tackett war schon vor Jahren in der Gruft für
»gestorbene« Geschichten begraben worden.
Bis zu diesem Morgen. Letty Leonards Tod hatte sie exhumiert. Und Lara war aufs Neue zu
einer öffentlichen Person geworden.
Aber Letty Leonards Schicksal, so tragisch es war, hatte gar keine landesweite Publizität in den
Medien erlangt: Lediglich die lokale Presse hatte darüber berichtet. Sicher, ihr Name tauchte in
Lettys Krankenblatt auf, doch welcher Reporter war so scharfsinnig, Dr. Lara Mallory aus Eden
Pass sofort als Lara Porter, die Geliebte von Senator Clark Tackett, zu identifizieren?
In den Berichten über Lettys Operation und Genesung war sie überhaupt nicht erwähnt
worden, worüber sie froh gewesen war. Je weniger Aufmerksamkeit sie erregte, desto besser. Ihr
wäre es lieb gewesen, wenn ihr Name nie wieder in der Presse aufgetaucht wäre. Doch genau das
würde jetzt geschehen, und zwar in Zusammenhang mit dem stigmatisierenden Begriff
Fehlbehandlung.
Während der ganzen Sache mit Clark und der Katastrophe in Montesangrines war ihr Können
als Ärztin niemals in Frage gestellt worden. Ihre Reputation als angesehene Medizinerin hatte
sämtliche Angriffe auf ihren Charakter überstanden. Und sie hatte sich immer an diesen letzten
Strohhalm des Stolzes geklammert.
Und jetzt, falls die Leonards tatsächlich eine Klage wegen Fehlbehandlung anstrengten, würde
ihr Können unters Mikroskop kommen. Es würde genauso bloßgelegt und seziert werden wie
damals ihr Privatleben. Es würde sich nichts Belastendes finden lassen, aber darum ging es nicht.
Die Untersuchung an sich würde Staub aufwirbeln. In den Augen der Öffentlichkeit war ein
Beschuldigter so gut wie schuldig.
Und wieder würde sie Futter für die Nachrichtenmühle abgeben. Ihre ohnehin schlecht
laufende Praxis – das Einzige, was ihr geblieben war – würde in Mitleidenschaft gezogen werden,
bis sie gezwungen wäre zu schließen.
Irgendwer musste der Presse den Tipp gegeben haben, dass Dr. Lara Mallory, die Ärztin, die
Letty Leonard als erste behandelt hatte, niemand anderes war als die berüchtigte Lara Porter.
Wie sie befürchtet hatte, parkten vor ihrer Praxis mehrere Autos und Transporter mit
Großbuchstaben an den Seiten. Als sie in die hintere Auffahrt einbog, wurde sie sofort von
Reportern umlagert. Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menge und betrat die Praxis durch die
Hintertür, die Nancy für sie offen hielt.
»Meine Güte, was ist denn hier los?«, fragte die Sprechstundenhilfe, als sie die Tür hinter Lara
zuknallte.
»Angeblich wollen die Leonards mich verklagen.«
»Haben die jetzt völlig den Verstand verloren?«
»Bestimmt. Vor Kummer.«
»Dieses Volk«, sagte Nancy und deutete auf die Reporter hinter der verschlossenen Tür, »und
ich meine das nicht freundlich, ist vor einer halben Stunde hier aufgetaucht und hat gegen die
Tür gehämmert. Ich wusste gar nicht, was ich machen sollte. Und das Telefon steht auch nicht
mehr still.« Als Bestätigung klingelte es.
»Gehen Sie nicht ran.«
»Was soll ich tun, Dr. Mallory?«
»Rufen Sie Sheriff Baxter an, und lassen Sie ihn die Leute von meinem Grundstück entfernen«,
sagte Lara.
»Kann er das?«
»Er kann sie von meinem Grundstück verbannen. Sie können trotzdem weiterhin auf der Straße
parken, was sie zweifellos tun werden. Sie werden uns in den nächsten Tagen belagern. Es ist das
Beste, wenn Sie sich diese Woche freinehmen.«
»Kommt nicht in Frage. Sie glauben doch nicht, dass ich Sie hier mit diesen Hyänen im Stich
lasse?« Nancy half Lara aus der Jacke und sah die Schweißränder auf ihrer Bluse. »Ich habe Sie
noch nie schwitzen sehen. Ich hatte schon gezweifelt, ob Sie überhaupt so etwas wie
Schweißdrüsen haben.«
»Das ist Stressschweiß. Die haben mich auf der Beerdigung abgefangen.«
»Diese Aasgeier.«
»Was denn nun – Hyänen oder Aasgeier?« Es war tröstlich zu wissen, dass sie ihren Sinn für
Humor nicht ganz verloren hatte.
»Ist doch egal, sind beides Aasfresser. Ich sollte Clem Bescheid sagen, damit er mit dem Gewehr
rüberkommt. Damit würden wir sie schon verscheuchen.«
»Ich weiß die Geste zu schätzen, aber danke, nein. Im Moment kann ich keine schlechte
Publicity gebrauchen«, sagte Lara grimmig. »Ehe ich auch nur den Hauch einer Chance hatte, als
Dr. Lara Mallory in dieser Kleinstadt Fuß zu fassen, hat mich schon wieder Lara Porter eingeholt.
Senator Tacketts verheiratete Geliebte.«
Nancys Miene drückte Bedauern aus. »Es ist wirklich eine Schande. Es tut mir so leid.«
»Danke, ich brauche jetzt gute Freunde.« Sie seufzte niedergeschlagen. »Es ist ja nicht so, dass ich
mich versteckt habe, aber ich wollte meinen Aufenthaltsort nicht bekannt werden lassen, damit
genau so etwas nicht passiert. Irgendwer hat absichtlich in dieses Hornissennest gestochen. Ich
glaube keine Sekunde, dass das hier Zufall ist.«
»Und ich könnte glatt wetten, dass dieser Zufall mit Nachnamen Tackett heißt.«
Lara sah ihre Sprechstundenhilfe scharf an. »Key?«
Nancy schüttelte den Kopf. »Ist nicht sein Stil. Ich tippe auf die alte Dame. Sie machen langsam
Boden gut hier. Zwar nicht in großen Sprüngen, aber mit kleinen Schritten. Das kann sie
unmöglich zulassen. Jody hat gehört, dass das kleine Mädchen gestorben ist. Sie wusste, dass Sie
als Erste bei ihr waren, und schon sah sie ihre Chance, einen Skandal zu verursachen.«
»Aber das hätte sie doch schon haben können, als ich herkam.«
»Dann wäre aber auch rausgekommen, dass Clark Ihnen dieses Haus vermacht hat. Und das
würde bedeuten, dass er sich Ihnen emotional noch immer verbunden fühlte. Das hätte viel zu
schmeichelhaft für Sie ausgesehen. So aber ist Clark aus dem Spiel.«
Was Nancy sagte, ergab Sinn. Lara ging zu ihrem Büro. »Ich glaube zwar kaum, dass wir heute
noch Patienten haben, aber wenn, dann bin ich im Büro zu finden.«
Sie zog die Jalousien herunter, damit sie nicht mit ansehen musste, wie ihr schöner Rasen von
den geifernden Reportern zertrampelt wurde. Als sie am Tisch Platz genommen hatte, schlug sie
das Telefonbuch auf. Seit dem bewussten Morgen in Virginia hatte sie sich doch sehr verändert.
Sie war nicht nur älter, sondern auch härter, und sie würde diesen Terror durch die Presse auf
keinen Fall einfach so hinnehmen. Sie langte nach dem Hörer und wählte.
»Miss Janellen?«
»Bowie! Was machen Sie denn hier?«
Sie saß am Küchentisch und starrte das Telefon an, das sie eben noch benutzt hatte. Er hatte den
Kopf zur Tür hereingesteckt. Sie bedeutete ihm einzutreten.
»Sieht aus, als hätte ich ein Talent, Sie jedes Mal aus Ihren Gedanken aufzuschrecken, wenn ich
vorbeikomme. Tut mir leid.« Er trat etwas beklommen ein. »Ich, äh … ich kann auch ein
andermal wiederkommen, wenn es gerade nicht genehm ist …«
»Nein, ist schon in Ordnung. Ich war nur etwas überrascht, Sie hier zu sehen.«
»Ich hab’s erst im Büro versucht, dann im Laden. Man hat mir gesagt, dass Sie heute früher
Schluss gemacht haben.«
»Meiner Mutter ging es heute Morgen nicht so gut, ich habe mir Sorgen gemacht.« Wie immer,
wenn sie Bowie begegnete, war sie gehemmt. Sie deutete auf einen der Stühle am Küchentisch.
»Setzen Sie sich doch. Ich habe gerade Tee aufgebrüht. Möchten Sie eine Tasse?«
»Tee?« Er warf einen zweifelnden Blick auf ihre dampfende Tasse. »Heißen Tee? Draußen sind
mindestens fünfunddreißig Grad.«
»Ich weiß, aber ich trinke nun mal gern Tee. Er wirkt so beruhigend.«
»Danke, aber ich glaube es Ihnen auch so.«
»Dann vielleicht eine Limonade? Ein Bier? Key hat immer ein paar Dosen im Kühlschrank
stehen.«
»Nein, vielen Dank. Ich stehe auch lieber, ich bin ziemlich schmutzig.«
Für sie sah er perfekt aus. Sie hatte den Schmutz auf seinem Hemd und der Hose gar nicht
bemerkt, erst als er es jetzt erwähnte. Auch unter seinen Sohlen und an den Lederhandschuhen,
die er unter den Gürtel gestopft hatte, war Schmutz. Unmengen davon. Sogar sein Hut war voller
Staub.
»Seien Sie nicht albern«, widersprach ihm Janellen. »Mama hat früher immer darauf bestanden,
dass meine Brüder in den Sommerferien mitarbeiteten. Sie kamen völlig verschwitzt und stinkend
nach Hause – womit ich natürlich nicht sagen will, dass Sie stinken«, fügte sie hastig hinzu. »Ich
wollte damit nur sagen, dass die Küche schon immer dafür da war, dass sich die Männer hier
ausruhen können und so …« Als sie merkte, was für einen Unsinn sie von sich gab, hörte sie
schlagartig damit auf. »Sie sind offensichtlich hergekommen, um etwas mit mir zu besprechen,
also setzen Sie sich.«
Nach kurzem Zögern ließ er sich auf die Stuhlkante sinken. »Möchten Sie wirklich nichts
trinken?«, fragte Janellen noch einmal.
»Eine Limonade wäre nicht schlecht.« Er räusperte sich. »Sie haben ausgesehen, als wären Sie
ganz woanders, als ich reinkam«, sagte er, nachdem er einen Schluck getrunken hatte.
»Na ja, ich habe gerade einen merkwürdigen Anruf bekommen.« Sie rang mit sich, ob sie ihm
davon erzählen sollte oder nicht. Er sah sie erwartungsvoll an. Es wäre sicher erleichternd, mit
jemandem darüber zu reden, der nichts damit zu tun hatte und somit unparteiisch war.
»Haben Sie die Geschichte von dem kleinen Mädchen verfolgt, das bei einem Unfall beinahe
den Arm verloren hätte?«
»Ich habe gehört, dass das Kind gestorben ist.«
»Ja, und heute war die Beerdigung. Wirklich eine Tragödie.« Sie hielt einen Moment inne. »Die
Ärztin, die sie als erste behandelte und nach Tyler brachte …«
»Dr. Mallory.«
»Richtig. Sie hat mich vorhin angerufen. Sie und mein älterer Bruder waren …«
»Ich weiß.«
Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. »Dann können Sie sich vorstellen, wie schlimm und
peinlich es für uns ist, dass sie in Eden Pass ist.«
»Warum?«
Die Frage kam so unerwartet, dass sie einen Moment nichts zu entgegnen wusste. Dann sagte
sie: »Weil sie schmerzliche Erinnerungen in uns aufwühlt.«
»Oh.«
Er schien nicht unbedingt überzeugt zu sein, und sie fühlte sich verpflichtet, es ausführlicher zu
erklären. »Lara Porter hat Clarks politische Karriere ruiniert.«
Bowie neigte den Kopf und kratzte sich am Nacken, als würde er ihre Antwort abwägen. »Na
ja, auf mich wirkt sie nicht wie ein Sumoringer. Schätze mal, es war nicht gerade so, dass sie ihn
festgehalten und gezwungen hat, sich auszuziehen und mit ihr ins Bett zu steigen. Sie etwa?«
Es war nicht das erste Mal, dass Janellen darüber nachdachte, aber bislang hatte sie es nur im
Stillen getan. Wenn sie den Gedanken offen ausgesprochen hätte, wäre Jody an die Decke
gegangen.
Prüde wie sie war, vermied Janellen eine weitere Diskussion in diese Richtung. »Irgendwie hat
die Presse jedenfalls spitzgekriegt, dass Lara Porter unter dem Namen Dr. Lara Mallory in Eden
Pass praktiziert. Wie es aussieht, ist sie heute Morgen bei der Beerdigung von Reportern belästigt
worden, und später musste sie sogar Sheriff Baxter holen, damit er die Presseleute von ihrem
Grundstück verjagt.«
Bowie schnalzte angewidert mit den Lippen. »Die machen noch nicht mal vor ’ner Beerdigung
eines Kindes halt.«
»Das stimmt. Das war sehr hässlich.« Einen Moment lang dachte sie darüber nach, welchen
Wirbel die Affäre ihres Bruders mit Lara Porter Mallory noch bis heute verursachte. »Na ja, es
heißt, dass die Leonards Dr. Mallory wegen möglicher Fehlbehandlung verklagen wollen«, sagte
sie zu Bowie. Dann holte sie tief Luft. »Und sie nimmt an, dass meine Mutter hinter dem Ganzen
steckt.«
»Und, ist dem so?«
»Nein.«
»Sie klingen nicht gerade überzeugt.«
Ihre Fingerspitzen berührten ihre Lippen, ehe sie wieder zu der Bluse zurückkehrten. Diese
Bluse hatte keine Knöpfe, also nestelte sie an dem Stoff. Dann legte sie nervös die Hand neben die
bisher nicht angerührte Teetasse auf den Tisch.
»Ich weiß es nicht, ob es stimmt oder nicht«, gab sie schließlich zu. »Dr. Mallory wollte
eigentlich Mama sprechen. Maydale hat ihr gesagt, dass Jody sich gerade etwas ausruht, aber Dr.
Mallory wollte sich nicht abwimmeln lassen und hat verlangt, stattdessen mit mir zu sprechen.«
Sie spielte mit den Salz- und Pfefferstreuern. »Ich wünschte, Key wäre hier gewesen. Er ist ein
Profi, wenn es um Ärger geht. Er hätte gewusst, was man auf so etwas entgegnet.«
»Und was haben Sie ihr gesagt?«
»Dass ich überzeugt bin, dass meine Familie so etwas nie tun würde.«
»Glauben Sie, sie hat Ihnen das abgekauft?«, fragte Bowie skeptisch.
»Sie sagte mir, mir würde sie glauben, aber meiner Mutter und meinem Bruder würde sie es
durchaus zutrauen.« Etwas leiser fügte sie hinzu: »Ich hasse die Vorstellung, dass sie so etwas
Gemeines tun könnten.«
Sie starrte einen Moment ins Leere, wandte sich dann aber wieder ihrem Gast zu.
»Entschuldigen Sie, Bowie. Ich sollte Sie nicht mit familieninternen Problemen aufhalten.
Weshalb wollten Sie mich sprechen?«
Er rollte die Schultern. »Wahrscheinlich ist es nichts weiter. Und ich überlege schon ein paar
Tage, ob ich Sie überhaupt damit belästigen soll.« Er hatte den Hut auf den Tisch gelegt. Jetzt
schob er ihn beiseite und beugte sich vor. »Ist Ihnen an Quelle Nummer sieben noch nie was
aufgefallen?«
»Nein. Sollte es?«
»Vermutlich nicht, aber ich muss es einfach mal loswerden. Wissen Sie, sie fördert nicht so viel
Gas, wie sie sollte. Jedenfalls meiner Meinung nach. Die Produktion entspricht einfach nicht den
Ergebnissen der anderen Quellen.«
»Aber die Quellen fallen doch alle unterschiedlich aus.«
»Weiß ich, Ma’am. Die haben einen richtigen Charakter, der sich immer wieder ändert. So wie
’ne Frau. Jede Quelle hat ihre Launen. Da muss man sich auskennen. Brauchen ab und an ein paar
Streicheleinheiten.«
Janellen senkte den Blick so schnell, dass sie gar nicht mitbekam, dass auch Bowie nach unten
sah. Ihre Wangen wurden heiß, aber da es hier ums Geschäft ging, fühlte sie sich verpflichtet, das
Gespräch fortzusetzen.
»Wie sieht die tägliche Produktion aus?«
»Zwo-fünfzig. Ich meine, die Leistung müsste höher sein.«
»Wir rechnen vier bis fünf Prozent Verlust ein. Manchmal sogar bis zu zehn. Vielleicht ist
irgendwo ein kleines Leck in einer der Leitungen, und das Gas tritt in die Atmosphäre aus.«
Er kaute kurz auf der Innenseite seiner Wange, dann schüttelte er stur den Kopf. »Ich denke, der
Verlust liegt über dieser Grenze. Ich habe die Produktion während der letzten Wochen verfolgt
und meine, sie müsste mit am besten von allen Gasquellen laufen, vor allem, wenn man bedenkt,
wie viel Öl wir da rausholen. Stattdessen produziert sie am wenigsten.«
»Sie haben die Produktion länger verfolgt?«
»Ja, in meiner Freizeit.«
Ihr Herz schwoll vor Stolz an. Er war ein verantwortungsbewusster Arbeiter, der mehr tat, als
von ihm erwartet wurde. Ihre Entscheidung, ihn einzustellen, hatte sich als richtig erwiesen.
Obwohl sie seine Sorge zu schätzen wusste, glaubte sie, dass sie fehl am Platz war. »Ich weiß
nicht, was ich sagen soll, Bowie. Aber Nummer sieben produziert entsprechend unseren
Erwartungen.«
»Na ja, ich hab’s schon dem Vorarbeiter erzählt, aber der hat auch nur mit den Schultern
gezuckt und gesagt, die hätte noch nie sonderlich viel gebracht. Verdammt, ich kann gar nicht
sagen, warum, aber ich hab einfach so ein Gefühl. Kennen Sie das?«
»Ja, das kenne ich.« Sie starrte in ihre Teetasse. Nach einem langen Moment des Schweigens hob
sie den Blick. »Jetzt ist es schon wieder passiert. Ich kann mich einfach nicht aufs Geschäft
konzentrieren. Ich muss immer wieder an die armen Eltern des kleinen Mädchens denken. Ihrem
Daddy gehört die Reinigung. Er ist so ein netter, bescheidener Mann. Er und seine Frau müssen
am Boden zerstört sein. Als Clark starb, ging es uns auch so. Ich fürchtete schon, Mutter würde
an Kummer sterben.«
»Ich hatte nie Kinder. Aber wenn ich eins hätte, könnte ich mir nicht vorstellen, wie es wäre, es
begraben zu müssen.«
Janellen sah ihn prüfend an. Er hatte also nie ein Kind gehabt – aber war er vielleicht schon
einmal verheiratet gewesen? Es gab tausend Fragen, die sie ihm gern gestellt hätte, aber sie traute
sich einfach nicht. Eine dieser Fragen war, woher er seine gute Menschenkenntnis hatte. Er besaß
unzweifelhaft das Talent, einem Menschen direkt ins Herz und in die Seele blicken zu können.
Auf seinen Instinkt vertrauend, fragte sie: »Bowie, glauben Sie, dass Dr. Mallory irgendeine
Schuld am Tod der kleinen Leonard trifft?«
»Ich weiß nur so viel von Medizin, dass es weder ein Mittel gegen Grippe noch eins gegen Kater
gibt.«
Sie musste lächeln. »Ich bin Dr. Mallory erst einmal begegnet, aber sie machte einen so …
gefassten Eindruck.«
Ganz im Gegensatz zu mir, dachte sie reumütig. Nachdem sie Lara Mallory gesehen hatte,
wunderte es sie nicht mehr, dass Clark alles riskiert hatte, um mit ihr zusammen zu sein. Sie war
nicht nur hübsch. In ihrem Blick spiegelten sich Mitgefühl und Intelligenz, und sie strahlte
Selbstvertrauen und Kompetenz aus.
Janellen hatte sie hassen wollen. Sie wusste, dass es ihr leichtgefallen wäre, wenn sie sich als
hohlköpfige Sexbombe ohne Substanz erwiesen hätte. Doch sie war das genaue Gegenteil.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass die Frau, die ich getroffen habe, nachlässig handelt.« Die
Überzeugung, mit der sie diesen Satz aussprach, überraschte sie selbst, und sie fühlte sich sofort
schuldig. »Ich weiß, eigentlich sollte ich sie verachten, aber …«
»Wer hat das gesagt?«
»Meine Mutter.«
»Tun Sie immer, was Ihre Mutter sagt? Sind Sie mal anderer Meinung?«
»Selten.« Dieses Eingeständnis ließ sie wie ein Feigling erscheinen. Wahrscheinlich hatte sie
soeben jeglichen Respekt verspielt, den Bowie für sie als Individuum und als seine Arbeitgeberin
gehabt hatte.
Aber der Anruf von Lara Mallory hatte sie tief verstört. Sie hatte den Punkt überschritten, ihre
Gefühle verbergen zu können. Sie stützte einen Ellenbogen auf und ließ die Stirn in die Hand
sinken. »O Gott, ich wünschte, diese Affäre um Clark wäre nie passiert. Er hätte in der Politik
Karriere gemacht, so wie Mama es sich für ihn gewünscht hat. Dann wäre er vielleicht noch am
Leben. Mama wäre glücklich, und ich … «
Sie fing sich, ehe sie sagen konnte, dass sie jetzt nicht alles zusammenhalten müsste, wenn die
Dinge anders gelaufen wären. Es war mühsam und strapaziös, alle zufrieden und glücklich machen
zu wollen. Und es war unmöglich.
Seit dem Abend, als das Mädchen an ihrer Tür aufgetaucht war und nach Key gefragt hatte, war
er sogar noch gereizter als sonst. Zwar war es zwischen ihm und Jody seitdem nicht mehr zum
Streit gekommen, aber nur deshalb nicht, weil sie sich aus dem Weg gingen. Sprach man Key an,
reagierte er schroff und einsilbig. Er war mit den Gedanken Gott weiß wo: Janellen wagte gar
nicht darüber nachzudenken. Mit wütend hochgezogenen Schultern und streitlustiger Miene
stapfte er durchs Haus. Er fühlte sich daheim derart unwohl, dass er oft genauso abrupt
verschwand, wie er aufgetaucht war.
Und nun hatte Lara Mallory ihr auch noch einen neuen Grund zur Sorge aufgebürdet. Eine
einzelne Träne kullerte über ihre Wange, ehe sie begriff, dass sie weinte.
»Ja, was haben wir denn da?«
Sie merkte, dass Bowie den Arm ausstreckte, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sie
berühren würde. Als sie seine Fingerspitze auf ihrer Haut fühlte, hob sie den Kopf und sah ihn
entsetzt, den Mund halb offen, an.
Sie wurde nur selten gestreichelt, und weil sie so ausgehungert nach Berührungen war, hob sie
reflexartig die Hand und legte sie auf seine.
Er erstarrte. Nichts außer seinen Augen bewegte sich. Sein Blick schweifte von ihren Augen zu
der Hand, die auf seiner lag, und wieder zurück. Janellen saß ebenso reglos da wie er, doch
innerlich war sie zutiefst aufgewühlt. Ihr Körper fühlte sich fiebrig, füllig und schwer an. Ihre
Brüste kribbelten und spannten, am liebsten hätte sie die Hände auf sie gepresst, um das erregende
Gefühl zu bewahren.
Sie wusste nicht, wie lange sie sich so angestarrt hatten. Bowies sanfte, traurige Augen hielten sie
in seinem Bann, genau wie der Druck seiner Fingerspitzen, die von ihren Tränen benetzt waren.
Wenn er nicht gehört hätte, wie Keys Wagen herangeprescht kam, hätten sie wahrscheinlich
noch immer in dieser starren Position dagesessen, als ihr Bruder hereinstürmte.
Doch so sprang Janellen hastig auf, wirbelte herum und begrüßte ihn. »Hallo, Key!« Ihre Stimme
klang unnatürlich hoch und dünn. »Was tust du denn hier?«
»Als ich heute Morgen wegfuhr, habe ich hier noch gewohnt.« Sein Blick wanderte zwischen
ihr und Bowie hin und her, von dem sie hoffte, dass er seine Gefühle besser verbergen konnte als
sie. Ihr Gesicht war ganz heiß. Sie wusste, dass sie vom Hals bis zu den Haarwurzeln feuerrot sein
musste.
Key nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. »Hi, Bowie, willst du ein Bier?«
»Nein, danke.«
Janellen sagte: »Ich habe ihm auch schon eins angeboten, aber er wollte lieber Limonade.«
»Ich habe kurz vorbeigeschaut, um Miss Janellen zu sagen, dass … «
»Er findet, dass Nummer sieben zu wenig produziert, und …«
»Wahrscheinlich ist es gar nichts, aber …«
»Er fand, wir sollten es besser wissen, nur für …«
»Na ja, da bin ich eben zu Miss Janellen gefahren, und …«
»Und wir haben die Sache besprochen«, beendete sie den Satz.
»Mmh-hmm.« Key schaute sie amüsiert an. Er öffnete sein Bier und nahm einen Schluck. »Na,
dann will ich euch bei eurer Geschäftsbesprechung nicht länger stören.«
»Nein, nein, schon gut.« Bowie schnappte sich seinen Hut, als handelte es sich um ein
belastendes Beweisstück. »Ich wollte sowieso gerade gehen.«
»Ja, er wollte gerade gehen, als du kamst. Ich … ich bringe ihn zur Tür.« Verschämt und
außerstande, die beiden anzusehen, floh sie aus der Küche und wartete am Ausgang, wo sie Bowie
die Tür aufhielt. Mit gesenktem Blick sagte sie: »Danke für die Information, Bowie.«
Er lüftete den Hut. »Hab nur gedacht, ich sag’s Ihnen besser. Geht schließlich um Ihr Geld.«
»Ich werde mich drum kümmern.«
»Ich finde nicht, dass das eine so gute Idee ist.«
Beim Klang der Stimme ihres Bruders fuhr sie herum. Er lehnte mit der Schulter im Türrahmen
zum Esszimmer und nippte lässig an seinem Bier.
»Was ist keine so gute Idee?«, fragte sie.
»Dass du dich um eine defekte Quelle kümmerst.«
»Wieso nicht?«
»Weil der Name Tackett wieder mal in der Presse auftaucht.«
»Und?«
»Weil die Reporter über Eden Pass herfallen wie Ameisen über einen Schinken. Bis ihnen ’ne
bessere Story vor die Nase kommt. Wenn sie aus mir nichts rauskriegen – was ihnen nicht
gelingen wird –, schnüffeln die unter Garantie dir nach, um ein Statement zu bekommen.
Bowie«, sagte er in Richtung ihres Angestellten, »pass auf sie auf, okay? Wenn sie unbedingt
irgendwelche Quellen inspizieren muss, dann begleite sie, verstanden?«
Bowie warf Janellen einen unsicheren Blick zu. »Ich will nicht respektlos sein, Mr. Tackett, aber
immerhin ist sie der Boss.«
»Boss oder nicht, tu mir den Gefallen. Ich bitte dich als ihr Bruder darum.«
Wieder schwenkte Bowies Blick zu Janellen. Die kochte vor Wut, traute sich aber nicht, etwas
zu sagen. Verunsichert gab Bowie schließlich nach: »In Ordnung, Mr. Tackett.«
»Für dich bin ich Key.«
»Okay, Sir. Na, dann will ich mal.«
Er beeilte sich, in den Firmenlaster zu steigen, und fuhr los. Tatsächlich wirkte er, als wäre er
heilfroh, sich auf sicheres Terrain flüchten zu können.
Janellen drehte sich zu ihrem Bruder um. »Ich brauche keinen Aufpasser.«
»Tja, ich denke schon«, entgegnete er unbeeindruckt von ihrer Wut. »Wenn ein Reporter dich
belästigt, werde ich ihm gehörig in den Arsch treten. Und das würde noch mehr Wirbel
verursachen und die ganze Sache nur noch schlimmer machen.«
Sie fand es unmöglich, dass er einfach über ihren Angestellten verfügte und sie dastehen ließ, als
wäre sie nicht in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Doch seine Begründung machte Sinn.
Sollte ihr ein Reporter auf den Fersen bleiben, um eine Stellungnahme aus ihr herauszuquetschen,
war nicht abzusehen, wie Key reagieren würde. Einmal, in der Highschool, war sie in Tränen
aufgelöst von einer Verabredung zurückgekommen. Key hatte ihren entsetzten Begleiter fast
erwürgt, bevor sie ihm erklären konnte, dass sie sich lediglich einen traurigen Film angesehen
hatten.
Sie wusste, dass er nur um ihr Wohl besorgt war, und ihre Wut verrauchte langsam. »Die
Situation ist schon viel schlimmer, als du ahnst«, sagte sie. »Lara Mallory hat vorhin hier angerufen
und wollte Mama sprechen. Sie denkt, dass Jody ihr die Medien auf den Hals gehetzt hat.«
Key rieb sich den Nacken. »Verdammter Mist.«
»Überrascht dich das?«
»Nein. Was mich überrascht, ist, dass die werte Frau Doktor und ich anscheinend denselben
Gedanken hatten. Ich glaube nämlich auch, dass Jody dahintersteckt. Ich kenne ’ne Menge
clevere Reporter, aber nur eine Handvoll von denen wusste überhaupt, dass Lara an der Sache
mit der kleinen Leonard beteiligt war. Dass ausgerechnet die zwei und zwei zusammenzählen,
wäre nun wirklich ein zu großer Zufall.«
Er sah zum oberen Stockwerk des Hauses hoch. »Gerissene alte Hexe.«
»Red nicht so über deine Mutter.«
»War als Kompliment gemeint. Eins muss man ihr lassen – sie ist wirklich erfinderisch.«
»Ist es wirklich so weit hergeholt?«
»Bitte?«
Besorgt sagte sie: »Du warst doch dabei, Key. Du hast alles gesehen. Hat Dr. Mallory fahrlässig
gehandelt? Haben die Leonards einen berechtigten Grund, sie anzuzeigen?«
»Ich war vollauf damit beschäftigt, den Chopper zu fliegen, aber soweit ich gesehen habe, hat sie
alles versucht, die Kleine zu retten. Laut Autopsiebericht war die Embolie eine Laune der Natur.
Hätte jederzeit passieren können. Und was mich auch noch stutzig macht – die Leonards sind
nicht die Art Leute, die auf Rache sinnen würden. Das sind gläubige Christen.«
»Es würde dich also überraschen, wenn sie nach einem Sündenbock suchen sollten?«
»Richtig. Ich würde es Jody durchaus zutrauen, dass sie das Gerücht in Umlauf gebracht hat, ob
nun was dran ist oder nicht. Lara gibt eine bequeme Zielscheibe ab.« Janellen musterte ihn
neugierig.
»Was ist?«, fragte er.
»Du hast sie schon ein paarmal Lara genannt. Das hört sich komisch an.«
Er stutzte einen Moment, dann antwortete er gereizt: »Das ist schließlich ihr Name, oder etwa
nicht?«
Janellen hatte zu viele andere wichtige Dinge im Kopf, als sich mit etwas so Unbedeutendem
abzugeben. »Sie hat schrecklich wütend geklungen, Key. Sie hat gesagt, ich solle dir und Mama
ausrichten, sie würde sich kein zweites Mal vertreiben lassen. Wie hat sie das gemeint?«
»Damit hat sie Randall Porters Versetzung nach Montesangrines gemeint.« Er runzelte die Stirn.
»Sie redet sich ein, dass Clark seine Beziehungen im Außenministerium hat spielen lassen. Es
hörte sich nach einer guten Stellung an, aber im Grunde war es so etwas wie eine staatlich
abgesegnete Verbannung.«
Janellen war verblüfft. »Und das glaubst du ihr? Clark soll so etwas Hinterhältiges getan haben?«
»Hinterhältig ist vielleicht ein wenig stark ausgedrückt, aber unser großer Bruder war ziemlich
geschickt darin, sich aus einer schwierigen Situation zu lavieren, stimmt’s?«
»Schon, aber er ist doch nie ganz aus der Sache rausgekommen, oder doch?«
»Auch richtig«, sagte Key. »Und solange Lara rumläuft und alle daran erinnert, wird er es auch
nie.«
»Dann findest du es also richtig, was Mama getan hat? Falls sie es getan hat …«
»Nein. Ich will auch, dass Lara Mallory aus Eden Pass verschwindet, aber ich will, dass sie sich
ihren eigenen Strick dreht. Ich denke, das wird sie tun, wenn man sie in Ruhe lässt.« Er sah noch
einmal nach oben. »Aber du kennst ja Jody. Sie erträgt es einfach nicht, den Dingen ihren
natürlichen Lauf zu lassen. Wenn nicht alles nach ihrem Plan läuft, spielt sie gern den lieben
Gott.«
»Bitte sei nicht so kritisch, Key. Sie ist krank. Kannst du ihr nicht mal gut zureden, dass sie zum
Arzt geht?«
Er lachte schallend. »Das wäre die sicherste Methode, es zu verhindern. Aber du hast recht. Sie
müsste sich gründlich untersuchen lassen.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Doch ich
fürchte, überreden kannst nur du sie, Schwesterchen. Bleib dran.« Er drückte sie sanft und stieg
dann die Treppe hinauf, das Bier in der Hand.
»Gehst du heute Abend noch aus, Key?«
»Ja, will nur noch kurz duschen.«
»Gehst du mit Helen Berry aus?«
Er blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihr um. »Wieso fragst du?«
Sie sah an seiner Miene, dass sie einen wunden Punkt berührt hatte. Und sie erkannte, warum
die Leute manchmal Angst vor ihm bekamen. »Na, Helen geht schon seit der Highschool fest mit
Jimmy Bradley. Es heißt, dass …« Sie befeuchtete sich die Lippen. »… dass Helen vor kurzem
ganz plötzlich mit ihm Schluss gemacht hat.«
»Und?«
»Ach, Key.« Sie nahm all ihren Mut zusammen und sagte: »Wieso ausgerechnet sie? Du kannst
dir die Frauen doch aussuchen. Helen ist halb so alt wie du.«
»Vorsicht, Janellen. Wenn du vorhast, dich in mein Privatleben einzumischen, werde ich mich
auch in deins einmischen.« Er kam zwei Stufen herunter und sagte flüsternd: »Zum Beispiel wäre
es ganz interessant zu erfahren, was sich zwischen diesem Bowie Cato und dir abspielt.«
Ihr Magen verkrampfte sich. »Da spielt sich gar nichts ab!«
»Ach nein? Und wieso dann die hastigen Entschuldigungen, als ich in die Küche kam? Ich habe
niemanden mehr so stottern hören, seit uns Drenda Larsons Daddy, als wir dreizehn waren, in
seiner Scheune aufgestöbert hat.«
»Bowie ist ein Angestellter. Wir hatten etwas Geschäftliches zu besprechen.«
»Okay, gekauft«, sagte er mit einem breiten Grinsen. »Aber nur, wenn du mir auch abkaufst, dass
Drenda und ich nichts weiter als eine Nadel im Heuhaufen gesucht haben.«
Lara sollte mit ihrer Prophezeiung recht behalten.
Eine Woche nach der Beerdigung rückte der Medientross ab, um üppigere Weiden
menschlicher Tragödien abzugrasen. Während dieser Woche war Lara allerdings jedes Mal
belästigt worden, wenn sie einen Schritt über ihre Schwelle tat. Sheriff Baxter hatte seine Pflicht
getan, wenn auch unwirsch, und die Reporter und Kameraleute von ihrem Grundstück
verwiesen. Doch die Belagerung von der Straße aus machte Lara zu einer Gefangenen in ihren
eigenen vier Wänden.
Die Fernsehteams aus Dallas und Shreveport hatten Berichte erstellt, die landesweit gesendet
wurden, doch Lara Porter und ihre Schlüsselrolle in jenem Skandal, der Senator Tackett vor fünf
Jahren die Karriere gekostet hatte, war nur noch fünfzehn Sekunden Sendezeit am Ende der
Nachrichten wert. Die Story war endgültig raus aus den Schlagzeilen.
Auch die Leonards waren ins Rampenlicht geraten, aber sie hatten sich einen Rechtsanwalt
genommen, der für sie sprach. Er war ein grüner Junge, der frisch von der Uni kam. Er ließ sich
allerdings durch die Scheinwerfer nicht einschüchtern. Stur wiederholte er gegenüber den
Reportern, dass seine Mandanten keinen Kommentar abgeben würden und noch zu sehr mit dem
Verlust zu kämpfen hätten, als die Ursachen für den Tod ihrer Tochter zu hinterfragen.
Wieder und wieder war Lara im Kopf alles durchgegangen. Es war eine Grenzfrage gewesen, ob
sie Letty ein Antikoagulans hätte verabreichen sollen oder nicht. Doch nach all den Überlegungen
stand sie noch immer zu ihrer Entscheidung. Nur um ganz sicherzugehen, beriet sie sich mit dem
Arzt in der Notaufnahme, der als nächster die junge Patientin behandelt hatte. Er unterstützte ihre
Entscheidung und sagte, er würde es notfalls auch vor Gericht tun.
Als die Tage verstrichen und Lara nichts vom Anwalt der Leonards hörte, hoffte sie, dass das
Gerücht über die Anzeige wegen Fehlbehandlung sich genau als das herausstellen würde – als ein
Gerücht. Ohne Zweifel hatten die Tacketts es in die Welt gesetzt. Ihre wiederholten Anrufe bei
ihnen hatten nichts außer Frustration gebracht. Entweder war Jody Tackett wirklich zu krank, um
zu telefonieren, oder sie hatte gute Lügner, die sich vor sie stellten.
Lara hatte mit der Haushälterin und mit Janellen gesprochen. Von Key hatte sie nichts mehr
gehört, seit dem Abend, als er mit Helen Berry zu ihr gekommen war. Wahrscheinlich nahm er
an, sie hätte einen Witz gemacht, als sie erwähnte, er solle sie nach Zentralamerika fliegen. Bislang
hatte sich noch keine weitere Gelegenheit ergeben, mit ihm darüber zu reden, aber das hieß
nicht, dass sie von ihrem Entschluss abgewichen wäre. Es gab nur momentan so viele andere
Dinge, die sie aufhielten.
Als sie heute Morgen aufgewacht war, war auch der Lkw vor ihrer Tür verschwunden. Doch
aufgrund der negativen Publicity hatten die meisten Patienten ihre Termine abgesagt. Es fiel
schwer, zuversichtlich zu bleiben, was die Praxis betraf, wenn niemand mehr über ihre Schwelle
trat. Nancy und sie lenkten sich mit allem Möglichen ab, doch meist hatten sie mehr freie Zeit, als
ihnen lieb war.
Am frühen Nachmittag verließ Lara ihr Büro, um Nancy zu sagen, sie könne für heute Schluss
machen. Doch zu ihrer Überraschung hörte sie, dass Nancy mit jemandem im Wartezimmer
sprach.
»Wir müssen sofort zu der Frau Doktor. Ich weiß, wir haben keinen Termin, aber wie ich sehe,
ist der Andrang nicht gerade sehr groß, oder?«
Die schneidende, herablassende Stimme gehörte zu Darcy Winston.
Kapitel 13
Ollie Hoskins machte sich mit seinem Staubwedel an die Arbeit – im sechsten Gang:
Schweinefleisch mit Bohnen, Chili, Tamales und Thunfischkonserven. Als Geschäftsführer des
Fahr-und-Spar-Supermarktes hätte er das Staubwischen zwar an einen der Jungs aus dem Lager
delegieren können, aber er hatte Spaß an diesen minderen Arbeiten – Auszeichnen, Einräumen,
Einpacken –, weil die Aufgabe dabei klar definiert und einfach zu lösen war. Es waren
anspruchslose Tätigkeiten, bei denen er den Kopf frei hatte für andere Dinge.
Fünfzehn Jahre hatte er in der Navy gedient, bevor er abgemustert hatte, und wenn er auch die
Monate auf See nicht vermisste, so doch die Befreiung von Verantwortung, die er als Matrose
genossen hatte. Er hatte nie danach gestrebt, zum Offizier aufzusteigen, und er war noch heute
besser darin, Befehle auszuführen, als sie zu erteilen.
Bei einem Landurlaub in Galvestone, in einem Frühling vor vielen Jahren, hatte er ein junges
Mädchen kennen- und lieben gelernt, einen Monat später hatten sie geheiratet. Als es Zeit wurde,
sich zurückzumelden, drängte sie ihn, nicht zu gehen und stattdessen mit ihr in ihre Heimatstadt
Eden Pass zu kommen, damit sie in der Nähe ihrer Mutter sein konnte.
Vielleicht wäre es besser mit ihnen gelaufen, wenn er bei der Navy geblieben wäre, dachte
Ollie, während er zu Gang fünf weiterging, wo Mehl, Zucker, Gewürze und Öl in Reih und
Glied gestapelt standen. Die Familie seiner Frau hatte ihn nie wirklich akzeptiert. Ollie stammte
von »irgendwo da oben im Norden«, und ihrer Ansicht nach gab es nur eins, was noch schlimmer
war als Yankees: wenn er indianischer Abstammung gewesen wäre. Dass er Angloamerikaner war,
machte ihn gerade noch erträglich.
Selbst nach zwanzig Jahren hatte er noch immer kein sonderlich herzliches Verhältnis zu seinen
Schwiegereltern, was aber auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Blüte der Liebe in seiner Ehe war
längst verwelkt, und das Einzige, was er und seine Frau jetzt noch gemeinsam hatten, war Tanner.
Sie vergötterten ihn, jeder auf seine Weise. Seine Mutter brachte ihn manchmal in Verlegenheit
mit ihrer übertriebenen Fürsorge. Sie hatte nach Tanner keine Kinder mehr bekommen können –
wofür sie allerdings Ollie die Schuld gab – und hütete ihn deshalb wie eine Mutterglucke ihr
Küken. Sie freute sich wie eine Schneekönigin, dass er mit Heather Winston befreundet war. Dass
ihr Sohn mit dem beliebtesten Mädchen der Schule ging, wertete ihr eigenes Ansehen unter den
Freundinnen beträchtlich auf.
Ollie hatte nichts gegen Heather. Sie war hübsch, freundlich und voller Elan. Er hoffte nur, dass
Tanner die Freundschaft nicht aus den Händen glitt, weil er fürchtete, Tanner könnte wegen ganz
natürlicher Begierden in Schwierigkeiten geraten.
Manchmal sah Ollie Tanner an und fragte sich, wie es möglich war, dass bei seinen Erbanlagen
und der eher blassen Blutsverwandtschaft seiner Frau ein so cleverer und gutaussehender Junge
herausgekommen sein sollte. Und zum Glück war er sportlich. Wenn er darauf bestanden hätte,
ein Instrument in der Feuerwehrkapelle zu spielen, Chemiker oder Raketenkonstrukteur zu
werden, hätte seine Verwandtschaft ihn für verschroben gehalten. Tanner wusste, wie man einen
Football trat und trug, und so boxten und umarmten ihn seine rüden Cousins und Onkel in
einem fort. Sie behandelten ihn wie einen der Ihren und vergaßen bequemerweise, dass Ollie
zumindest physisch für Tanners Abstammung mitverantwortlich war.
Ollie machte das nichts aus. Tanner gehörte ihm, und er platzte jeden Freitagabend förmlich vor
Stolz, wenn die Nummer zweiundzwanzig aufs Feld lief, im rot-schwarzen Trikot der Fighting
Devils. Die kommende Saison versprach, Tanners bislang beste zu werden.
Ollie hatte die Crisco-Dosen gerichtet, den Aufsteller der Nabisco-Kekse am Ende des Ganges
umrundet und bog in Gang vier ein – Kaffee, Tee und sonstige Getränke. Zwei Frauen kamen
ihm entgegen. Die jüngere schob den Wagen, während die ältere den Einkaufszettel hielt.
»Einen schönen guten Morgen, Miss Janellen, Mrs. Tackett«, grüßte Ollie freundlich. »Wie
geht’s?«
»Guten Morgen, Mr. Hoskins«, erwiderte Janellen den Gruß.
»Ollie, sagen Sie dem Schlachter, er soll uns drei T-Bone-Steaks schneiden, zweieinhalb
Zentimeter. Und damit meine ich nicht eineinhalb. Letztes Mal waren die Steaks so dünn und
zäh, dass wir sie kaum kauen konnten.«
»Das tut mir leid, Mrs. Tackett. Ich werde mich darum kümmern, dass sie heute nach Ihrem
Geschmack sind.« So sicher, wie Miss Janellen immer ein Lächeln für ihn parat hatte, wusste er,
dass die alte Dame sich wegen irgendetwas beschweren würde. Er log, als er sagte: »Schön, Sie so
munter und wohlauf zu sehen, Mrs. Tackett.«
»Wieso sollte das nicht so sein?«
Er hatte lediglich versucht, etwas Nettes zu sagen. Aber so wie sie reagierte, könnte man
glauben, er hätte sie beleidigt. »Nun, ich dachte nur.« Er hatte das Gefühl, seine Krawatte saß
heute viel zu eng. »Ich habe gehört, dass Sie sich in letzter Zeit nicht ganz wohl fühlen. Aber was
alles so geredet wird …«
»Wie Sie sehen, geht es mir prächtig.«
»Mama und ich dachten, wir könnten mal wieder einkaufen gehen.« Janellen bemühte sich, die
Peinlichkeit des Moments zu überspielen. »Man gönnt sich ja so selten etwas.«
»Soso, jedenfalls ist es schön, Sie beide wieder einmal zu sehen. Dann werde ich zum Schlachter
rübergehen und die Steaks in Auftrag geben. Ich lasse sie Ihnen an der Kasse hinterlegen.« Er
steckte den Staubwedel in die Gesäßtasche, machte kehrt, bog um die Ecke des Ganges und stieß
mit dem Einkaufswagen einer weiteren Kundin zusammen.
»Dr. Mallory!«, rief er aus.
»Hallo, Mr. Hoskins. Wie geht es Ihnen heute?«
»Äh, gut. Gut.« Lieber Gott, hab Gnade, dachte er. Dr. Mallory und Jody Tackett befanden sich
auf Kollisionskurs. Er wollte nicht, dass sein Geschäft Schauplatz einer Szene wurde. »Haben Sie
schon die Wassermelonen in unserer Obstabteilung entdeckt, Dr. Mallory? Sind heute Morgen
frisch aus dem Süden geliefert worden.«
»Ich fürchte, eine ganze Melone ist etwas zu viel für eine einzelne Person.«
»Ich schneide Ihnen gern ein Stück ab.«
»Vielen Dank, aber ich denke, ich bleibe bei der Honigmelone.«
Wenn sie lächelte, schlug sein Herz ein wenig schneller. Ganz entgegen dem Ruf, der Seeleute
im Allgemeinen anhaftete, war Ollie nie ein großer Schürzenjäger gewesen. Aber er hätte schon
blind sein müssen, um nicht zu bemerken, wie gut Lara Mallory aussah. Die Männer drehten sich
nach ihr um. Und in Eden Pass stand ihr Name für »Verführerin«.
Ehrlich gesagt hatte er sie nie so gesehen. Sie war freundlich, aber nie anzüglich. Vielleicht war
er einfach auch nicht ihr Typ, aber jemand, der es darauf anlegte, flirtete doch so ziemlich mit
jedem Exemplar des anderen Geschlechts, oder nicht? Wie Heathers Mutter zum Beispiel. Diese
Frau war wirklich eine Schlampe. Er betete zum Himmel, dass Heather in dieser Hinsicht nicht
nach ihrer Mutter geriet. Tanner war ein guter Junge, aber bei einem Mädchen wie Heather
musste man nicht erst noch groß ermutigt werden, etwas zu tun, das man hinterher bereuen
könnte.
»Lassen Sie es mich wissen, wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, Dr. Mallory.«
»Danke, Mr. Hoskins. Das werde ich.«
Betrübt sah er, dass er die Katastrophe nicht verhindern konnte. Er trat zur Seite und gab ihr den
Gang frei, überlegte noch kurz, ob er sie warnen sollte, dass Jody Tackett nebenan lauerte. Er
hoffte, dass die Ärztin keinen Kaffee oder Tee brauchte. Schicksalsergeben sah er zu, wie sie ihren
Wagen in Richtung Gang vier schob. Er blieb am Ausgang stehen und tat, als würde er die
Waren im Regal zurechtrücken. Er hoffte nur, dass er nicht auch noch Schiedsrichter bei einem
Katzenkampf spielen musste.
Die quietschenden Räder von Lara Mallorys Wagen kamen zum Halt. Erst war es einen
Moment still, dann hörte er sie sagen: »Guten Morgen.«
Janellen antwortete mit ihrer schüchternen piepsigen Stimme: »Guten Morgen, Dr. Mallory.«
»Freut mich zu sehen, dass es Ihnen bessergeht, Mrs. Tackett.« Lara Mallory ließ Jody Tackett
ausreichend Zeit für eine Entgegnung. Als sie nichts sagte, fuhr sie fort: »Ich habe mehrmals bei
Ihnen angerufen und hoffte, mit Ihnen sprechen zu können.«
»Wir haben uns nichts zu sagen.« Nur Jody Tackett schaffte es, so viel Verachtung in einen so
simplen Satz zu legen. »Komm jetzt, Janellen.«
»Entschuldigen Sie, Mrs. Tackett, aber ich bin der Meinung, wir haben uns eine ganze Menge
zu sagen. Ich würde sehr gern einmal mit Ihnen über Clark reden.«
»Dazu müssen Sie mich schon in der Hölle treffen!«
»Mama!«
»Still, Janellen. Komm endlich.«
»Bitte, Mrs. Tackett. Mrs. Tackett? Mrs. Tackett!«
Dem ersten Ausruf unterlag ein gewisses Flehen, der zweite war eine Frage und der dritte ein
Entsetzensschrei.
»Mama!«
Ollie Hoskins rannte bei seinem Sprint durch Gang vier einen Stapel Butterkekse um und sah
gerade noch, wie Jody Tackett seitwärts gegen den Einkaufswagen sackte. Sie streckte die Arme
aus, die Handflächen nach unten, als versuchte sie, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Dann
rollte der Wagen nach vorn, sie hatte keine Stütze mehr und fiel in das Regal mit dem Kaffee und
Tee. Mehrere Gläser zerbrachen. Jody war rückwärts in das Regal gestürzt und sank zu Boden.
Sie blieb zwischen Glasscherben und Kaffeepulver liegen.
Janellen sank auf die Knie. »Mama! Mama!« Lara Mallory vergeudete keine Sekunde. Noch ehe
Ollie blinzeln konnte, hockte sie neben Jody. »Rufen Sie einen Krankenwagen!«, rief sie ihm über
die Schulter zu.
Ollie, ganz in Militärmanier, gab den Befehl an einen seiner Untergebenen weiter, eine
Kassiererin, die gerade das Zigarettenregal vor ihrer Kasse auffüllte. Sie machte kehrt und lief zum
Telefon im Büro. Der Gang füllte sich langsam mit Kunden, die von Janellens entsetzten Schreien
angelockt wurden. Sie ließen ihre Wagen einfach stehen und kamen aus allen Richtungen des
Supermarktes angelaufen. Ollie sorgte dafür, dass sie zurückblieben, damit die Ärztin ausreichend
Platz hatte, sich um Jody Tackett zu kümmern.
»Halten Sie ihr die Arme fest. Sie könnte sich sonst etwas brechen.«
Janellen versuchte, Jodys wild um sich schlagende Arme zu greifen, die an die Regale stießen.
Auch wenn sie sich nichts brechen sollte, sie würde sich auf jeden Fall schlimme Prellungen
zuziehen.
Dr. Mallory suchte in ihrer Handtasche und holte einen Schlüsselanhänger aus durchsichtigem
Acryl in der Form eines großen Schlüssels hervor. Den stieß sie Jody in den Mund und drückte
damit ihre Zunge herunter.
»Es ist okay, alles okay«, sagte sie zu Janellen. »Ihre Atemwege sind wieder frei. Ich drücke ihr
die Zunge runter. Sie kriegt wieder Luft.«
»Aber sie läuft ganz blau an!«
»Sie bekommt wieder Sauerstoff. Halten Sie ihr weiter die Arme fest. Mr. Hoskins, haben Sie
den Krankenwagen gerufen?«
»Ja, Ma’am«, antwortete Ollie zackig. Er wandte sich zu der Kassiererin um, die ihm bestätigend
zunickte. »Kann ich sonst noch etwas tun?«
»Ja, suchen Sie meinen Bruder«, sagte Janellen. »Holen Sie ihn her.«
Jody lief Speichel aus den Mundwinkeln. Ihre Beine zuckten noch. Janellen musste ihre ganze
Kraft aufwenden, um ihre Arme herunterzudrücken. Dr. Mallory drückte Jodys Zunge mit dem
Schlüsselring herunter, trotzdem röchelte sie stark. Ollie hatte für Jody Tackett zwar nichts übrig,
doch er fand, dass auch sie eine Privatsphäre verdiente.
»Okay, Leute, verlassen Sie jetzt bitte diesen Gang.«
Natürlich rührte sich keiner. Ollie bahnte sich einen Weg durch die wachsende Menge und lief
zu seinem erhöhten Büro im vorderen Teil des Supermarktes.
Er wusste, dass Key Tackett Pilot war, und rief zunächst beim Landeplatz an. Key war nicht da,
aber Balky Willis gab ihm die Nummer von Keys Funktelefon. »Er ist vor ’ner Viertelstunde hier
weg.«
Zwanzig Sekunden später antwortete Key mit einem fröhlichen »Ja, hier Zuhälter-Mobil!«.
»Mr. Tackett?«, fragte Ollie verunsichert. Er selbst war mit Key noch nie aneinandergeraten,
aber er hatte von den Unglücklichen gehört, bei denen das anders war. Selbst seine Schwäger,
wilde Burschen, die sich von nichts so leicht einschüchtern ließen, sprachen Key Tacketts Namen
mit Respekt aus. »Hier spricht Ollie Hoskins vom Fahr und Spar, ich … «
»Hallo, Ollie. Hab mir vorgestern den rot-schwarzen Haufen angesehen. Tanner wird der Liga
diese Saison ganz schön einheizen!«
»Ja, danke, Mr. Tackett. Ihre Mutter ist gerade zusammengebrochen, hier … «
»Zusammengebrochen?«
»Ja, Sir. Ihre Schwester und … «
»Wie geht es ihr?«
»Nicht so gut, Sir. Wir haben einen Krankenwagen gerufen.«
»Ich komme.«
Ollie legte auf und lief zurück zu Gang vier. Schaulustige an beiden Enden versperrten den
Zugang. »Entschuldigen Sie, lassen Sie mich bitte durch.« Zufrieden bemerkte er, dass er noch
immer so viel militärische Autorität verströmte, dass die Leute ihm gehorchten. »Und jetzt treten
Sie bitte alle zurück«, ordnete er mit neugewonnenem Selbstvertrauen an. Er stellte sich direkt
vor Lara Mallory.
»Hat sie einen Schlaganfall?«, fragte Janellen die Ärztin ängstlich.
»Vielleicht, einen leichten. Das werden die Tests zeigen. Hatte sie so etwas schon einmal zuvor?«
»Nein.«
Dr. Mallory beugte sich tief über die alte Frau. »Mrs. Tackett, der Krankenwagen ist unterwegs.
Sie brauchen keine Angst mehr zu haben.«
Jody hatte aufgehört, nach Luft zu ringen. Ihre Gliedmaßen hatten sich entspannt und lagen nun
schwer da. Sie verdrehte die Augen von einer Seite zur anderen, als versuchte sie, sich zu
orientieren. Lara zog ihr langsam den Schlüsselring aus dem Mund. Auf dem Plastik waren tiefe
Zahnabdrücke zu erkennen, was auch erklärte, warum Lara ihr nicht mit den Fingern die
Atemwege frei gemacht hatte. Sie wischte Jody mit einem Kleenex aus ihrer eigenen Handtasche
die Spucke vom Kinn ab.
»Sie hatten einen Krampf, aber es ist vorbei.«
»Mama, geht es dir gut?« Janellen drückte ihre Hand.
»Lasst mich durch. Was steht ihr alle herum und gafft? Habt ihr nichts Besseres zu tun? Haut
endlich ab!«
Key stampfte durch die Zuschauermenge. Sie machten ihm Platz.
Ollie trat vor. »So schnell, wie Sie hier sind, müssen Sie in der Nähe gewesen sein.«
»Danke für den Anruf, Ollie. Schaffen Sie die Leute hier weg, können Sie das für mich tun?«
»Ja, Sir.« Ollie hätte beinahe salutiert. Key Tackett hatte diese Wirkung auf Menschen. »Okay,
Leute, ihr habt Mr. Tackett gehört. Räumt den Gang.«
»Key! Gott sei Dank!«, rief Janellen. »Mama hatte einen Anfall!«
»Jody?«
»Sie soll mich nicht anfassen.«
Er kniete neben seiner Mutter nieder, aber sein durchdringender Blick ruhte auf Lara. »Was ist
mit ihr?«
»Wie Ihre Schwester gesagt hat – Ihre Mutter hatte einen Schlaganfall. Ernst zu nehmen und
beängstigend, aber nicht lebensgefährlich.«
Key beugte sich über seine Mutter. »Sie haben eine Ambulanz für dich gerufen, Jody«, sagte er
zu ihr in tiefem beruhigendem Ton. »Sie wird bald da sein. Halt durch.«
»Sie soll weggehen. Soll mich nicht anfassen.«
»Dr. Mallory hat dir das Leben gerettet, Mama«, sagte Janellen behutsam.
Jody versuchte, sich aufzusetzen, schaffte es aber nicht. Sie richtete einen mörderischen Blick auf
Dr. Mallory. Auch wenn sie ihre Feindseligkeit nicht artikulieren konnte, sie war
unmissverständlich.
Key machte eine nickende Geste mit dem Kopf. »Gehen Sie, Doc. Sie will Sie nicht hierhaben.
Sie machen alles nur schlimmer.«
Janellen meinte: »Key, wenn Dr. Mallory nicht …«
»Aber …«, sagte die Ärztin.
»Haben Sie nicht verstanden?«, rief er. »Lassen Sie sie in Ruhe!«
Sie starrten sich lange in die Augen, so kam es Ollie jedenfalls vor, und es schien sich mehr
dahinter zu verbergen. Schließlich erhob sich Dr. Mallory. Sie war sichtlich erschüttert, und ihre
Stimme klang gebrochen, als sie sagte: »Ihre Mutter ist ernsthaft krank und braucht dringend
ärztliche Fürsorge.«
»Nicht von Ihnen.«
Obwohl er gar nichts damit zu tun hatte, zuckte Ollie innerlich unter Tacketts bösem Blick und
seinem eiskalten Ton zusammen.
»Vielen Dank, Dr. Mallory«, sagte Janellen leise. »Wir kümmern uns darum, dass Mama in
Behandlung kommt.«
Laras Dienste waren blank weg abgelehnt worden. Sie wandte den Tacketts den Rücken zu und
ging den Gang hinunter, auf die Schaulustigen zu. Die Menge teilte sich für sie, genau wie zuvor
bei Key. Sie ließ ihren Einkaufswagen stehen und ging direkt zum Ausgang.
Ollie sah ihr nach. Sein Respekt für sie wuchs. Sie hatte Klasse. Sie war den Zuschauern nicht
ausgewichen, sondern hocherhobenen Kopfes durch die Menge hindurchgeschritten. Sie hatte
sich weder von Tackett noch von den Schaulustigen einschüchtern lassen. Er beschloss, ihr ihren
Einkauf persönlich zu liefern, sobald die Sache hier ausgestanden war.
Draußen war eine Sirene zu hören, und wenige Sekunden später stürmten die Sanitäter in den
Supermarkt. Mrs. Tackett wurde auf einer Trage zum wartenden Krankenwagen gebracht. Als sie
losrasten, folgten Key und Janellen ihr in dem gelben Lincoln.
Noch lange nachdem der Gang vier gefegt und das Regal eingeräumt war, standen Kunden
zusammen und diskutierten über das Spektakel, das sie mit angesehen hatten, oder schilderten es
denen, die erst jetzt dazukamen und es verpasst hatten. Es wurde über Jodys Gesundheitszustand
spekuliert. Manche meinten, sie wäre zu gemein zum Sterben und würde sicher hundert werden.
Andere vermuteten, dass sie nur einen Atemzug vom Tod entfernt war. Einige dachten laut über
die Zukunft von Tackett Oil nach. Würde Jodys Tod, wann immer es so weit sein sollte, auch das
Ende von Tackett Oil bedeuten? Oder würde Key die Fliegerei aufgeben und die Firma
übernehmen? War Miss Janellen stark und clever genug, das Unternehmen zu leiten? Die
Meinungen drifteten weit auseinander.
Die schmackhafteste Neuigkeit des Tages kursierte jedoch um Dr. Lara Mallory und wie Jody
Tackett sich selbst im Angesicht des Todes noch geweigert hatte, sich von ihr helfen zu lassen.
Und für diejenigen, deren Erinnerung nachgelassen hatte, wurde Lara Mallorys Affäre mit Senator
Clark Tackett noch einmal in aller Ausführlichkeit aufgerollt.
Ollie hasste das Getratsche. Nicht, dass jemand seine Meinung interessiert hätte, aber er fand,
dass Lara Mallory das nicht verdient hatte. Oder hatte sie die bissige, giftige Jody Tackett etwa
nicht gerettet, während sie ebenso gut hätte zusehen können, wie die alte Frau an ihrer eigenen
Zunge erstickt wäre?
Als er ihr am Nachmittag den Einkauf vorbeibrachte, war sie fast zu Tränen gerührt. Sie dankte
ihm überschwänglich und bot ihm eine Erfrischung an. Möglich, dass sie einmal eine gefallene
Frau gewesen war, aber jetzt war sie – wenn man ihn fragte – eine wirkliche Dame.
»Stellt euch das vor! Da liegt die alte Jody mit Schaum vor dem Mund – heißt es – auf dem
Fußboden vom Fahr und Spar und rudert wie wild mit Armen und Beinen. Und trotzdem weigert
sich die alte Schachtel, sich von dieser Mallory helfen zu lassen.«
Die Haushälterin der Winstons hatte ein Hühnerfrikassee zum Abendessen vorbereitet. Darcy
redete mehr, als sie aß. Fergus schaufelte sich unbeirrt das Essen in den Mund. Heather fand, das
Huhn sah aus wie etwas, das schon einmal verdaut worden war, und schob die Brocken auf ihrem
Teller herum, während sie so tat, als würde sie essen. Seit sie die Pille nahm, zählte sie jede
Kalorie, und sie hatte nicht vor, mehrere Hundert davon mit diesem Matsch zu sich zu nehmen.
Abgesehen davon war es ihr auf den Magen geschlagen, mit welcher Schadenfreude ihre Mutter
den Klatsch über die Szene im Supermarkt breittrat. Darcy hatte sich im Schönheitssalon alles
haarklein erzählen lassen und gab die Details jetzt mit wahrem Enthusiasmus wieder.
»Sie hat sich in die Hose gepinkelt. Jody Tackett hat sich in die Hose gemacht. Ist das zu fassen?«
Darcy kicherte. »Interkontinent, nennt man das.«
»Es heißt ›inkontinent‹, Darcy«, korrigierte Fergus sie. »Und ich denke nicht, dass ich beim Essen
darüber sprechen möchte.«
Heather langte nach ihrem Glas Eistee. »Tanners Daddy und Dr. Mallory haben Mrs. Tackett
das Leben gerettet. Ich hätte die alte Hexe abkratzen lassen.«
Darcys Gabel schepperte auf den Teller. »Was sind das für Ausdrücke! Und deine Schwärmerei
für diese Mallory wird mir auch langsam zu bunt, Heather!«
»Ich schwärme überhaupt nicht für sie. Aber ich finde es eben dumm von Mrs. Tackett, dass sie
sich von Dr. Mallory nicht helfen lassen wollte. Ich meine, wenn man stirbt, dann ist es doch
egal, ob man den Arzt, der einem hilft, leiden kann oder nicht.«
»Nicht, wenn man Jody Tackett heißt«, bemerkte Fergus. Er hielt inne, um sich den Mund
abzutupfen. »Das Herz dieser Frau ist hart wie Granit. Ich kann dir nur recht geben, Heather. Ich
hätte sie auch ersticken lassen.«
»Natürlich, ihr zwei seid mal wieder auf derselben Seite.« Darcy schob wütend ihren Teller
beiseite.
»Auf derselben Seite?«, fragte Fergus verwirrt. »Ich wusste gar nicht, dass es dabei irgendwelche
Seiten zu beziehen gibt. Was hat das Ganze denn mit uns zu tun?«
»Nicht das Geringste«, platzte Darcy heraus, »außer dass ich nicht ganz verstehe, wieso Heather
diese Lara Mallory plötzlich zu einer verdammten Heldin macht.«
»Darf ich aufstehen?«, fragte Heather hörbar gelangweilt.
»Nein, das darfst du nicht. Du hast noch keinen Bissen gegessen.«
»Ich habe keinen Hunger. Außerdem ist das Essen fettig. Es trieft nur so vor Fett.«
»Als ich so alt war wie du, wäre ich dankbar gewesen, wenn wir ein Hausmädchen gehabt
hätten, das uns das Essen kocht.«
»Oh, bitte!« Und los geht’s, dachte Heather, und noch eine rührende Geschichte aus Mutters
schlimmer Kindheit.
»Sie braucht nichts zu essen, wenn sie keinen Hunger hat.«
»Sicher, du lässt ihr ja alles durchgehen.«
»Danke, Daddy. Tanner und ich holen uns später noch etwas.«
»Gehst du heute Abend wieder mit Tanner aus?«, fragte Fergus.
»Klar.« Heather schenkte ihm ein listiges Grinsen. »Tanner und ich gehen jetzt offiziell
zusammen.«
»Ihr geht zusammen?«
»Sie sind zusammen«, mischte sich Darcy ungeduldig ein und ließ dabei Heather nicht aus den
Augen. »Ich kann nicht behaupten, dass ich begeistert davon wäre.«
Heather hielt dem Blick ihrer Mutter stand und nahm noch einen Schluck Tee. Sicher, der
Punkt mit der Pille war an Darcy gegangen, aber Heather zahlte es ihr heim. Sie ließ keine
Gelegenheit aus, ihre Mutter daran zu erinnern, dass sie jetzt jederzeit Sex mit Tanner haben
konnte.
Darcy konnte nichts darauf sagen, insbesondere nicht vor Fergus. Er wusste noch immer nichts
von dem Verhütungsmittel und wenn, würde er Darcy die Hölle heißmachen, weil sie diejenige
gewesen war, die Heather zu diesem Schritt aufgefordert hatte. Er ging immer noch der vagen
Hoffnung nach, dass Moralempfinden die beste Verhütung für vorehelichen Sex war.
Heather genoss es, ihre Mutter so unsicher zu sehen. Darcy verriet durch Seitenblicke und
Andeutungen ihre Vermutung, dass Heather jetzt sexuell aktiv war. Aber Heather hatte Tanner
noch immer nicht alles erlaubt, und somit hatte sie tatsächlich keine Veranlassung, die elterliche
Zurechtweisung zu fürchten.
Der Grund, weshalb sie sich noch immer zurückhielt, war derselbe wie immer. Sie wollte nicht
zum Abbild ihrer Mutter werden.
Tanner verhielt sich sehr lieb, was ihre Abstinenz anging. Seit dem Abend am See, als ihm der
kleine Unfall passiert war, war er zärtlich und geduldig, nahm dankbar die Krümel, mit denen sie
ihn speiste, an und verlangte nicht nach mehr.
Heather war noch immer Fergus’ kleiner Engel, und wenn sie mit ihm zusammen war, tat sie
alles, um diesem Bild zu entsprechen. Ihre Beziehung zu ihrer Mutter hatte sich allerdings
verschlechtert. Sie waren Feinde, zwei Frauen in einem stillen Krieg. Die zuvor nur angedeuteten
Fronten waren jetzt klar gezogen.
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass du Lara Mallory zu deinem Idol gemacht hast, Heather«,
merkte Fergus an, während er sich Zucker in den Kaffee rührte. »Ich wusste nicht einmal, dass du
sie kennst.«
»Mutter hat mich zu ihr mitgenommen. Hat sie dir das nicht erzählt?«
»Zum Durchchecken«, sagte Darcy eilig. »Sie brauchte ein Gesundheitszeugnis für die
Cheerleader. Wir hätten einen Monat warten müssen, wenn wir zu einem anderen Arzt gegangen
wären. Außerdem wäre es ziemlich albern, Dr. Mallory zu verdammen, nur weil sie früher mal
was mit Clark Tackett hatte. Wen interessiert’s? Es ist schließlich schon Jahre her. Und außerdem
zählt Jody Tackett sowieso nicht zu deinen Freunden, richtig?«
»Ich muss schon sagen, diese Dr. Mallory hat eine Menge Mut bewiesen, dass sie ausgerechnet
nach Eden Pass gezogen ist. Scheint, die schießt direkt aus der Hüfte. Mir gefällt das.«
»Wann hast du denn mit ihr gesprochen?«, fragte Darcy.
»Gestern. Sie hat mich angerufen und um einen Termin beim Schulvorstand gebeten. Sie will
mit den Kindern über Verantwortungsbewusstsein in der Sexualität sprechen. Die Idee ist für
Eden Pass vielleicht ein wenig zu fortschrittlich, aber ich habe ihr gesagt, wir werden uns ihre
Vorschläge nächste Woche anhören.«
Darcy musterte ihn eine Weile, ohne etwas zu entgegnen. »Du hast schon ganz recht gehabt,
Fergus. Die hat wirklich Nerven. Man hat sie beim Fremdgehen erwischt! Ist das etwa
verantwortungsbewusst?«
»Sie hat betont, es hätte nichts mit dem moralischen Aspekt der Sache zu tun. Sie will die
Kinder lediglich über die Gesundheitsrisiken informieren.«
»Ich denke nicht, dass die Gläubigen in unserer Gemeinde damit einverstanden wären. Und sei
bloß nicht so sicher, dass Moral dabei kein Thema spielt. Unmoralisch, das ist sie nämlich. Sie hat
Heather gesagt, es wäre ratsam, wenn sie immer ein Kondom bei der Hand hätte.«
»Das hat sie gar nicht gesagt!«, protestierte Heather.
»Aber so was Ähnliches«, schnappte Darcy. »Ehe wir uns versehen, packen unsere Kinder
Kondome in die Brotbeutel und leisten sich eben mal einen Quickie in der kleinen Pause.«
»Darcy, ich bitte dich!«, schnaubte Fergus. »Du solltest solche Ausdrücke nicht vor deiner
Tochter benutzen!«
»Mach doch endlich die Augen auf, Fergus! Kinder sind doch heutzutage schlauer als wir! Und
wenn Lara Mallory ihnen auch noch grünes Licht gibt, werden die rammeln wie die Kaninchen.«
Fergus zuckte zusammen. »Sie will die Kinder nicht zum Sex ermutigen, sie will sie vor den
möglichen Konsequenzen warnen!«
»Gütiger Gott! Die muss dir ja wirklich Honig um den Bart geschmiert haben. Was die will, sind
Teenager, die schwanger werden, damit ihr Geschäft endlich angekurbelt wird.«
»Mutter! Das ist doch lächerlich!«
»Halt den Mund, Heather! Ich rede mit deinem Vater!«
»Aber du verdrehst das, was Dr. Mallory gesagt hat, völlig. Das ist unfair!«
»Das ist eine Unterhaltung zwischen Erwachsenen, und ich habe dich nicht um deine Meinung
gebeten.«
In diesem Augenblick hasste Heather ihre Mutter und hätte sie am liebsten als die Heuchlerin
bloßgestellt, die sie war. Doch die Liebe zu ihrem Vater garantierte ihr Verschwiegenheit, was
Darcy wusste und ausnutzte. Jetzt war sie an der Reihe, selbstgefällig zu grinsen. Heather rückte
ihren Stuhl zurück und floh aus dem Esszimmer.
Sie hörte noch, wie ihre Mutter sagte: »Mach ruhig, Fergus, gib ihr einen Termin beim
Vorstand. Ich werde es genießen, mich zurückzulehnen und zuzuschauen, wie die Fetzen
fliegen.«
»Ich dachte, ich … Ach, ich hätte wahrscheinlich doch besser nicht kommen sollen.« Janellen kam
sich völlig idiotisch vor, als sie tatsächlich auf der beleuchteten Veranda vor Lara Mallorys Praxis
stand. Sie wäre nicht weiter verwundert gewesen, wenn ihr die Ärztin die Tür vor der Nase
zugeschlagen hätte. Sie hätte es ihr nicht mal übelnehmen können.
»Ich freue mich, dass Sie gekommen sind, Miss Tackett. Treten Sie doch ein.«
Janellen betrat den dämmerigen Raum und blickte sich um. »Es ist schon spät. Ich sollte Sie um
diese Uhrzeit nicht mehr stören.«
»Sie stören nicht. Wie geht es Ihrer Mutter?«
»Nicht so gut. Das ist auch der Grund für mein Kommen.«
Lara bedeutete ihrem Besuch, ihr den Flur entlang in den Wohnbereich zu folgen.
»Ich wollte mir gerade ein Glas Wein genehmigen. Mögen Sie auch eins?«
Sie betraten ein gemütliches Arbeitszimmer, in dem überall Zeitschriften auf Beistelltischen
verstreut lagen und Duftkerzen brannten. Der Fernseher war auf einen Kabelkanal eingestellt, der
nur Filmklassiker brachte. Es lief gerade ein Schwarzweißstreifen.
»Ich liebe alte Filme«, sagte Lara mit einem entschuldigenden Lächeln. »Vielleicht, weil es immer
ein Happy End gibt.« Sie schaltete das Gerät per Fernbedienung aus. »Ich habe leider nur einen
Chablis da. Ist das recht?«
»Ich würde lieber etwas ohne Alkohol nehmen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Cola light?«
»Sehr gern.«
Janellen blieb wie angewurzelt auf dem Teppich in der Mitte des Zimmers stehen, während Lara
aus der Küche die Getränke holte. Sie war in die Höhle des Löwen vorgedrungen, aber irgendwie
war es eine ziemlich behagliche Höhle. Zwei Wände des Raumes wurden von Bücherregalen
eingenommen. Der Großteil der Lektüre war medizinbezogen, aber es gab auch einige Romane.
Über dem Kamin, wo einst das Geweih eines Zehnenders geprangt hatte, hing jetzt ein Druck
von Andrew Wyeth. Auf dem Beistelltisch am Sofa stand eine silbergerahmte Fotografie eines
kleinen Mädchens.
»Meine Tochter.«
Janellen zuckte bei dem Klang von Laras Stimme zusammen. Sie kam mit einem Glas
eisgekühltem Soda in der Hand auf sie zu. »Ihr Name war Ashley. Sie kam in Montesangrines
ums Leben.«
»Ja, ich weiß. Es tut mir leid. Sie war ein wirklich hübsches Kind.«
Lara nickte. »Mir sind nur zwei Fotografien von ihr geblieben. Diese hier, und dann habe ich
noch eine drüben in meinem Büro. Und dieses Foto habe ich auch nur, weil ich es von meinen
Eltern zurückgefordert habe. Unsere persönliche Habe ist in Montesangrines geblieben. Ich
wünschte, ich hätte irgendetwas, was Ashley gehört hat. Ihren Beißring, den Teddy, ihr
Taufkleidchen. Irgendetwas.« Sie schüttelte den Kopf. »Nehmen Sie doch Platz, Miss Tackett.«
Janellen ließ sich behutsam auf dem Sofa nieder. Lara setzte sich in den Sessel gegenüber, aus
dem sie offensichtlich vorhin durch das Türläuten aufgescheucht worden war. Auf dem
Fußhocker vor dem Sessel lag eine gehäkelte Afghanendecke, und auf dem Couchtisch stand ein
Glas Weißwein.
»Befindet sich Ihre Mutter jetzt im Krankenhaus?«
Janellen schüttelte den Kopf.
»Nein?« Offensichtlich war das nicht die Antwort, die sie erwartet hatte. »Ich hatte
angenommen, dass man sie in ihrem Zustand zumindest über Nacht dabehält.«
»Sie gehört auch in ein Krankenhaus.« Janellen war den Tränen nah. Sie nahm die
Cocktailserviette, die um die Cola gewickelt war. »Ich bin hier, weil ich … weil ich wissen
wollte, wie Sie darüber denken. Sie waren schließlich dabei, als Mama den Anfall hatte. Ich
würde gern Ihre Meinung hören.«
»Ganz im Gegensatz zu Ihrer Mutter.«
»Ach, Dr. Mallory, es tut mir leid, wie sie sich heute Ihnen gegenüber benommen hat«,
beteuerte Janellen aufrichtig. »Und wenn Sie möchten, dass ich gehe, kann ich das verstehen.«
»Wieso sollte ich? Sie sind doch nicht dafür verantwortlich, was Ihre Mutter denkt – und sagt.«
»Dann sagen Sie mir bitte aufrichtig, was Sie meinen.«
»Es wäre nicht vertretbar, mich über die Diagnose eines Kollegen hinwegzusetzen und einen
Rat zu geben, wenn ich die Patientin noch nicht einmal untersucht habe.«
»Bitte. Ich muss mit jemandem darüber sprechen, und ich habe sonst niemanden.«
»Was ist mit Ihrem Bruder?«
»Der ist noch ganz durcheinander.«
»Sie doch aber auch.«
»Schon, aber wenn Key durcheinander oder wütend ist, dann …« Sie senkte den Blick auf das
Glas in ihrer Hand. »Ich will es mal so sagen: Er ist momentan nicht ansprechbar. Bitte, Dr.
Mallory, sagen Sie mir, wie Ihre Diagnose lautet.«
»Nur anhand dessen urteilend, was ich heute gesehen habe?«
Janellen nickte.
»Unter der Berücksichtigung, dass ich mich irren könnte?«
Wieder ein Nicken.
Lara nippte an ihrem Wein. Den Blick auf das Porträt ihrer Tochter geheftet, holte sie tief Luft,
atmete dann langsam aus und wandte sich wieder Janellen zu. »Was hat man mit Ihrer Mutter im
Krankenhaus gemacht?«
»Sie ist in der Notaufnahme untersucht worden, hat sich aber geweigert dazubleiben.«
»Das war sehr töricht von ihr. Haben Sie einen Befund bekommen?«
»Der Arzt hat gesagt, es war ein leichter Schlaganfall.«
»Das denke ich auch. Ist ein Blutbild erstellt worden?«
»Ja. Sie haben ihr ein Medikament gegeben, das das Blut verdünnen soll. Wäre das auch Ihre
Empfehlung gewesen?«
»Ja, aber ich hätte bestimmt weitere Tests angeordnet und sie zur Beobachtung dabehalten. Ist
ein EKG gemacht worden?«
»Dieses Herzding?« Lara nickte. »Nein, sie hatten es vor, aber Mutter wollte nicht so lange
dableiben.«
»Hat man ein Gehirnscan durchgeführt?«
»Ja, aber erst nachdem Key ihr angedroht hatte, er würde sie persönlich fesseln, falls sie sich
weigert. Die Ärzte haben gemeint, sie hätten keine zerebralen Verletzungen erkennen können.«
Sie bemühte sich, alles exakt wiederzugeben. »Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet.«
»Das bedeutet, dass Ihre Mutter keine größere Ansammlung abgestorbenen Gehirngewebes
infolge mangelnder Durchblutung erlitten hat. Ein positives Zeichen. Das heißt allerdings nicht,
dass die Blutzufuhr zu ihrem Gehirn nicht gestört, wenn nicht sogar unterbrochen wurde. Haben
die Ärzte etwas von einem Wellentest an der Arteria carotis erwähnt? Es nennt sich auch
Doppler-Sonographie.«
»Ich bin mir nicht sicher.« Janellen massierte sich die Schläfen. »Der Arzt hat so schnell
gesprochen, und Mama hat sich in einem fort beschwert, und …«
»Diese Untersuchung dient dazu, Verstopfungen in der Arterie zu erkennen. Sollte es eine
Blockade geben und sie wird nicht beseitigt, besteht ein erhebliches Infarktrisiko, mit der Gefahr
einer dauerhaften Schädigung oder sogar des Todes.«
»Ja, so ungefähr haben die sich auch ausgedrückt«, sagte Janellen mit belegter Stimme.
»Keine Angiographie, um festzustellen, wo die Blockade sitzen könnte?«
»Auch das wollte Mama nicht. Sie hat sich mit Händen und Füßen gewehrt und gezetert, ihr sei
lediglich etwas schwindlig geworden, mehr nicht. Sie wollte nach Hause und sich ausruhen.«
»Hat die Beeinträchtigung ihres Sprachvermögens noch lange angehalten?«
»Nein, als wir wieder zu Hause waren, hätte man denken können, es sei überhaupt nichts
passiert.«
»Dieser rasche Erholungsprozess lässt Patienten häufig annehmen, ihnen wäre tatsächlich nur
schwindlig geworden.«
Lara beugte sich im Sessel vor. »Vergisst Ihre Mutter in letzter Zeit häufiger etwas? Wird ihr
manchmal schwummerig vor Augen?«
Janellen berichtete der Ärztin, was sie Key schon vor einigen Wochen erzählt hatte. »Natürlich
würde sie es nie zugeben, aber diese Zustände treten immer häufiger auf. Ich habe auf sie
eingeredet, endlich zum Arzt zu gehen, aber sie weigert sich. Ich glaube, sie hat Angst vor dem,
was sie erfahren könnte.«
»Ich kann nichts Sicheres sagen, ohne sie untersucht zu haben«, wandte Lara ein, »aber ich
glaube, dass sie unter etwas leidet, das wir TIAs nennen, transistorische ischämische Attacken.
›Ischämisch‹ bedeutet mangelnde Durchblutung.«
»So weit kann ich Ihnen folgen.«
»Wenn so eine Attacke passiert, wird die Blutzufuhr zum Hirn unterbrochen. Es ist wie ein
elektrischer Kurzschluss. Der betroffene Teil des Gehirns wird ausgeschaltet. Die Demenzen, die
Sie beschrieben haben – verschwommenes Sehvermögen, undeutliche Aussprache,
Schwindelanfälle –, sind alles Symptome, Warnsignale. Wenn sie unbeachtet bleiben, kann es bei
dem Patienten zu einem schweren Schlaganfall kommen. Das, was heute geschehen ist, war
wahrscheinlich die bislang deutlichste Warnung. Hat sie etwas von einem Taubheitsgefühl in
ihren Gliedmaßen erwähnt?«
»Nein, aber das würde sie auch nie tun.«
»Leidet sie unter zu hohem Blutdruck?«
»Ja, stark. Dagegen nimmt sie etwas ein.«
»Raucht sie?«
»Drei Päckchen am Tag.«
»Sie sollte sofort damit aufhören.«
Janellen lächelte schwach. »Das wird in einer Million Jahren nicht passieren.«
»Drängen Sie sie, regelmäßig zu essen und auf den Cholesterinspiegel zu achten. Sie sollte auch
leichte gymnastische Übungen machen. Sorgen Sie dafür, dass sie ihre Medikamente einnimmt.
Das alles zusammen könnte helfen, einen lebensbedrohlichen Anfall zu verhindern, aber es ist
keine Garantie.«
»Es gibt keine Heilung?«
»Bei einigen Patienten kann die Arterienverstopfung chirurgisch behoben werden. Mittlerweile
ist das zu einem Routineeingriff geworden. Aber leider kann die Operation ohne eine eingehende
Untersuchung und die volle Kooperation Ihrer Mutter nicht durchgeführt werden.« Sie spürte,
wie verzweifelt Janellen war, und beugte sich vor, um ihre Hand zu nehmen. »Es tut mir leid.
Denken Sie daran, dass ich mich vielleicht irre.«
»Das glaube ich nicht, Dr. Mallory, Sie haben in etwa dasselbe gesagt, was auch der Doktor in
der Notaufnahme gemeint hat. Danke, dass Sie mit mir darüber gesprochen haben. Und danke für
die Cola.« Sie hatte nicht einmal an dem Getränk genippt.
»Ich glaube nicht, dass wir unter den gegebenen Umständen Freundinnen werden, aber ich
wünsche mir trotzdem, dass wir miteinander auskommen könnten. Bitte, sagen Sie doch Lara.«
Janellen lächelte, sagte aber nichts. Als sie bei der Tür ankamen, merkten beide überrascht, dass
es regnete. Es war so viel leichter, über etwas Banales wie das Wetter zu reden. Schließlich
schüttelte Janellen der Ärztin die Hand.
»Sie hätten allen Grund gehabt, mich nicht hereinzubitten. Danke nochmals.«
»Danke, dass Sie Wert auf meine Meinung gelegt haben. Und ich hoffe, dass es nicht um so
etwas Ernstes geht, wenn Sie mich das nächste Mal besuchen.«
»Wie meinen Sie das? Sie möchten, dass ich wiederkomme?«
»Natürlich! Sie sind jederzeit willkommen.«
»Sie sind wirklich nett, Dr. … Lara. Ich kann verstehen, warum mein Bruder Sie so mochte.«
Lara schüttelte ihre Mähne zurück, sah in den verregneten Himmel hinauf und lachte bitter. »O
nein, da täuschen Sie sich. Key kann mich nicht ausstehen.«
Janellen war baff. »Key?«, fragte sie. »Ich meinte eigentlich Clark.«
Kapitel 16
Bowie schlug den Kragen seiner Jeansjacke hoch und drückte sich enger an die Hauswand. Der
Dachvorsprung bot nur leidlich Schutz vor dem prasselnden Regen. Er wurde klatschnass.
Er konnte beim besten Willen nicht sagen, was er bei diesem Regen – dazu mitten in der Nacht
– hier draußen bei den Tacketts zu suchen hatte. Eigentlich sollte er jetzt gemütlich vor seinem
Secondhandfernseher liegen. Der gemietete Wohnwagen war zwar keine Luxusunterkunft, aber
wenigstens war man dort im Trockenen.
Wie das Wetter auch sein mochte, er hatte hier einfach nichts verloren. Jody Tacketts
Gesundheitszustand ging allein die Familie etwas an. Sie wollte ganz sicher nicht, dass sich ein
Außenstehender einmischte. Doch all diese Überlegungen hatten ihn von seinem Entschluss
herzukommen nicht abhalten können. Als er eintraf, fiel ihm sofort auf, dass weder Keys Lincoln
noch Janellens Wagen vor dem Haus stand. Er stellte den Firmenlaster außer Sichtweite hinter der
separaten Garage ab. In der Einfahrt parkte lediglich der Wagen der Haushälterin.
Er sah keine Veranlassung, sich bei ihr zu melden. Was sollte er auch sagen? Angenommen, er
würde es mit der Wahrheit versuchen und ihr sagen, dass er sich Sorgen um Miss Janellen machte
und gern gewusst hätte, wie es ihr nach dem Kollaps ihrer Mutter im Supermarkt ging, dann
würde sie ihm sicher entgegnen, dass ihn das nichts anginge. Sie würde ihn von der Veranda
scheuchen und die Polizei rufen.
Deshalb kauerte er lieber im Dunkeln und knöcheltief in Regenwasser. Er konnte seine
Anwesenheit nicht einmal sich selbst erklären. Er spürte einfach nur, dass er hier sein musste. Und
er würde hier ausharren, komme, was da wolle, bis er mit eigenen Augen sah, dass es Miss
Janellen gutging.
Seit dem Kuss und ihrem verblüffenden Liebesgeständnis hatte er sie nicht mehr zu Gesicht
bekommen. Natürlich hatte er es nicht ernst genommen. Sie musste irgendwie den Verstand
verloren haben – zu viel Sonne oder vielleicht irgendein Medikament, das sie ein bisschen
durcheinandergebracht hatte. Wahrscheinlich würde sie sich am liebsten die Zunge rausschneiden,
wenn sie jetzt daran dachte.
Weil er selbst nur zu gut wusste, wie es war, wenn man etwas gesagt hatte, das man später
bereute, war er ihr eine Weile aus dem Weg gegangen, um ihr die Peinlichkeit zu ersparen, ihm
gegenüberzutreten und sich eine Entschuldigung ausdenken zu müssen. Bestimmt war auch sie
ihm ausgewichen.
Aber sie konnten sich schließlich nicht auf ewig aus dem Weg gehen. Früher oder später
würden sie aufeinandertreffen, also warum nicht heute Nacht, während sie ganz andere Sorgen
hatte? Er konnte nichts am Gesundheitszustand ihrer Mutter ändern, aber er könnte ihr
wenigstens eine kleine Last abnehmen. Er könnte ihr sagen, dass er ihren einmaligen Aussetzer
niemals ausnutzen würde.
Scheinwerfer tauchten am Ende des Privatweges auf. Als Bowie sah, wie der Wagen von der
Landstraße abbog, krampfte sich automatisch sein Magen zusammen. Er drückte sich noch enger
an die Wand, weil er auf keinen Fall entdeckt werden wollte, bis er sicher war, dass es Janellen
war. Man erzählte sich, dass Key eine geladene Beretta unter dem Fahrersitz aufbewahrte.
Vielleicht war es nur ein Gerücht, aber Bowie hatte keine Lust, es am eigenen Leib erfahren zu
müssen. Wenn Key einen vermeintlichen Spanner sah, konnte es durchaus sein, dass er erst schoss
und dann Fragen stellte.
Die vom Regen verzerrten Scheinwerferkegel kamen langsam näher. Bowie erkannte Janellens
Wagen. Sie parkte in der Auffahrt, stieg aus und lief durch den Regen zur Hintertür. Die
Fliegentür quietschte, als sie sie aufzog. Sie hatte bereits den Schlüssel im Schloss, als er leise ihren
Namen rief.
Erschrocken fuhr sie herum. Der Regen fiel ihr ins blasse Gesicht, als sie in die Dunkelheit
blinzelte. »Bowie! Was zum Teufel machen Sie hier draußen?«
»Sind Sie okay?«
»Ich bin okay, aber Sie sind ja völlig durchnässt. Wie lange stehen Sie denn schon hier draußen?
Kommen Sie ins Haus.«
»Nein, ich fahre lieber heim.« Er wusste, dass er ein erbärmliches Bild abgeben musste, wie er so
dastand, von den Knien abwärts nass und mit der triefenden Hutkrempe. »Ich wollte mich nur
vergewissern, dass es Ihnen gutgeht. Wegen dem, was heute Morgen passiert ist. Im Laden erzählt
man sich, dass es Mrs. Tackett nicht so gut geht.«
»Das stimmt leider.« Sie schloss auf und beharrte darauf, dass er mit ihr hereinkam. Er folgte nur
zögernd und blieb auf der Schwelle zur Küche stehen.
»Ziehen Sie die Jacke aus«, sagte sie. »Und die Stiefel. Die sind ja tropfnass.«
»Ich will Ihnen keine Umstände machen.«
»Das sind keine Umstände. Ich sehe nur mal kurz nach Mama und schicke Maydale heim, dann
mache ich uns einen Kaffee.« Sie durchquerte die im Dunkeln liegende Küche, drehte sich aber
noch einmal um, bevor sie in die Halle ging. »Und dass Sie mir inzwischen ja nicht weggehen.«
Bowies Herz schwoll derart an, dass er kaum noch atmen konnte. Sie hatte weder geschrien
noch gezittert, noch war sie weggerannt, als sie ihn gesehen hatte. Das war ein gutes Zeichen.
Und jetzt bat sie ihn, fast flehend, hierzubleiben. »Nein, Ma’am, ganz bestimmt nicht.«
Als sie fort war, zog er die nasse Jacke aus und hängte sie an einen Haken neben der Tür. Auf
einem Fuß balancierend, zog er sich die Stiefel aus und stellte sie neben ein anderes Paar, das
offensichtlich Key gehörte. Seine Socken waren ebenfalls feucht, aber er stellte erleichtert fest,
dass sie keine Löcher hatten.
Er tapste auf Zehenspitzen über das Linoleum. Er ließ das Licht gelöscht und beobachtete durch
das Fenster über der Spüle, wie der Regen vom Dachvorsprung tropfte. Mehrere Minuten waren
verstrichen, als er gedämpfte Stimmen von der Eingangstür vernahm. Dann sah er durch das
Fenster, wie Maydale, eine alberne Plastikkapuze über die toupierte Hochfrisur gestülpt und den
Pfützen ausweichend, zu ihrem Wagen lief.
Beim Klang von Janellens Schritten drehte er sich um. »Wie geht es Ihrer Mutter?«
»Sie schläft.«
»So, dann geht es ihr doch schon besser.«
»Nein, eigentlich nicht. Sie will einfach nicht auf die Ärzte hören. Sie ist zu stur, um die
Warnanzeichen – wie zum Beispiel das heute Morgen – zu erkennen. Sie glaubt einfach nicht,
dass ihr Zustand ernst ist.«
»Ich hab schon gehört, dass sie eine ziemlich sture Lady ist.«
»Das kann man wohl sagen.«
»Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie die Ärzte meinen.«
»Vielleicht.«
»Manchmal tragen sie so dick auf, um ordentlich was zu verdienen.«
Ihr schwaches Lächeln bewies, dass weder sie noch er wirklich daran glaubten. »Tja …« Sie
richtete sich auf. »Ich habe Ihnen einen Kaffee versprochen.«
»Machen Sie sich wegen mir keine Mühe.«
»Nein, nein. Ich möchte ja auch einen. Ich werde heute Nacht sowieso kein Auge zutun, da
kann ich ebenso gut auch Kaffee trinken.«
Sie ging zur Speisekammer, aber ihre Schritte wirkten so wacklig wie ihre Stimme brüchig. Sie
machte noch immer kein Licht an, wahrscheinlich weil sie nicht wollte, dass er ihre Tränen sah.
Er sah sie trotzdem.
Fast wäre ihr die Kaffeedose aus der Hand geglitten, als sie sie auf die Anrichte stellte. Einen
einzelnen Filter aus dem Halter zu ziehen schien nahezu unmöglich. Als sie es endlich geschafft
hatte, verschüttete sie das Kaffeepulver beim Einfüllen.
»O Gott, ich bin so ungeschickt.« Sie rieb die Hände aneinander und biss sich heftig auf die
Unterlippe.
Bowie kam sich völlig nutzlos vor. »Warum setzen Sie sich nicht einfach und lassen mich den
Kaffee machen, Miss Janellen?«
»Was mir wirklich helfen …« Sie brachte die Worte kaum heraus. »Was ich mir wünschen
würde …«
»Ja, Ma’am?«
Sie hob das Kinn und sah ihn flehend an. »Ich weiß nicht, ob das nicht zu viel verlangt wäre,
Bowie.«
»Sagen Sie’s.«
Sie stieß einen kleinen gequälten Laut aus, neigte den Kopf zur Seite und warf sich in seine
Arme. Er fing sie auf, schlang die Arme um sie und drückte sie an sich. Sie war so zart, dass er
Angst hatte, sie zu zerquetschen. Doch sie schmiegte vertrauensvoll die Wange an seine Schulter.
»Bowie, was soll ich nur tun, wenn Mama stirbt? Was nur?«
»Sie werden weiterleben, das werden Sie tun.«
»Aber was für eine Art Leben wird das sein?«
»Das kommt darauf an, was Sie daraus machen.«
Sie schniefte heftig. »Sie verstehen das nicht. Ich habe doch nur noch Key und Mama. Ich will
sie nicht verlieren. Wenn Mama tot ist, wird Key wieder weggehen, und dann bin ich ganz allein
hier.«
»Sie werden es auch allein schaffen, Miss Janellen.«
»Nein, das werde ich nicht.«
»Warum sagen Sie so etwas?«
»Weil … weil ich überhaupt niemand bin. Die Leute sehen mich doch nur als Teil der Familie.
Ich bin Clark juniors Tochter. Clarks und Keys kleine Schwester. Jodys Mädchen. Auch wenn
ich die ganzen letzten Jahre die Firma fast allein geführt habe, denken doch trotzdem alle, dass ich
Jodys Marionette bin. Na ja, so falsch ist das gar nicht. Jody hat mir immer gesagt, was ich tun
soll, und ich habe immer gehorcht, teilweise, weil sie einfach recht hatte, aber meistens, weil mir
das Selbstvertrauen fehlt, mich gegen sie durchzusetzen. Ich habe es nie als schlimm empfunden,
das zu tun, was sie wollte. Aber was ist, wenn sie tot ist? Wer bin ich denn schon? Wer bin ich?«
Er hielt sie von sich und schüttelte sie sanft. »Sie sind Janellen Tackett. Und das ist genug. Sie
sind viel stärker, als Sie glauben. Sie werden es allein schaffen, wenn es erst einmal so weit ist.«
»Ich habe Angst, Bowie.«
»Wovor?«
»Zu versagen, schätze ich. Die Erwartungen nicht zu erfüllen.« Sie lachte, aber es war ein
trauriges Lachen. »Oder um es direkter zu sagen: Ich habe Angst, ich könnte versagen und auf die
Nase fallen, wenn Mama nicht mehr da ist, um das Regiment zu führen.«
»Nein, das wird nicht passieren«, sagte er mit einem entschiedenen Kopfschütteln. »Sie haben
jahrelange Erfahrungen. Die Männer sind daran gewöhnt, Anordnungen von Ihnen
entgegenzunehmen. Sie sind clever. Ich habe immer gedacht, ich sei besonders schlau, aber jetzt
weiß ich, dass ich nur ein paar Weisheiten von der Straße aufgeschnappt habe – ich schwöre bei
Gott, wenn ich mit Ihnen zusammen bin, komme ich mir dämlich vor.«
»Sie sind nicht dämlich, Bowie. Sie sind intelligent. Oder wer hat denn die Diskrepanz in Quelle
sieben festgestellt?«
»Das hat sich aber als Niete herausgestellt.«
»Das wissen wir ja noch gar nicht, solange das Prüfgerät noch nicht installiert ist.«
Er hatte am Morgen das Gerät zwischen der Pumpe und dem Zähler angeschlossen. Die Daten
waren dieselben gewesen. Das Leck konnte überall sein. Um es zu lokalisieren, musste er das
Prüfgerät so oft umsetzen, bis er die Sektion eingegrenzt hatte. Das konnte ewig dauern. Er sah in
den Unterlagen nach, und voilà! – die Quelle hatte eine Leuchtleitung gehabt, die allerdings
schon vor Jahren gekappt worden war. Er kam sich wie ein Narr vor, solch einen Aufstand um
etwas zu machen, das seine Chefs für unbedeutend befanden.
Doch jetzt konnte er nur daran denken, dass Janellens Hände auf seiner Taille lagen. Schließlich
sagte er: »Das mit Ihrer Mutter tut mir leid, Miss Janellen. Ich weiß, wie sehr Sie an ihr hängen.
Ich hoffe, sie wird steinalt, damit Ihnen der Kummer erspart bleibt. Aber Sie sind auch ohne sie
wer, Sie sind nicht nur irgendjemands Tochter, Schwester … oder Frau. Sie können für sich selbst
stehen. Sie haben eine Menge auf dem Kasten – lassen Sie sich ja nichts anderes einreden.«
»Sie tun mir gut, Bowie«, flüsterte sie.
»Ach je, ich habe noch nie jemandem gutgetan …«
»Das stimmt nicht! Mir tun Sie sogar sehr gut! Sie zeigen mir, dass ich mich auf meine Stärken
und nicht auf meine Schwächen konzentrieren muss. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich kenne
meine Grenzen. Ich habe mein ganzes Leben mit ihnen verbracht. Ich weiß, dass ich intelligent
bin, aber nicht übermäßig. Ich bin nicht sonderlich selbständig, ich bin schüchtern, nicht gerade
selbstbewusst. Ich bin nicht hübsch. Nicht wie meine Brüder.«
»Nicht hübsch?« Bowie war baff, so baff, dass ihm gar nicht auffiel, seit wann er eigentlich über
sie in dieser Weise nachdachte. »Sie sind das Hübscheste, was mir je begegnet ist, Miss Janellen.«
Verwirrt und beschämt senkte sie den Blick. »Sie müssen mir keine Komplimente machen, nur
weil ich Ihnen neulich das gesagt habe.«
Er räusperte sich verlegen. »Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich Ihnen das nie vorhalten werde.«
»Nicht?«
»Nein, Ma’am.«
»Oh.« Erstaunen und Verletztheit spiegelten sich auf ihrem Gesicht. Dann hob sie das Kinn und
fragte: »Wie kommt das?«
Er verlagerte unruhig das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Ich glaube eben, Sie haben
das nicht so ernst gemeint, deshalb.«
Sie befeuchtete sich die Lippen und holte Luft. »Es war aber ernst gemeint, Bowie.«
»War es?«
»Ja, und zwar aus tiefstem Herzen. Und wenn Sie – du – mich noch einmal küssen möchtest,
dann wäre ich einverstanden.«
Das Pochen in Bowies Kopf übertönte fast das Trommeln der Regentropfen auf dem Dach. Sein
Herz schlug so rasend und heftig, dass es schmerzte. Seine Kehle war wie zugeschnürt, aber er
presste hervor: »Das möchte ich ganz, ganz sicher, Miss Janellen.«
Er nahm zärtlich ihren Kopf in beide Hände und bog ihn leicht zurück. Dann küsste er sie. Ihre
Lippen teilten sich, und diesmal brauchten sie nicht zu üben. Sie fuhren da fort, wo sie beim
letzten Mal aufgehört hatten, und trafen sich in einem Kuss, der sie ganz atemlos hinterließ.
Er drückte die Lippen auf ihren Hals, während sie ihn fest an sich presste. »Ich habe mir nie
vorstellen können, dass ich einmal so etwas fühlen könnte, Bowie.«
»Ich auch nicht. Und ich bin schon etwas länger dabei.«
Sie küssten sich wieder und wieder, jeder Kuss war intensiver und intimer. Sie küssten sich, bis
ihre Lippen geschwollen waren und sie vor Leidenschaft in Flammen standen.
Er sehnte sich danach, seine Erektion an der Spalte zwischen ihren langen Schenkeln zu reiben,
doch noch widerstand er dem Impuls. Und dann presste sie, mit einer instinktiven, fast kindlich
unschuldigen Heftigkeit ihren Körper an seinen und erreichte genau das, wovor er noch gezögert
hatte.
Der Kontakt war eine erotische Erschütterung. Die Berührung hätte selbst in einem Heiligen
animalische Triebe ausgelöst, und Bowie hatte nie behauptet, einer zu sein.
Er griff ihr unter den Rock und knetete das seidenverhüllte feste Fleisch ihrer Pobacken, einmal,
zweimal, während er seinen Schritt gegen ihren Schamhügel drückte. Es war keine berechnete
Bewegung. Er wog den Gewinn nicht gegen die Konsequenz ab. Bewusst hätte er das nie getan.
Es war schier undenkbar.
Janellens leiser Ausruf brachte ihm die Realität und ein Gefühl der Beschämung und des
Selbstekels zurück.
Er ließ sie augenblicklich los. Ohne ein weiteres Wort stürmte er mit drei Schritten aus der
Küche, schnappte sich Stiefel, Hut und Jacke und lief hinaus in den strömenden Regen.
Genau in dem Moment, als er beim Truck hinter der Garage ankam, zerriss ein gegabelter Blitz
die Dunkelheit, verband für eine Sekunde das Firmament mit der Erde; ein greller weißer
Lichtstrahl, knisternd vor Zorn, die Erde mit Ozon versengend.
Für Bowie war dies Gott, der ihn erschlagen wollte. Er hatte sein Ziel nur knapp verfehlt.
Der Donner ließ die Flaschen und Gläser hinter der Theke klirren. »Da braut sich ganz schön was
zusammen«, bemerkte Hap Hollister, als er Key noch einen einschenkte.
»Deshalb sitze ich ja hier fest. Sollte eigentlich heute noch nach Midland, einen von den
Öltypen und seine Frau nach Hause bringen.«
»Key, ich bin stolz auf dich. Endlich hast du eingesehen, dass man bei so ’nem Wetter besser
nicht fliegt.«
»Ich war es nicht, der den Rückzieher gemacht hat. Die Frau wollte nicht. Sie hätte keine Lust,
bei einem Absturz zu sterben, hat sie gesagt.«
Hap schüttelte über die Leichtsinnigkeit seines jungen Gegenübers den Kopf und ging, um sich
um die anderen Kunden zu kümmern, die sich trotz des Unwetters tapfer bis zur Palme
durchgeschlagen hatten. Einige spielten Billard, stützten sich auf ihre Queues und warteten auf
ihren Einsatz. Andere sahen sich auf dem in einem der Deckenwinkel der Bar befestigten
Fernseher ein Baseballspiel an. Und wieder andere standen zu zweit oder zu dritt zusammen und
tranken.
Nur Key saß ganz allein am Tresen. Die düstere Miene und die hochgezogenen Schultern
verrieten seine Laune. Mittlerweile hatten alle vom Zwischenfall im Supermarkt gehört, und seine
stillschweigende Forderung, in Ruhe gelassen zu werden, wurde allgemein toleriert.
Key dachte über Jody nach, während er an seinem frischen Drink nippte, aber es waren nicht
gerade mitfühlende Gedanken. Am liebsten hätte er seiner Mutter einen Tritt in den
Allerwertesten verpasst. Schon im Krankenhaus und auch danach noch, als Janellen und er sie
entgegen der Empfehlung mit nach Hause genommen hatten, hatte sie die ganze Zeit über
genörgelt und sich gegen jeden Versuch, es ihr etwas bequemer zu gestalten, gesträubt.
»Ich werde eine Schwester für dich einstellen, Jody«, hatte er ihr eröffnet, während Janellen
versuchte, sie zu überreden, sich ins Bett zu legen. »Janellen muss in die Firma. Ich bin auch
dauernd unterwegs. Maydale ist eine gute Haushälterin, aber sie ist nun einmal nicht ausgebildet,
wenn es erneut zu einem Zwischenfall wie heute Morgen kommen sollte. Du brauchst jemanden,
der sich rund um die Uhr um dich kümmert.«
»O ja! Das ist eine gute Idee, Key. Nicht wahr, Mama?«, hatte Janellen gesagt.
Jody achtete überhaupt nicht auf sie und stieß eine Wolke bläulichen Rauches aus. »Du willst,
ohne mich zu fragen, eine Krankenschwester ins Haus holen?«
»Richtig. Ich werde eine suchen, die hier wohnt und sich jederzeit um dich kümmern kann.«
»Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen, danke. Ich brauche niemanden, der sich in meine
Angelegenheiten mischt und mich bevormundet – und meine Sachen stiehlt, wenn ich nicht
hingucke.«
»Ich habe bereits Kontakt zu einer erstklassigen Agentur in Dallas aufgenommen«, erklärte er.
»Die werden uns sicher keine Diebin ins Haus schicken. Ich habe ihnen unsere Wünsche
mitgeteilt und klargemacht, dass du nicht bettlägerig bist und deine Unabhängigkeit und
Privatsphäre brauchst. Sie sehen sich um, wer für uns in Frage kommt, und schicken uns bis
morgen Mittag jemand vorbei.«
Jodys Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. »Stornier den Auftrag. Ich habe dir nicht
erlaubt, Entscheidungen über meinen Kopf hinweg zu treffen.«
»Mama, Key will doch nur das Beste für dich.«
»Ich werde ihm sagen, was am besten für mich ist. Ich will, dass er sich aus meinem Leben
raushält. Und das gilt auch für dich!« Sie riss Janellen die Jacke aus der Hand. »Verschwindet aus
meinem Zimmer. Alle beide!« Sie gaben nach, weil sie keine weitere Attacke riskieren wollten.
Key war krank vor Sorge um sie. Als er sie dort auf dem Fußboden des Supermarkts hatte liegen
sehen, mit der Spucke, die ihr aus den Mundwinkeln tropfte, und bar jeder Würde, wäre er
beinahe selbst zusammengebrochen. Aber wie sollte er auf Dauer Mitgefühl entwickeln, wenn
jeder seiner Versuche, etwas Nettes zu tun, mit Beschimpfungen quittiert wurde?
Gott, er konnte Jodys Gülle aushalten. Er hatte sie sein ganzes Leben lang ausgehalten.
Verglichen mit dem, was auf dem Spiel stand, war es nichts. Das eigentliche Problem war, dass
seine Mutter sich strikt weigerte einzusehen, wie ernst es um sie stand. Wenn sie sich nicht bald
einer Behandlung unterzog, würde sie sterben. Nur ein Narr ging so fahrlässig mit der eigenen
Gesundheit um.
Key musste schmunzeln, als er daran dachte, dass er heute Abend mir nichts, dir nichts mitten in
die Unwetterfront geflogen wäre, wenn seine Kunden nicht abgesagt hätten.
Aber das war etwas anderes. Es war ein Spiel mit dem Zufall. Risiken inbegriffen und mit
ungewissem Ausgang. Es war nicht dasselbe wie das Urteil der Mediziner, die sagten, dass man
eine Zeitbombe in sich hatte und entweder sterben oder – was Key noch schlimmer fand – für
den Rest seines Lebens dahinvegetieren würde.
Der Arzt im Krankenhaus hatte ihm und Janellen die erschreckenden Fakten von Jodys
Diagnose in aller Offenheit mitgeteilt. Er hätte gern eine zweite Meinung dazu gehört. Er hätte
gerne Lara Mallorys Meinung gehört.
»Verdammt.« Er gab Hap ein Zeichen nachzuschenken.
Er wollte auf keinen Fall an Lara Mallory denken. Aber irgendwie schlich sie sich immer wieder
in seinen Kopf, wie der vergiftete Whisky durchdrang sie seine Gedanken. Sie war immer da,
unsichtbar, lautlos, raubte ihm den Verstand.
War sein Bruder der Vater ihres Kindes? Hatte ihr Mann es gewusst? Hatte Clark es gewusst?
Hatte das Wissen darum, dass sein Kind gewaltsam ums Leben gekommen ist, seinen Selbstmord
verursacht?
Wenn ja, war er es Clark – und Lara – nicht schuldig, nach Montesangrines zu fliegen und
herauszufinden, was mit dem Kind geschehen war?
Teufel, nein! Es ging ihn nichts an! Niemand hatte ihn zu Clarks Beschützer ernannt. Es war
allein ihr Problem. Sollte sie zusehen, wie sie damit fertigwürde. Er hatte nichts damit zu tun.
Doch je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter wurde er, dass Ashley seine Nichte
war. Er versuchte, nicht mehr daran zu denken, aber das war unmöglich. So unmöglich, wie zu
vergessen, wie aufgelöst Lara gewesen war, als sie ihm die Ermordung ihrer Tochter geschildert
hatte. Gott, wie konnte jemand überhaupt noch klar denken, wenn er so etwas durchgemacht
hatte?
Vor ein paar Wochen hätte er sein letztes Hemd darauf verwettet, dass er niemals einen
mitleidigen Gedanken an Lara Mallory verschwenden würde. Aber nachdem er sich ihre
Geschichte angehört hatte, wäre er ein Bastard gewesen, wenn es so wäre. Und so hatte er sie in
den Arm genommen, sie getröstet, sie geküsst.
Wütend schüttete er den Drink in sich hinein. Dann starrte er in das leere Glas, das er wieder
und wieder auf dem blankpolierten Tresen kreisen ließ.
Er hatte sie geküsst, und zwar richtig. Es war kein kleines harmloses Küsschen zum Trost
gewesen. Er hatte die verheiratete Geliebte seines Bruders geküsst, die Geißel seiner Familie, so
und nicht anders musste er es sehen. Sie hatte ihn beschuldigt, ihre momentane Schwäche
ausgenutzt zu haben, aber da irrte sie. Sicher, er hatte vorgegeben, ihre Absichten zu
durchschauen, aber als er sie geküsst hatte, war ihm nicht der Gedanke gekommen, dass er eine
Ehebrecherin in den Armen hielt, die seinen Bruder ins Verderben gelockt hatte. In diesem
Augenblick war sie simpel eine Frau gewesen, die sich nach Zärtlichkeit sehnte. Er hatte die
Grundregel seines eigenen Spiels missachtet – er hatte für kurze Zeit vergessen, wer sie war.
»Hast du nichts Besseres zu tun, als Eiswürfeln beim Schmelzen zuzuschauen? Wie wär’s, wenn
du einer Lady einen Drink spendierst?«
Key zog die Stirn in Falten ob der unwillkommenen Störung, hob den Blick und sah Darcy
Winston auf dem Barhocker neben sich. »Wo kommst du denn her?«
»Bin vor dem Regen da draußen geflüchtet. Kriege ich jetzt einen Drink oder nicht?«
Hap kam, und Key nickte entnervt. Darcy bestellte sich einen Wodka-Tonic. Key lehnte ab, als
Hap ihn fragte, ob er auch noch was wolle.
»Ich soll allein trinken? Wie geschmacklos!« Darcy schürzte die sorgfältig bemalten Lippen.
»Tja, genau das war der Sinn. Allein trinken, aber du hast den Hinweis anscheinend nicht
kapiert.«
Sie nippte an dem Drink, den Hap ihr rüberschob. »Besorgt um deine Mutter?«
»Zum Beispiel.«
»Es tut mir aufrichtig leid, Key.«
Er war zwar überzeugt, dass sich Darcy nur um ihr eigenes Wohlbefinden scherte, dennoch
nickte er zum Dank.
»Und worüber zerbrichst du dir noch den Kopf?«
»Über gar nichts.«
»Lügner. Du schmollst doch. Hat es vielleicht was damit zu tun, dass Helen Berry wieder mit
Jimmy Bradley zusammen ist? Wie ich gehört habe, sind die beiden verliebter denn je, obwohl du
sie auseinandergebracht hattest.«
Dieses Gespräch war so lächerlich, dass er kichern musste.
»Was ist so lustig?«
»Diese Stadt. Die halbe Welt könnte in die Luft fliegen, Sterne könnten zusammenprallen und
noch einen Urknall auslösen, aber alles, was die Leute hier interessiert, ist – wer bumst mit wem.«
»Und mit wem bumst du jetzt?«
»Das geht dich nichts an.«
»Bastard.«
Sie starrte ihn so böse an, dass er wieder lachen musste. »Für einen normalen Wochentag hast du
dich ja ganz schön in Schale geworfen, Darcy.« Er begutachtete ihr konservativ geschnittenes
Kostüm und die schlichten Pumps. Natürlich wirkte an Darcy nichts wirklich konservativ oder
schlicht. Das Kostüm war aus leuchtend pinkfarbener Seide, die ihr trotz des roten Haars gut
stand, und ihr Busen füllte es mehr als prall aus. Die oberen drei Knöpfe hatte sie offen gelassen,
um einen angemessenen Ausblick auf ihr Dekolleté zu ermöglichen. Die Pumps hatten so hohe
Absätze, dass ihre ohnehin schon langen Beine fast endlos wirkten. Sie sah heiß aus – daran
konnte kein Zweifel bestehen.
»Ich komme gerade von der Sitzung des Vereins der Förderer der Bücherei«, sagte sie.
»In Eden Pass gibt es so einen Verein? Ich wusste noch nicht mal, dass wir überhaupt eine
Bücherei haben.«
»Natürlich gibt es eine Bücherei. Und unser Verein hat zweiundvierzig Mitglieder.«
»Im Ernst? Und wie viele davon können lesen?«
»Sehr witzig.« Sie leerte das Glas und knallte es auf den Tresen. »Danke für den Drink. Ruf mich
an, wenn du deinen Sinn für Humor wiedergefunden hast. Du bist zur Zeit wirklich
unausstehlich.«
»Was hast du ihr gesagt, dass sie abgerauscht ist?«, fragte Hap, nachdem Darcy gegangen war. Er
nahm ihr Glas und tauchte es ins Spülwasser.
»Ist das wichtig?«, fragte Key gereizt.
Es regnete noch, doch Key schien es nicht zu registrieren, als er zu seinem Wagen ging. Sein
Kopf war so voll mit anderen Dingen, dass er nicht auf das Wetter achtete.
Er stieg in den Lincoln und hatte bereits den Schlüssel im Zündschloss, als er sie bemerkte. Sie
ließ sich auf den gelben Beifahrersitz gleiten, rutschte zu ihm herüber und legte ihm eine Hand
auf die Innenseite seines Schenkels.
»Ich weiß, was dir fehlt.«
»Nein, du hast nicht die leiseste Ahnung, Darcy.«
»Wenn es darum geht, bin ich Expertin, weißt du? Ich bin sozusagen mit einem sechsten Sinn
dafür auf die Welt gekommen, ich weiß sofort, was einem Mann fehlt, wenn ich ihn nur ansehe.«
»Ach, tatsächlich?«
»Tatsächlich. Wenn ein Mann es haben muss, strömt er einen bestimmten Geruch aus – genau
wie eine Frau.«
»Wenn das stimmt, müssten dir ja ganze Rudel von Hunden nachlaufen.«
Sie nahm es als Kompliment und fuhr mit der Hand zu seinem Schritt. »Du willst mich, Key.
Ich weiß es. Du bist nur zu stolz, das zurückzunehmen, was du an dem Abend auf der
Stadtversammlung gesagt hast.« Sie streichelte ihn, und er musste zugeben, dass sie die Kunst
wirklich beherrschte.
»Das ist doch albern. Keiner von uns will den ersten Schritt tun, damit wir uns wieder vertragen.
Wir haben beide keinen Grund wegen dem, was war, ernsthaft böse zu sein, oder?«
Sie fing an, seine Jeans aufzuknöpfen. Key, in der Rolle des unbeteiligten Beobachters, ließ sie
machen. Er war selbst neugierig auf seine Reaktion. Sie befreite ihn aus der Jeans und massierte
ihn leicht. Sein Schwanz wurde hart.
»O Baby«, sagte sie mit einem Seufzer, »ich wusste doch, dass ich dir gefehlt habe.«
Sie schenkte ihm ein verführerisches Lächeln und tauchte dann mit dem Kopf in seinen Schoß.
Ihre Zunge arbeitete abwechselnd leicht und schnell und dann wieder langsam und rau. Sie leckte
ihn sanft und lutschte ihn fest. Sie tat ihm mit den Zähnen weh, bevor sie ihn mit der Zunge
tröstete. Sie wusste, was sie tat.
Key legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Er begehrte Darcy nicht und war daher
überrascht, dass sein Körper reagierte, wie er sollte. Andererseits – wieso sollte ihn das
überraschen?, fragte er sich. Er hatte schon Frauen gebumst, deren Namen er nicht mal gekannt
hatte. Er erinnerte sich nur an die wenigsten. Sie hatten ihm lediglich zu etwas verholfen, das er
sich auch selber machen konnte. Sein Körper funktionierte, auch ohne dass sein Verstand beteiligt
war.
Er war froh, dass Darcy ihn nicht geküsst hatte. Das hätte es zu persönlich gemacht. Er hätte
einen Teil von sich einer Frau offenbaren müssen, die ihm nichts bedeutete. Er mochte sie nicht
einmal.
Wenn Darcy ihn geküsst hätte, hätte ihre gierige Zunge vielleicht einen Kuss ausgelöst, den er
noch nicht bereit war zu vergessen. Er hielt die Erinnerung daran unter Verschluss wie ein alter
Mann seine Trophäen. Bei Gelegenheit gestattete er sich, an den Kuss zu denken, und er
erinnerte sich, wie sexy er gewesen war, und wie dieser alte Mann in Gedenken an ruhmreiche
Zeiten seine Pokale berührte, berührte er im Geiste den Kuss. Aber dann wurde er wütend auf
sich selbst und kam sich vor wie ein Narr.
Es war lächerlich, dass die Menschen sich immer nach etwas sehnten, was sie niemals haben
konnten, dachte Key.
Jetzt versuchte er, an gar nichts mehr zu denken, nahm innerlich Abstand von dem Akt, erlaubte
aber seinem Körper, sich zu entspannen. Er fasste Darcy nicht an, nicht einmal, als er kam.
Stattdessen krampfte er seine Hände ums Lenkrad, bis die Knöchel weiß wurden. Sobald es vorbei
war, knöpfte er in aller Ruhe seine Hose wieder zu.
Darcy setzte sich auf, kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und tupfte sich
geziert den Mund. »Weißt du, woher wir wissen, dass Gott ein Mann ist?« Key sagte nichts; er
hatte den Witz schon gehört. »Weil, wenn Gott eine Frau wäre, hätte sie es mit
Schokoladengeschmack gemacht.«
»Vielen Dank.«
Entweder entging ihr die Zweideutigkeit seines Kommentars, oder sie ignorierte sie. Lachend
rieb sie ihre Brüste gegen seinen Arm. »Wohin wollen wir fahren? Oder wollen wir’s auf dieser
schicken Rückbank treiben?«, schlug sie vor, mit einem Nicken nach hinten. »Zu schade, dass
heutzutage Autos nicht mehr in dieser Größe gebaut werden. Du ahnst gar nicht, wie phantastisch
man in so etwas bumsen … «
»Gute Nacht, Darcy. Ich fahre jetzt nach Hause.«
»Was ist los? Wir sind noch nicht fertig, mein Lieber!«
»Ich schon.«
»Du willst sagen, dass ich …«
»Du hast getan, was du wolltest. Ich hatte dich nicht darum gebeten«, erinnerte er sie leise.
»Würdest du jetzt bitte so freundlich sein und deinen Hintern aus meinem Wagen schwingen? Ich
möchte nämlich fahren.«
Sie spuckte ihm ins Gesicht.
Schnell wie eine Schlange packte er ein Büschel ihres Haars und riss ihren Kopf nach hinten.
»Ich habe dich verschont, als du auf mich geschossen hast. Aber hierfür könnte ich dich
umbringen …«
Kapitel 17
Darcy glaubte ihm. Sie kannte Keys berüchtigtes hitziges Temperament. Aber es ging ihr einfach
gegen die Natur, gleich zurückzustecken. »Lass mich los, du verdammter Mistkerl.«
Er lockerte den Griff, gab ihr Haar frei. »Raus hier!«, knurrte er.
»Ich gehe, aber erst wenn ich dir gesagt habe, was ich von dir halte. Du bist krank. Nicht nur
gemein, sondern krank.«
»Schön. Nachdem wir nun geklärt haben, was mit mir nicht stimmt – raus.«
»Jemand hat deinen Verstand gefickt, und das war bestimmt nicht die fette kleine Berry. Das war
Lara Mallory.« Sein rechtes Augenlid zuckte, doch der Rest des Körpers war bedrohlich ruhig. Sie
spürte, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte, und bohrte noch ein bisschen weiter.
»Kommst du dir nicht selbst ein klitzekleines bisschen armselig vor, dich ausgerechnet in die Ex
deines großen Bruders zu vergucken?« Sie lachte abschätzig.
»Halt’s Maul, Darcy.«
»Unsere berühmte Frau Doktor hat den guten Key Tackett an den Eiern. Scheint so, als hätte er
tatsächlich nichts aus den Erfahrungen seines Bruders gelernt, wie?«
Sie wusste, dass sie hätte aufhören sollen, wenn sie die Oberhand hatte, aber sie konnte nicht
widerstehen, ihn sich winden zu sehen. Seit der Pubertät hatte sie jeden Mann gekriegt, den sie
haben wollte. Außer Key. Das hatte ihr Ego ernstlich verletzt, aber längst nicht tödlich.
»Hast du sie schon gebumst, Key?«, reizte sie ihn und kam mit dem Gesicht nahe an seins. »Und
als sie gekommen ist, hat sie da deinen Namen oder vielleicht den unseres armen verstorbenen
Clark gerufen? Wer hat es ihr wohl besser besorgt, frage ich mich – Senator Clark Tackett oder
sein kleiner Bruder? Musst du sie deshalb unbedingt haben? Willst du beweisen, dass du genauso
gut wie dein großer Bruder bist?«
Key bewegte sich so schnell, dass sie zusammenzuckte. Er drückte die Fahrertür auf und stieg
aus. Dann langte er ins Wageninnere, packte Darcy an ihrer Jacke und zerrte sie raus. Die
pinkfarbene Seide saugte förmlich den Regen auf. Ihre Pumps versanken im Morast.
Er ignorierte ihre Flüche, die sie ihm hinterherschrie, und startete den Motor. Als er die Tür
zuziehen wollte, schnappte Darcy nach dem Griff und wollte nicht loslassen. »Wo willst du hin,
Key? Etwa die Geliebte deines Bruders besuchen? Wenn das rumgeht, bist du die Lachnummer
der Stadt. Und du kannst dich darauf verlassen, dass es die Runde macht. Dafür werde ich schon
sorgen. Als würde es nicht reichen, dass sie eine Hure ist – es muss auch noch die Hure deines
eigenen Bruders sein!«
»Huren lassen sich wenigstens dafür bezahlen, Darcy. Du verschenkst dich!« Er zog die Tür zu,
legte den Rückwärtsgang ein und fuhr davon. Die Räder wühlten Kies und Matsch auf, der
Darcy auf die schicken Schuhe und Designerstrümpfe spritzte.
Sie schickte ihm Flüche nach, während sie im strömenden Regen dastand, und schwor, es
diesem Bastard heimzuzahlen. Sie würde herausfinden, wo Keys größte Schwäche lag, und es
bitter ausnutzen. Nur noch nicht heute Abend. Sie würde warten, bis sich ihre Wut abgekühlt
hatte, dann konnte sie es ganz kalt und gelassen angehen.
Sie stapfte zu ihrem Wagen und wusste eines ganz sicher – niemand hatte je ungestraft Mrs.
Fergus Winston so mies behandelt.
»Vielen Dank, meine Herren«, sagte Lara abschließend zu den sieben Vorstandsmitgliedern der
Schulbehörde von Eden Pass. »Ich hoffe, dass Sie meinen Vorschlag für eine Seminarreihe über
Sexualaufklärung ernsthaft überdenken. Sollten Sie noch weitere Informationen benötigen, um zu
einer Entscheidung zu gelangen, zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen.«
»Nun, Sie haben wirklich überzeugende Argumente angeführt und auch einige interessante
Ansatzpunkte ausgearbeitet«, sagte Fergus Winston. »Es ist ein heikles Thema. Es gibt für uns so
manches dabei zu berücksichtigen. Ich denke, wir werden wohl ein bis zwei Wochen brauchen,
um zu einem Entschluss zu kommen.«
»Ich verstehe. Ich möchte Ihnen nochmals danken, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben …«
Die Tür hinter ihr schwang auf. Alle Blicke richteten sich auf die Ankömmlinge, und auch Lara
drehte sich um. Darcy Winston hatte den Konferenzraum betreten, begleitet von Jody Tackett.
Lara zuckte unter Darcys stechendem Blick fast zusammen. Darcy wirkte irgendwie
selbstgefällig, auch wenn sie nicht lächelte. Jody würdigte Lara nicht eines Blickes.
Hastig erhob sich der Vorstand von seinen Plätzen. Nur Fergus sagte etwas. Er wandte sich an
seine Frau, aber sein Blick war auf Jody Tackett geheftet.
»Was willst du hier, Darcy? Das ist eine geschlossene Sitzung.«
»Jetzt nicht mehr.« Jody sah zwar angegriffen aus, aber ihr Ton war steinhart.
»Sie hat darauf bestanden herzukommen«, sagte Darcy. Fergus wandte schließlich seinen
hasserfüllten Blick von Jody ab und sah zu seiner Frau. »Entschuldige, Fergus, ich weiß, dass ich
eigentlich nicht über die Dinge sprechen soll, die ihr im Vorstand beredet, aber bei dieser
speziellen Angelegenheit war mir so unwohl, dass ich mich genötigt sah, etwas zu unternehmen.«
Lara erhob sich von ihrem Stuhl. »Im Moment habe ich aber das Wort, Mrs. Winston. Wenn
Sie dem Vorstand gegenüber etwas vorzubringen haben, schlage ich vor, dass Sie den normalen
Weg beschreiten und eine Bitte um einen Termin einreichen, wie ich es auch getan habe. Oder
gelten für bestimmte Personen vielleicht Sonderregeln?« Sie sah sich nach Fergus um.
Der starrte Jody Tackett an, als sei sie pures Gift. Und er sah seine Frau an, als hätte er sie am
liebsten dafür erwürgt, dass sie Jody in sein Revier gebracht hatte.
»Dr. Mallory hat recht«, sagte er. »Wenn du und Jody ein Anliegen vorzubringen habt, müsst ihr
es auf dem üblichen Wege tun. Ihr könnt nicht einfach so in eine Sitzung hereinplatzen.«
»Das würden wir ja sonst auch nicht«, sagte Darcy. »Aber …«
»Ich kann für mich selbst sprechen.« Ungeduldig trat Jody an den Konferenztisch vor. Als sie
sicher war, die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden zu haben, sagte sie aus heiterem
Himmel: »Habt ihr alle völlig den Verstand verloren?«
Blicke wurden abgewandt, niemand sagte etwas, nur Fergus bot ihr schließlich einen Stuhl an.
»Danke, ich stehe lieber.«
»Wie du willst.«
Die Animosität zwischen den beiden war unübersehbar. Den anderen schien es peinlich zu sein,
denn sie sahen weg. Nur Lara ließ sich so schnell nicht einschüchtern. »Mr. Winston, ich fordere
von dem Vorstand, mein Anliegen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu Ende führen zu
können.«
Sie wurde einfach ignoriert.
Jody wandte sich an Reverend Massey, den Pastor einer der ortsansässigen Kirchen. »Ich
verstehe Sie nicht, Pastor. Sonntag für Sonntag predigen Sie gegen die Unzucht. Und jetzt wollen
Sie einer Ehebrecherin erlauben, mit unserer Jugend über Sex zu diskutieren?« Sie schnaubte
verächtlich. »Da muss ich mich doch fragen, warum ich Ihre Kirche eigentlich noch unterstütze.«
Der Pastor lächelte verlegen. »Wir haben ja noch gar nicht entschieden, Jody. Bislang haben wir
lediglich Dr. Mallorys Vorschlag angehört. Und ich kann Ihnen versichern, dass nichts Sündiges
daran ist.«
»Ist das so, ja?« Jody wandte sich Darcy zu. »Erzählen Sie ihnen, was Sie mir erzählt haben.«
Darcy trat vor, vergewisserte sich, dass sie direkt unter den Scheinwerfern stand wie auf einer
Bühne. Mit hastigen atemlosen Worten berichtete sie: »Neulich habe ich Heather zu einer
Generaluntersuchung zu Dr. Mallory mitgenommen. Hinterher hat sie mir erzählt, dass Dr.
Mallory sie dazu gedrängt hat, nie ohne Kondom zu einer Verabredung mit einem Jungen zu
gehen.«
»Das habe ich nicht gesagt!«, rief Lara entrüstet. »Ich habe Heather nur vor Geschlechtsverkehr
ohne Kondom gewarnt. Und entweder hat sie meinen Rat missverstanden, oder Mrs. Winston
verdreht absichtlich meine Worte, um sie für ihre Zwecke gegen mich zu verwenden.«
»So etwas würde ich niemals tun!«, keifte Darcy. Dann, an den Vorstand gerichtet: »Außerdem
war das noch nicht alles. Sie hat meiner Tochter gesagt, sie soll den Rat an ihre Freundinnen
weitergeben. Wenn das keine indirekte Aufforderung zum Sex ist, dann weiß ich nicht. Man
weiß doch, wie die Teenager sind. Sie laufen jedem nach, der halbwegs überzeugend klingt.
Unseren Kindern zu raten, sie sollen Kondome einstecken, ist doch dasselbe, als gäbe man ihnen
einen Freischein zum … na ja, Sie wissen schon.« Züchtig senkte sie den Blick.
Lara wollte sich wehren, wollte ihnen sagen, dass Darcy Heather in Wahrheit zu ihr gebracht
hatte, damit sie ihr die Pille verschrieb. Doch das konnte sie nicht, ohne ihre ärztliche
Schweigepflicht zu verletzen. Das versteckte Lächeln, mit dem Darcy sie bedachte, verriet ihr,
dass auch sie sich dessen sehr genau bewusst war.
»Ich habe Heather auf die Gefahren, die mit Promiskuität und häufigem Partnerwechsel
einhergehen, aufmerksam gemacht, das stimmt«, gab sie zu. »Ich habe ihr auch vorgeschlagen, mit
ihren Freundinnen darüber zu sprechen. Aber ich habe sie niemals ermutigt, Geschlechtsverkehr
zu haben.«
»Obwohl Sie Expertin auf diesem Gebiet sind?«
»Darcy, bitte«, wies Fergus sie zurecht. »Lassen wir doch persönliche Bemerkungen mal außen
vor. Schließlich geht es um das Wohl unserer Jugend.«
»Amen«, bestätigte der Reverend. »Offen gesagt habe auch ich meine Bedenken, ob es wirklich
ratsam wäre, so offen mit dem Thema Sexualität umzugehen. Unsere Jugend ist ohnehin schon so
vielen Versuchungen ausgesetzt. Ihre Seelen sind noch so empfindsam. Sollten wir nicht Samen
pflanzen, die ihnen helfen, einen festen Charakter zu formen, statt Verwirrung und Zweifel über
des Teufels Werk zu säen?«
»Sparen Sie sich die Predigt für Sonntag auf, Pastor«, sagte Jody. »Aber es freut mich zu hören,
dass wir in diesem Punkt einer Meinung sind.«
Ihr Blick wanderte von einem Vorstandsmitglied zum nächsten. Durch Lara sah sie geradewegs
hindurch.
»Wenn Sie die Zeit gefunden haben, darüber nachzudenken, werden Sie sicher alle zu diesem
Schluss kommen. Wenn nicht, werde ich meine eigenen Pläne wohl noch einmal überdenken
müssen.«
»Welche Pläne?«, fragte einer der Herren.
»Nun, mein Sohn Clark liebte jeden Tag, den er in Eden Pass zur Schule gehen konnte, und er
hat oft betont, dass er hier auf seine politische Karriere vorbereitet wurde. Er hätte es gern
gesehen, wenn sein Name mit der Schule in Verbindung stünde. Ich könnte mir etwas wie Clark-
Tackett-der-Dritte-Gymnasium vorstellen. Und bald kommt es dazu, dass ich nicht mehr zu den
Baseballspielen gehe, weil ich fürchte, mir auf den klapprigen Tribünen die Knochen zu brechen.
Diese computergesteuerten Anzeigetafeln sind etwas Hübsches, nicht wahr? Wäre es nicht
großartig, wenn Eden Pass die erste Schule in der Gegend wäre, die eine besäße? Damit würden
wir die größeren Schulen ganz schön blamieren, richtig?«
Lara ließ den Kopf sinken. Sie wusste, dass ihr Vorschlag nun kaum noch eine Chance hatte.
Jody ließ ihre Zuhörer diesen Brocken erst mal verdauen, ehe sie fortfuhr: »Ich bin in Eden Pass
geboren und habe mein ganzes Leben hier verbracht. Ich habe hier zwölf Jahre lang eine
öffentliche Schule besucht wie viele andere Kinder auch. Ich habe mich immer damit gebrüstet,
dass unser Schulsystem eines der besten im ganzen Staat ist.« Sie beugte sich vor und klopfte mit
den Knöcheln ihrer fleckigen Hand auf die Tischplatte. »Wenn ihr dieser Frau erlaubt, auch nur
ein Wort unter dem Dach der Schule zu äußern, ändere ich meine Meinung innerhalb einer
Sekunde. Wie, um alles in der Welt, könnt ihr so etwas ernsthaft in Erwägung ziehen, wenn die
ganze Welt weiß, wer sie ist? Wollt ihr, dass eine Frau wie sie Einfluss auf eure Kinder ausübt?«
Ihr Gesicht war rot angelaufen, und sie hatte Probleme, Luft zu bekommen. »Ich würde eher
sterben, als mich von ihr anfassen zu lassen. Und das meine ich so, wie ich es sage. Da könnt ihr
jeden fragen, der neulich im Supermarkt war.«
»Sie haben Ihren Standpunkt klargemacht, Mrs. Tackett.« Lara befürchtete, Jody Tackett könnte
sich in einen weiteren Schlaganfall hineinsteigern. Und sie wollte nicht die Schuld dafür
zugeschoben bekommen. »Ich bin sicher, dass alle Anwesenden wissen, dass Sie meine Hilfe am
Dienstag abgelehnt haben. Und ich werde mich nicht auf einen Streit mit Ihnen darüber
einlassen, da das einfach unter meiner Würde wäre. Außerdem kann ich unmöglich gewinnen.
Ich verfüge nicht über ausreichend Mittel, den Vorstand zu bestechen, zum Beispiel mit neuen
Gymnasien oder Anzeigetafeln.«
»Also bitte«, sagte der Rektor brüskiert, »das möchte ich mir wirklich verbitten.«
Lara ignorierte ihn. »Und schlussendlich ziehe ich mich zurück, weil ich fürchte, dass die
Auseinandersetzung Sie umbringen könnte.«
Jetzt wandte sich Jody zum ersten Mal, seit sie den Raum betreten hatte, direkt an sie. »Da irren
Sie sich. Ich werde erst ins Grab steigen, wenn Sie unsere Stadt endlich verlassen haben. Meine
Stadt. Clarks Stadt. Ich werde erst ruhen, wenn Sie weg sind und die Luft wieder sauber ist.«
Lara sammelte in aller Ruhe ihr getipptes Manuskript zusammen, verstaute es in dem
Lederportfolio und klemmte es mitsamt der Handtasche unter den Arm. »Ich danke Ihnen, meine
Herren, dass Sie mir Ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben. Sollte ich nichts Gegenteiliges von
Ihnen hören, darf ich wohl annehmen, dass mein Vorschlag abgelehnt wurde.«
Keiner von ihnen brachte den Mut auf, ihr in die Augen zu schauen, was sie mit einer gewissen
Genugtuung registrierte. Sie verließ den Raum.
Darcy folgte ihr nach draußen. Lara blieb erst stehen, als sie den Haupteingang des Gebäudes
erreicht hatte. Dort drehte sie sich um und trat Darcy gegenüber. »Ich weiß, warum Mrs. Tackett
mich hasst«, sagte sie. »Aber wieso Sie? Was habe ich Ihnen getan?«
»Vielleicht bin ich nur der Ansicht, dass die Leute dort bleiben sollten, wo sie hingehören. Sie
hatten keinen Grund, hier aufzutauchen. Sie passen nicht hierher. Und das werden Sie auch nie.«
»Was geht es Sie an, ob ich hierher passe oder nicht? Wieso stelle ich eine solche Bedrohung für
Sie da, Mrs. Winston?«
Darcy schnaubte.
»Doch, darum geht es, da bin ich mir ganz sicher«, sagte Lara. »Sie betrachten mich aus
irgendeinem unerfindlichen Grund als eine Bedrohung für sich.« Konnte Darcys Hass auf sie
etwas mit Key Tackett zu tun haben? Es war ein unangenehmer Gedanke, den sie lieber nicht zu
nahe an sich heranlassen wollte. »Sie können mir glauben, Mrs. Winston. Sie haben nichts, was
ich Ihnen neiden würde.«
Darcy leckte sich die Lippen wie eine Katze die Sahne. »Nicht einmal eine Tochter?«
Lara zuckte zusammen. Sie konnte die Grausamkeit ihres Gegenübers kaum erfassen. »Ich habe
Sie tatsächlich unterschätzt«, sagte Lara. »Sie sind nicht nur selbstsüchtig und verachtenswert, Sie
sind auch gemeingefährlich.«
»Clever beobachtet, Dr. Mallory. Wenn es darum geht, mir zu holen, was ich haben will,
schrecke ich vor gar nichts zurück. Ich kenne keine Skrupel, und deshalb bin ich gefährlich. Das
können Sie sich ja als guten Rat ins Gepäck stecken, wenn Sie die Stadt verlassen.«
Lara schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht gehen. Egal, was Sie, Jody Tackett oder sonst wer
über mich verbreiten oder wie sehr Sie mir auch drohen – Sie können mich nicht vertreiben.«
Darcys Mund verzog sich zu einem hocherfreuten Lächeln. »Scheint, als hätten wir noch viel
Spaß.«
Lachend ging sie zurück zum Verwaltungstrakt. Ihr Lachen hallte noch lange und laut im Foyer
nach.
Darcy putzte sich die Nase mit einem monogrammbestickten Taschentuch. »Ich ertrage es nicht,
wenn du mit mir schimpfst, Fergus.«
Sie hatte erst Jody Tackett abgesetzt und war dann nach Hause gefahren, wo sie bereits von
Fergus erwartet wurde. Sie hatte ihn schon öfter so zornig erlebt, aber noch nie hatte ihr dieser
Zorn gegolten. Das beunruhigte sie. Fergus war ihr Sicherheitsnetz. Bislang hatte sie immer auf
ihn zurückgreifen können, wenn etwas schieflief.
»Bitte hör auf, mich anzuschreien«, flehte sie mit bebender Stimme.
»Entschuldige, ich wollte gar nicht laut werden.«
Schniefend tupfte sich Darcy die verlaufende Mascara ab. »Ich habe das doch nur für dich getan.«
»Das will mir nicht einleuchten, Darcy.«
»Dr. Mallory hat dich in eine unmögliche Situation gebracht. Du musstest nett zu ihr sein, weil
du eben der Vorstandsvorsitzende bist und ihrer Bitte auf eine Anhörung nachkommen musstest,
richtig?«
»Richtig«, antwortete er zögernd.
»Aber ich wusste, dass du bestimmt nicht wolltest, dass sie diese Sexseminare abhält und
Kondome an die Kinder verteilt, einschließlich unserer Tochter. Ich habe nur versucht, dir da
rauszuhelfen.«
»Indem du Jody Tackett mit hineinziehst? Meine Güte!« Er fuhr sich mit der Hand über den
kahlen Schädel. »Hast du denn gar nichts über mich in all den Jahren unserer Ehe gelernt? Ich will
nichts mit Jody zu tun haben. Und ich will ganz sicher nicht, dass ausgerechnet sie mir aus einer
Klemme hilft. Sie ist der letzte Mensch auf Erden, dem ich etwas schulden möchte.«
»Ich weiß, das weiß ich doch, Fergus.« Ihre Stimme hatte einen unterwürfigen Klang
angenommen. »Aber in schwierigen Zeiten muss man eben manchmal zu außergewöhnlichen
Mitteln greifen.«
»So schwierige Zeiten kann es gar nicht geben, dass ich Jodys Hilfe annehmen würde. Ich habe
mich ein einziges Mal auf sie verlassen, und damals hat sie mich belogen, betrogen und
hintergangen. Die Leute haben noch Jahre über mich gelacht, weil sie mich abserviert hat.«
»Jetzt lachen sie aber nicht mehr über dich.«
»Ja, aber nur weil ich mir das Kreuz krumm geschuftet habe, um mein Geschäft zu dem zu
machen, was es jetzt ist. Jetzt bedeutet mein Name in der Stadt etwas – trotz Jody Tackett.«
»Ja, und deshalb kannst du dich auch entspannen. Du hast es ihr gezeigt.«
»Aber nicht genug. Es wird nie genug sein.«
Sie seufzte. »Die Schlacht ist geschlagen, Fergus. Und du hast gewonnen. Sie ist alt.«
»Nur ein paar Jährchen älter als ich.«
»Verglichen mit dir ist sie eine Greisin. Außerdem ist sie krank. Und dafür ist diese Mallory
verantwortlich.«
»Das meiste von dem, was die Ärztin gesagt hat, klang aber ganz vernünftig.«
Darcy verkniff sich eine bösartige Bemerkung. In wohlbemessenem Ton sagte sie: »Das wundert
mich nicht, Fergus. Sie ist clever. Ihr ganzes Sprechzimmer hängt mit Diplomen und
Auszeichnungen voll.« Sie tupfte sich erneut die Nase. »Im Vergleich zu ihr bin ich ja nur ein
einfaches, dummes Hausmütterchen. Was weiß ich denn schon?«
»O Liebling, es tut mir leid.«
Fergus setzte sich auf ihre Bettkante und hielt ihr die Hand. Sie hatte ihm all die Jahre
weismachen können, dass sie sich ihrer mangelnden Bildung viel schlimmer schämte, als es
tatsächlich der Fall war. Immer wenn sich eine passende Gelegenheit bot, brachte sie das Thema
zur Sprache.
»Ich wollte damit wirklich nicht sagen, dass Dr. Mallory schlauer ist als du.«
Eine wirksame Träne rollte ihr über die Wange. »Das ist sie aber. Und außerdem kann sie
Menschen manipulieren. Sieh dir nur mal Heather an. Sie verehrt sie geradezu. Und jetzt fängst
du auch schon an, ihr mehr zu glauben als mir.«
»Aber nein, Zuckerschnäuzchen. So ist es wirklich nicht. Es geht doch nur darum, dass du Jody
da nicht als Verstärkung mit hättest hineinziehen dürfen.«
»Ich habe es ja gar nicht getan, weil ich angenommen habe, du würdest nicht allein mit ihr
fertig«, sagte sie.
»Warum denn dann?«
»Weil ich wollte, dass die Mallory endlich in ihre Schranken verwiesen wird. Und wer könnte
das besser tun als ihre Erzfeindin? Fergus, Jody hat für dich den schmutzigen Teil erledigt, und du,
als Vorsitzender, wirst als der dastehen, der uns vor dieser Yankeeärztin und ihren sogenannten
progressiven Ideen geschützt hat.«
Tiefe Furchen überzogen seine Stirn, als er darüber nachdachte. »So hatte ich das noch gar nicht
betrachtet.«
Darcy sah verstohlen zu ihm auf. »Findest du Dr. Mallory eigentlich hübsch?«
»Hübsch? Na ja, nun hübsch ist sie sicher.«
»Hübscher als ich?«
Sie hatte sich nicht mehr so verletzlich gegeben seit dem Morgen, als sie in sein Büro gestürmt
war und ihn um eine Sicherheitsnadel gebeten hatte, damit ihr die Fernfahrer nicht so in den
Ausschnitt schielten.
»Nein, mein Zuckerschnäuzchen«, sagte er und strich ihr das Haar aus der Stirn. »So hübsch wie
du kann keine andere Frau sein.«
»Und ich gehöre zu dir«, seufzte sie und kuschelte sich an ihn. »Du bist der beste Ehemann auf
der ganzen Welt.« Ihre Hand schlang sich um seinen Nacken. »Würdest du mich für ein sehr
schlimmes Mädchen halten, wenn ich jetzt furchtbar gern Liebe mit dir machen würde?«
»Jetzt, mitten am Tag?«
»Ich weiß, es gehört sich nicht, aber – ach, Fergus, ich liebe dich so sehr in diesem Moment. Ich
möchte es dir beweisen.«
»Heather könnte …«
»Sie ist mindestens noch eine Stunde beim Cheerleadertraining. Bitte, Liebling … Wenn du so
hart zu mir bist und mich anschreist, dann werde ich innerlich ganz schwach. Du kannst ein
richtiger Macho sein, und das macht mich ganz heiß. Ich werde dann ganz … feucht. Hier unten
… Du weißt schon.«
Sein großer Adamsapfel rutschte rauf und runter. »Ich … ich hatte ja keine Ahnung.«
»Fühl doch.« Sie führte seine Hand unter ihren Rock und tat, als würden ihr die Knie weich
werden, als er sie zwischen den Schenkeln berührte. »O mein Gott!«, keuchte sie.
Nach ein paar Minuten war der ganze Streit und der Grund dafür vergessen. Darcy küsste,
streichelte, leckte und lockte sich in seine Gunst zurück.
Falls Fergus ahnte, was sie mit ihm spielte, so war er entschlossen, es zu ignorieren.
Es dauerte zwei Wochen, dann musste sich Lara eingestehen, dass Darcy Winstons und Jody
Tacketts Drohungen Wirkung zeigten. Nach drei Wochen gab sie auf. Seit Jody Tacketts Kollaps
im Supermarkt ließ sich nicht ein einziger Patient mehr in ihrer Praxis blicken.
Nancy kam dennoch pflichtbewusst jeden Tag zur Arbeit und beschäftigte sich mit allerlei
Krimskrams, bis es Zeit war heimzugehen. Lara vertrieb die endlos langen, nutzlosen Stunden
damit, die aktuellen medizinischen Journale zu lesen. Sie sagte sich, dass diese Zeit alles andere als
verloren sei, denn so hatte sie endlich ausgiebig Gelegenheit, sich auf den neuesten Stand der
medizinischen Forschung zu bringen, aber es gelang ihr nur schwer, sich etwas vorzumachen.
Ärzte mit vollen Sprechzimmern hatten kaum Zeit zu lesen.
Sie hatte nichts mehr gehört von dem jungen Anwalt, den sich Jack und Marion Leonard
genommen hatten. Wenn sie tatsächlich ein Verfahren anstrengen sollten, so hatten sie bislang
noch keine Nachricht darüber erhalten. Sollte es dennoch dazu kommen, dann war Lara sicher,
dass die Fakten sie entlasten würden. Aber die negative Publicity würde ihr gleichwohl schwer zu
schaffen machen, beruflich wie persönlich. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass sie sich eines
Besseren besonnen hatten.
Der Vorstand der Schule meldete sich nicht bei ihr. Darcy hatte Freunde und Mitglieder aus
dem Eltern-Lehrer-Ausschuss für eine Petition an den Vorstand zusammengetrommelt, um zu
verhindern, dass anstößige Personen oder Projekte das Schulsystem unterhöhlten. Täglich
erschienen im Lokalblatt Leserbriefe von Eltern und Honoratioren, die ihre Bedenken gegen das
von Dr. Lara Mallory vorgeschlagene Projekt vehement bekundeten. Niemand wollte derartige
unmoralische Programme an der örtlichen Schule – nicht jetzt und auch nicht in Zukunft.
Wohin Lara auch ging, sie wurde entweder ignoriert oder mit schnippischen Bemerkungen und
verächtlichen Blicken bedacht. Man ließ sie spüren, dass sie eine Außenseiterin mit einer losen
Moral war. Wenn sie es nicht am eigenen Leib hätte erfahren müssen, hätte sie so etwas im
heutigen Amerika nicht für möglich gehalten. Allmählich glaubte sie, dass sich Jodys
Prophezeiung doch erfüllen könnte – nämlich dass sie erst sterben würde, wenn Lara Mallory die
Stadt verlassen hatte.
Doch das würde nie geschehen, solange sie nicht erreicht hatte, weshalb sie hergekommen war.
Die Tacketts hatten sie zu einer Ausgestoßenen gemacht. Sie hatten ihre Arztpraxis sabotiert.
Aber sie wäre verdammt, wenn sie zuließe, dass sich Key weiterhin ihrer Forderung verschloss. Er
würde sie nach Montesangrines fliegen. Und zwar jetzt.
Kapitel 18
»Ist er hier?«
Der gelbe Lincoln parkte vor dem Hangar.
»Nein, Doc, leider nicht«, sagte Balky, aufrichtig bemüht, behilflich zu sein. »Aber eigentlich
müsste er heute Abend noch kommen. Es sei denn, er hat sich’s anders überlegt und ist in
Texarkana geblieben. Bei Key weiß man ja nie …«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich hier auf ihn warte?«
»Überhaupt nicht. Könnte aber sein, dass es umsonst ist.«
»Macht nichts. Ich warte.«
Er schüttelte den Kopf, so als würden ihm die Menschen auf ewig ein Rätsel bleiben. Für ihn
waren Motoren und das, was sie zum Laufen brachte, viel einfacher zu verstehen. Er murmelte
vor sich hin und wandte sich wieder der Maschine zu, an der er vor Laras Ankunft gewerkelt
hatte.
Sie zog es vor, draußen zu warten, wo die Luft nicht ganz so stickig war. Es verging eine
Stunde, ehe sie die Blinklichter des Flugzeugs sah und das Dröhnen des Motors hörte. Der
Himmel war klar, tiefblau am östlichen Horizont, fliederfarben über ihr und blutrot in Golden
übergehend im Westen. Key hatte versucht, das Gefühl tiefen Friedens zu beschreiben, das ihn
nur beim Fliegen überkam. An Abenden wie diesem konnte sie sein fast mystisches Verhältnis
zum Himmel beinahe verstehen.
Er vollführte eine perfekte Landung. Sie erwartete ihn auf der Asphaltpiste, als er aus dem
Cockpit kletterte. Er sah Lara sofort, doch seine Miene verriet weder Überraschung noch Freude
oder Ärger, auch keine Wut.
Er kam auf sie zu. »Auf Hawaii kriegt man von den hübschen Mädchen zur Begrüßung eine
Blumenkette um den Hals gelegt – was haben Sie anzubieten?« Er grinste, und seine weißen
Zähne leuchteten in der steigenden Dämmerung. »Hängen Sie mir auch was um den Hals?«
»Sehr witzig«, entgegnete Lara trocken.
Sie heftete sich ihm an die Fersen, als er durch das Tor den Hangar betrat. »Was machen Sie
jetzt? Ich meine, Sie haben Ihren Job doch erledigt, oder?«
»Ich gebe Balky die Schlüssel und zische ab.«
»Das ist alles?«
»Erst lasse ich mir noch mein Geld geben.«
»Wen haben Sie heute geflogen?«
»Einen Rinderzüchter und seinen Vorarbeiter aus Arkansas, die sich hier einen Bullen angesehen
haben. Habe sie heute Morgen aus Texarkana abgeholt. Die meiste Zeit haben die mit dem
Besitzer, einem Burschen namens Anderson, dem hier ein schönes Stück Land gehört, um den
Preis gefeilscht. Dem gehört auch die Maschine. Er hat mich angeheuert, die beiden hin- und
zurückzufliegen.«
»Ein sehr schönes Flugzeug«, sagte Lara mit einem Blick über die Schulter.
»Ja, ungefähr hundertachtzig Riesen wert. Eine Queen Aire.«
»Klingt wie eine Matratze.«
»Ja, nicht wahr?« Grinsend durchquerte er die Halle. »Hey, Balky.« Der Mechaniker drehte sich
um, und Key warf ihm die Schlüssel zu.
»Gab’s Probleme?«
»Glatter Flug. Wo ist mein Geld?«
Balky wischte sich die Hände mit einem Lappen ab, während er in den kleinen Raum ging, wo
Lara am Morgen von Letty Leonards Unfall Key vorgefunden hatte. Balky ging zum Tisch in der
Ecke und knipste die Schreibtischlampe an. Dann nahm er aus einer der Schubladen einen
weißen Briefumschlag und händigte ihn Key aus.
»Danke.«
»Alles klar.«
Balky ließ sie allein. Key öffnete den Umschlag und zählte die Scheine nach. Dann verstaute er
den Umschlag in der Brusttasche seines Hemdes.
»Sie lassen sich bar bezahlen?«, fragte Lara.
»Mmh-hmm.«
»Keine Rechnung? Keine Belege für den Auftrag?«
»Ich treffe mit meinen Kunden mündliche Vereinbarungen. Wozu unnötig Leute beschäftigen?«
»Wie zum Beispiel das Finanzamt?«
»Ich zahle meine Steuern.«
»Hmmm – und was ist mit der Flugbehörde?«
»Berge von Papierkram für jeden noch so kleinen Trip. Wer braucht so was?«
»Müssen Sie keine Flugroute einreichen?«
»Unter zwölfhundert Fuß befindet man sich im kontrollfreien Raum. Da gelten die Sehen-und-
Abdrehen-Regeln.«
»Und Sie bleiben immer unter zwölfhundert?«
Er hatte genug von der Fragestunde. »Interesse am Fliegen, Doc? Ich habe einen Trainerschein
und könnte Sie in null Komma nichts in die Lüfte bringen. Ich bin nicht gerade billig, aber ich
bin gut.«
»Ich bin nicht an Flugstunden interessiert.«
»Dann sind Sie einfach nur so vorbeigekommen, ein bisschen Luft schnappen?«
»Ich wollte mit Ihnen reden.«
»Ich höre.« Er nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank, stützte den Ellenbogen auf das
altersschwache Gerät und trank einen großen Schluck.
»Es geht um einen Job.«
Er setzte die Dose ab und sah Lara neugierig an. »Das mit den Flugstunden haben wir abgehakt,
und einen Notfall fürs Krankenhaus haben wir auch nicht, oder?«
»Nein.«
Er musterte sie schweigend einen langen Moment, hob dann die Dose etwas an und fragte:
»Auch eins?«
»Nein, danke.«
Er nahm noch einen Schluck. »Ich sterbe schon vor Neugier – worum geht es?«
»Ich möchte, dass Sie mich nach Montesangrines fliegen.«
Er leerte in aller Ruhe das Bier und warf die Dose im gekonnten Bogen in den Mülleimer.
Dann setzte er sich auf den Drehstuhl, legte die Füße auf den Tisch, nachdem er mit dem Absatz
die Lampe weggeschoben hatte.
Lara blieb stehen. Außer der Liege in der anderen Ecke gab es keinen weiteren Sitzplatz. Er bot
ihr auch keinen an, und selbst wenn, hätte sie abgelehnt.
»Sie haben mich schon öfter gefragt, und ich habe nein gesagt. Stimmt vielleicht etwas mit
Ihrem Gehör nicht?«
»Ich meine es ernst.«
»Oh, Sie meinen es ernst«, wiederholte er spöttisch. »Dann entschuldigen Sie bitte vielmals.
Mmh-hmm. Nun, dann hatten Sie sich sicher vorgestellt, mit dem Fallschirm abzuspringen?«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Natürlich nicht.«
»Aber Sie wollen doch nicht etwa vorschlagen, in Montesangrines zu landen. Denn wenn doch,
müssen Sie völlig wahnsinnig geworden sein.«
»Es ist mein Ernst.«
»Meiner auch, Doc. Sprechen Sie Spanisch? Vielleicht haben Sie nur vergessen, was
Montesangrines übersetzt heißt, oder?«
»Es heißt ›Berg des Blutes‹. Was ich keinesfalls vergessen habe, denn ich kann das warme Blut
meiner Tochter noch immer an meinen Händen spüren.«
Er schwang die Füße vom Tisch und setzte sich aufrecht hin. »Warum, um alles in der Welt,
wollen Sie dorthin zurück?«
»Sie wissen, warum. Ich versuche es schon seit Jahren, seit ich im Krankenhaus in Miami wieder
zu Bewusstsein gekommen bin. Aber ich kann nicht auf dem offiziellen Weg einreisen. Der ist
blockiert.«
»Und deshalb wollen Sie es durch mich auf dem inoffiziellen probieren, richtig?«
»Sozusagen.«
»Sozusagen kann man da unten abgeschossen werden.«
»Dessen bin ich mir vollkommen bewusst.«
»Und trotzdem wollen Sie hin?«
»Ich muss.«
»Aber ich nicht.«
»Nein, Sie nicht. Ich dachte, Sie würden es vielleicht als Herausforderung betrachten.«
»Nun, dann haben Sie falsch gedacht. Man hat mir schon einiges nachgesagt, aber eines nicht:
dass ich ein Dummkopf bin. Wenn Sie da runter und sich den Arsch wegschießen lassen wollen,
bitte. Aber mir liegt nun mal was an meinem Arsch, deshalb streichen Sie mich lieber aus Ihrem
Plan.«
»Hören Sie mich wenigstens zu Ende an, Key.«
»Danke, kein Interesse.«
»Sie schulden es mir!«
»Sie wiederholen sich. Ich sehe das anders.«
»Es freut Sie bestimmt ungeheuer zu hören, dass ich seit dem Morgen im Supermarkt keinen
einzigen Patienten mehr hatte. Jody hat meinen Versuch, ihr zu helfen, ausgeschlagen. Und Sie
haben mich vor aller Augen blamiert.«
»Es war keine Zeit für so was wie Taktgefühl. Meine Mutter war dem Tode nahe.«
»Exakt. Und als sich herumsprach, dass die Tacketts lieber sterben, als sich von mir behandeln zu
lassen, habe ich auch noch die letzten Patienten verloren. Monate harter Arbeit waren umsonst.
Das Vertrauen, das ich mir so mühsam aufgebaut hatte, wurde mit diesem einen Satz zerstört.
Seitdem darf ich Däumchen drehen.«
»Sie rühren mich zu Tränen.«
Lara holte tief Luft, um nicht die Fassung zu verlieren. »Ich hatte vorgehabt, an der Highschool
Seminare zum Thema Sexualität abzuhalten. Ein Programm, das überlebenswichtig für die
Jugendlichen ist und von dem sie sicher profitiert hätten.«
»Ja, ich habe in der Zeitung davon gelesen.«
»Da stand aber nicht, dass Jody den Vorstand bestochen hat, damit das Programm abgelehnt
wird.«
»Sie wissen wirklich, wie man Leute abschießt, nicht wahr?«
»Verglichen mit Ihrer Mutter bin ich eine blutige Anfängerin. Als sie fertig mit mir war, wurde
das bisschen an Glaubwürdigkeit, das mir noch geblieben war, von Darcy, Ihrer Geliebten,
zermalmt.«
»Wissen Sie was? Ich habe schon von Fällen wie Ihnen gehört. Der Begriff dafür lautet, glaube
ich, Verfolgungswahn.«
Sie überhörte es. »Meine Praxis ist offiziell geschlossen. Heute Morgen habe ich Nancy
entlassen. Damit wäre meine Tätigkeit vorübergehend beendet. Sie haben also, was Sie wollten.
Ihre Familie hat sehr wirkungsvoll verhindert, dass ich Fuß fasse in Eden Pass. Wenn ich das alles
zusammennehme, denke ich schon, dass Sie mir etwas schuldig sind.«
»Ich bin Ihnen überhaupt nichts schuldig.«
»Ich habe die Praxis aufgegeben; das heißt aber noch lange nicht, dass ich die Stadt verlasse.« Sie
hatte nur noch einen Trumpf im Ärmel. Den musste sie jetzt ausspielen. »Ihre Mutter hat
geschworen, Sie würde es noch erleben, wie ich geschlagen die Stadt verlasse. Das bezweifle ich.
Ich kann, auch ohne zu arbeiten, noch mehrere Jahre von meinen Ersparnissen hier durchhalten.«
»Das ist doch Unsinn. Sie lieben Ihren Beruf viel zu sehr. Sie können ihn gar nicht aufgeben.«
»Ich würde es nicht gern tun, aber ich würde es tun.«
»Nur um uns zu trotzen?«
»Richtig. Ich bin allerdings bereit zu verhandeln. Ich werde Ihrer Familie viel Ärger und
Unannehmlichkeiten ersparen, wenn Sie mich nach Zentralamerika fliegen. Sobald wir wieder
zurück sind, werde ich die Stadt verlassen. Und Sie können mir glauben, es wird mir nicht
schwerfallen zu gehen. Ich bin den ewigen Streit und Klatsch leid. Ich bin es leid, mich ständig zu
kontrollieren, bevor ich vor die Tür gehe, nur um ja nicht aus der Rolle zu fallen und immer
hübsch anständig zu sein. Und noch etwas« – sie beugte sich über den Tisch – »meiner Meinung
nach bin nicht ich es, die unanständig ist. Die Menschen hier in Eden Pass sind voller Vorurteile,
engstirnige Heuchler, Feiglinge, die sich dem Willen einer verbitterten alten Frau unterwerfen.
Bringen Sie mich nach Montesangrines, Key, und ich überlasse Ihnen die Stadt. Und zwar nicht,
weil ich nicht gut genug für sie bin, sondern weil sie nicht gut genug für mich ist.«
Er sagte eine Weile gar nichts. Dann breitete er die Arme aus und fragte: »War das alles?«
Sie nickte kurz.
»Gut.« Er reckte sich und stand auf. »Ich muss los. Ich habe Hunger wie ein Bär, und Janellen
wartet sicher schon mit dem Essen auf mich.«
Lara packte ihn am Ärmel, als er um den Tisch herumkam. »Springen Sie nicht so mit mir um,
Sie verdammter Bastard. Sie haben vielleicht mich und meine Praxis am Boden, aber ich werde
nicht zulassen, dass Sie mich ignorieren.«
Er schüttelte ihre Hand ab. »Hören Sie, mir ist es völlig schnurz, was hier lokalpolitisch vor sich
geht und wer was über wen tratscht. Was meine Mutter mit dem Schulvorstand macht oder mit
sonst wem, ist ihre Sache. Solange es mich nicht direkt betrifft, mische ich mich nicht ein. Ich
schätze, Sie sind ’ne ziemlich gute Ärztin, und die Praxis war ja ab und an auch ganz nützlich,
aber ob Sie dort Gehirnoperationen durchführen, Däumchen drehen oder den Laden ganz
dichtmachen, interessiert mich herzlich wenig. Und Darcy Winston ist nicht meine Geliebte.
Sollten Sie vorhaben, sich in ein Land einzuschleichen, das auf der Boykottliste unseres Landes
steht – bitte. Aber ohne mich!«
»So plötzlich werden Sie gesetzestreu?« Sie zeigte auf seine Hemdtasche. »Sie fliegen tagtäglich
auf illegaler Basis!«
»Das hat nichts mit Gesetzestreue zu tun. Ich lehne Ihr Angebot ab, weil ich keine Lust habe,
mich umbringen zu lassen. Abgesehen davon traue ich Ihren Absichten nicht weiter, als ich Sie
werfen könnte. Also, Sie verschwenden nur Ihre …«
»Was ist, wenn Ashley noch am Leben ist?«
Er verstummte und musterte sie mit bohrender Intensität.
»Äh, Key, entschuldige, aber … « Balky stand in der Tür und sah unsicher von einem zum
anderen. »Ich mache jetzt Feierabend. Schließt du nachher ab?«
»Klar, Balky. Schönen Abend noch.«
»Ja, tschüs dann. Wiedersehen, Doc.«
»Wiedersehen.«
Sie lauschten, bis er weg war. Die Unterbrechung hatte die Spannung etwas herausgenommen,
doch nur kurz. Key wandte Lara den Rücken zu und fuhr sich durchs Haar. »Wäre das möglich?«
»Wahrscheinlich nicht. Der Punkt ist – ich weiß es nicht. Ich schätze, irgendwo in meinem
Hinterkopf klammere ich mich noch immer an die Hoffnung, dass sie leben könnte. Ihre Leiche
wurde nie überführt wie die ihres Vaters.« Sie rieb sich erschöpft den Nacken. »Sicher, als
Medizinerin und in Anbetracht der Schwere ihrer Verwundung weiß ich, dass sie
höchstwahrscheinlich tot und beerdigt ist. Irgendwo, an einem Ort, den ich nicht kenne. Ich
kann damit einfach nicht leben. Wenn es so ist, dann möchte ich wenigstens ihre Überreste
zurückbringen und sie auf amerikanischem Boden beerdigen.«
Er drehte sich zu ihr um, sagte aber nichts.
»Ich muss es einfach tun«, fuhr Lara fort. »Ich werde meine Tochter aus diesem Land holen und
sie nach Hause bringen. Aber ich komme ja nicht rein. Selbst verbündete Staaten haben nur
wenige Fluglinien, die Montesangrines anfliegen, weil die politische Situation dermaßen unsicher
ist. Wenn und falls ich überhaupt hinkäme, würde man mich als amerikanische Staatsbürgerin
nicht ins Land lassen, sondern mit dem nächsten Flug zurückschicken.«
»Ich würde sagen, das ist zumindest das Wahrscheinlichste.«
»Mehr als wahrscheinlich. Ich habe mit Betroffenen in ähnlichen Situationen gesprochen. Viele
Amerikaner haben ihre Angehörigen in Montesangrines, deren Schicksal ungewiss ist. Ihre
Versuche, etwas herauszufinden, waren vergebens. Wenn sie überhaupt bis zur Ciudad Central
vordringen konnten, wurde äußerst brutal mit ihnen verfahren. Manche wurden für Stunden,
sogar Tage, ins Gefängnis gesperrt, bevor sie zum Flughafen zurückgebracht und in den nächsten
Flieger verfrachtet wurden. Manche behaupten, sie wären gerade noch mit dem Leben
davongekommen, und ich glaube ihnen.«
»Und genau deshalb werde ich nicht über dieses Land fliegen, geschweige denn dort landen und
aussteigen.«
»Wenn es jemanden gibt, der mit einem Flugzeug dort hineinkommt und auch wieder heraus,
dann Sie, Key. Clark hat immer von Ihren Flugkünsten geschwärmt. Er hat mir erzählt, dass Sie
schon unter den unmöglichsten Bedingungen Ausrüstungen und auch Menschen geflogen haben
und dass Sie das Risiko lieben – je gefährlicher die Umstände, desto besser.« Sie stoppte, um Luft
zu holen. »Angenommen, Sie würden ja sagen – hätten Sie überhaupt ein Flugzeug?«
»Es ist müßig, darüber zu spekulieren.«
»Nur mal angenommen. Könnten Sie ein Flugzeug bekommen?«
Er überlegte kurz. »Na ja, da gibt es einen Typen, der wollte, dass ich seine Maschine zu Schrott
fliege, damit er die Versicherung kassieren kann. Steckt bis zum Hals in Schulden. Hat mir dreißig
Prozent angeboten, falls ich’s überlebe.«
»Das könnten Sie? Ein Flugzeug absichtlich abstürzen lassen, ohne dabei umzukommen?«
»Wenn man’s richtig anstellt, ist das nicht so schwer«, sagte er mit einem flüchtigen Grinsen.
»Das Angebot war verlockend. Aber ich hab’s nicht getan. War das Risiko nicht wert.«
»Und er hat immer noch Geldsorgen?«
»Scheint so.«
»Und das Flugzeug hat er auch noch?«
»Scheint so.«
»Dann wäre er wahrscheinlich einverstanden, wenn Sie die Maschine in eine potentielle
Gefahrensituation bringen. Wenn wir nie zurückkämen, könnte er die Versicherung kassieren
und sogar hundert Prozent der Summe behalten. Wenn wir zurückkämen, hätte er immer noch
das Geld, das wir ihm quasi als Leihgebühr zahlen würden. Was würde es kosten, sie zu mieten?«
»Es ist ’n hübsches Maschinchen. Eine Cessna 310, noch gar nicht so alt. Bei der Strecke … etwa
zwanzigtausend.«
»Zwanzigtausend«, wiederholte sie leise. »So viel?«
»Miete. Dazu käme natürlich noch mein Honorar.«
»Ihr Honorar?«
»Wenn ich meinen Arsch als Zielscheibe für einen Guerillero mit ’ner Automatik hinhalte,
können Sie verdammt davon ausgehen, dass es teuer wird.«
Als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sah, wusste sie, dass sie ihn sich niemals würde leisten
können. »Wie viel, Key?«
»Einhunderttausend.« Auf ihre geschockte Miene fügte er hinzu: »Zahlbar vor Abflug.«
»Das wäre so ziemlich jeder Cent, den ich habe.«
Er zuckte mit den Achseln. »Pech. Dann kommen wir wohl noch mal um die Impfung herum,
was? Gott sei Dank, ich hasse nämlich Spritzen.«
Er versuchte zum zweiten Mal, an ihr vorbeizukommen. Dieses Mal stellte sie sich ihm in den
Weg und legte die Hände auf seine Arme. »Ich hasse es. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr
ich es hasse, und wenn Sie es wüssten, würden Sie es bestimmt nicht tun.«
»Was tun?«
»So mit mir umspringen. Sie Mistkerl! Ich lasse es nicht zu, dass Sie sich über mich lustig
machen. Sie wissen, wie wichtig das für mich ist.«
Er stemmte sich einfach gegen ihre Hände und bewegte sich vorwärts, bis sie mit dem Rücken
an einen der Schränke stieß. »Und wie wichtig ist es Ihnen?«
»Extrem wichtig. Oder meinen Sie, ich hätte sonst einen Tackett – irgendeinen Tackett – um
einen Gefallen gebeten?«
Der Druck seines Körpers an ihrem war erregend. Genau wie seine funkelnden Augen. Aber sie
würde ihm nicht die Genugtuung geben und es ihn spüren lassen. Sie reckte ihr Kinn trotzig vor
und sah ihn unbeirrt an.
»Man könnte aber auch sagen, ich bin Ihr letzter Ausweg, nicht wahr, Lara?«
»Sie sind der Grund, weshalb ich nach Eden Pass gekommen bin.« Ihr Geständnis verblüffte ihn,
ganz wie sie es vorausgesehen hatte. »Clark hat mir die Möglichkeit gegeben, eine Praxis
aufzubauen, aber wenn Sie nicht wären, hätte ich es nicht getan. Ich wollte seinen furchtlosen
Bruder kennenlernen – den, der ›jederzeit überallhin fliegen kann‹, um es mit Ihren Worten zu
sagen. Ich wusste, dass Sie die meiste Zeit nicht da sind, aber ich wusste auch, dass Sie früher oder
später auftauchen würden. Ich habe beschlossen, Sie dazu zu bringen, mich nach Montesangrines
zu fliegen, wie auch immer. Sie sind, im wahrsten Sinne des Wortes, mein letzter Ausweg.«
Er hatte ihr wie gebannt zugehört, offensichtlich geschockt von ihrem Eingeständnis. Doch er
fasste sich rasch wieder. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Dann bestimme ich
den Preis, richtig?«
»Das haben Sie schon getan. Einhunderttausend Dollar.«
Er hob die Hand und strich ihr genüsslich über die Wange. »Auf den ich gern bereit bin zu
verzichten – im Austausch mit einem Fick.«
Ihre Hand schnellte hoch, um seine aus ihrem Gesicht zu schlagen, doch stattdessen umschloss
sie, soweit es ihr möglich war, sein Handgelenk. »Ich wusste, dass das in etwas Schmutziges
ausarten würde. Ich habe versucht, an Ihr Gewissen zu appellieren, aber Sie haben keins. Sie
empfinden keine Verantwortung für irgendjemanden außer für sich selbst.«
»Jetzt haben Sie es anscheinend endlich kapiert, Doc«, flüsterte er. »Können Sie sich vorstellen,
wie befreiend es ist, von jeglicher Verpflichtung enthoben zu sein?«
»Frei von Verpflichtung? Ihr Bruder ist mitverantwortlich, dass Ashley tot ist. Ashley war das
einzige gänzlich unschuldige Opfer unter uns Sündern. Und dafür mache ich Clark
verantwortlich, genau wie mich selbst auch.«
Sie ließ seine Hand wieder los. »Wenn es um Ashley geht, kenne ich keinen Stolz. Ich werde sie
niemals Rad fahren sehen, Klavierläufe üben hören, ihre aufgeschürften Knie verarzten oder
ihrem Gutenachtgebet lauschen können. Aber ich will das haben, was ich haben kann, und das ist,
sie auf amerikanischem Boden beerdigt zu sehen. Wenn mit Ihnen zu schlafen der Preis ist, den
ich dafür zahlen muss, ist das ein sehr geringer Preis für mich.«
Das leidenschaftliche Funkeln in seinen Augen kühlte sich zu einem zynischen Flackern ab. Er
wich zurück, aber ganz sachte, so dass es eine Ewigkeit dauerte, bis sich ihre Körper nicht mehr
berührten.
»Wie Sie schon ganz richtig erkannt haben, Doc – ich habe kein Gewissen. Ich helfe einer alten
Lady über die Straße, wenn sie sonst unter einen Laster gerät, aber damit hat es sich auch schon.
Ich bin nicht wie mein Bruder. Ich habe es immer gern ihm überlassen, den Helden zu spielen.
So neugierig ich auch bin, was er wohl an Ihrer Pflaume gefunden haben mag – ich passe.«
Auf dem Weg hinaus rief er ihr noch über die Schulter zu: »Vergessen Sie nicht abzuschließen,
wenn Sie gehen!«
»Du kommst spät.«
»Ich weiß.«
»Wir haben schon gegessen.«
»Ich habe sowieso keinen Hunger.«
Die Worte fielen wie ein Schusswechsel zwischen ihm und Jody. Key ging schnurstracks zur
Anrichte und schenkte sich einen Drink ein.
»Es sind noch Erbsen und Schinken da, Key«, sagte Janellen. »Das magst du doch so gern.
Komm, setz dich, ich bringe dir einen Teller.«
»Ich setze mich zu euch, aber ich möchte wirklich nichts essen, danke.«
Er war in grässlicher Stimmung, seit Lara Mallory ihn gebeten hatte, die sterblichen Überreste
ihres kleinen Mädchens – das vielleicht gar sein eigen Fleisch und Blut war – aus Montesangrines
zu holen. Konnte Clark von seinem schlechten Gewissen in den Selbstmord getrieben worden
sein? Bislang hatte sich Key mit aller Macht gegen diesen Verdacht gewehrt. Doch jetzt erschien
es ihm plötzlich gar nicht mehr so weit hergeholt.
Er nahm die Karaffe gleich mit an den Tisch. Jodys vorwurfsvollen Blick ignorierend, schenkte
er sich noch ein Glas ein. »Wie war dein Tag, Jody? Fühlst du dich besser?«
»Ich habe mich immer gut gefühlt. Da kriege ich einmal nicht richtig Luft, und ihr tut alle so, als
wäre sonst was.«
Er verzichtete darauf, sich mit ihr zu streiten, aus Rücksicht auf ihren Blutdruck. Seit dem Anfall
behandelte er sie wie ein rohes Ei und bemühte sich, sie zu besänftigen, statt sie aufzuregen.
Er war immer noch der Ansicht, dass sie eine Pflegerin haben sollte, aber er hatte das Thema
nicht mehr angeschnitten. Er ließ jede ihrer Verbalattacken ungesühnt abprallen, wohl wissend,
dass ihre üble Laune hauptsächlich aus ihrer Angst resultierte. Gott, wenn er so einen Anfall hinter
sich hätte, wäre er schließlich auch gereizt.
»Und bei dir, Janellen? Irgendwas Aufregendes passiert?«
»Nein, nur das Übliche. Was hast du heute gemacht?«
Er erzählte ihnen von dem Rancher aus Arkansas. »Anderson hat mich anständig bezahlt. War
leichte Arbeit. Aber auch tödlich langweilig.«
»Das ist für dich das Wichtigste, nicht wahr?«, fragte Jody. »Hauptsache, es ist nie langweilig.«
Key hob sein Glas und prostete ihr auf die zutreffende Feststellung hin zu.
»Genau wie dein Vater«, schnaubte Jody verächtlich. »Immer auf Abenteuer aus.«
»Und was ist daran so falsch?«
»Wir haben Tapioka-Pudding zum Dessert, Key. Möchtest du welchen?«
»Ich werde dir sagen, was daran falsch ist.« Jody überhörte Janellens verzweifelten Versuch, den
drohenden Streit zu verhindern, und fuhr fort: »Du bist ein großer Junge, der in einer Traumwelt
lebt. Meinst du nicht, dass es langsam Zeit wird, erwachsen zu werden und etwas Sinnvolles
anzufangen?«
»Er fliegt für eines der Holzunternehmen, Mama. Er besprüht die Wälder gegen Borkenkäfer.
Den Wald zu schützen ist doch etwas Sinnvolles, oder?«
Jody hörte ihre Tochter nicht. Sie war auf Key konzentriert. »Das Leben besteht nicht nur aus
Abenteuern. Es ist die tägliche Arbeit, etwas zu schaffen, bei Regen wie bei Sonnenschein, in
guten wie in schlechten Zeiten, ob man Lust hat oder nicht.«
»Für mich hat das nichts mit ›leben‹ zu tun«, sagte er, »höchstens mit Routine.«
»Das Leben besteht nicht nur aus Spaß.«
»Richtig. Deshalb muss man ja auch danach suchen.«
»So wie dein Vater?«
»Ja. Zu Hause hatte er ja keinen.« Er war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. »Er hat sich
seinen Spaß eben woanders geholt, in anderen Betten, mit anderen Frauen.«
Jody fuhr wie angestochen von ihrem Stuhl hoch. »Ich lasse nicht zu, dass du bei Tisch so
schmutzig daherredest.«
Key erhob sich ebenfalls. »Und ich lasse es nicht zu, dass du meinen Vater schlechtmachst.«
»Deinen Vater!«, spottete sie. »Er war kein Vater. Er war doch nie für euch da!«
Es tat weh, die Erinnerung an die unzähligen Male, die er seinen Vater hatte weggehen sehen,
während er in seinem jungen verletzlichen Herzen wusste, dass es endlose Tage dauern würde, bis
er ihn wiedersah.
Dafür wollte er ihr nun ebenfalls weh tun. »Er ist doch vor dir geflüchtet, nicht vor uns
Kindern.«
»Key!«, warf Janellen dazwischen.
Doch wieder wurde sie überhört. Jetzt, da der Quell seines Hasses freigelegt war, konnte er den
Strom der zornigen Worte kaum noch stoppen. »Du warst es, die nie ein gutes Wort für mich
hatte, die mich nie in den Arm nahm. Und mit Daddy war es nicht anders, oder? Hast du jemals
mit ihm gesprochen, ohne ihm gleich einen Vortrag über seine Fehler zu halten? Hast du jemals
das dämliche Öl lange genug vergessen, um mit ihm zu lachen, herumzualbern, einfach nur so?
Und wenn er traurig war, hast du ihn dann in den Arm genommen und getröstet? Mal ganz
abgesehen davon, dass dein Busen kaum tröstlich oder weich wäre, er ist hart wie ein Brett.«
»Key!«, rief Janellen. »Mama, setz dich wieder. Du siehst …«
»Dein Vater brauchte meine Liebe nicht. Er hat sie sich von seinen Huren geholt, überall auf der
Welt. Und er hat es vor meinen Augen getan. An dem Tag, als du auf die Welt kamst, war er bei
einer.« Sie richtete sich auf und holte ein paarmal angestrengt Luft. »Das einzig Gute, was diese
Ehe hervorgebracht hat, war dein Bruder.«
»Ah, der heilige Clark«, höhnte Key. »Vielleicht war er gar nicht so heilig, wie du denkst.
Vorhin habe ich mich mit seiner ehemaligen Geliebten über ihn unterhalten. Sieht ganz so aus, als
ob Dr. Mallory den guten Clark für denjenigen hält, der ihre Familie nach Zentralamerika
verbannt hat, wo ihr Mann und ihr Kind bekanntlich erschossen wurden. Sie hat mich gebeten,
sie da runterzufliegen, um die sterblichen Überreste ihrer Tochter zu holen. Ist sie nicht gerissen?«
»Das wirst du doch nicht tun, oder?« Janellen sah ihn entsetzt an.
»Warum nicht? Geld stinkt nicht.«
»Da unten tobt noch immer eine Revolution. Dort werden jeden Tag Menschen hingerichtet.«
Obwohl er Janellen geantwortet hatte, blieb sein Blick fest auf Jody gerichtet. »Dr. Mallory ist
der Ansicht, dass ich ihr etwas schuldig bin. Und als Ausgleich für meine Dienste hat sie
versprochen, Eden Pass zu verlassen und nie mehr zurückzukommen.«
»Ich verbiete es dir, hast du mich verstanden?« Jodys Stimme bebte vor Zorn.
»Auch wenn wir so Lara Mallory endgültig los wären?«
»Auf ihr Wort ist kein Verlass. Du wirst unter gar keinen Umständen mit ihr nach
Zentralamerika fliegen.«
Er legte eine Hand aufs Herz. »Mutter, ich bin gerührt, wie besorgt du um meine Sicherheit
bist.«
»Deine Sicherheit kümmert mich einen Dreck. Ich denke an das, was von Clarks Ruf noch
übrig geblieben ist. Wenn du vorhast, mit dieser Hure irgendwohin zu fliegen, verdienst du es
nicht anders, als dass man dir den Kopf wegschießt.«
Janellen schlug die Hand vor den Mund und sank auf ihren Stuhl zurück.
»Na los, warum sprichst du es nicht aus, Jody? Wenn du Clark nicht mehr haben kannst, kann
ich ebenso gut auch tot sein, stimmt’s?«
Jody griff sich das Päckchen Zigaretten und das Feuerzeug und marschierte aus dem Zimmer.
Key blieb lange so stehen, die Hände um die Stuhllehne geklammert. Seine Knöchel hoben sich
weiß von der polierten Eiche ab, als würde er jeden Moment den Stuhl hochheben und aus dem
Fenster schleudern.
Erst als Janellen etwas sagte, wurde ihm bewusst, dass sie noch da war. »Was du gesagt hast, war
so … so entsetzlich. Mama war einfach zu wütend, um etwas zu entgegnen.«
Er musterte sie kühl. Die Muskeln in seinen Armen entspannten sich, und die Hände fielen zu
den Seiten herab. Er drehte sich um und ging langsam aus dem Zimmer. »Du irrst dich, Janellen.
Sie hat nicht geantwortet, weil ich die Wahrheit ausgesprochen habe.«
Die Lampe auf dem Nachttisch wurde angeknipst. Lara wachte augenblicklich auf, drehte sich
zum Licht um und fuhr dann senkrecht im Bett hoch. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. »Was
machen Sie hier? Wie sind Sie reingekommen?«
»Durch die Praxistür«, antwortete Key. »Sie haben vergessen, den Code der Alarmanlage zu
ändern.«
Sein Blick ruhte auf ihren nackten Brüsten. Lara, die noch Schwierigkeiten hatte, sich zu
orientieren, dachte nicht daran, sie zu bedecken. Leise fluchend, fischte er den Morgenmantel
vom Fußende des Bettes und warf ihn ihr zu.
»Ziehen Sie das über. Wir müssen uns unterhalten.«
Sie folgte seiner Anweisung ohne Widerspruch, noch immer wie gelähmt, weil er plötzlich in
ihrem Schlafzimmer stand. Sie setzte sich auf die Bettkante.
Key ging auf und ab und kaute auf seiner Unterlippe. Plötzlich blieb er stehen und wandte sich
ihr zu. »Wir werden nie im Leben Landeerlaubnis bekommen – haben Sie mal daran gedacht?«
Sie war noch vom Schlaf und Schreck halb benommen. »Nein, ich meine – ja.« Sie holte tief
Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen, und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Nein, wir
werden keine Landeerlaubnis bekommen. Und ja, ich habe sehr wohl darüber nachgedacht.«
»Und?«
»Ich habe eine Karte, auf der eine private Landebahn markiert ist.«
»Eine WLK?«
»Eine was?«
»Eine Welt-Luft-Karte. Eine Karte speziell für Piloten.«
»Ich glaube nicht. Sie sieht jedenfalls ganz normal aus.«
»Besser als nichts«, sagte er. »Woher haben Sie die?«
»Sie wurde mir zugeschickt.«
»Von jemandem, dem Sie vertrauen können?«
»Von einem katholischen Priester. Pater Geraldo. Wir haben uns damals angefreundet. Randall
hat ihn zum offiziellen Botschaftskaplan ernennen lassen.«
»Ich dachte, die Rebellen hätten die Schwarzröcke alle hingerichtet?«
»Sie haben viele von ihnen umgebracht. Er hat es geschafft zu überleben.«
Key dachte darüber nach, während er sich in einem Sessel neben dem Bett niederließ, so nahe,
dass sich ihre Knie fast berührten. »Klingt fast so, als würde der gute Pater ein Doppelspielchen
treiben.«
»Möglich«, sagte Lara mit einem schwachen Lächeln. »Er behauptet jedenfalls, neutral zu sein.«
»Das heißt, er schwimmt mit dem Strom.«
»Das ist die einzige Möglichkeit, die er hat, Gott dort weiterhin zu dienen.«
»Oder die einzige, seine Haut zu retten.«
»Ja«, gestand sie zögernd ein. »Aber ich vertraue ihm. Außerdem ist das alles, was wir haben.«
Key stieß seinen Atem aus. »Okay, lassen wir das momentan mal beiseite, und gehen wir zu
Punkt B über. Wissen Sie, ob die über Radar verfügen?«
»Bestimmt. Aber die Technik ist sicher veraltet, wie alles dort. In dieser Hinsicht sind sie
Jahrzehnte hinter dem Rest der Welt zurück.«
»Wie weit ist es vom Landepunkt zur Ciudad Central?«
Sie rechnete im Kopf die Kilometer um. »Ungefähr vierzig Meilen.«
Er pfiff. »Das ist ziemlich nahe dran. Wie, bitte schön, soll ich ihren Radar umgehen?«
»Es muss Möglichkeiten geben, Drogenhändler schaffen es auch.«
Er warf ihr einen scharfen Blick zu. »Ich habe niemals Drogen geschmuggelt.«
»Das wollte ich damit auch nicht …«
»Klar wollten Sie.« Er hielt ihren Blick fest, dann zuckte er ungeduldig mit den Achseln. »Zum
Teufel. Glauben Sie doch, was Sie wollen.«
Er erhob sich und tigerte wieder durchs Zimmer. Lara hatte tausend Fragen, die sie ihm stellen
wollte, doch sie traute sich nicht. Hauptsächlich wollte sie wissen, warum er es sich anders
überlegt hatte. Wie ein eingesperrtes Tier schritt er auf und ab.
»Falls wir den Radar unterfliegen können und falls die Landebahn dort ist, wo sie angeblich sein
soll …«
»Wie kommen wir dann weiter?«
»Ja.«
»Ich kann dafür sorgen, dass Pater Geraldo uns abholt.«
»Gut, weiter.«
»Es gibt eine Organisation im Untergrund, die Güter, Briefe und so weiter in und aus dem Land
schmuggelt. Auf diesem Weg habe ich auch die Karte bekommen. Ich musste ein ganzes Jahr
darauf warten, aber ich habe sie bereits einige Monate. Ich kann mit Hilfe dieser Organisation
Kontakt zu Pater Geraldo aufnehmen.«
»Und das dauert dann noch mal ein Jahr?«
»Nein, das geht ganz schnell. Sie warten bereits.«
»So sicher waren Sie, dass ich mitmache?«
»Ich war sicher, dass ich alles unternehmen werde, damit es so ist.«
Schweigend starrten sie sich an.
Key wandte als Erster den Blick ab. »Spricht dieser Pater Englisch?«
»Er heißt eigentlich Gerald Mallane und ist Amerikaner.«
Er fluchte. »Was bedeutet, dass er doppelt verdächtig ist und wahrscheinlich auf Schritt und Tritt
beobachtet wird.«
»Das glaube ich nicht. Er ist praktisch schon ein Einheimischer, vom ganzen Wesen mehr
Lateinamerikaner als Ire. Abgesehen davon ist er sich der Gefahr sehr wohl bewusst. Er lebt seit
Jahren mit ihr und geht ihr aus dem Weg. Die Landebahn müsste sicher sein. Man hat mir gesagt,
sie liegt an der Küste, am Fuß eines Bergzuges mit üppiger Vegetation.«
»Sicher! Jesus! Ich werde die ganze Nacht durchfliegen müssen. Über die offene See, unter dem
Radar, um die Maschine dann mitten in einem gottverdammten Dschungel zu landen – falls wir
nicht vorher an einem Berg zerschellen oder abgeschossen werden.« Er sah, dass sie etwas sagen
wollte, und hob abwehrend die Hände. »Ich weiß, ich weiß. Drogenschmuggler machen das
dauernd. Und bestimmt auf genau dieser Piste.«
Er lief ein paar weitere Minuten hin und her. Sie wollte seine Gedanken nicht unterbrechen.
»Okay, nehmen wir an, wir sind gelandet und nicht zerschellt oder abgeschossen. Nehmen wir
an, wir konnten das Flugzeug verlassen, ohne von den Rebellen oder Contras erschossen zu
werden. Und nehmen wir an, Ihr halbwegs vertrauenswürdiger Pater ist tatsächlich da – wo wird
er uns dann hinbringen?«
»In die Ciudad Central.«
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich hatte befürchtet, dass Sie das sagen …«
»Ich vermute, dass meine Tochter dort beerdigt wurde.«
Sein Blick wanderte zu ihrem zerzausten, hellen Haar. »Sie werden dort auffallen wie ein Eisbär
in der Sahara. Haben Sie keine Angst, jemand könnte misstrauisch werden, wenn Sie mitten auf
dem Friedhof anfangen zu buddeln?«
Lara schnappte nach Luft.
»Tut mir leid. Haken Sie es unter unsensibel ab.« Er setzte sich wieder in den Sessel und fuhr in
sanfterem Ton fort: »Ich habe ernsthafte Zweifel, dass man Sie den Sarg öffnen lassen wird, Lara.
Wissen Sie überhaupt, auf welchem Friedhof Ihre Tochter begraben sein könnte?«
»Nein.«
»Und was ist mit unserem Pater sowieso?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, war, dass er versucht, es
herauszubekommen. In den letzten Jahren wurden kaum Dokumente erstellt.« Sie lächelte
entschuldigend. »Mehr konnte ich nicht erfahren.«
»Was ist, wenn er nicht mehr Informationen bekommt?«
»Dann werde ich selbst die Suche aufnehmen.«
»Das ist unmöglich.«
»Nein, es ist nicht ganz so hoffnungslos, wie es klingt«, sagte sie mit so viel Überzeugung, wie
sie aufbringen konnte. »Da gibt es einen Einheimischen, der in der Botschaft angestellt war. Ein
cleverer junger Mann, der eigentlich für die Büroarbeit da war, der sich aber schon bald für
Randall unentbehrlich machte, indem er offizielle Dokumente übersetzt hat. Randall konnte nur
sehr bedingt Spanisch. Emilio ist intelligent und kennt sich aus. Ich bin sicher, er wird uns helfen,
wenn ich ihn finde.«
»Wenn Sie ihn finden?«
»Vielleicht ist er beim Anschlag auf die Botschaft ums Leben gekommen. Sein Name stand zwar
nicht auf der Liste der Opfer, aber ich bezweifle, dass diese Liste vollständig war. Wenn er nicht
getötet wurde, versteckt er sich wahrscheinlich. Jeder, der für die amerikanische Botschaft
gearbeitet hat, ist für die Rebellen ein Verräter.«
»Nehmen wir an, er ist tot oder anderweitig verhindert, was dann?«
»Dann bin ich wirklich auf mich selbst gestellt.«
»Und Sie sind bereit, dieses Risiko einzugehen?«
»Ich gehe jedes Risiko ein, um Ashley nach Hause zu bringen.«
»Richtig«, sagte Key. »Sie waren ja sogar bereit, mir altem Widerling Ihren hübschen Körper zur
Verfügung zu stellen.« Er starrte auf ihre Schenkel, die ein gutes Stück vom auseinandergleitenden
Morgenmantel freigegeben wurden.
Lara sagte nichts, sie saß völlig reglos da.
Key erhob sich abrupt. »Nehmen Sie Kontakt zu dieser Gruppe auf. Sammeln Sie so viele
Informationen wie möglich. Verlassen Sie sich nicht auf Ihr Gedächtnis; machen Sie sich Notizen.
Ich will alles wissen. Uhrzeit, Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Temperatur, Anzahl der
Einwohner, Geschwindigkeitsbegrenzung, jedes verdammte Detail, das Ihnen einfällt. In einer
Situation wie dieser kann man nie wissen, welche Banalität über Leben und Tod entscheidet. Wir
reisen mit leichtem Gepäck. Eine Tasche, die Sie allein tragen können. Keine Wertsachen, nichts,
von dem Sie sich nicht trennen könnten – wörtlich gemeint. Vergessen Sie nie: Sollten wir Erfolg
haben, werden wir einen Sarg tragen müssen. Das kann alles sein, was wir mitnehmen,
verstanden? Noch Fragen?«
»Was ist mit dem Flugzeug?«
»Darum kümmere ich mich. Und um die Waffen.«
»Waffen?«
»Sie glauben doch nicht etwa, dass ich ohne Gewehr auf die Jagd gehe, oder? Können Sie
schießen?«
»Ich kann es lernen.«
»Fangen Sie damit an, sobald ich die Waffen habe. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie für die
Kosten aufkommen.«
»Selbstverständlich.«
»Ich tue es unter einer Bedingung: keine Fragen über die Herkunft des Flugzeugs oder der
Waffen. Sollte das FBI neugierig werden und Fragen stellen, können Sie, ohne zu lügen, sagen, Sie
wüssten von nichts.«
»Und was werden Sie sagen?«
»Ich werde lügen. Überzeugend. Wann soll es losgehen?«
»Sobald Sie das Flugzeug haben.«
»Ich werde mich melden.«
Lara stand auf. »Danke, Key. Ich danke Ihnen sehr.«
Er stellte sich vor sie. Seine Bewegungen und sein Ton waren nicht mehr hart. »Was mein
Honorar betrifft – gilt die Abmachung noch?«
Sie sah in seine dunklen, funkelnden Augen und versuchte sich selbst zu überzeugen, dass das
weiche Gefühl in ihren Knien von der Erleichterung stammte, die sie über sein Einverständnis
verspürte, und keine Reaktion auf die ungeheure sexuelle Energie war, die er ausstrahlte.
Sie ließ den Kopf sinken und löste den Gürtel um ihren Morgenmantel. Sie verharrte einen
Moment, bevor sie ihn von den Schultern streifte und fallen ließ.
Dann stand sie nackt vor ihm.
Die Stille war drückend, die Spannung greifbar. Sie spürte seinen Blick auf ihrem Körper,
obwohl sie ihn nicht ansah. Ihre Haut prickelte, als würde er sie tatsächlich mit den Augen
berühren und dabei fast verbrennen. Brüste, Bauch, Geschlecht, Schenkel, er ließ nichts aus.
Ihr wurde heiß. Sie wurde feucht. Ihre Brustwarzen richteten sich auf. In ihren Ohrläppchen
pulsierte das Blut. Und irgendwo tief in ihrem Inneren spürte sie das Pochen der Begierde.
»Sieh mich an.«
Sie hob den Kopf.
»Sag meinen Namen.«
»Key.« Da es kaum mehr als ein Flüstern war, wiederholte sie: »Key.«
Er umklammerte ihren Nacken und beugte sich zu ihr. Sein Kuss war grob und besitzergreifend.
Sie spürte seinen Zorn in den Stößen seiner Zunge … zunächst. Dann schien es, als suchte er
etwas, das er nicht bekommen konnte. Vielleicht ein Verlangen, so tief wie ihr eigenes.
Es war da. Er sollte es nur nie erfahren. Weil er so abrupt von ihr abließ, wie er begonnen hatte.
»Das waren schon mal zehntausend.« Seine Stimme klang erstaunlich gefasst, doch an den Falten
um seine Lippen, die sich wie hölzern bewegten, sah man ihm die Anspannung an. »Über den
Rest verhandeln wir, wenn wir lebend zurückkommen.« Er wandte sich ab.
Lara fischte den Morgenmantel vom Bett und bedeckte sich damit. »Key?«
Er hielt auf dem Weg zur Tür und drehte sich nur zögernd um.
»Ich weiß, warum ich es tue, aber wieso tust du es?« Sie schüttelte in Unverständnis den Kopf.
»Woher der plötzliche Wandel? Was hast du dabei zu gewinnen?«
»Außer ein paar armseligen Tausendern, nichts. Der Punkt ist, dass ich – genau wie du – nichts
mehr zu verlieren habe.«
Kapitel 19
Key wirbelte herum und stieß sie zu Boden. Dann, auf ein Geräusch von der Tür hin, warf er
sich selbst hin, rollte sich auf die Seite und feuerte dreimal.
Die Schüsse hallten von den Wänden des leeren Gebäudes wider, so dass Lara für einen kurzen
Moment nichts hörte. Sie schmeckte Blut. Verwirrt und benommen rappelte sie sich hoch und
sah zur Tür. Auf der Schwelle lag eine Ziege. Ihr Körper war von den Kugeln zerfetzt.
»Scheiße!« Key zog Lara auf die Füße und schüttelte sie heftig. »Was hast du dir dabei gedacht?«
Er schubste sie zur Tür. »Bloß raus hier. Schnell, Pater, in ein paar Minuten wird es hier von
Männern nur so wimmeln.«
Lara stolperte auf den Korridor und wäre dabei beinahe auf das tote Tier getreten. Key legte ihr
die Hand auf den Rücken und schob sie die Treppe hinunter durch die Eingangshalle im Parterre.
Ihre Lippe pochte. Sie konnte fühlen, wie sie anschwoll.
Als sie die Hintertür erreichten, durch die sie das Gebäude betreten hatten, hielt Key sie zurück.
Vorsichtig steckte er den Kopf heraus und sondierte das Gelände. Lara sah sich nach Pater Geraldo
um. Der stand schwer atmend an den Türrahmen gelehnt. Mitfühlend reichte er ihr sein
Taschentuch. Sie tupfte sich den Mund ab, das Tuch war blutig.
Key sagte: »Los jetzt. Aber Kopf runter und rennen. Auf den Dächern könnten Scharfschützen
versteckt sein.«
Er nahm Laras Hand, und sie spurteten zum Jeep. Er hob sie auf den Beifahrersitz, rannte um
den Wagen herum und übernahm Pater Geraldos Platz hinter dem Steuer. Der Priester schien
nichts dagegen zu haben. Ohne Diskussion kletterte er auf die Rückbank, und in
Sekundenschnelle war der Jeep in die nächste Gasse eingebogen.
Key mied die Hauptstraßen und raste in einem Höllentempo eine Gasse herunter und die
nächste wieder hinauf, preschte durch Müllhaufen und Schutt, änderte urplötzlich die Richtung
wie eine fehlgeschaltete Figur in einem Videospiel.
»Habe ich dir weh getan?« Er warf Lara einen Blick zu.
»Natürlich, du hast mich geschlagen.«
»Wenn du das getan hättest, was ich gesagt habe, wäre es gar nicht erst dazu gekommen.« Er riss
das Steuer herum, um einem Jungen auf einem Fahrrad auszuweichen. »Springt einfach auf und
brüllt rum. Herrgott!« Er schlug mit der Faust aufs Steuer. »Du hast die perfekte Zielscheibe
abgegeben. Mir blieb nicht die Zeit, dich höflich aufzufordern, dich zu ducken. Ich habe dich
umgeworfen, um dir das Leben zu retten.«
»Vor einer Ziege?«
»Ich wusste nicht, dass es eine Ziege war – genauso wenig wie du.«
»Ich dachte, es wäre Emilio.«
»Und wenn er es gewesen wäre? Hast du gehofft, er würde mich umbringen?«
»Ich habe nur versucht zu verhindern, dass du ihn umbringst.«
»Ich habe mich sehr gut unter Kontrolle.«
»Tatsächlich?«
Er stoppte den Jeep so plötzlich, dass sie nach vorn fiel. »Ja, tatsächlich. Und du solltest das besser
als jeder andere wissen.« Er sah sie mehrere Sekunden lang vielsagend an.
Schließlich wandte sich Lara ab.
Key drehte sich nach hinten um. »Nun, Pater? Wie gefällt Ihnen unser Ausflug bis jetzt?«
Pater Geraldo setzte den Flachmann ab und wischte sich über die Lippen. »Eine Schande, dass
wir die Ziege dalassen mussten. Von dem Tier wären mehrere Familien satt geworden.«
Key sah ihn an, als hätte er Lust, ihn zu erwürgen, aber der trockene Kommentar des Priesters
brachte Lara zum Lachen, und Pater Geraldo fiel mit ein. Key reagierte auf die makabre
Situationskomik mit einem angespannten Lächeln.
»Ach, zur Hölle«, seufzte er schließlich, legte den Kopf zurück und sah in das Fleckchen
Himmel, das zwischen den Giebeln der engen Gasse, in der sie standen, zu erkennen war. »Eine
gottverdammte Ziege!«
Als ihr Lachen versiegt war, wandte er sich Lara zu und berührte ihre Unterlippe. Er verzog das
Gesicht, als frisches Blut an seiner Fingerspitze kleben blieb. »Es war ein Reflex. Ich wollte dir
nicht weh tun.«
»Ist schon gut.« Sie leckte mit der Zungenspitze über die Platzwunde und schmeckte nicht nur
ihr Blut, sondern auch die leicht salzige Stelle, wo sein Finger gelegen hatte. »Ich will die Suche
noch nicht aufgeben, jetzt erst recht nicht.«
»Wieso jetzt erst recht nicht?«
»Na ja, ich finde es unwahrscheinlich, dass der Sekretär verschont geblieben sein soll. Entweder
ist das ein Wunder, oder Emilio lebt und war vor kurzem in dem Gebäude. Es war seine Brille.
Da bin ich mir ganz sicher. Er muss dort gewesen sein.«
»Tja, wenn er da war, wird er heute ganz sicher nicht mehr wiederkommen. Wir müssen ihn zu
Tode erschreckt haben.«
Wahrscheinlich hat er recht, dachte Lara im Stillen. Emilio war ihre beste Chance, an
Informationen zu kommen – falls er noch am Leben war und sie ihn aus seinem Versteck locken
konnten. Sie nahm sich vor, später noch einmal zur Botschaft zurückzukehren, mit oder ohne
Key und Pater Geraldo, und wenn nötig die ganze Nacht dazubleiben, um Kontakt zu Randalls
ehemaligem Mitarbeiter aufzunehmen. Key hätte sicher eine ganze Litanei an Einwänden gegen
dieses Vorhaben anzubringen, deshalb beschloss sie, ihren Entschluss so lange wie möglich für sich
zu behalten.
Bis dahin galt es allerdings, noch andere Fährten zu verfolgen. »Pater Geraldo, müsste Ashleys
Tod nicht irgendwo schriftlich festgehalten worden sein?«
»Vielleicht. Vor der Revolte hat dieses Land zumindest ansatzweise versucht, so etwas wie
Zivilisation zu entwickeln. Wenn die Dokumente nicht vernichtet wurden, müssten sie im
Rathaus archiviert sein.«
»Und was müssen wir tun, um da ranzukommen?«
»Das werden wir erst wissen, wenn wir es versucht haben.«
»Wenn bekannt wird, wonach wir suchen, können wir ebenso gut gleich eine rote Fahne
hissen.«
Der Priester dachte einen Moment über das Dilemma nach. »Ich werde denen einfach sagen, ich
müsste Unterlagen von jemandem namens Portales einsehen. Portales, Porter. Wenn die
Sterbeurkunden alphabetisch archiviert sind, müssten Urkunden über Ashley im selben Ordner
sein.«
»Ordner?«, fragte Key. »Sind die noch nicht computerisiert?«
»Aber doch nicht in Montesangrines«, erwiderte der Priester mit einem trunkenen Lächeln.
Es stellte sich alles als ganz einfach heraus. Sie konnten nach dem Zwischenfall in der Botschaft
ihr Glück kaum fassen.
Keine halbe Stunde nachdem der Pater aus dem Jeep geklettert war, den sie ein paar Blocks vom
Rathaus entfernt geparkt hatten, kam er federnden Schrittes und mit einem strahlenden Lächeln
zurück. »Gott ist uns gnädig«, sagte er, als er wieder einstieg.
Lara war es wie eine Ewigkeit vorgekommen, obwohl er nur kurz weg gewesen war. Sie hatte
gefürchtet, es wären keine Unterlagen aufzufinden und der Pater würde keine neuen
Informationen haben. Key hatte den Strohhut in die Stirn gezogen, als würde er eine Siesta
halten, ließ aber die Straße nicht eine Sekunde aus den Augen. Er fürchtete, sie könnten
Aufmerksamkeit erregen.
Ciudad Central war eine Stadt im Chaos, dennoch ging das Leben weiter. Die Menschen fuhren
in überfüllten Bussen, Privatwagen oder per Fahrrad, manche gingen zu Fuß, aber man hatte
nicht den Eindruck von geschäftigem Treiben.
Es herrschte eine angespannte, wachsame Atmosphäre. Die Passanten vermieden es, in Gruppen
zusammenzustehen, aus Angst, die Soldaten, die ständig in ihren vorbeipreschenden Vehikeln
präsent waren, könnten es missinterpretierten und eine illegale Versammlung vermuten. Die
nervösen Mütter hielten die Kinder an der Hand, und die Händler wickelten ihre Geschäfte ab,
ohne sich durch Plaudereien aufzuhalten.
Lara und Key waren erleichtert, als Pater Geraldo zurückkam. »Haben Sie herausgefunden, wo
Ashley begraben liegt?«, fragte Lara aufgeregt.
»Nein, aber es gab eine Sterbeurkunde. Und die wurde von einem gewissen Dr. Tomas
Quinones Soto unterzeichnet.«
»Fahren wir«, sagte Lara zu Key.
»Einen Moment«, wandte Key ein und drehte sich zum Priester um. »Dieser Dr. Soto – auf
wessen Seite steht der?«
Lara war zu ungeduldig, um sich darüber Gedanken zu machen. »Das ist doch egal.«
»Ganz und gar nicht.«
»Er ist Arzt wie ich. Das hebt uns über politische Einstellungen hinweg. Er wird mir
weiterhelfen, von Kollege zu Kollege.«
»Wann wirst du endlich erwachsen?«, fragte Key aufgebracht. »Woher willst du wissen, ob er
nicht El Manos Schwager oder vielleicht ein Spion von Escavez ist? So oder so, wenn wir zu ihm
gehen und das Falsche sagen, sind wir erledigt.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Pater Geraldo, der den Streit schlichten wollte, zu Key: »Ich bin Dr.
Soto bei meiner Arbeit des Öfteren begegnet. Mir ist nicht bekannt, dass er einer bestimmten
Seite angehört. Zu ihm können alle um Rat kommen, wie zu mir übrigens auch.«
»Siehst du? Können wir jetzt los?«
Key ignorierte sie. »Und wenn er noch so sympathisch ist, er würde ein großes Risiko eingehen,
wenn er uns hilft. Vielleicht ein zu großes, und er weigert sich, mit uns zu sprechen. Im
schlimmsten Fall könnte er uns El Manos Todesschwadron auf den Hals hetzen.«
»Das Risiko nehme ich auf mich«, sagte Lara.
»Es geht aber nicht nur um dich.«
»Wenn du nicht mitkommen willst, fahre ich eben allein.«
Key versuchte, sie mit seinem Blick einzuschüchtern. Als das aber nicht funktionierte, wandte er
sich zu Pater Geraldo um. »Was sagt Ihnen Ihr Instinkt über den Doktor?«
Die dunklen Augen des Priesters verrieten Unentschlossenheit. Dann antwortete er: »Ob er sich
nun entscheidet, uns zu helfen oder nicht, ich glaube, dass er schweigen wird.«
Lara stimmte ihm zu.
»Also gut«, murmelte Key, »ihr sollt euren Willen haben, aber wir gehen nach meinem Plan
vor.«
Lara und Key saßen im vollgestopften Büro des Arztes im Krankenhaus und warteten, während
Pater Geraldo als ihr Sprecher unterwegs war. Obwohl Key die Jalousien vor der
Nachmittagssonne heruntergelassen hatte, war es stickig heiß im Zimmer. Lara klebten die
Kleider auf der feuchten Haut. Auf Keys Hemd hatte der Schweiß ein dunkles Dreieck geformt,
und er wischte sich von Zeit zu Zeit mit dem Ärmel über die Stirn. Sie verschwendeten keinen
kostbaren Sauerstoff durch überflüssige Gespräche.
Außerdem diente ihr Schweigen als Vorsichtsmaßnahme, da sie nicht mit ihren Stimmen die
Aufmerksamkeit des Krankenhauspersonals auf sich ziehen wollten. Ihre Anwesenheit hier dürfte
nicht ganz einfach zu erklären sein.
Sie warteten endlos lang. Lara faltete die Arme auf dem Tisch und ließ den Kopf darauf sinken.
Sie waren jetzt schon über zwei Stunden hier. Wieso dauerte das so lange? Sie malte sich die
wildesten Dinge aus: Man hatte sie entdeckt, und bewaffnete Truppen waren dabei, das
Krankenhaus zu umstellen. Key hatte recht, und Dr. Soto benutzte seine Position als Arzt als
Tarnung und war in Wirklichkeit ein Spion. Er hatte Pater Geraldo durchschaut und folterte ihn,
um die Wahrheit zu erfahren und …
Key und sie hörten gleichzeitig, wie spanisch sprechende Stimmen näher kamen. Key ging
hinter der Tür in Position und bedeutete Lara durch eine Geste, still zu sein und aus dem
Sichtfeld zu bleiben, bis der Arzt im Zimmer war.
Ihr Herz klopfte heftig. Schweiß lief ihr zwischen die Brüste. Der Türknauf drehte sich, und Dr.
Tomas Quinones Soto betrat vor dem Priester den Raum. Er tastete nach dem Lichtschalter und
knipste ihn an. »Es war eine Routinegeburt, aber manchmal treten unvorhergesehene …«
Er entdeckte Lara und sah sie verstört an.
»Vergeben Sie mir, Doktor«, murmelte der Priester, während er den Arzt sanft über die
Türschwelle in das Zimmer schob. Noch immer auf Spanisch erklärte er: »Ich habe Ihnen nicht
ganz die Wahrheit gesagt. Ich würde wirklich gern mal mit Ihnen über die Möglichkeit einer
Suppenküche für die Armen sprechen, aber nicht unbedingt jetzt.«
Key schloss die Tür hinter ihnen.
Pater Geraldo entschuldigte sich bei Key und Lara für das lange Warten. »Er hat gesagt, er würde
mit mir sprechen, aber erst müsste er noch ein Baby holen. Aber die Wehen haben sich
verzögert.«
»Sind Sie Amerikaner?«, fragte der Mediziner in tadellosem Englisch. »Wie sind Sie über die
Grenze gekommen? Sagen Sie mir bitte, was das Ganze soll.« Mit sichtlichem Unbehagen
musterte er Keys ernste Miene und die Pistole, die er im Hosenbund stecken hatte. Dann
wanderte sein Blick zum Priester und zu Lara, die nun neben seinem Schreibtisch stand. »Wer
sind Sie?«
»Mein Name ist Dr. Lara Mallory«, begann sie. Obwohl ihre Lippe nicht mehr blutete, fühlte sie
sich bleischwer an. »Ich habe vor drei Jahren mit meinem Mann, Botschafter Randall Porter, hier
in Montesangrines gelebt.«
»Ja, richtig«, erinnerte er sich. »Ich habe Ihr Foto in den Zeitungen gesehen. Ihr Mann wurde
entführt und hingerichtet. Eine Tragödie. So viel sinnlose Gewalt.«
»Ja.«
»Die Ärzteschaft hier bedauert den Tod des Botschafters noch immer sehr. Seit die
diplomatischen Beziehungen zu Ihrem Land abgerissen sind, ist die Versorgung mit medizinischen
Hilfsgütern und Medikamenten sehr, sehr mangelhaft geworden.«
»Als Medizinerin kann ich Ihr Dilemma sehr gut verstehen.« Sie tat ein paar Schritte auf ihn zu.
»Dr. Soto – ich könnte dafür sorgen, dass Sie eine Fülle von Gütern bekommen, wenn Sie mir im
Gegenzug dafür jetzt helfen.«
Der Arzt warf einen fragenden Blick über die Schulter zu Key, dann zum Pater und schließlich
wieder zu Lara. »Ich verstehe nicht … Wobei soll ich Ihnen helfen?«
»Das Grab meiner Tochter zu finden.«
Dr. Soto schwieg verblüfft.
»Meine Tochter kam bei der Entführung meines Mannes im Kugelhagel um. Sie wurde hier
begraben. Meine eigene Regierung und die verschiedenen Regimes Ihres Landes haben meine
wiederholten Bitten um Exhumierung und Überführung ihrer sterblichen Überreste ignoriert.
Jetzt bin ich selbst gekommen, um sie zu holen. Aber ich weiß nicht, wo ihr Grab ist.«
Weiter unten auf dem Flur war das Geräusch quietschender Gummisohlen auf den Fliesen zu
hören. Klappern von Besteck und Porzellan kündigte an, dass Essenszeit war. Doch in dem
winzigen Büro neben dem Notausgang herrschte völlige Stille.
Schließlich räusperte sich der Arzt. »Ich möchte Ihnen mein tiefstes Beileid ausdrücken, und Sie
haben meine Bewunderung, dass Sie so eine gefährliche Mission auf sich nehmen, aber ich kann
Ihnen leider überhaupt nicht weiterhelfen. Woher sollte ich wissen, wo man Ihre Tochter
beerdigt hat?«
»Sie haben ihre Sterbeurkunde unterschrieben.« Lara kam noch näher auf ihn zu. Keys Körper
spannte sich an, und er griff nach der Waffe, aber Lara gebot ihm mit einem schnellen Blick, sich
nicht einzumischen. »Erinnern Sie sich noch an den Vorfall?«
»Natürlich.«
»Ihr Name war Ashley Ann Porter. Ihr Todestag war der 4. Mai, unmittelbar bevor die
Revolution offiziell ausgerufen wurde.«
»Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie Ihr Mann und Ihre Tochter umkamen. Sie wurden
bei dem Überfall verletzt.«
»Dann müssen Sie sich doch auch daran erinnern, Ashleys Sterbeurkunde unterzeichnet und ihre
Leiche zur Beerdigung freigegeben zu haben.«
Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er war ein gedrungener Mann, stabil gebaut und kleiner als
Lara. Sein Gesicht war breit, mit einer flachen Nase, die auf eine indianische Abstammung
deutete. Seine Hände waren groß und wirkten viel zu grob für einen Chirurgen, aber Pater
Geraldo hatte ihnen erzählt, dass Dr. Soto ein anerkannter Arzt auf diesem Gebiet war.
»Bedauerlicherweise kann ich mich nicht daran erinnern, ein solches Dokument unterzeichnet
zu haben.«
Lara stieß einen verzweifelten Schrei aus. »Das müssen Sie aber!«
»Bitte verstehen Sie doch«, sagte er hastig. »Die Stunden und Tage nach der Ermordung des
Botschafters waren die turbulentesten, die unser Land je erlebt hat. Es gab Hunderte von Opfern.
Unser Präsident und seine Familie sind gerade noch mit dem Leben davongekommen. Jeder, der
auf irgendeine Weise für ihn gearbeitet hat, wurde öffentlich hingerichtet. Die Straßen waren
blutgetränkt.«
Lara hatte von ihrem Krankenhausbett in Miami aus die Ereignisse anhand der Zeitungsberichte
verfolgt. Sie zweifelte nicht an der Schilderung des Arztes.
Key, der zum ersten Mal seit Eintreffen des Arztes das Wort ergriff, war da schon skeptischer.
»Und Sie erinnern sich nicht an ein kleines angloamerikanisches Mädchen unter den Opfern?«
Soto schüttelte den kahlen Kopf. »Nein, tut mir leid, Señor, aber ich muss Sie enttäuschen.«
Lara holte ein paarmal tief Luft, um sich zu sammeln, und streckte dann dem Arzt die Hand
entgegen. »Danke, Dr. Soto, und entschuldigen Sie bitte unseren dramatischen Auftritt.«
»Ich verstehe Ihre Vorsicht. Ihr Mann war schließlich nicht sehr beliebt bei den Rebellen, die
jetzt an der Macht sind.«
»Mein Mann vertrat die Vereinigten Staaten und die politische Position unseres Landes, die die
Regierung von Präsident Escavez befürwortete. Er hat lediglich seine Arbeit getan.«
»Ich verstehe«, sagte Dr. Soto. »Und doch muss ich sagen, dass die Familien und Bekannten der
Männer, die von Escavez’ Spießgesellen gefoltert und ermordet wurden, nicht so großzügig
vergeben werden wie Sie.«
»Können wir uns darauf verlassen, dass dieses Gespräch unter uns bleibt?«, fragte Key abrupt.
»Por supuesto. Ich würde Sie niemals hintergehen.«
»Falls doch, werden Sie es bitter bereuen.«
Pater Geraldo trat zwischen sie. »Ich denke, wir sollten jetzt Dr. Soto nicht länger von der
Arbeit abhalten.«
»Ja«, pflichtete Lara ihm bei. »Es gibt keinen Grund, noch länger zu bleiben.«
Pater Geraldo erteilte Dr. Soto seinen Segen und entschuldigte sich noch einmal dafür, ihn
ausgetrickst zu haben. Dr. Soto versicherte dem Priester, dass er es verstünde. Als Lara zur Tür
ging, legte ihr der Arzt eine Hand auf den Arm. »Es tut mir leid, Señora Porter. Ich wünschte, ich
könnte Ihnen behilflich sein. Buena suerte.«
»Muchas gracias.«
Sie schlang sich das Tuch um den Kopf und folgte Pater Geraldo auf den Korridor. Key bildete
den Schluss. Der Priester führte sie durch den Flügel, den die Regierung aus Geldmangel
stillgelegt hatte, ins Freie. Viele Jahre hatte der Priester hier erkrankte Gemeindemitglieder
besucht und kannte sich dementsprechend gut aus.
Sie gelangten ungehindert auf die Straße. Überrascht stellte Lara fest, dass es inzwischen dunkel
geworden war. Aber im Grunde war es ihr völlig egal, ob es Tag oder Nacht war.
Nach den großen Hoffnungen, die sie sich gemacht hatte, nachdem Pater Geraldo die
Sterbeurkunde eingesehen hatte, waren die Begegnung mit Dr. Soto und ihre Ergebnislosigkeit
umso enttäuschender. Das Schicksal hatte sich gegen sie verschworen, und ihr fehlte die Kraft,
sich dagegenzustemmen.
Sie hatte noch immer vor, in die Botschaft zurückzukehren, in der Hoffnung, dort Emilio
Sanchez Peron zu begegnen. Aber jetzt musste sie sich erst einmal ausruhen. Das würde ihr neue
Kraft geben. Sie wusste, dass sie nach einigen Stunden Schlaf wieder neue Energien und Ideen
haben und alles viel optimistischer sehen würde.
Damit baute sie sich innerlich auf, als sie in Richtung Jeep gingen.
Aber sie kam nicht so weit. Key zog sie hinter einen der Müllcontainer hinter dem
Krankenhaus. »Pst! Pater!«
Pater Geraldo drehte sich um. »Was ist?«
»Wieso spielen wir Verstecken? Es ist doch überhaupt niemand zu sehen!«, beschwerte sich Lara.
Key winkte Pater Geraldo heran. »Um welche Uhrzeit wird Dr. Soto das Krankenhaus
verlassen?«
Er zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Wieso?«
»Unser lieber Doktor lügt.«
»Aber ich kenne ihn …«
»Vertrauen Sie mir dieses eine Mal, Pater«, unterbrach Key ihn. »Sie sind vielleicht ein guter
Menschenkenner, was Heilige betrifft, aber wenn es um Sünder geht, kenne ich mich besser aus.
Und ich sage, dass er lügt.«
»Aber warum?«, fragte Lara.
»Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden. Er hat gesagt, er könne sich nicht an deine
Tochter erinnern. Das ist Unsinn«, erklärte Key. »Dieser Überfall hat in der ganzen Welt für
Schlagzeilen gesorgt. Ich war damals im Tschad, als es passierte, und selbst dort stand es auf allen
Titelseiten. Es hat die Revolution eingeleitet, gut. Und sicher haben sich die Leichen auf den
Straßen nur so gestapelt, auch richtig. Und er ist vielleicht auch in diesen Leichen halb erstickt –
aber das ist alles kein Grund zu vergessen, dass man die Sterbeurkunde der kleinen Tochter des
amerikanischen Botschafters unterzeichnet hat, die in einem Kugelhagel ums Leben kam. Absolut
unmöglich …«
Es war verblüffend, dass Lara ihm vollkommen vertraute. Mit seinem dunklen Stoppelkinn sah
er aus wie der gemeinste aller Desperados – wie ein Mann, der die Gefahr anzog und sie genoss.
Seine stechend blauen Augen bewegten sich wie Quecksilber, als er die angrenzenden Gebäude
musterte. Nicht die kleinste Bewegung entging ihnen. Und sein Ton war ruhig, sicher, bestimmt
und überzeugend.
»Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte Lara.
Ihr Vertrauen musste sich lautlos auf ihn übertragen haben, denn sein Blick blieb plötzlich auf
ihr. »Wir warten.«
Bei dem Klang des tödlichen Klickens blieb Dr. Soto wie erstarrt stehen. Key stieß ihm den Lauf
der Beretta in den Nacken und drehte ihm gleichzeitig den Arm auf den Rücken.
»Ein Mucks, und Sie sind mausetot.« Keys Stimme war kaum mehr als ein Zischen, so leise wie
das Flüstern der Zweige in der lauen Brise. »Los.«
Der Arzt wehrte sich nicht. Er ging zum Jeep, der aus dem dunklen Schatten der Gasse
auftauchte. Pater Geraldo saß mit aufmerksamem, gleichzeitig aufgeregtem Blick hinter dem
Steuer. Lara hockte auf der Kante der Rückbank und klammerte sich an die Lehne des
Beifahrersitzes. Sie beobachtete, wie Key mit ihrer Geisel näher kam.
»Filz ihn, Lara«, wies Key sie an. Sie sprang aus dem Wagen und tastete den Arzt ab.
»Ich bin unbewaffnet«, sagte der Mediziner mit einigem Stolz.
»Und Sie sind ein lausiger Lügner«, entgegnete Key. Lara bestätigte mit einem Nicken, dass der
Arzt keine Waffe versteckt hatte. Danach kletterte sie wieder auf die Rückbank. »Los, steigen Sie
ein.«
Soto tat, wie Key ihm befohlen hatte, und kletterte auf den Beifahrersitz. Key nahm neben Lara
Platz, die Beretta in die Nackenbeuge des Arztes gepresst. Pater Geraldo legte den Gang ein, und
sie fuhren los.
»Wo bringen Sie mich hin? Um Himmels willen, bitte … Ich weiß nicht, was das alles soll! Was
wollen Sie von mir?«
»Die Wahrheit.« Lara beugte sich vor, damit er sie verstehen konnte. »Sie wissen mehr über den
Tod meiner Tochter, nicht wahr?«
Key rammte ihm die Pistole noch etwas fester in den Nacken. »Nein!«, protestierte der Arzt mit
hoher, dünner Stimme. »Ich schwöre, ich weiß nichts! Gott ist mein Zeuge!«
»Vorsichtig!«, warnte Key. »Wir haben einen Mann Gottes bei uns, und er wird ihm alles
erzählen.«
»Ich kann Ihnen nicht mehr sagen«, wimmerte er.
»Sie können nicht, oder wollen Sie nicht?«, sagte Lara.
»Ich kann nicht.«
»Das ist nicht wahr! Was verschweigen Sie? Sagen Sie es endlich!«
»Mrs. Porter, ich flehe Sie an!«
»Sagen Sie es!«, befahl sie.
Pater Geraldo hatte einen Weg eingeschlagen, der an einer Lichtung über dem Fluss in einer
Sackgasse endete. Der Fluss begann als klarer, rauschender Strom in den Bergen, doch auf seinem
Weg durch den Dschungel und die Stadt nahm er so viel Schlamm und Müll auf, dass er sich als
schmutzige Kloake ins Meer ergoss. Der Priester hielt an, ließ den Motor aber laufen.
»Hatten Sie am Tag des Überfalls auf den Wagen Dienst im Krankenhaus?«, fragte Lara.
Er versuchte zu nicken, was ihm wegen der Beretta nicht gelang. »Si«, flüsterte er verängstigt.
»Haben Sie meine Tochter gesehen?«
»Si. Sie war schwer verwundet.«
Lara schluckte bei der Erinnerung an den Schwall von Blut, der aus der Wunde an Ashleys Hals
geströmt war. Ohne Zweifel war ihre Hauptschlagader getroffen worden. Sie schloss die Augen,
um das Bild auszulöschen. Für Trauer war jetzt keine Zeit. »Was ist mit dem Leichnam meiner
Tochter geschehen?«
»Pater«, flehte der Arzt, »ich bitte Sie. Ich habe Familie, Gott weiß, dass ich mit Mrs. Porter
fühle, aber ich fürchte mich vor Vergeltung!«
»Dazu haben Sie auch allen Grund!«, grollte Key. »El Mano ist zwar nicht hier, aber ich bin es.
Wir sind nicht tausend Meilen weit geflogen, um uns von Ihnen mit Lügen abspeisen zu lassen.
Sagen Sie ihr endlich, was sie wissen will, oder wir schaffen Sie uns vom Hals. Comprende? Anders
gesagt – Sie sind verdammt überflüssig!«
Lara konnte Keys Einschüchterungstaktik nicht gutheißen. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass er
sie nur anwenden würde, wenn alles andere versagte. Sie war sich zwar ziemlich sicher, dass Key
seine Drohung nicht wahrmachen würde, aber sie hoffte für Soto, dass er es nicht auf einen
Versuch ankommen ließ.
»Pater?«, flehte Soto mit brüchiger Stimme, während er ängstlich auf das schlammige verseuchte
Gewässer unter ihnen starrte. »Por favor.«
Pater Geraldo bekreuzigte sich, senkte den Kopf und begann zu beten. Er hätte nicht
überzeugender sein können.
»Okay, ich habe genug von dem Mist.« Key sprang aus dem Jeep, bedeutete dem Arzt mit einem
Kopfnicken auszusteigen.
»Cementerio del Sagrado Corazón«, stieß er hervor.
»Heiliges Herz. Dort liegt sie begraben?«, fragte Key.
»Si.« Der Arzt seufzte tief. »Am Anfang haben sie die meisten Opfer dort begraben. Bringen Sie
mich hin, und ich werde es Ihnen zeigen.«
Pater Geraldo beendete sein Gebet und legte den Rückwärtsgang ein. Key kletterte auf die
Rückbank. Er hatte noch eine Warnung für den Arzt: »Wehe Ihnen, wenn Sie gelogen haben.«
»Nein, Señor. Ich schwöre, es ist die Wahrheit, beim Leben meiner Kinder.«
Der Friedhof lag am anderen Ende der Stadt. Selbst unter normalen Umständen wäre es eine
lange Fahrt gewesen, doch durch die Umwege, die der Pater wählte, dauerte es noch länger.
Mehrmals schlug er eine andere Richtung ein, um sicherzugehen, dass sie nicht verfolgt wurden,
und fuhr, um eventuellen Straßensperren zu entgehen, im Zickzack durch die scheinbar
ausgestorbenen Viertel, wo keine Laternen brannten und nur Katzen genug Mut aufbrachten, sich
zu zeigen.
Laras Nerven lagen blank, als sie endlich das Friedhofstor erreichten. »Es ist verschlossen!«
»Ja, aber die Mauer ist nicht hoch. Komm mit.« Key war als Erster aus dem Wagen. Er winkte
Soto heraus. »Beide Hände über den Kopf, und da lassen Sie sie besser auch, sonst schieße ich.«
»Sie können mich nicht erschießen, solange Sie nicht wissen, wo das Grab der Kleinen ist.«
Key ließ sich nicht beirren. Sein Grinsen hob sich außergewöhnlich weiß gegen sein dunkles
Kinn ab. »Ich habe nicht gesagt, dass ich Sie erschieße. Ich habe gesagt, ich schieße. Zum Beispiel
auf Ihre Hand. Dürfte dann ziemlich schwierig werden mit dem Verbandwechseln, ganz zu
schweigen von Operationen.« Sein Grinsen versiegte. »Und jetzt vorwärts.«
Sie hatten keine Schwierigkeiten, die niedrige Mauer zu überwinden. Soto zeigte in die
Richtung, die sie einschlagen mussten. Sie riskierten es lieber nicht, die Taschenlampe
anzuknipsen. Es stand kein Mond am Himmel, und so mussten sie sich vorsichtig an den
Grabsteinen vorbei und über den unebenen Grund vortasten.
Der Friedhof lag an einem Hang und bot eine beeindruckende Aussicht über die Stadt mit den
Bergen im Hintergrund. Auch hier machte sich der Krieg bemerkbar. Nur wenige Gräber
schienen seit Ausbruch der Revolution gepflegt worden zu sein. Es brach Lara das Herz, dass ihre
Tochter an einem Ort wie diesem begraben sein sollte, wo Unkraut wucherte und die Kreaturen
des Dschungels durch das Unterholz schlüpften.
Ashley wird nicht mehr lange hier sein müssen, schwor sie sich im Stillen.
Dr. Soto blieb am Rand einer großen und breiten Senke stehen. Er bewegte sich absichtlich
langsam, als er sich zu Lara umdrehte, damit Key nicht auf den Gedanken kam, seine Drohung
wahrzumachen. Sie erschrak über seine schimmernden Augen, bis ihr bewusst wurde, dass es
Tränen waren, die er nur mühsam zurückhielt.
»Ich wollte vermeiden, dass Sie es erfahren, aber Sie haben darauf bestanden«, sagte er. »Für Sie
wäre es sehr viel besser gewesen, wenn Sie mich nicht gezwungen hätten herzukommen. Noch
besser, Sie wären in Amerika geblieben und hätten niemals erfahren, was wirklich geschah.«
»Was soll das heißen?«, fragte Key.
Lara, mehr beunruhigt als erschrocken, trat vor bis zum äußersten Rand und sah in die Senke,
die etwa zwanzig Meter im Durchmesser betrug; ein Kreis, der an einen Meteorkrater erinnerte,
wenn auch hier und dort etwas Gestrüpp wucherte.
Noch immer verdutzt wandte sie sich zu Pater Geraldo um. Auch der starrte in den Krater mit
der aufgeschütteten Erde. Seine Schultern wirkten eingefallen, und seine Arme hingen leblos zu
beiden Seiten herab. In der einen Hand hielt er den Flachmann, ohne jedoch daraus zu trinken.
Der Anblick des Kraters war betäubend genug und ließ ihn den Rum vergessen.
Key schaute ebenfalls in das Loch, als erwartete er sich irgendeine Antwort davon. Dann,
urplötzlich, spannte sich sein Körper, und er richtete sich auf, als wäre sein Kopf an einer Leine
befestigt, die ihn hatte hochschnellen lassen. Er ließ die Pistole in den Schmutz fallen, packte den
Arzt bei den Aufschlägen seines Leinenanzugs und hob ihn hoch, bis er einige Zentimeter über
dem Boden schwebte.
»Wollen Sie uns sagen …«
»Si, si.« Key hatte dem Arzt die Tränen aus den Augen geschüttelt. Sie rollten ihm übers
Gesicht. »Doscientos, trescientos, quien sabe?«
»Zwei- oder dreihundert was?«, fragte Lara mit wachsender Panik.
Als ihr die Antwort bewusst wurde, stockte ihr der Atem. Der Mund blieb ihr offen stehen, aber
sie konnte weder ein- noch ausatmen.
Key ließ den Doktor los und lief zu ihr. »Lara!«
Der entsetzlichste Klagelaut, den sie je gehört hatte, erhob sich über die Stille des Friedhofs.
Zunächst bemerkte Lara nicht, dass er über ihre eigenen Lippen kam. Mit ausgebreiteten Armen
wollte sie sich in die Tiefe der Senke stürzen und hätte es auch getan, wenn Key sie nicht
aufgehalten hätte. Er packte sie von hinten um die Taille, ihr Oberkörper sackte nach vorn. Er
zog sie zurück, aber sie wehrte sich mit der überwältigenden Kraft einer Verzweifelten.
Schließlich gelang es ihr, sich aus seinem Griff zu winden. Sie kroch auf den Rand des Kraters
zu und krallte sich in der Erde fest. Dabei stieß sie die ganze Zeit diese unheimlichen klagenden
Laute aus.
»Nein! O Gott! Bitte, Ashley! Nein!«
Dr. Soto brabbelte irgendetwas über den Tag, an dem das Massengrab angeordnet worden war.
Bulldozer hätten es ausgehoben, um die gewaltige Anzahl von Leichen aufzunehmen. Die
Bestattungsunternehmer hätten mit der Arbeit nicht mehr nachkommen können, sagte er. Als die
Gräber voll waren, hätte man die Opfer überall verscharrt. Hunderte seien einfach auf den
Straßen liegengelassen worden, wo sie langsam verwest waren. Die Leichen seien zu einer
gesundheitlichen Bedrohung für die Lebenden geworden. Typhus und andere Epidemien seien
ausgebrochen. Die Kommandanten der Rebellen hätten das Problem so rasch wie möglich lösen
müssen.
»Lara, hör auf damit!« Key hielt sie bei den Schultern und versuchte, sie hochzuziehen. Doch sie
grub die Finger in den Boden und wollte nicht loslassen.
»Es tut mir leid, es tut mir so leid«, stammelte Soto.
Jetzt verstand Lara, weshalb er sich so gesträubt hatte, ihr vom Grab ihrer Tochter zu erzählen.
Er fürchtete Vergeltung – aber nicht von El Mano, sondern von ihr.
»Lass mich!« Als Key versuchte, sie vom Rand der Senke fernzuhalten, hinterließ sie mit ihren
Fingernägeln blutige Schrammen auf seinen Unterarmen. Er stöhnte vor Schmerz, verdoppelte
allerdings seine Anstrengung, sie zu bändigen.
»Lara …« Pater Geraldo kniete sich neben sie und sprach beruhigend auf sie ein. »Gott in seiner
unendlichen Weisheit …«
»Nein!«, schrie sie. »Kommen Sie mir nicht mit Gott!« Um gleich darauf, im nächsten Atemzug,
um Verzeihung zu bitten.
»Wer hat das getan?« Keys harter Griff umklammerte noch immer ihre Schultern, aber sein
mörderischer Blick war fest auf Dr. Soto gerichtet. »Wer hat angeordnet, dass Kinder in diesem
Massengrab beerdigt werden? Großer Gott, seid ihr alle Barbaren? Ich will einen Namen. Wer hat
das angeordnet? Ich will den Namen dieses verdammten Hurensohns!«
»Es tut mir leid, Señor, aber es ist unmöglich, den Verantwortlichen für dieses Massengrab zu
benennen. Alles geschah unter … « Dr. Sotos nächste Äußerung war ein schwaches Stöhnen. Er
griff sich an die Brust und sackte zusammen.
Pater Geraldo war bei seinem dritten Ave-Maria, als er nach vorn fiel und mit dem Gesicht
zuerst auf dem schmutzigen Boden direkt neben Laras rechter Hand aufschlug.
Entsetzt und fasziniert zugleich sah sie, wie eine dunkle Blutlache unter seinem Kopf
hervorsickerte.
»Jesus!«
Key griff nach der Beretta, die er vorhin fallen gelassen hatte, war aber nicht schnell genug. Als
Belohnung bekam er eine Stiefelspitze in die Rippen und sackte mit blutverzerrtem Gesicht und
stöhnend zusammen.
Rückwärts kriechend, versuchte Lara sich von der glitschigen Masse fortzubewegen, die einmal
Pater Geraldos Kopf gewesen war. Sie wurde so abrupt auf die Füße gezogen, dass ihre Zähne
aufeinanderschlugen.
»Buenas noches, Señora. So sieht man sich wieder.«
Es war der Anführer jener Patrouille, von der sie auf der Fahrt nach Ciudad Central kontrolliert
worden waren – Ricardo.
Der Militärtransporter fuhr durch ein Schlagloch. Lara wurde gegen die Stahlwand des Lkws
geschleudert. Seit Stunden waren sie jetzt schon unterwegs.
Noch ehe sie richtig registriert hatte, dass sie umzingelt waren, hatte man ihr die Hände auf den
Rücken gedreht und sie gefesselt. Das waren sie auch jetzt noch, was es ihr unmöglich machte,
das Gleichgewicht auf dem rumpelnden Laster zu halten. Sie wurde von einer Seite zur anderen
geschleudert und würde jede Menge Prellungen davontragen – falls sie es überhaupt überlebte.
Das musste sich erst herausstellen.
Pater Geraldo war tot. Dr. Soto war mitten im Satz gestorben. Key war lebendig. Gott sei Dank.
Er hatte wie ein Wilder geflucht, als man sie vom Friedhof zum Laster geschleppt hatte. Mehrere
Soldaten hatten ihre Habe durchwühlt, die sie im Jeep verstaut hatten. Einer hatte mit der Kamera
und den Objektiven herumgespielt, und Key hatte ihn angeschrien: »Lass gefälligst deine
dreckigen Pfoten davon.«
Sie hatten ihm, genau wie Lara, die Hände auf dem Rücken gefesselt, trotzdem war er
losgestürmt und hatte dem Soldaten die Kameratasche aus der Hand getreten. Der heißblütige
Soldat hatte ihm daraufhin mit dem Lauf seiner Pistole einen Schlag auf die Schläfe verpasst. Key
war gestolpert und auf die Knie gefallen, war aber keineswegs eingeschüchtert. Er starrte den
Soldaten an, das Blut tropfte ihm aus der Wunde am Kopf, doch er sagte grinsend: »Deine Mutter
muss mit einem verdammten Esel gefickt haben, als du gemacht worden bist!«
Ob er die Sprache nun verstand oder nicht – der Soldat fasste die Bemerkung als Beleidigung auf
und langte nach Key. Doch ehe er seine Genugtuung bekommen konnte, befahl Ricardo dem
jungen Mann, sie beide auf den Lkw zu schaffen.
Es gab eine kurze Diskussion, ob sie den Jeep mitnehmen oder dalassen sollten. Ricardo
entschied, dass einer seiner Kameraden ihnen im Jeep folgen sollte.
Lara und Key wurden auf die Ladefläche gescheucht. Ihre Sachen, darunter auch die
Kameratasche und Laras Arztkoffer, warf man ihnen nach. Die Soldaten stiegen auf, duckten sich
und zogen dann die Plane herunter. Sie konnten nichts sehen, dennoch bestanden ihre Entführer
darauf, ihnen Augenbinden anzulegen. Key wehrte sich, und sie mussten ihn zu dritt festhalten,
damit sie ihm das schmutzige Tuch um den Kopf binden konnten. Lara wusste, dass es keinen
Sinn hatte, sich zu wehren, doch ihr Blick verriet ihre ganze Verachtung, bevor sie ebenfalls die
Augen verbunden bekam.
Die Straße war buchstäblich unpassierbar. Die Soldaten waren ungewaschen. Der Gestank war
überwältigend. Lara hatte Durst, aber sie wusste, dass eine Bitte um Wasser vergebens wäre. Ihr
Rücken schmerzte ebenso wie ihre Arme. Die Fesseln um ihre Handgelenke fingen an zu
scheuern.
Sie wollte wissen, wohin sie gebracht wurden und zu welchem Zweck. Wie lange würde es
noch dauern, bis sie ihr Ziel erreicht hatten? Hatten sie überhaupt ein bestimmtes Ziel? Und was
würde geschehen, wenn sie angekommen waren?
Sie sparte sich die Frage. Es würde ihr sowieso niemand antworten. Ein einziges Mal hatte sie
versucht, mit Key zu kommunizieren, und er war prompt dafür bestraft worden.
»Lara?« Seine Kehle war scheinbar genauso ausgetrocknet wie ihre. »Bist du okay?«
»Key?«
»Gott sei Dank«, hatte er geseufzt. »Halte durch und …«
»Silencio!«
»Fick dich selbst!«
Es war ein Handgemenge gefolgt, dann ein Stöhnen erklungen, und seitdem hatte Key nichts
mehr zu ihr gesagt.
Sie versuchte, sich selbst zu hypnotisieren und im Geiste der Situation zu entfliehen, doch jedes
Mal wenn sie sich das Bild eines Sonnenuntergangs, der heranrollenden Flut oder vorbeiziehender
Wolken vorstellte, wurde es sogleich wieder vom Anblick des Massengrabs verdrängt, in dem
man ihre Tochter verscharrt hatte.
Ihr Vorhaben war damit gänzlich unmöglich geworden. Wieso versuchte sie nicht zu fliehen,
damit die Kugel eines Soldaten sie erlöste? Pater Geraldo und Dr. Soto spürten keinen Schmerz
mehr. Augenblickliche Erlösung … wie wundervoll.
Warum hatte sie noch immer den Willen zu überleben?
Nein, es war etwas Stärkeres als nur Wille. Es war der Wunsch, diejenigen bestraft zu sehen, die
zu derartiger Grausamkeit fähig waren. Die Tochter des Botschafters der Vereinigten Staaten auf
diese unglaubliche Art und Weise zu beseitigen, das verstieß gegen die Menschenrechte. Sollte sie
überleben, würde sie dafür sorgen, dass die Welt von dieser schändlichen Tat erfuhr.
Lara hatte schon oft zum Sterben verurteilte Patienten behandelt. Aber bis zu diesem Abend
hatte sie nicht begriffen, warum sie sich so sehr dagegen wehrten aufzugeben. Wieso klammerten
sie sich so stur an ihr bisschen Leben? Sie hatte oft darüber nachgedacht, wieso sich die Menschen
derart gegen den Tod sperrten. Jetzt verstand sie, warum man selbst unter den
schlimmstmöglichen Umständen überleben wollte.
Der Überlebensinstinkt war stärker, als sie geahnt hatte. Er blieb, auch wenn der Verstand bereits
aufgegeben hatte. Wenn dem nicht so wäre, wäre sie in dem Moment gestorben, als sie das
Massengrab gesehen hatte, in das ihr kleines Mädchen geworfen worden war. Der unbedingte
Zwang zu überleben brachte sie durch die lange Nacht.
Sie musste eingenickt sein, denn sie schreckte auf, als der Laster plötzlich anhielt und Geräusche
von draußen zu ihr drangen. Es roch nach Feuer und Essen.
»Oh, schon da?«, bemerkte Key sarkastisch.
Lara wurde auf die Füße gestellt und vom Laster gehoben. Ihre Gliedmaßen waren steif und
wund. Sie stolperte, als sie vorwärtsgestoßen wurde, doch die frische Luft tat gut auf der Haut und
in der Lunge. Sie atmete tief ein und versuchte, das Blut in ihren Adern wieder zum Zirkulieren
zu bringen.
Dann wurde ihr plötzlich die Augenbinde vom Kopf gezogen. Ricardo stand vor ihr und grinste
breit. »Bienvenido!« Sie wich vor seinem fauligen Atem zurück. »El Mano wartet schon darauf,
seine Gäste willkommen zu heißen.«
Sie war überrascht, dass er englisch sprach. »Ich habe El Mano auch einiges zu sagen.«
Er lachte. »Eine Frau mit Sinn für Humor. Das gefällt mir.«
»Das sollte nicht witzig sein.«
»Ist es aber, Señora, sogar sehr witzig.«
In diesem Moment warf sich ihm eine Frau in schmutzigen Arbeitshosen und einem ebenso
schmutzigen ärmellosen T-Shirt an den Hals. Nach einem beschämend intimen Kuss, bei dem er
sie ganz offen begrabschte, gurrte sie: »Komm rein, ich habe dir etwas zu essen gemacht.«
»Wo ist El Mano?«, fragte er.
»Drinnen. Er wartet schon.«
Sich gegenseitig betatschend, gingen sie auf eine schäbige Baracke zu, stiegen die brüchigen
Stufen zu der schmalen Veranda hinauf und verschwanden hinter dem Vorhang in der Tür. Die
anderen Soldaten wurden auf ähnliche Weise von den Frauen im Camp empfangen und bekamen
Schüsseln mit Essen aus dem Gemeinschaftskochtopf über dem Lagerfeuer gereicht. Sie tranken
frischen Kaffee. Lara wäre schon mit einem Schluck Wasser zufrieden gewesen. Ihre Lippe war
noch immer wund und geschwollen.
Key und sie wurden von zwei Männern mit halbautomatischen Waffen bewacht. Als Lara Key
sah, stockte ihr zunächst der Atem. Er hockte auf dem Boden vor ihr, dazwischen die Wachen.
Die Wunde an seiner Schläfe war blutverkrustet. Sie sah schlimm aus und musste dringend
desinfiziert werden, wahrscheinlich sogar genäht. Sie fragte sich, ob man ihr erlauben würde, ihre
Arzttasche zu benutzen, bezweifelte es allerdings.
Key hatte tiefe Ringe unter den Augen, doch sie hatte sie vermutlich auch. Seine Kleider waren
wie ihre, schmutzig und verschwitzt. Der Tag war gerade angebrochen – an der Sonne konnte es
nicht liegen, aber die Luft war so feucht, dass die Wipfel der Bäume, die die Lichtung im
Dschungel säumten, nebelverhangen waren.
Key starrte Lara mit einem intensiven Blick an, doch seine stille Botschaft war nicht notwendig,
sie erkannte auch so, wie heikel die Lage war. Aber als er ihre Aufmerksamkeit erst einmal hatte,
wanderte sein Blick zu der Kameratasche, die einer der Soldaten aus dem Jeep geladen und in
ihrer Nähe abgestellt hatte.
Er wollte etwas mitteilen, aber sie begriff nicht, was.
Dann formte er das Wort »Magnum« mit den Lippen. Sie warf einen Blick auf die
Kameratasche. Als sie ihn wieder ansah, nickte er fast unmerklich.
»Señora, Señor … « Ricardo schlenderte aus der Tür und lehnte sich an einen der Pfeiler, die das
defekte Dach stützten. »Sie haben Glück. El Mano wird Sie jetzt empfangen.«
Eine respektvolle Stille legte sich über das Camp. Diejenigen, die beim Essen waren, stellten ihre
Schüsseln beiseite. Alle Blicke wandten sich der Tür zu. Selbst die Kinder, die sich jagten und
Erschießen spielten, hielten inne. Die Rebellen, die die Frauen mit Märchen über ihre
angeblichen Heldentaten zu beeindrucken versuchten, verstummten. Jedermanns Aufmerksamkeit
war auf die Veranda vor der Baracke gerichtet.
Schließlich wurde der Vorhang feierlich zur Seite geschoben, und ein Mann trat ins Freie.
Lara sank auf die Knie. Kaum hörbar stieß sie seinen Namen aus.
»Emilio!«
Kapitel 22
El Mano del Diablo bedachte seine Gefangenen mit seinem glattesten Lächeln. Er warf einen
kurzen, neugierigen Blick auf Key, wandte sich aber dann gleich wieder Lara zu. Key bezweifelte,
dass ihr überhaupt bewusst war, dass sie auf die Knie gefallen war.
In dem Moment, als er das dachte, erhob sie sich langsam wieder. »Ich kann es nicht glauben,
Emilio, was …«
»Emilio Sanchez Peron gibt es nicht mehr«, unterbrach er sie. Das aalglatte Lächeln war
verschwunden. »Ich bin schon lange nicht mehr der naive, idealistische Junge. Spätestens seit der
Revolution und Ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten.« Die beiden letzten Worte spuckte er
beinahe aus. »Eine Nation, der meine tiefste Verachtung gilt.«
Key verabscheute, was der junge Mann sagte, aber er bewunderte die Art und Weise, wie er es
sagte. Er sprach fließend Englisch, ohne die Spur eines Akzents.
Die schäbige Kulisse unterstrich sein akkurates Erscheinungsbild noch. Er war rasiert und wirkte
makellos sauber, was unter den Umständen mitten im Dschungel sicher nicht ganz einfach war.
Er trug das schwarze Haar so glatt zurückgekämmt, dass sein Kopf wie eine Bowlingkugel glänzte.
Im Nacken hatte er einen kurzen Zopf. Diese Frisur hob seine hohen Wangenknochen, das ovale
Gesicht und den strengen, schmalen Mund hervor. Er trug eine Brille mit dünnem Goldgestell.
Key war schon einigen harten Anführertypen begegnet, aber er konnte sich an keinen erinnern,
der so eiskalt wie Emilio Sanchez gewirkt hatte. Emilio war von der Statur eher schmal, doch in
seinen Augen spiegelte sich eine tödliche Kälte, symptomatisch für grenzenlose Grausamkeit. Er
hatte die Augen einer Schlange.
»Wenn Sie die Vereinigten Staaten so sehr hassen, wieso haben Sie dann für meinen Mann in
der Botschaft gearbeitet?«, fragte Lara.
»Durch meine Stellung dort bin ich an sehr nützliche Informationen gelangt«, antwortete er.
»Mit anderen Worten – Sie haben spioniert?«
Er grinste. »Von Ihnen und Ihrem Mann habe ich Sie schon immer für die Klügere gehalten.«
»Sie haben die Botschaft als Quelle benutzt. Und wie lange ging das so?«
»Von Anfang an.«
»Sie Bastard.«
Ein Murmeln erhob sich unter denen, die des Englischen mächtig waren. El Mano verging das
Grinsen, als würde es in der Hitze schmelzen. »Sie sind eine Närrin, Mrs. Porter, noch einmal
nach Montesangrines zurückzukehren, wo Sie das letzte Mal so knapp mit dem Leben
davongekommen sind.«
»Ich bin gekommen, um die sterblichen Überreste meiner Tochter zu holen. Ich möchte sie in
die Vereinigten Staaten überführen.«
»Dann sind Sie vergeblich gekommen.«
»Das weiß ich jetzt auch. Ich verachte die Montesangriner, die sie in dieser Grube verscharrt
haben.« Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie hielt sich jetzt aufrecht. »Gott wird euch alle
verdammen.«
»Ich muss Sie enttäuschen, Mrs. Porter, aber die Verbindung zu Gott ist von Montesangrines aus
nicht so gut. Er hat das Volk schon seit Jahrzehnten nicht mehr erhört. Leider glauben wir nicht
mehr an seine Existenz.«
»Haben Sie deshalb Pater Geraldo so einfach hinrichten lassen?«
»Den betrunkenen Priester?«, fragte er abfällig. Ricardo schlug ihm auf die Schulter, als hätte er
einen Witz gerissen. »Der hat seine Schuldigkeit getan. Jetzt wäre er nicht mehr als ein weiteres
hungriges Maul in einem Land voller hungernder Menschen.«
»Und was ist mit Dr. Soto? Er war Ihrem Regime doch sicher nützlich.«
»Ja, und Escavez auch.«
»Sie haben sein Leben sinnlos vergeudet. Dr. Soto hat Menschen geheilt, und er dachte nicht
politisch, wenn er Leben rettete.«
»Was auch sein Verderben war«, ergänzte El Mano. »In Montesangrines muss man sich eben zu
einer Seite bekennen. Da wir gerade dabei sind …« Sein Blick wanderte zu Key. »Das ist der
einzige Grund, weshalb Sie noch am Leben sind, Mr. Tackett. Meine Neugier.«
»Mein Leben ist ein offenes Buch«, sagte Key.
Die Wachen hatten ihm erlaubt aufzustehen. Seine Rippen schmerzten höllisch. Wahrscheinlich
hatte man ihm ein paar bei der Attacke auf dem Friedhof gebrochen. Aber sein Kopf tat noch
schlimmer weh. Die Wunde an seiner Schläfe war getrocknet, aber sein ganzer Schädel schmerzte.
Er juckte zudem vom getrockneten Schweiß, der eine salzige Kruste hinterlassen hatte. Aber vor
allem plagte ihn ein mörderischer Hunger.
Sanchez sagte: »Sie helfen der Hure, die die politische Karriere Ihres Bruders zerstört hat. Das
erscheint mir sonderbar. Was hat Sie dazu veranlasst, Ihr Leben für sie aufs Spiel zu setzen?«
»Nicht für sie. Für ihre Tochter. Ich glaube, dass sie möglicherweise das Kind meines toten
Bruders war.«
»Tatsächlich?« El Mano zog ein zusammengefaltetes weißes Taschentuch aus der Gesäßtasche
seiner Hose und tupfte sich die Stirn ab. Selbst Despoten litten also unter der Hitze des
Dschungels.
Mit Genugtuung sah Key, dass der andere Mann nicht immun gegen die Umstände war. Es
machte seinen eigenen Schmerz und sein Unwohlsein erträglicher. »Jetzt, da ich weiß, was mit
Ashleys Leiche passiert ist, teile ich Laras Meinung über Ihr Land.«
»Und die lautet?«, fragte Sanchez, während er das Taschentuch sorgfältig wieder verstaute.
»Montesangrines ist eine Jauchegrube und El Mano del Diablo ist das Scheißhauspapier.«
Ricardo zog blitzartig die Pistole aus dem Halfter und richtete sie auf Key. Sanchez hob
beschwichtigend die Hand. Ricardo ließ die Waffe sinken, starrte Key aber mit tödlichem Blick
an.
»Sie sind entweder sehr dumm oder sehr tapfer«, sagte Sanchez nachdenklich. »Ich ziehe es vor
zu glauben, dass Sie sehr tapfer sind. Nur ein tapferer Mann würde es wagen, ohne Erlaubnis mit
einem Flugzeug mein Land anzusteuern.« Er ließ erneut sein reptilienhaftes, eiskaltes Grinsen
aufblitzen. »Aber trotz Ihrer Flugkünste und der albernen Charade, die der Priester und Sie
aufgeführt haben, als meine Männer Sie angehalten haben, waren wir genauestens informiert, wo
Sie gelandet sind. Ich habe die Maschine selbst nicht gesehen, aber Ricardo hat mir berichtet, dass
es ein hervorragendes Flugzeug ist. Sehr gut ausgestattet. Es wird uns bei unserem Kampf äußerst
dienlich sein. Vielen Dank für die großzügige Spende für unseren Zweck.«
Key sah Lara an. Als sich ihre Blicke trafen, konnte er nichts weiter tun, als hilflos mit den
Schultern zu zucken. Er hatte kein As mehr im Ärmel. Selbst wenn er an die Magnum in der
Kameratasche käme; er würde niedergestreckt werden, bevor er sie benutzen könnte. Danach
würden sie Lara umbringen. Und ihr Tod wäre vermutlich weniger gnädig und schnell.
»Nehmt ihnen die Fesseln ab.«
El Manos Befehl kam überraschend. Ricardo protestierte, aber Sanchez herrschte ihn an: »Wir
sind keine Wilden. Gebt ihnen Wasser und etwas zu essen.«
Ricardo gab den unbequemen Befehl an seine Untergebenen weiter, die Key und Lara grob auf
die Knie zwangen. Mit atemberaubender Heftigkeit trennten sie ihnen die Fesseln an den Händen
durch. Keys Gelenke waren wundgescheuert. Aber Laras, wie er feststellte, sahen noch schlimmer
aus. Ihre Haut war aufgeplatzt und blutete.
Dann brachte man ihnen grobe Schalen mit Eintopf, der zum größten Teil aus Reis und
Bohnen bestand. Die wenigen Stücke Fleisch waren undefinierbarer Herkunft. Key hielt es für
besser, nicht zu wissen, was er da aß. Ein Junge mit einem schlanken, sehnigen Körper und
Augen so feindselig wie die von El Mano brachte ihm einen Krug mit Wasser. Er trank gierig.
Als er den Krug wieder absetzte, bemerkte er die Unruhe neben ihm. Lara hatte die Schale mit
dem Eintopf umgeworfen und musste sich Hohn gefallen lassen, weil sie auch das Wasser, das
man ihr angeboten hatte, verschüttete.
»Das war kindisch, Mrs. Porter«, bemerkte El Mano. Jemand hatte ihm einen Stuhl gebracht. Er
saß auf der Veranda mit einem Mädchen an jeder Seite, die ihm Luft zufächerten. »Es überrascht
mich, Sie so impulsiv zu sehen. Ich erinnere mich an Sie als eine Frau, die selten ihre Gefühle
verriet.«
»Ich würde niemals etwas von Ihnen annehmen, nach allem, was Sie Pater Geraldo und Dr. Soto
angetan haben.«
»Wie Sie wünschen.«
Sie sah zu Key. Das Unverständnis stand ihr ins Gesicht geschrieben. Er zuckte nur mit den
Achseln, obwohl er sich bewusst war, dass die Geste ihren Zorn auf ihn nur verstärken würde,
weil er das ihm angebotene Essen angenommen hatte. Wenn sie überhaupt eine Chance hatten,
hier wieder rauszukommen, mussten sie bei Kräften sein.
Vielleicht war er nicht so konsequent wie Lara, aber er dachte um vieles praktischer. Noch vor
wenigen Augenblicken hatte er Mitleid mit ihr gehabt. Jetzt hätte er sie am liebsten erwürgt, weil
sie das Wasser verschüttet hatte, das sie so nötig brauchen würde.
Auf ein Zeichen von Sanchez hin löste sich eine Gruppe Guerilleros und verschwand hinter
dem Haus. Nachdem das Geschirr abgeräumt war, kehrten die Soldaten mit einer Frau und einem
Mann zurück; beiden hatte man die Hände auf dem Rücken gefesselt.
Sie waren schmutzig. Der Gestank von Körpergeruch und Exkrementen war überwältigend,
eine Herausforderung für Keys gefüllten Magen. Dem Mann hatte man auf den Kopf geschlagen.
Sein Haar war blutverkrustet. Sein Gesicht war derart geschwollen und mit Blutergüssen und
blauen Flecken überzogen, dass Key zweifelte, ob ihn seine Familie wiedererkannt hätte.
Der Frau aber war wahrscheinlich noch Schlimmeres zugefügt worden. Als man sie vorwärts
trieb, kamen von den Soldaten Pfiffe und Schimpfwörter auf Spanisch, die Key noch aus seiner
Jugend kannte. Es war nicht schwer zu erraten, wie sie gefoltert worden war. Ihr Blick war leer,
und sie wirkte völlig apathisch. Sie reagierte auf nichts in ihrer Umgebung.
Sanchez erhob sich von seinem Stuhl und trat an den Rand der Veranda. »Dieser Mann und
diese Frau«, wandte er sich an Key und Lara, »hatten Sex, während sie zur Wache eingeteilt
waren. Als Folge ihrer Nachlässigkeit gelang es Escavez’ treuen Truppen, eines unserer Lager zu
überfallen. Seine Anhänger sind bei dem Kampf umgekommen, aber vorher konnten sie noch
zwei meiner Männer töten.«
»Por favor«, stammelte der Mann durch seine dicken, geschwollenen Lippen. »El Mano, lo siento
mucho. Lo siento.« Er murmelte wiederholt Entschuldigungen. Sie sei seine Verlobte, versicherte
er. Sie würden sich schon lieben, seit sie Kinder waren. Dennoch gab er zu, dass es falsch gewesen
war, das Leben der Kameraden aufs Spiel zu setzen.
»Sie ist eine Hure«, entgegnete Sanchez gelassen. »Sie hat es vergangene Nacht mit fünfzig
Männern getrieben.«
Der Mann schluchzte, protestierte aber nicht. Er flehte um Gnade, schwor beim Grab seiner
Eltern, dass er nie wieder seine Pflichten vernachlässigen würde. Er fiel auf die Knie und rutschte
vorwärts, bis er nur wenige Zentimeter von Sanchez’ blankpolierten Stiefelspitzen entfernt war.
Er appellierte an seinen Kommandanten, ihnen zu vergeben und Gnade walten zu lassen.
»Du gibst also zu, dass es Lust war, die deine Kameraden das Leben kostete? Du bist schwach.
Ein dummer Lüstling, ein Sklave deiner selbstsüchtigen Gelüste. Sie ist eine Hure, eine geile
Schlampe, die es mit jedem treiben würde.«
»Si, si.« Der Beschuldigte nickte heftig.
»Die Befreiung Montesangrines’ ist das Einzige, wo derart ungezügelte Leidenschaft angebracht
ist. Wir alle müssen bereit sein, persönliche Opfer zu bringen.«
»Si, El Mano, si.«
»Vielleicht sollte ich dich kastrieren lassen.«
Die leise gesprochene Drohung löste einen Schwall von Bitten und Beschwörungen in
schnellem Spanisch aus, dem Key nur mühsam folgen konnte.
»Nun gut, dann werde ich dich nicht entmannen.« Der Mann fing vor Erleichterung an zu
weinen und zu jammern und pries immer wieder El Manos grenzenlose Güte. »Aber solche
Nachlässigkeit darf nicht ungestraft bleiben.«
Wie ein Chirurg, der die Hand nach dem Skalpell ausstreckt, hielt Sanchez seine Hand auf.
Ricardo drückte ihm die Pistole in die Hand. El Mano beugte sich vor, setzte dem unterwürfigen
Mann den Lauf an die Stirn und drückte ab.
Die Frau schreckte bei dem plötzlichen Knall zusammen, schien aber unberührt von dem Blut
und der herausspritzenden Gehirnmasse ihres Verlobten. Auf ein Zeichen von El Mano hin trat
Ricardo von der Veranda und stellte sich hinter sie. Er griff ihr ins lange Haar und zog ihren Kopf
hoch, um ihr dann mit einem Messer die Kehle durchzuschneiden. Als er sie losließ, sackte ihr
lebloser Körper neben ihren ermordeten Geliebten.
Key beobachtete Lara aus den Augenwinkeln. Sie saß still und unbewegt da. Er bewunderte ihre
Haltung. Das Spektakel hatte ihr zu Ehren stattgefunden, aber genau wie er weigerte sie sich, El
Mano die Genugtuung zu geben, mit Abscheu oder Angst darauf zu reagieren.
Vielleicht bin ich als Nächster an der Reihe, dachte Key, aber der verdammte Hurensohn wird
mich ganz sicher nicht auf den Knien um mein Leben betteln sehen.
Erwartungsvolle Spannung legte sich über das Lager. Etwas würde geschehen. Key nahm an,
dass die Spannung weniger damit zu tun hatte, dass die beiden Leichen weggeschafft wurden,
sondern mehr mit Laras und seinem weiteren Schicksal. Wahrscheinlich standen Exekutionen von
Feinden und Verrätern – wie die, deren Zeuge sie gerade geworden waren – auf der
Tagesordnung, um die Disziplin zu erhöhen und Ungehorsam zu verhindern. Die
Lagerbewohner, einschließlich der Kinder, reagierten mit Gleichgültigkeit darauf. Aber die
Bestrafung zweier Amerikaner war eine einmalige Abwechslung, etwas ganz Außergewöhnliches.
Lara ging in die Offensive.
»Sie waren einmal ein intelligenter junger Mann, Emilio Sanchez Peron.« Ihre Stimme war vor
Erschöpfung leise, aber dennoch hörte sie jeder im Lager. »Sie hätten ein großer Mann werden
können, ein großer Anführer, der Montesangrines aus der Armut und Rückständigkeit ins
zwanzigste Jahrhundert hätte führen können. Stattdessen haben Sie sich zu dem zurückentwickelt,
als was Sie mich beschimpft haben. Sie sind ein ungezogenes, feiges, selbstgerechtes Kind. Sie
reden von der Befreiung aus der Unterdrückung«, fuhr sie fort und warf einen verächtlichen Blick
in die Runde. »Diese Gemeinschaft ist die unterdrückteste, der ich je in Montesangrines begegnet
bin. Sie sind kein Führer. Sie sind ein Tyrann. Eines Tages wird einer Ihrer Anhänger Ihre
Tyrannei satthaben und keine Gnade walten lassen. Sie muss man nicht fürchten, höchstens
bemitleiden.«
Diejenigen, die Englisch verstehen konnten, hielten die Luft an ob ihrer Unverschämtheit.
Diejenigen, die es nicht verstanden, lasen in El Manos Gesicht. Es lief rot an, seine Augen
glitzerten vor Bösartigkeit.
»Ich bin kein Feigling«, sagte er steif. »Ich habe General Perez getötet, weil seine Politik die der
Schwäche war.«
»Ich will verdammt sein«, murmelte Key. Sanchez war also der Putschist gewesen, von dem
Pater Geraldo gesprochen hatte. Er war der Soldat gewesen, der seinen eigenen Kommandanten
ermordet hatte, um den Befehl über die Rebellenarmee zu übernehmen.
»Nun, Mrs. Porter«, sagte Sanchez. »Ich sehe, das überrascht Sie. Ich will, dass Sie begreifen, wie
unumstößlich mein Beschluss ist, der unumstrittene Führer dieses Landes zu werden. Ich bin
bereit, alles dazu Notwendige zu tun, auch wenn es nicht immer angenehm ist.« Sein Blick fiel
auf das frische, in der Sonne trocknende Blut.
»Zum Beispiel Ihre eigenen Leute zu erschießen?«
»Richtig.« Er ließ ein Lächeln aufblitzen, das in seiner Selbstgefälligkeit viel furchteinflößender
war als der vorangegangene brutale Akt. »Zum Beispiel. Oder zum Beispiel das Attentat auf
Botschafter Randall zu organisieren.«
Lara zuckte zusammen. Sie wurde blass. Selbst ihre Lippen wurden weiß. »Sie?«
»Ja, ich habe den Überfall organisiert, unter General Perez’ Befehl, weil ich mit dem Terminplan
des Botschafters vertraut war. Es war nicht vorgesehen, dass Sie zu der Geburtstagsfeier mitfuhren.
Sie und der Botschafter haben darüber gestritten. Er bestand darauf, dass Sie mitkamen. Sie hätten
auf Ihren Instinkt vertrauen und daheimbleiben sollen. Er war unser Ziel, nicht Sie. Wenn Sie in
der Botschaft geblieben wären, hätte ich Sie höchstwahrscheinlich herausschaffen können, bevor
sie überfallen wurde. Aber so wie es sich entwickelte, waren mir die Hände gebunden. Es war zu
spät, das Attentat abzublasen.«
»Ashley.«
Key hörte sie nicht wirklich diesen Namen aussprechen, sondern sah nur, wie ihre Lippen ihn
formten.
»Ashley.« Als die Bedeutung der Aussage sich langsam setzte, gewann ihre Stimme an Stärke
zurück, und sie schrie ihn an: »Sie haben meine Tochter getötet!«
»Ich habe nichts dergleichen getan«, sagte er. »Sie wurde Opfer eines unglücklichen Zufalls.
Tatsächlich hatte ich das Kind sehr gern.«
Sein kaltblütiges Abtun des gewalttätigen Todes ihrer Tochter war zu viel für Lara. Sie
verwandelte sich in ein Bündel wirbelnder, um sich schlagender Gliedmaßen, duckte sich und
wich zurück, was selbst ihre Wachen für den Moment lähmte, die erwartet hatten, sie würde sich
auf Sanchez stürzen.
Als sie aufhörte herumzuwirbeln, war der Inhalt der Kameratasche über den Boden verstreut,
und Lara zielte mit der Magnum auf Sanchez. Daraufhin wurde bei mindestens zwei Dutzend
Pistolen und Gewehren der Hahn gespannt.
»Nein!«
Key sprang auf, warf sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers auf Lara und riss sie mit sich
zu Boden. Der stechende Schmerz in seinem Brustkorb raubte ihm beinahe die Besinnung, aber
er hielt sie fest, versuchte, ihr die Arme nach hinten zu biegen und die Waffe zu entreißen. So
grausam die Ironie des Schicksals auch sein mochte, aber Sanchez war ihre einzige Hoffnung zu
überleben. Wenn Lara ihn tötete, wäre das auch für sie beide das Todesurteil. Solange sie am
Leben waren, bestand die Hoffnung, aus Montesangrines herauszukommen.
Lara kämpfte wie eine Tigerin, mit verblüffender Stärke. »Lass mich los! Ich bringe ihn um!«
Mehrere Soldaten stürzten sich auf sie. Key wurde von ihr heruntergezogen. Er wusste nicht,
warum die Guerilleros nicht das Feuer eröffnet und El Mano von der Bedrohung durch sie befreit
hatten. Erst als er seine gelassene Miene sah, kam Key die Vermutung, dass er eine kugelsichere
Weste tragen könnte. Wie es schien, schoss niemand ohne seinen direkten Befehl, solange das
Lager nicht direkt attackiert wurde.
»Lasst sie los.«
Die Guerillakämpfer ließen sie beim Klang seiner Stimme frei und traten zurück. Lara kam auf
die Füße, richtete die Magnum mit bemerkenswert sicheren Händen auf Sanchez.
»Lara, nein«, zischte Key. Er wehrte sich gegen die Wachen, ohne Erfolg. »Tu es nicht. Um
Gottes willen, nein!«
»Sie wird mich nicht töten, Mr. Tackett.« Sanchez hielt den Blick auf Lara gerichtet, obwohl er
zu Key sprach.
Sie spannte den Abzug. »Täuschen Sie sich nicht, Emilio. In diesem Moment bin ich zu allem
fähig. Sie sind schuld, dass mein Kind sterben musste. Ich werde Sie töten. Danach ist mir egal,
was Ihre brutalen Schergen mit mir anstellen.«
»Sie werden nicht abdrücken, Mrs. Porter, denn das würde Sie genau zu dem machen, was Sie
mir vorwerfen zu sein – ein kaltblütiger Mörder. Sie sind ein Heiler, ein Mensch, der geschworen
hat, Leben zu bewahren, nicht es zu beenden. Sie können mich nicht töten. Es spräche gegen
alles, was Sie sind und darstellen.«
Du cleverer Schweinehund, dachte Key. Sanchez bot seiner Truppe eine Galavorstellung. Dies
war der Stoff, aus dem Legenden gemacht wurden, und der kleine Bastard wusste es. Er setzte
darauf, dass Lara nicht abdrücken würde, und die Wahrscheinlichkeit sprach dafür. Er hatte über
Jahre hinweg bei seiner Arbeit in der Botschaft Zeit gehabt, sie näher kennenzulernen, und er
wusste, mit was für einer Frau er es zu tun hatte. Er kannte ihre Hingabe zu ihrem Beruf. Die
Fähigkeit zu töten war ihr einfach nicht gegeben.
»Sie Bastard.« Die Tränen hinterließen schmutzige Schlieren auf ihrem Gesicht. Die schwere
Pistole fing an zu zittern in ihrer Hand. »Ihretwegen musste mein Kind sterben.«
»Trotzdem können Sie mich nicht töten.«
»Sie haben ihren kleinen Körper in das Massengrab geworfen und verscharrt. Ich hasse Sie!«
»Wenn Sie mich so sehr hassen, drücken Sie doch ab«, reizte er sie. »Auge um Auge. Mein Tod
wäre doch nicht mehr als gerechte Vergeltung.«
Key ertrug es nicht, dass er Lara der Lächerlichkeit preisgab. Es würde sie beide das Leben
kosten, wenn sie abdrückte, aber er glaubte, dass sie sowieso in den Tod gehen würden. Er
beschloss, Sanchez mitzunehmen.
»Leg ihn um, Lara! Drück ab! Schieß ihm das verdammte Grinsen aus der Fresse!«
Sie zitterte inzwischen unkontrollierbar. Selbst wenn es ihr gelungen wäre abzudrücken, sie
hätte ihr Ziel verfehlt. Sanchez kam näher. »Bleiben Sie, wo Sie sind!«, schrie sie. »Ich schieße!«
»Niemals.«
»Doch, ich tue es!« Ihre Stimme überschlug sich.
»Das können Sie nicht.«
Sanchez streckte selbstsicher die Hand aus und legte sie auf den Lauf. Lara wehrte sich, aber er
nahm ihr die Pistole mühelos ab. Sie schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu schluchzen.
Sanchez setzte ihr, selbstgefällig grinsend, den Lauf an den Scheitel.
Keys Aufschrei war fürchterlich. Sein Brüllen hörte sich an, als käme es direkt aus der Hölle.
Sanchez lächelte. »Ihr Mitgefühl ist wirklich rührend, Mr. Tackett. Ich fürchte, Ihr
unangemessener Respekt gegenüber jeder Form menschlichen Lebens wird leider Amerikas
Untergang sein. Und Sie sind offenbar durch und durch Amerikaner. Sie wollen tatsächlich die
Nutte Ihres Bruders retten?«
»Wenn du sie umbringst, bist du ein toter Mann«, stieß Key zwischen zusammengebissenen
Zähnen hervor.
»Sie sind nicht in der Position, mir zu drohen, Mr. Tackett.«
»Wenn ich dich in diesem Leben nicht erwische, dann sehen wir uns in der Hölle wieder.«
Er wand sich unter dem Griff seiner Wachen. Er trat um sich und traf einen von ihnen am Knie.
Es knackte befriedigend. Den anderen Soldaten traf er mit dem Ellenbogen in den Magen, und
der ging ebenfalls zu Boden. Key warf sich nach vorn, musste aber in gelähmtem Entsetzen
zusehen, wie Sanchez ihm zuvorkam und den Abzug der Magnum durchdrückte.
Die leere Kammer klickte.
Key war erstarrt. Seine Knie gaben unter ihm nach, und er verlor das Gleichgewicht. Er
schwankte und landete im Dreck.
Sanchez lachte über die Vorstellung. »Ich bin kein Narr, Mr. Tackett. Ich habe die Munition
entfernen lassen, als wir die Waffe in der Tasche entdeckten. Ihr Versuch, sie vor uns zu
verstecken, war wirklich sehr amateurhaft.«
Er ließ den Revolver in die Tasche zurückfallen und wischte sich mit seinem gestärkten
Taschentuch die Hände ab. »Ich stehe in Ihrer und Mrs. Porters Schuld für die amüsante Show,
die Sie uns heute Morgen geboten haben.«
»Du verdammter Hurensohn.« Key rappelte sich auf die Füße und stolperte zu Lara. Niemand
hielt ihn zurück, was an sich schon eine Beleidigung war. Er wirkte offensichtlich zu lächerlich,
um eine Bedrohung darzustellen.
Wie sehr sie sich irrten.
Er hatte in seinem Leben schon oft zerstörerisch gehandelt. Er hatte seine Fäuste in Kämpfen
gegen Mensch und Mobiliar eingesetzt. Doch er konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals
jemanden hatte töten wollen.
Bis jetzt.
Hätte er die Möglichkeit gehabt, hätte er Sanchez mit bloßen Händen zerrissen. Er wollte seine
Zähne in Sanchez’ Hals graben und sein Blut schmecken. Es war eine animalische, primitive
Reaktion, die er an sich selbst nie für möglich gehalten hätte und die in ihrer Heftigkeit
beängstigend war.
»Warum bringst du es nicht hinter dich und lässt uns erschießen?«
»Ich habe nicht die Absicht, Sie umzubringen, Mr. Tackett. Hatten Sie das angenommen?«
»Du willst uns als Gefangene behalten? Warum? Damit wir euch allmorgendlich unterhalten
können?«
Sanchez grinste. »Ein wirklich verlockender Gedanke, aber leider bin ich dafür zu beschäftigt.
Nein, eigentlich gedenke ich, Sie freizulassen. Sie werden nach Ciudad Central gebracht und im
besten Hotel einquartiert. Für morgen Mittag haben wir zwei Plätze für Sie in einer
Linienmaschine nach Bogotá reservieren lassen. Von dort müssen Sie allein zusehen, wie Sie
weiterkommen.«
Key musterte ihn skeptisch. »Wo ist der Haken?«
»Wenn Sie die Vereinigten Staaten erreicht haben – ich werde dafür sorgen, dass die Behörden
über Ihren illegalen Aufenthalt in Montesangrines informiert sind –, werden Sie Ihrer Regierung
eine Botschaft von mir überbringen.«
»Eine Botschaft?« Lara hörte auf zu schluchzen und hörte zu. Key legte den Arm um ihre
Schulter, und sie lehnte sich an ihn.
»Ja. Die Botschaft lautet, dass ich vor nichts haltmachen werde, um die Kontrolle über mein
Land zu bekommen. Präsident Escavez hat weder die militärische Unterstützung noch das
persönliche Durchhaltevermögen noch die Unterstützung durch das Volk, um mich zu schlagen.
Seine Macht gehört der Vergangenheit an. In ein paar Monaten wird seine geschwächte Armee
endgültig aufgerieben sein. Ich plane, zum Ende dieses Kalenderjahres meinen Regierungssitz in
Ciudad Central einzunehmen.«
»Was macht Sie so sicher, dass sich die Vereinigten Staaten nicht einen Dreck um Sie und Ihre
alberne Regierung scheren?«
Sanchez entblößte seine kleinen scharfen Zähne zu der Karikatur eines Lächelns. »Mein Volk
braucht dringend Lebensmittel und Medizin. Ich will die diplomatischen Beziehungen zu den USA
wiederaufnehmen.«
»Darauf wette ich. Was hätte unsere Seite von dem Angebot?«
»Ich könnte denselben Vorschlag auch einem der interessierten südamerikanischen Staaten
unterbreiten, die einen unparteiischen Korridor für ihre Drogentransporte gebrauchen könnten.
Bislang hat Montesangrines sich diesem lukrativen Geschäft verwehrt, aber die Zeiten sind hart.«
»Wie edel. Und jetzt werden Sie sicherlich sagen, dass harte Zeiten auch harte Maßnahmen
erfordern, nicht wahr?«
Wieder präsentierte Sanchez sein abstoßendes Grinsen. »Wir müssen unsere Fühler nach allen
Seiten ausstrecken. Montesangrines wäre der ideale Zwischenlandeplatz von Südamerika in die
Vereinigten Staaten, und die Drogenbarone wären bereit, ein hübsches Sümmchen für dieses
Privileg hinzublättern.«
Key dachte an die Landebahn, die speziell für Drogenkuriere angelegt worden war. Er hatte Lara
die Wahrheit gesagt, als er meinte, er hätte noch nie Drogen transportiert, aber das hieß nicht,
dass man ihm nicht schon Angebote gemacht hätte. Die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden,
war gleich null, und die Honorare waren verführerisch.
Aber der Gedanke, dass die Drogenbosse ihre Profite daraus schlugen, dass Jugendliche zu
Junkies und Prostituierten wurden, um ihre Sucht zu finanzieren, verstieß gegen seinen
Moralkodex. Im Gegensatz zu dem, was die meisten Leute von ihm dachten, hatte er eben doch
ein Gewissen.
»Was macht Sie so sicher, dass irgendjemand mir oder Lara glauben würde?«
»Ihr kleiner Ausflug in unser Land wird von den Medien gewiss angemessen aufbereitet werden.
Selbst wenn Ihnen Ihre Regierung auf die Finger klopft, so wird man Ihren Mut bewundern. Die
Öffentlichkeit wird Ihrer Mission und dem bedauerlichen Scheitern mit Sympathie
gegenüberstehen. Sie werden im Rampenlicht stehen. Unglücklicherweise ist Mrs. Porters Ruf
zweifelhaft, und sie ist somit unglaubwürdig. Aber Sie sind Senator Tacketts kleiner Bruder.
Ohne Zweifel hat er noch immer loyale Kollegen in hohen Positionen, und die werden Ihnen
zuhören.«
»Wenn sich mir die Möglichkeit bietet, werde ich Ihre Botschaft weitergeben«, gab Key
zähneknirschend nach.
»Das reicht noch nicht ganz, Mr. Tackett. Sie müssen mir Ihr Wort darauf geben.«
Key hatte nicht die Absicht, in die Politik Montesangrines verwickelt zu werden, selbst nicht aus
der Ferne. Sobald er und Lara hier raus waren, konnte die ganze verdammte Insel im Pazifik
versinken, wenn es nach ihm ging. Doch bis dahin würde er Sanchez alles versprechen, was er
hören wollte. »Ich gebe Ihnen mein Wort.«
Jetzt meldete sich Lara zum ersten Mal. Offensichtlich konnte sie wieder klar denken. »Sie
werden in der Hölle schmoren, Emilio.«
»Noch immer ganz die Phantastin …«
»O nein, die Hölle ist real. Ich bin dort gewesen. Am Tag, als mein Mann und meine Tochter
ermordet wurden, und gestern, als ich das Massengrab sah, noch einmal.«
»Solche Unfälle geschehen nun einmal im Krieg.«
»Krieg?«, schnaubte sie. »Sie sind der Phantast von uns beiden. Dies hier ist kein Krieg. Das ist
blanker Terror. Und Sie sind kein Soldat, Sie sind ein Verbrecher. Ihnen gebührt keine Ehre.«
Ehre war ein geheiligtes Gut in der Kultur der Montesangriner. Key befürchtete, sie könnte zu
weit gegangen sein, ihn vor seinen Untergebenen derart zu beleidigen. Er hielt den Atem an und
hoffte, El Mano würde sich seinen Entschluss, sie freizulassen, nicht noch einmal anders überlegen.
Doch mit einer brüsken Handbewegung bedeutete er, sie nach Ciudad Central zu schaffen.
Key stieg auf den Laster und half Lara. Zu seiner Erleichterung ließ man ihre Hände ungefesselt.
Die Kameratasche, die Sportbeutel und Laras Arztkoffer wurden ihnen auf die Ladefläche
nachgeworfen. Zwei Soldaten ließen sich zu beiden Seiten der Heckklappe nieder.
Key setzte sich mit dem Rücken zur Seitenwand und zog Lara zu sich herunter. »Wo sind die
anderen?«, fragte sie flüsternd. »Er schickt uns nur mit zwei Wachen zurück?«
»Scheint so.«
Der laute Motor sprang an. Mit kreischenden Gängen bewegte er sich vorwärts. Sie passierten
das Lager. Als sie einen letzten Blick auf El Mano del Diablo warfen, sahen sie ihn auf der Veranda
sitzen und mit seinen Soldaten sprechen, während ihm die beiden jungen Mädchen Luft
zufächerten.
»Er ist so verdammt selbstsicher«, fauchte Lara wütend. »Er glaubt, dass wir ihm nicht mehr
gefährlich werden können.«
Key berührte ihr Kinn und hob ihren Kopf an. »Können wir das denn?«, fragte er.
Lara überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf, während ihr die Tränen über die Wangen
strömten. »Nein. Selbst wenn ich den Mut gehabt hätte, ihn zu töten – damit hätte ich Pater
Geraldo, Dr. Soto, Ashley und Randall auch nicht mehr zum Leben erwecken können.«
Er wischte ihr die Tränen ab. »Da hast du recht.«
»Wozu wäre es gut gewesen? Ich wäre nicht besser als er. Ein Mörder.«
»Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, etwas zu dem zu sagen, was wir vergangene Nacht
herausgefunden haben. Es tut mir sehr leid, Lara.«
Sie nickte dankbar, hatte jedoch nicht die Kraft, darauf zu antworten. Schlagartig wurde sie von
ihrer Erschöpfung übermannt. Sie schloss die Augen, und ihr Kopf sank nach hinten gegen die
Wand. Bald atmete sie flach. Sie war eingeschlafen.
Eine der Wachen kam mit Augenbinden auf sie zu. »Verpiss dich, Idiot«, raunzte Key ihn an.
»Wir werden schlafen. Dabei schließt man für gewöhnlich die Augen.«
Der Guerillero beriet sich mit seinem Kameraden, der nur gleichgültig die Achseln zuckte. Die
Augenbinden wurden wieder weggesteckt, und der Soldat setzte sich seinem Freund gegenüber.
Sie zündeten sich Zigaretten an.
Trotz seiner schmerzenden Rippen legte Key den Arm um Lara, damit ihr Kopf nicht gegen die
Wand schlug. Er zog sie enger an sich. Sie wandte sich ihm zu und schmiegte ihre Wange an
seine Schulter. Einer der Soldaten machte eine abfällige Bemerkung, weil sie instinktiv ihren
Schenkel an seine Hüften gelegt hatte. Die beiden lachten und grinsten in Keys Richtung.
Er antwortete ihnen mit der abfälligen Geste des ausgestreckten Mittelfingers, ehe auch ihn die
Erschöpfung überwältigte.
Kapitel 24
Bei Sonnenuntergang trafen sie im Hotel ein. Einstmals ein Schmuckstück, hatte es wie alles
andere in Ciudad Central auch unter den Auswirkungen des Bürgerkrieges gelitten. Lara war im
Ballsaal des Hauses oft bei diplomatischen Empfängen und Partys zu Gast gewesen. Jetzt wirkte
das Personal unzulänglich und unfreundlich, eher wie Soldaten, die Befehle ausführten, und
weniger wie Gastgeber.
Nach den vielen Stunden, die sie auf dem Lkw durchgerüttelt worden waren, registrierte Lara
den offenkundigen Mangel an Komfort des Hotels nicht weiter. Sie war nur froh, endlich am Ziel
zu sein. Die Anmeldeformalitäten blieben ihnen erspart. Sie und Key wurden ohne weitere
Verzögerung in den dritten Stock eskortiert.
Die Flure waren menschenleer. Hinter den nummerierten Türen herrschte nichts als Stille. Lara
vermutete, dass die dritte Etage »besonderen Gästen« vorbehalten war und eigentlich
Gefangenentrakt heißen müsste. Offenbar stand jeder Gast im dritten Stock unter Hausarrest.
»Señora Porter.« Der Portier händigte Lara einen Schlüssel aus. Key gab er ebenfalls einen. »Ich
hoffe, Sie werden Ihren Aufenthalt bei uns genießen.« Unter den gegebenen Umständen wirkte
seine Höflichkeit fast paradox. Dennoch verabschiedete er sich mit einem Diener und ging dann
zu den beiden Wachen am Fahrstuhl. Nur der Portier stieg ein. Die Wachen postierten sich an
der automatischen Tür. Auch an den Notausgängen zu beiden Enden des Korridors hielten
Soldaten Wache.
Lara schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Key folgte ihr hinein. Das Zimmer war sauber, aber
billig möbliert. Durch eine offene Tür konnte Lara die flamingofarbenen Fliesen des Badezimmers
und den mit kitschigen Hibiskusblüten verzierten Duschvorhang aus Plastik sehen. Sie ließ
Arzttasche und Sportbeutel zu Boden fallen und blieb in der Mitte des Zimmers stehen, zu
erschöpft, um auch nur einen einzigen Schritt zu tun.
Key stand hinter ihr. Er berührte sie zärtlich. Sie wandte sich zu ihm um und sah ihn zum ersten
Mal seit dem Verlassen des Lagers an. Er wirkte angeschlagen und ausgelaugt. Sie hob die Hand,
um die Wunde an seiner Schläfe zu berühren, zog sie aber, als sie merkte, dass die Geste nicht mit
medizinischem Interesse begründet war, schnell wieder zurück.
Er sagte leise ihren Namen. Sie sahen sich in die Augen, als er fragte: »Bist du okay?«
»Ja.« Ihre Stimme war noch rau von ihren wüsten Beschimpfungen auf Sanchez, dessen einzige
Reaktion darauf ein abfälliges Lächeln gewesen war. Er hatte keine Reue über Ashleys Tod
gezeigt. Lara lehnte sich an Key und schüttelte langsam den Kopf. »Nein, nein. Ich bin nicht
okay. Mein Kind ist tot, für immer für mich verloren.«
Er nahm sie in die Arme und hielt sie fest. »Schhh … Weine nicht. Er kann dir nichts mehr tun.
Jetzt sind wir in Sicherheit.«
Plötzlich wollte sie unbedingt daran glauben. Sie klammerte sich an ihn. Sie wollte ihn berühren
und von ihm berührt werden, und scheinbar hatte auch Key das Bedürfnis, seine eigenen Ängste
zu besiegen.
Er hob ihr Kinn, während er sich zu ihr herabbeugte. Gleichzeitig brach sich ein gewaltiges
Verlangen Bahn, und sie suchten beide heftig danach, es zu stillen. Wie von Sinnen eroberte seine
Zunge ihren Mund.
Lara presste sich an ihn und schlang die Arme fest um seinen Nacken. Er zog ihr das Hemd aus
der Hose und machte sich ungeduldig an den Knöpfen zu schaffen. Er fasste um sie herum und
öffnete ihren BH, um gleich darauf ihre Brüste in beide Hände zu nehmen. Seine kräftigen Finger
gruben sich in ihr Fleisch.
Sie flüsterte seinen Namen – als Frage, als Gelübde, als Gebet.
Als Antwort darauf beugte er sich noch tiefer und küsste ihre Knospen. Sie warf den Kopf in
den Nacken und gab sich ganz dem heißen Drängen seiner Liebkosung hin. Er saugte hart und
besitzergreifend. Dann küsste er sie wieder auf den Mund, wild und ungestüm, und versuchte, sie
ganz zu schmecken, zu verschlingen.
Schließlich hob er den Kopf und sah sie an, mit fiebrigen und schrecklich blauen Augen. Seine
Brauen waren eine Linie der Entschlossenheit, ebenso wie seine Lippen.
Lara wollte ihn mit der reinsten Leidenschaft, die sie je empfunden hatte. Und doch schloss sie
die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich will nicht eine von Key Tacketts Frauen sein.«
»Doch, das willst du, heute Nacht willst du es.«
Er trug sie zum Bett und ließ sie auf die Kissen sinken. Er musste sie besser kennen als sie sich
selbst, denn sie streckte die Arme nach ihm aus, als er sich zu ihr legte. Seine Lippen schmeckten
salzig vom Schweiß und waren rau, aber sie konnte nicht genug davon kriegen.
Er schob ihre Bluse beiseite, streichelte ihre Brüste, neckte ihre Brustwarzen, bis sie hart und so
empfindlich wurden, dass Lara schon unter der leichtesten Berührung den Rücken durchbog.
Sie unternahm nichts, als er ihr die Hose zusammen mit dem Slip auszog. Dann öffnete auch er
seine Hose, aber es waren Laras Hände, die ihm die Jeans über die Pobacken streiften.
Er drang in sie ein.
Sie nahm ihn in sich auf.
Er war unglaublich hart. Sie war feucht und warm. Sein Kopf schnellte hoch, und er schaute in
ihr gerötetes Gesicht. Sie spürte das Prickeln auf ihren Wangen, hörte ihren heftigen Atem. Ihre
Blicke umarmten sich, als er tiefer in sie drang. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht
aufzuschreien.
Als er tief in ihr war, verzog er vor Lust das Gesicht. Dann stöhnte er auf und ließ die Stirn auf
ihre Stirn sinken. »O Gott, ein Phantasieerlebnis.«
Er begann sich in ihr zu bewegen, und sie hob die Hüften, um seine sanften Stöße
entgegenzunehmen. Jeder einzelne raubte ihr den Atem, aber sie weckten auch überwältigende
Empfindungen in ihr.
Er wartete, bis sie den Höhepunkt erreicht hatte. Erst jetzt versanken seine Finger in ihrem
Haar, und er hielt sie fest und küsste sie so eindringlich und innig, wie ihre Vereinigung gewesen
war. Ihr Orgasmus war lang und heftig und mehr, als er ertragen konnte. Er gab es auf, sich zu
wehren, und kam in ihr, während er das Gesicht an ihren Hals presste und seine Zähne in ihr
Fleisch grub.
Es dauerte lange, bis sie sich wieder rührten.
Als sie es dann doch taten, standen sie auf und gingen in Keys Zimmer. Laras schmutzige Kleider
und Keys Stiefel hatten das Bett völlig verdreckt. Die Neugierde der Wachen ignorierend,
überquerten sie den Korridor, und Key schloss sein Zimmer auf, das völlig identisch mit Laras
Zimmer war, abgesehen von der Tatsache, dass sein Bad in Türkis gehalten und der
Duschvorhang mit Seepferdchen gemustert war.
Sie zogen sich aus und gingen unter die Dusche, aus der nicht mehr als ein Rinnsal trübes,
rostiges Wasser träufelte. Winzige, in grünes Zellophan eingewickelte Seifenstücke lagen für sie
bereit. Sie brauchten gleich drei davon, um sich gegenseitig den Dreck abzuschrubben.
Das Wasser wurde kalt, aber sie blieben unter dem Strahl stehen. Lara untersuchte die Wunde an
Keys Kopf und meinte, sie könnte sie verarzten, wenn er wollte.
»Bemüh dich nicht«, antwortete er. »Ich werd’s überleben.« Sie untersuchte auch seine
geprellten Rippen und stellte fest, dass wahrscheinlich mehrere angeknackst waren.
Er gab zu, dass sie schmerzten, weigerte sich aber, sich verbinden zu lassen. »Als wir uns zum
ersten Mal begegnet sind, hast du mich wie eine Mumie eingewickelt. Der verdammte Verband
hat mich wahnsinnig gemacht. Ich hab ihn am nächsten Tag abgenommen.«
Sie schalt ihn einen Dickkopf, während sie ihm über das Brusthaar strich. Dann nahm sie sein
schweres Geschlecht in die Hand und leckte das Wasser aus der deltaförmigen Kuhle unter seinem
Hals.
Er bedeckte die Narbe auf ihrer Schulter mit Küssen und sagte ihr, sie sei wunderschön, als sie
verschämt versuchte, sie zu verbergen. »Außerdem ist es nicht mehr als ein Kratzer, verglichen
mit meiner.«
Sie fuhr mit dem Finger die rote Operationsnarbe entlang, die von seinem linken Knie bis zur
Lende reichte. »Wie ist das passiert?«
Er erzählte von seinem Autounfall, der seiner Hoffnung auf eine Karriere als NFL-Spieler ein
Ende gesetzt hatte.
»Warst du sehr enttäuscht? Hast du es gewollt?«
»Nein, Jody hat es gewollt. Wir hatten noch nie ein besonders gutes Verhältnis, aber nach dem
Unfall …« Er schüttelte den Kopf. »Ich will jetzt nicht über Jody reden.«
Er berührte sie überall, verschaffte sich und ihr gleichermaßen Lust. Er war einfühlsam und
sinnlich, viel mehr, als sie je angenommen hätte. Sie glaubte zu träumen, obwohl sie nie erotische
Träume von ihrem Mann gehabt hatte. Und auch nie von Clark.
Schließlich verließen sie das Badezimmer und waren gerade dabei, in ihren Taschen nach
sauberer Kleidung zu suchen, als es klopfte. »Was gibt’s?«, fragte Key barsch.
»Tengo la comida para ustedes.«
Vorsichtig öffnete er die Tür. Vor ihm stand ein Soldat mit einem Tablett auf dem Arm.
»Gracias.« Key nahm ihm das Essen ab und schlug ihm die Tür vor der Nase zu und hakte die
Kette ein.
Er stellte das Tablett auf den Tisch. »Ich hoffe, es ist besser als der Fraß in Sanchez’ Lager.«
»Es könnte vergiftet sein.« Lara ging zum Tisch und fuhr sich dabei mit der Bürste durchs nasse
Haar.
»Möglich. Aber ich glaube nicht. Wozu die Mühe, wenn er uns umbringen wollte? Und wenn,
würde er es bestimmt nicht ohne Publikum tun.«
Auf dem Tablett befand sich eine Auswahl an Früchten und Käse, kaltes Huhn und eine Flasche
Wasser. Key nahm sich eine Hühnchenkeule und biss ohne große Begeisterung hinein. »Ich frage
mich, warum er uns hat gehen lassen.«
Lara schälte eine Orange. »Ja, komisch, nicht?«
»Verdammt komisch. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das ganz bestimmt nicht.« Er
benutzte die Keule, um auf ihre Umgebung zu zeigen. »Nicht gerade das Plaza, aber immer noch
besser als eine schäbige Bambushütte …«
Er kaute nachdenklich. »Ich weiß nicht … Unser Leben im Tausch gegen eine Botschaft an die
Vereinigten Staaten? Passt einfach nicht. Viel zu einfach. Wenn er tatsächlich unserer Regierung
eine Mitteilung zu machen hätte, würde er jemand Einflussreicheren als uns benutzen. Das
Oberhaupt eines befreundeten Nachbarstaates zum Beispiel.« Er warf den Hühnerknochen
beiseite und nahm sich das Wasser. »Warum hat er uns nicht umgebracht, Lara?«
Sie legte die halb geschälte Orange zurück auf das Tablett. »Ich weiß es nicht.« Dann ging sie
zum Fenster, teilte die Vorhänge und sah hinaus auf die Stadt.
»Die Orange würde dir guttun. Du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen.«
Sie sah angewidert auf den Tisch zurück. »Ich will von Sanchez nichts annehmen.«
»Schneid dir doch nicht ins eigene Fleisch. Du musst etwas essen.«
»Ich bin wirklich nicht hungrig, Key. Ich kann jetzt nicht an Essen denken.«
Ihre Stimme hatte einen ungeduldigen Unterton, der hauptsächlich gegen sie selbst gerichtet
schien. »Ich versuche, mir über einiges klarzuwerden.«
»Worüber?«
»Ich weiß nicht. Einiges. Alles. Alles, was vor drei Jahren hier geschah. Randall. Ashley. Wenn
ich daran denke … an das Massengrab, in dem man sie verscharrt hat … ich werde noch
wahnsinnig.« Sie klammerte sich an ein Stück Vorhang. »Ich darf es nicht. Ich muss mich an das
Bild von ihr erinnern, als sie noch lebte. Wie aufgeweckt und fröhlich sie war, wie viel Freude sie
mir bereitet hat in der kurzen Zeit, die sie mir vergönnt war.« Ihre Stimme fing an zu zittern. Sie
hielt inne, um sich zu sammeln. »Ich werde meine Tochter nicht wiederbekommen, aber wenn
ich mich auf ihr Leben konzentriere und nicht auf ihren Tod, dann ist es nicht so wichtig, wo sie
begraben liegt. Ihr Geist ist noch immer lebendig. In dieser Hinsicht war die Reise doch nicht
umsonst.«
»Du musstest hierher zurückkommen, um endgültig damit abzuschließen.«
Sie nickte. »Ja. Diese Episode in meinem Leben – alles davon, angefangen mit dem Skandal – hat
mein Leben schon viel zu lange bestimmt. Ich habe immer allen anderen vorgeworfen, mich mit
der Frau aus den Schlagzeilen zu verwechseln. Aber den größten Vorwurf muss ich mir selber
machen. Ich kann mich nicht länger nur als Opfer sehen. Ich muss wieder anfangen, mein Leben
zu leben.«
»In Eden Pass?«
»Dort habe ich nie Erfolg gehabt«, sagte sie und drehte sich zu ihm um.
»Stimmt, aber nicht weil du keine gute Ärztin bist, sondern weil wir Tacketts dir das Leben
schwergemacht haben.«
Plötzlich schämte sie sich, ihn anzuschauen, und wandte den Blick ab.
»Key, wie konnte das zwischen uns geschehen?«
»Was meinst du – die Feindseligkeit oder das andere?«
»Das andere.«
Er holte tief Luft, hielt den Atem an und sagte mehrere Momente gar nichts. Schließlich: »Du
bist die Ärztin. Keine Idee?«
Die hatte sie und deutete es mit einem leichten Achselzucken an. »Na ja, manchmal, wenn
Menschen eine lebensbedrohliche Situation durchgemacht haben«, begann sie, »überkommt sie
das Bedürfnis nach Sex.« Er hob eine Braue, und Lara wusste nicht, ob es eine fragende oder
skeptische Geste war. »Es macht schon Sinn. Schließlich bedeutet Sex die ultimative Freisetzung
von Gefühlen, die eindeutigste Bestätigung, am Leben zu sein. Ich hatte schon Patienten, die
beschämt berichteten, gleich nach einer Beerdigung Liebe gemacht zu haben. Und zwar mit
außergewöhnlicher Leidenschaft. Wir Menschen haben eine uns innewohnende Furcht vor dem
Tod. Sex ist der augenblickliche Beweis, überlebt zu haben. Nach den furchtbaren
Geschehnissen, denen wir in den vergangenen Tagen ausgesetzt waren, scheint es, dass wir unsere
aufgestauten Ängste und Gefühle mit Sex zum Ausdruck gebracht haben. Heftigem, aggressivem
Sex. Wir sind ein klassisches Beispiel dieses psychologischen Phänomens.«
Key hatte höflich zugehört. Jetzt kam er auf sie zu, so nahe, dass Lara den Rücken durchdrücken
musste, wenn sie ihn ansehen wollte. »Blödsinn. Es ist passiert, weil wir beide es wollten.« Er gab
ihr einen harten, schnellen Kuss, der einen Abdruck auf ihren Lippen hinterließ. »Wir brauchen
keinen anderen Grund als Erklärung.«
Die Kleider, die sie gerade erst übergezogen hatten, fielen auf dem Weg zum Bett von ihnen
herab. Als er an die Bettkante stieß, setzte er sich und zog Lara zwischen seine Schenkel. Er nahm
ihre Brüste in die Hände und liebkoste ihre Knospen mit der Zunge.
Ihre Lider flatterten, und sie stieß kleine kehlige Seufzer aus. Sie wickelte Strähnen seines Haars
um ihre Finger, ließ ihm aber genügend Freiraum, um ihre Brüste und ihren Bauch zu küssen.
Sein Bart kitzelte auf ihrer Haut, jagte ihr verbotene, erregende Schauer über den Körper. Die
Stelle zwischen ihren Schenkeln begann köstlich zu schmerzen. Die Lippen ihres Geschlechts
waren geschwollen und heiß.
Key zog Lara zu sich heran. Er küsste sie. Er küsste ihren Nabel. Er küsste die weiche Haut
darunter. Sein heißer Atem ließ ihre Schamhaare aufwirbeln.
Dann drehte er sie herum, und sie landete rücklings auf dem Bett; ihre Schenkel formten eine
Wiege, in die er sein Gesicht versenkte. Er küsste sie heiß und hungrig. Sein Mund saugte sanft,
während seine flinke Zunge Empfindungen der Lust in ihr weckte, die sie gar nicht kannte. Als
könne er ihre Gedanken lesen, fand er die richtigen Stellen, das richtige Tempo. Er wusste genau,
wann er sie necken, lecken oder saugen musste. Er liebkoste sie mit der Zungenspitze und ihre
Lippen mit denen seines Mundes.
Als er sich schließlich auf sie legte, war sie tief befriedigt, gesättigt und trunken vor Lust. Und
doch erwachten ihre Lippen erneut unter seinem innigen Kuss. Es war ein neuer Beginn, als er in
sie eindrang, und noch lange nicht der Höhepunkt.
Zärtlich zeichnete er die Narbe auf ihrer Schulter nach.
»Es war schlimm, hm?«
»Ziemlich schlimm. Eine Zeitlang waren die Ärzte der Meinung, ich könnte schon glücklich
sein, wenn ich meinen Arm wenigstens teilweise wieder bewegen könnte.«
»Wie ich dich kenne, hast du alles darangesetzt, ihnen das Gegenteil zu beweisen.«
»Nachdem die Wunde verheilt war, musste ich noch Monate in die Physiotherapie.«
Er musterte sie einen Moment lang nachdenklich. »Ich finde, du solltest endlich aufhören, dich
dafür zu bestrafen, dass du nicht zusammen mit deiner Familie gestorben bist, Lara.«
»Glaubst du, das tue ich?«
»Bis zu einem gewissen Grad schon, ja.«
Sie stützte sich auf die Unterarme und betrachtete seinen schlanken, nackten Körper. Außer der
großen Narbe auf seinem Bein hatte er noch mehrere kleinere am ganzen Körper. »Was ist mit
dir? Du bist leichtsinnig. Du nimmst unnötig Gefahren auf dich. Wofür bestrafst du dich selbst?«
»Das ist nicht dasselbe«, sagte er barsch. »Ich suche die Gefahr, weil ich sie liebe. Punkt.«
Sie schenkte ihm einen Blick, der besagen wollte, dass sie ihm das nicht abkaufte. Ihre Augen
wanderten von einer Narbe zur nächsten. Da war eine besonders gemein aussehende, unterhalb
der Rippen, neben seinem rechten Arm.
»Eine Messerstecherei«, sagte er, als sie ihn fragend ansah.
»Sieht aus, als hättest du verloren.«
»Nein, ich habe gewonnen.«
Sie wagte lieber nicht zu fragen, wie dann erst der Verlierer ausgesehen haben musste. »Und
die?«
»Flugzeugabsturz. Ich bin glimpflich davongekommen und habe mir nur den Arm an einem
Stück vom Rumpf aufgerissen.«
Sie wunderte sich über seine Lässigkeit. »Warst du schon mal, außer heute, in echter Gefahr,
dein Leben zu verlieren?«
»Einmal.«
»Erzähl mir davon.«
»Ich bin angeschossen worden. Hier«, sagte er und zeigte auf seine frischeste Narbe, die sie nur
zu gut kannte. »Wäre fast verblutet.«
Lachend warf sie das Haar über die Schulter zurück. »Es war zwar kein kleiner Kratzer, aber
bestimmt keine tödliche Verletzung.«
»Weiß ich. Aber ich meinte ja auch gar nicht die Wunde. Sieh mal, ich spaziere so ins Haus
hinein und erwarte Dr. Patton, und da steht jemand ganz anderes. Eine Frau.«
Lara erstarrte unter seinem Blick und dem hypnotischen Klang seiner Stimme. »Und wieso war
das so lebensbedrohlich?«, fragte sie kehlig.
»Ich drehe mich um, sehe sie und denke: Scheiße, Tackett. Du bist verloren.«
Sie hatte Schwierigkeiten zu schlucken. »Wir sind erwachsen, Key. Aus dem Alter, in dem man
Spielchen spielt, sind wir raus. Ich erwarte keinen Blumenstrauß von dir und auch keine …«
Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. »Ich sage das nicht, um dir zu schmeicheln. Du bist
schon in meinem Bett, und ich hatte dich bereits. Ich sage dir das, weil es die Wahrheit ist, und
du weißt es so gut wie ich. Wir sind hier zusammen, weil wir es von Anfang an wollten. Wir
wussten beide, dass es nur eine Frage der Zeit war.« Er streichelte ihr die Wange. »Als wir uns
begegnet sind, war es um uns beide geschehen. Ich wollte damals auf der Stelle mit dir schlafen.«
»Bis du herausgefunden hast, wer ich bin.«
»Auch dann wollte ich es noch.« Er griff ihr ins Haar und zog sie dicht an sein Gesicht. »Und,
verdammt, ich will es immer noch.«
Key griff nach ihr, als sie aus dem Bett schlüpfte und ihre Sachen aufsammelte. »Wo willst du
hin?«, murmelte er schläfrig.
»In mein Zimmer.«
»Wozu?«
»Ein Bad nehmen.«
»Wir haben doch eine Wanne hier.«
»Aber wir haben die ganze Seife aufgebraucht. Außerdem muss ich meine Sachen packen, damit
ich nachher alles beisammenhabe, wenn wir zum Flughafen gebracht werden.« Sie beeilte sich mit
dem Anziehen.
»Wie spät ist es?«
»Neun.«
»Neun! So lange haben wir geschlafen?« Er setzte sich auf und fuhr sich durchs zerzauste Haar.
»Du musst noch nicht aufstehen. Uns bleibt noch viel Zeit bis zum Mittag.«
»Nein, ich stehe auch auf. Ich will diesen Dreckskerlen keinen Anlass bieten, den Flug
aufzuschieben. Wenn ich geduscht habe, werde ich sehen, ob ich uns Kaffee organisieren kann.«
»Okay. Ich werde dann fertig sein.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, sah nach, ob sie ihren
Schlüssel hatte, entriegelte die Tür und trat auf den Flur.
Key stand entgegen seiner Ankündigung nicht gleich auf, sondern ließ sich zurückfallen und
starrte mit leerem Blick an die Zimmerdecke. Gestern Nacht hatte Lara eingestanden, verwirrt
und unsicher zu sein. Da er weniger direkt war als sie, hatte er nicht zugegeben, dass auch ihn
zwiespältige Gefühle plagten.
Um ihr Gewissen zu beruhigen, hatte sie eine psychologische Erklärung herangezogen, damit sie
es vor sich selbst rechtfertigen konnte, mit ihm ins Bett gegangen zu sein. Aber er bezweifelte,
dass sie wirklich daran glaubte. Er war der Ansicht, dass die Lust keiner Rationalisierung oder
Analyse bedurfte. Sie begründete sich selbst.
Seine Verwirrung rührte nicht aus der Frage, warum es passiert war, sondern wie seine Gefühle
dazu – zu ihr – waren.
Nie zuvor hatte er Sex so sehr genossen. Sie passten körperlich perfekt zueinander. Und sie
konnte sich mit ihm messen, was Leidenschaft und Geschicklichkeit anging. Trotz allem, was die
Presse über sie geschrieben hatte – er hatte nicht erwartet, dass sie sexuell derart frei war. Noch
jetzt sandte ihm die Erinnerung an ihre Liebesspiele einen süßen Schauer durch die Lenden. Trotz
ihres Marathons war er weit davon entfernt, genug von ihr zu haben. Er wollte mehr.
Auch das war unerwartet und beunruhigend für ihn. Normalerweise machte ihm die Jagd am
meisten Spaß. Hatte er eine Frau erst einmal gehabt, ließ der Reiz für ihn rasch nach. Es
beschäftigte ihn sehr, dass es bei Lara nicht so war. Bei ihr hatte er das Gefühl, noch ganze
Universen entdecken zu können. Sonst waren Frauen für ihn so austauschbar wie Rasierklingen.
Waren sie stumpf geworden, warf er sie weg und ersetzte sie durch die nächste. Doch bei Lara
konnte er sich das nicht vorstellen.
Dabei war er gar nicht in der Position zu bestimmen, was er mit ihr anfangen würde. Damit
kam er langsam auf den Kern seiner Bedenken. Sie gehörte ihm nicht. Schlimmer noch – wenn
die Umstände anders verlaufen wären, hätte sie wohl sogar seinem Bruder gehört.
Clark hatte sie zuerst gehabt.
Das allein hatte ihn davon abgehalten, letzte Nacht den befriedigendsten Sex seines Lebens zu
haben. Und dieses Unbehagen hatte er wohl unabsichtlich durchschimmern lassen. Oder Dr. Lara
Mallory konnte hellsehen.
Denn sie hatte es erwähnt, nachdem sie die Reste vom Tablett genascht und beschlossen hatten,
ein wenig zu schlafen. Sie hatte sich auf die Seite gerollt, das Gesicht abgewandt, die Hände unter
dem Kinn gefaltet. Er hatte abwesend eine Haarsträhne von ihr zwischen den Fingern gedreht
und gerade gedacht, dass sie Glück hatte, so leicht einschlafen zu können, als sie zu seiner
Überraschung schläfrig gemurmelt hatte: »Ich weiß, woran du gerade denkst.«
Er hatte sich enger an sie geschmiegt. »So? Woran?«
»An Clark.«
Sein Lächeln war ihm vergangen. »Und wieso sollte ich an ihn denken?«
»Weil du dich gerade gefragt hast, ob ich euch beide miteinander vergleiche, und wenn, wie du
dabei abschneidest.«
»Ich wusste gar nicht, dass du auch Psychologin bist.«
Sie sah ihn über die Schulter an. »Ich habe recht, nicht wahr? Das hast du doch gedacht, oder?«
»Kann sein.«
Traurig lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Du und Clark, ihr habt … ihr seid zwei völlig
verschiedene Menschen, Key. Beide attraktiv, beide charismatisch. Die geborenen Anführer. Aber
völlig unterschiedlich. Ich habe deinen Bruder geliebt, und ich glaube, er hat auch mich geliebt.«
Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Aber niemals war es so wie mit dir heute Nacht.« Sie
wandte sich wieder von ihm ab und kuschelte sich in ihre alte Position. Er dachte, sie hätte alles
gesagt, aber sie wiederholte noch einmal: »Niemals.«
Eine Weile hatte er einfach so dagelegen, von Eifersucht gemartert und mit dem unbedingten
Wunsch, ihr glauben zu können. Doch bald war sein Verlangen stärker als der Neid geworden.
Nein, es war weniger Verlangen als vielmehr eifersüchtiger Besitzanspruch gewesen.
Mit einer plötzlichen Bewegung hatte er den Arm um sie geschlungen und sie fest an sich
gezogen, bis ihr Po seinen Bauch berührte, und war mit einem einzigen harten Stoß in sie
eingedrungen. Er biss sie in den Nacken, hielt ihr Fleisch zwischen den Zähnen, ergriffen von
dem Verlangen, sie zu besitzen und zu beherrschen.
Doch das brauchte er nicht. Sie war bereit für ihn und so aufgewühlt, dass er nur seine Hand
gegen ihren Hügel pressen musste, und ihre inneren Wände schlossen sich um seinen Schwanz
wie eine Faust, massierten ihn und saugten den Samen und den Zweifel aus ihm.
Es dauerte eine Weile, bis ihr Atem wieder regelmäßig ging. Ihre Körper glänzten unter einer
feinen Schweißschicht. Als er sich schließlich aus ihr zurückzog, drehte sie sich zu ihm um und
knabberte an seiner Brust.
Sie sagte: »Schamlos.«
»Ich habe nie etwas anderes behauptet.«
»Nicht du. Ich.«
Er war mit ihr im Arm eingeschlafen, im sicheren Gefühl, dass ihr Liebesakt über reine
körperliche Befriedigung hinausgegangen war. Das war eine ganz andere Dimension.
Doch jetzt war es Tag, und die Zweifel legten sich über ihn wie die Feuchtigkeit, die die
aufsteigende Sonne begleitete. Er dachte an das zurück, was sie gesagt hatte, an ihre sinnlichen
Reaktionen, ihre frechen Liebkosungen. Es konnte mit seinem Bruder einfach nicht besser
gewesen sein.
Hatte sie Clark jemals geritten, bis sie erschöpft auf seiner Brust zusammengesunken war?
Key ballte die Hände zu Fäusten.
Hatte sie Clark jemals mit ihren massierenden, gleitenden Händen so köstlich zum Höhepunkt
gequält?
Er stieß einen obszönen Fluch aus.
Hatte sie Clark auch erlaubt, sie zwischen den Schenkeln zu küssen, zu schmecken und …
Ein markerschütternder Schrei riss ihn aus seinen Phantasien. Als der zweite Schrei in die
morgendliche Stille einbrach, hatte er bereits die Hose übergestreift und war auf dem Weg zur
Tür, die er in seiner Hast fast aus den Angeln riss.
»Buenos dias«, sagte Lara zu den Wachen, als sie aus Keys Zimmer trat. Unbeeindruckt von ihrem
anzüglichen Grinsen überquerte sie den Flur, ging in ihr Zimmer und schloss sorgsam hinter sich
ab.
Ihre Schuhe hatten tatsächlich, wie Key gesagt hatte, Abdrücke auf dem Laken hinterlassen, und
das Bett war zerwühlt. Er hatte noch Scherze gemacht und gesagt, was auch immer sie bisher über
Texaner gehört hätte – dies sei das erste Mal gewesen, dass er in Stiefeln Liebe gemacht hatte.
Liebe gemacht? Hatte er das wirklich gesagt, oder spielte ihr ihre Erinnerung einen Streich?
Sie schüttelte den verwirrenden Gedanken ab, indem sie sich sagte, dass sie für die nächsten
vierundzwanzig Stunden genug Psychoanalyse betrieben hatte. Sie hatte letzte Nacht mit der
Vergangenheit abgeschlossen. Der Rest ihres Lebens hatte begonnen, als sie sich in Keys Arme
hatte fallen lassen. Das Erlebnis war kathartisch gewesen. Wieso dem Ganzen unbedingt einen
Namen geben? Sie fühlte sich wunderbar. Warum es nicht einfach dabei belassen?
Sie nahm die Sporttasche und ging ins Bad.
Als sie ihr Bild im Spiegel über dem Becken erblickte, musste sie fast laut lachen. Sie war
ungeschminkt, und ihr Haar, obwohl sauber, war mit Seife gewaschen und sah dementsprechend
aus.
Key hatte es nicht bemerkt. Oder es war ihm egal gewesen.
Eine leichte Röte stieg ihr ins Gesicht. Sie öffnete die oberen Knöpfe ihrer Bluse und
betrachtete ihre Brüste. Wie erwartet waren sie ganz wundgerieben. Sie würde darauf bestehen,
dass er sich rasierte, bevor sie das nächste Mal miteinander schliefen.
Falls es ein nächstes Mal gab.
Zu ihrer Scham erkannte sie, dass sie hoffte, es würde geschehen. Bald.
Vor Vorfreude lächelnd zog sie den Duschvorhang zurück und langte zu den Wasserhähnen.
Ihr Schrei hallte von den flamingofarbenen Kacheln wider.
In ihrer Badewanne lag, übel zugerichtet, blutend, aber höchst lebendig – Randall Porter.
Ihr Mann.
Kapitel 25
»Du siehst wirklich gut aus.« Der ehemalige Botschafter der Vereinigten Staaten in
Montesangrines, Randall Porter, erhob sich, als seine Frau den Salon betrat. »Obwohl mir dein
Haar besser gefiel, als du es noch gebleicht hast. Seit wann machst du das nicht mehr?«
»Seit ich in Miami im Krankenhaus lag. Das waren schwierige Monate für mich. Ich habe damals
nicht unbedingt an meine Haarfarbe gedacht.«
Lara schaute zu Key. Er war sitzengeblieben, als sie hereingekommen war. Er lümmelte in einem
Sessel, hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte nervös mit dem Fuß. Im Takt dazu
trommelte er mit den Fingern auf die Armlehne. Für jeden anderen hätte seine Haltung vielleicht
gelangweilt ausgesehen, aber Lara wusste, dass er kurz davor war zu explodieren.
Falls Randall seine unterdrückte Wut spürte, ließ er es sich nicht anmerken. »Möchtest du etwas
trinken, Liebling? Wir haben noch ein paar Minuten, bevor wir runtermüssen.«
»Nein, danke. Ich möchte nichts trinken. Und ich weiß auch immer noch nicht, warum es
notwendig sein soll, dass ich bei der Pressekonferenz dabei bin.«
»Du bist schließlich meine Frau. Dein Platz ist an meiner Seite.« Randall schenkte sich an der
Bar ein Club Soda ein. »Mr. Tackett? Einen Drink?«
»Nein.«
Randall ging zurück zum Sofa, auf dem er gesessen hatte, bevor seine Frau zu ihnen in den
Salon der Houstoner Hotelsuite gestoßen war. Die nobel eingerichteten Räumlichkeiten waren
eine deutliche Verbesserung gegenüber dem abgerissenen Etablissement in Montesangrines.
Blumenbouquets als Willkommensgruß zierten jede noch so kleine freie Fläche. Ihr süßer
schwerer Duft verursachte Lara Kopfschmerzen. Sie empfand diese Sympathiebekundungen als
äußerst heuchlerisch, da die meisten Sträuße von eben jenen Bürokraten und Politikern
stammten, die vor fünf Jahren mehr als erleichtert gewesen waren, dass Randall und seine treulose
Gattin ins Exil nach Montesangrines verbannt worden waren und ihnen so die Peinlichkeit erspart
blieb, ihn weiter in ihren Reihen zu haben.
Randall war nach wie vor Botschafter der Vereinigten Staaten. Als die Medien von seiner
»Wiederauferstehung« informiert wurden, gab es kein heißeres Thema – die Nachricht sorgte für
Schlagzeilen rund um den Erdball. Seine Rückkehr unter die Lebenden versetzte die Nation in
helle Aufregung.
In Bogotá war er wegen seiner Verletzungen behandelt worden, die sich als weit weniger ernst
als zunächst vermutet herausstellten. Key hatte nachgegeben und sich schließlich doch röntgen
lassen. Drei Rippen waren angebrochen, aber er hatte keine inneren Verletzungen davongetragen.
Laras Verletzungen waren mindestens ebenso schwer, wenn auch nicht so offensichtlich. Sie
bekam warme Mahlzeiten verordnet und wurde wegen ihres Erschöpfungszustands für zwei Tage
mit Medikamenten ruhiggestellt. Trotzdem sah sie hinterher noch immer sehr mitgenommen aus.
Bewegungsablauf und Sprachvermögen waren gestört. Ein Ehemann, den sie jahrelang tot
geglaubt hatte, war plötzlich wiederauferstanden. Ihr gesamtes System befand sich im
Schockzustand.
Ein bekanntes Modehaus hatte großzügig angeboten, Lara für ihren ersten Auftritt auf
amerikanischem Boden vor der Öffentlichkeit auszustatten. Für diesen nachrichtenträchtigen
Anlass waren ein zweiteiliges Seidenkostüm, Pumps von Jourdan und passende Accessoires
ausgewählt worden. Das Hotel hatte sein Personal aus dem Salon geschickt, das sich um ihre
Frisur und das Make-up kümmerte. Rein äußerlich wirkte Lara perfekt zurechtgemacht und
bereit, ihren Mann in einer halben Stunde in den großen Ballsaal zu begleiten.
Aber im Stillen dachte sie, dass sie ebenso gut auch vor ein Erschießungskommando treten
könnte.
Und in sehr realer Hinsicht war es genau das, was sie zu erwarten hatte. Zu nervös, um sich zu
setzen, durchstreifte sie ziellos den Salon und nestelte an den Blumenbouquets. »Du weißt, worauf
sie abzielen werden, Randall.«
»Ja, auf deine Affäre mit Clark«, entgegnete er völlig ungerührt. Sie hatte ihm auf dem Flug von
Montesangrines nach Kolumbien von Clarks Tod berichtet, aber er hatte es ohnehin schon
gewusst. In Montesangrines wusste man, was in der Welt geschah, obwohl das umgekehrt nicht
der Fall war.
»Ich fürchte, das lässt sich nicht vermeiden, Lara«, fuhr er fort. »Ich werde versuchen, sie mit
meiner Story über die letzten drei Jahre meiner Gefangenschaft abzulenken.«
»So schlecht sehen Sie gar nicht aus«, bemerkte Key, der mit dem nervösen Wippen aufgehört
hatte. »Eigentlich ziemlich fit, gebräunt und wohlgenährt.«
Auch Lara war nicht entgangen, dass Randall in exzellenter körperlicher Verfassung war. Er sah
sogar noch besser aus als vor sieben Jahren, als sie sich kennengelernt hatten. Eher, als hätte er
einen mehrmonatigen Hawaiiurlaub hinter sich und keine mörderischen Jahre als politischer
Gefangener.
Randall zog die Bügelfalten an der Hose seines neuen Anzugs zurecht, ebenfalls ein Geschenk
des besagten Modehauses. »Nach den ersten Monaten hat man mich ganz anständig behandelt.«
Als hätte sie einen Schlag versetzt bekommen, hob Lara automatisch die Hand zu ihrem Herzen.
Wenn sie nicht in diesem Moment in die Situation zurückversetzt worden wäre, in der ihre
Tochter von Kugeln durchsiebt wurde, hätte sie Keys Reaktion auf Randalls unsensible
Bemerkung gesehen. Er bleckte die Zähne zu einem abfälligen Schnauben.
»Anfangs sind die Rebellen übel mit mir umgesprungen«, fuhr Randall unbeirrt fort. »Über
mehrere Wochen schlugen sie mich mit den Kolben ihrer Gewehre und peitschten mich mit
Eisenketten. Ich dachte damals, es wäre nur ein Vorspiel auf meine Hinrichtung.«
Er trank das Soda aus und sah auf die Uhr. Sie hatten noch ein paar Minuten. »Eines Tages
schleppten sie mich in General Perez’ Hauptquartier. Ich sage ›schleppen‹, weil ich tatsächlich
nicht gehen konnte. Sie zogen mich wie einen Sack Kartoffeln. Perez war äußerst zufrieden mit
sich. Er zeigte mir Fotos von der Inszenierung meines Todes. Sie haben irgendeinen armen
Burschen hingerichtet, Gott weiß, wen.«
Lara umfasste ihre Ellenbogen. Es war frostig im Raum. Nach den langen Jahren in der
Tropenhitze hatte Randall gesagt, wolle er die Klimaanlage voll aufgedreht haben.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie entmutigend es für mich war, diese Fotos ansehen zu
müssen. Sie haben mir auch amerikanische Zeitungen gezeigt, mit Schlagzeilen von meiner
Hinrichtung. Sie hatten Fotos von meinem Begräbnis. Ich musste immer daran denken, durch
welche Hölle du gehen musst.« Er sah Lara mitfühlend an. »Ich dankte Gott, dass du in Sicherheit
warst, wusste gleichzeitig, wie schrecklich mein gewaltsamer Tod für dich sein musste. Das
Wissen, dass niemand zu meiner Befreiung geschickt werden würde, war die schlimmste Folter
von allen. Alle dachten doch, ich sei tot.«
»Haben sie dir von Ashley erzählt?«
»Nein. Ich habe erst erfahren, dass sie bei dem Attentat umkam, als ich die Berichte über meine
Beerdigung las. Der einzige Trost, der mir blieb, war der, dass du auf wundersame Weise überlebt
hast. Wenn der Priester nicht gewesen wäre …«
»Der Priester? Pater Geraldo?«
»Ja, sicher. Er hat dich in eines der letzten Flugzeuge geschafft, die aus Montesangrines
rauskamen. Ich dachte, das wüsstest du.«
»Nein, das wusste ich nicht«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Sonst hätte ich ihm doch
gedankt.«
»Es war sicher ein tapferer Akt. Emilio hat ihm nie verziehen, dass er dir die Flucht ermöglicht
hat. Ich schätze, deshalb hat er ihn schließlich auch umbringen lassen.«
Key fluchte leise. »Wie schön, dass Sie ihr das sagen«, versetzte er wütend.
»Lara ist Realistin. Wie auch immer, jedenfalls ist es schade um den Priester. Und um Dr. Soto
natürlich.«
»Ich werde mir niemals verzeihen, sie da mit hineingezogen zu haben«, flüsterte Lara. »Ich werde
mich immer an ihrem Tod mitschuldig fühlen.«
»Nein, tu dir das nicht an«, sagte Key beschwörend. »Sie wären so oder so eliminiert worden.
Mit oder ohne uns. Das hat Sanchez deutlich gemacht.«
Sie schenkte ihm einen dankbaren Blick für sein Mitgefühl. Aber sie wusste, dass sie die Schuld
an ihrer Ermordung mit ins Grab nehmen würde.
»Es war wirklich sehr tapfer von dir, noch einmal nach Montesangrines zurückzukehren, Lara«,
sagte Randall. »Gott sei Dank, dass du es tatest. Sonst wäre ich noch immer in Gefangenschaft.«
Key stand auf. Er hatte sich den Bart abrasiert, aber sein Haar war noch immer länger als
gewöhnlich und unterstrich den Eindruck des wilden, eingesperrten Tieres, den er vermittelte. Er
hatte sich der Rolle als Nationalheld verweigert, als den man ihn gern gesehen hätte, und es
abgelehnt, sich ebenfalls vom Modehaus einkleiden zu lassen. Er hatte sich aus eigener Tasche
eine neue Jeans, einen Trenchcoat und Cowboystiefel zugelegt.
»Das will mir einfach nicht in den Kopf«, sagte er. »Lara und ich sind doch unangekündigt nach
Montesangrines gekommen. Und sechsunddreißig Stunden darauf entscheiden sich Ihre Entführer
plötzlich, Sie gehen zu lassen?« Er breitete die Arme aus. »Warum? Was hat das eine mit dem
anderen zu tun?«
Randall schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln. »Sie müssen anscheinend noch viel über die
Mentalität dieser Menschen lernen, Mr. Tackett.«
»Ja, muss ich wohl. Für mich hört sich Ihre Story nämlich nach ziemlichem Unsinn an.«
Randalls Augen verengten sich zu Schlitzen. »Sie haben mein und Laras Leben gerettet. Aus
diesem Grund werde ich über Ihre unangebrachte Vulgarität hinwegsehen.«
»Oh, machen Sie sich meinetwegen nur keine Mühe.«
Randall ignorierte ihn und wandte sich wieder Lara zu. »Emilio spielt gern Psychospielchen.
Erinnerst du dich noch an die Schachturniere, die wir in der Botschaft veranstaltet haben?«
»Aber das hier war kein Spiel, Randall.«
»Ja, für dich oder mich nicht. Aber ich glaube, Emilio macht keinen Unterschied, ob er die
Figuren auf einem Brett opfert oder in Wirklichkeit. Er hat dir für die gute Unterhaltung gedankt
an dem Morgen im Lager, weißt du noch?«
»Ich weiß es noch«, fiel Key ein. »Und ich bin froh, dass Sie es erwähnen, denn das bringt mich
auf etwas anderes. Sie sagten doch, Sie wären in der Baracke gewesen, als das alles passierte,
richtig?«
Randall nickte. »Ich war geknebelt und gefesselt und konnte Ihnen kein Zeichen geben, dass ich
noch am Leben bin. Emilio fand das besonders amüsant.«
»Wann hast du zum ersten Mal davon gehört, dass ich in Montesangrines bin?«, fragte Lara.
»Am Morgen nach eurer Ankunft. Ich spürte, dass etwas in der Luft lag, denn meine Wachen
waren kurz angebunden und konnten mir nicht in die Augen sehen. Wir haben über die Jahre
eine Art gegenseitigen Respekt füreinander entwickelt, und plötzlich waren sie wieder feindselig
und wortkarg. Nachdem Ricardo den Jeep auf der Straße gestoppt hatte, war es nur eine Frage
von Stunden, bis sie herausfanden, wer die ›Witwe‹ war. Es gab einige Spekulationen über den
›debilen Schwager‹« – er sah Key vieldeutig an – »aber als Emilio Ihren Namen erfuhr, zählte er
zwei und zwei zusammen. Er wusste von Laras Freundschaft zu Ihrem Bruder. Je mehr ihr
herumgeschnüffelt habt, desto brisanter wurde die Situation. Ich wurde in der Nacht vor eurer
Gefangennahme ins Lager gebracht. Emilio drohte mir, dich vor meinen Augen langsam zu Tode
quälen zu lassen. Ich wurde geschlagen, aber nicht schlimm. Er wollte, dass ich am nächsten
Morgen für die Vorstellung bei Bewusstsein war. Nachdem man euch weggebracht hatte, wurde
ich wieder gefoltert. Dann bin ich auch nach Ciudad Central gefahren worden. Wir waren
wahrscheinlich nur eine halbe Stunde hinter euch, aber ich verbrachte die Nacht mit den Wachen
im Laster. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass sie mich kurz nach Sonnenaufgang
bewusstlos geschlagen haben. Dein Schrei, als du mich in der Wanne entdeckt hast, hat mich
zurückgeholt. Ich war genauso geschockt wie du, dass ich noch am Leben war.«
Er erhob sich und schlüpfte in sein Jackett. »Nun, ich denke, es wird Zeit zu gehen.«
»Ich begreife Emilios Taktik trotzdem noch nicht«, sagte Lara, die keine Anstalten machte, mit
ihm zu gehen.
»Lass uns später darüber reden.«
»Nein, wir werden jetzt darüber reden, Randall. Wenn du darauf bestehst, dass ich mit dir vor
die Presse trete, will ich mir vorher über die Situation klar sein. Sie werden mich nach meiner
Begegnung mit El Mano del Diablo fragen. Natürlich kann ich ihnen alles über den schlanken,
belesenen jungen Dolmetscher aus der Botschaft erzählen und auch das, was ich von dem
kaltblütigen Mörder weiß, der aus ihm geworden ist. Aber ich kann mich nicht zur politischen
Situation äußern, wenn ich kein klareres Bild von dem habe, was er beabsichtigt. Warum hat er
uns gehen lassen? Wieso hat er dich drei Jahre lang in Gefangenschaft am Leben gelassen und dich
dann plötzlich freigelassen?«
Randall kaute an der Innenseite seiner Wange, sichtlich verärgert über ihre Fragen. Er beschloss,
ihr ihren Willen zu lassen. »Ich hatte drei Jahre lang Zeit zu überlegen, warum man meine
Hinrichtung vorgetäuscht hat. Die Grausamkeit bestand darin zu demonstrieren, wie sehr
Montesangrines die USA für die Einmischung in die internen Angelegenheiten verachtet.«
»Wieso haben sie Sie dann nicht wirklich umgebracht?«, fragte Key.
»Ich nehme an, sie wollten mich als Trumpfkarte behalten. Wenn sich die USA entschlossen
hätten, Truppen nach Montesangrines zu schicken – wie nach Panama –, hätte man mich als
Geisel gehabt.«
»Und warum hat man dich dann jetzt laufen lassen?«
»Ganz einfach, Lara. Sie hungern. Montesangrines ist praktisch in jeder Hinsicht auf Importe
angewiesen. Unter dem Embargo, das die USA verlangt und dem sich unsere Verbündeten und die
Nationen, die uns fürchten müssen, angeschlossen haben, waren die Reserven bald erschöpft.
Offen gesagt wundert es mich, dass sie überhaupt so lange durchgehalten haben. Wahrscheinlich
wäre ihnen das auch nicht gelungen, wenn Perez noch ihr Anführer wäre. Ohne jemand derart
Unerbittlichen wie Emilio an der Spitze hätte sich die politische Situation schon längst entspannt.
Er hat sich selbst zum Halbgott gemacht.«
»Und was sind Sie? Vorsitzender seines Fanclubs?«, fragte Key sarkastisch.
»Mit Sicherheit nicht«, konterte Randall kühl. »Er hat mich drei Jahre lang gefangen gehalten.
Nun ja … ich habe das Leid der Montesangriner jedenfalls aus nächster Nähe miterlebt. Das Volk
liegt mir sehr am Herzen, und es ist mir ein Anliegen, dass ihm bald geholfen wird. Trotz seiner
Grausamkeit – Sanchez ist die größte Hoffnung als Lenker dieses Landes, die Hungernden zu
speisen, das Chaos zu beenden und wieder so etwas wie Ordnung herzustellen. Und, persönliche
Aversionen mal beiseitegelassen, muss ich ihn für seine Zähigkeit bewundern. Er ist
außergewöhnlich ehrgeizig und geduldig. Euer Auftauchen als Anlass für meine Freilassung zu
nehmen war ein Geniestreich. Er wusste, dass diese Story die Herzen der Amerikaner anrühren
und seine Menschlichkeit hervorheben würde. Es ist sein Angebot an die Vereinigten Staaten, die
diplomatischen Beziehungen wiederaufzunehmen.«
»Diese Botschaft hat er uns auch aufgetragen. Wieso sollte er dazu sein As ausspielen?«
Randall lächelte, als sei er belustigt über Keys Naivität. »Er wusste natürlich, dass ich in
Washington mehr Glaubwürdigkeit besitze als ein Cowboy.«
»Ich bin kein Cowboy.«
»Doch, genau das sind Sie.« Sein Blick wanderte zu Keys Jeans und Stiefeln, was seine geringe
Meinung von seinem Äußeren deutlich machte. »Der einzige Unterschied besteht darin, dass Sie
in Flugzeuge steigen statt auf Pferde. Abgesehen davon sind Sie ein Bauerntrampel, selbst Ihr
Bruder hielt Sie dafür.«
Key wollte ihn sich vorknöpfen, aber Lara ging dazwischen. Mit dem Rücken zu Key sagte sie
wütend zu Randall: »Clark hat so etwas niemals gedacht! Er hat Key sehr geliebt!«
Randall schmunzelte und sagte leise: »Oh, ich beuge mich natürlich deinem besseren Wissen,
wem Clarks Liebe gehörte.« Er bot ihr seine Hand an. »Wir müssen jetzt wirklich gehen,
Liebling. Fertig?«
Sie ignorierte die dargebotene Hand und ging steif in Richtung Tür. Als sie spürte, dass Key ihr
nicht folgte, wandte sie sich zu ihm um. »Kommst du?«
»Nein.«
Sie bekam Panik. Die einzige Möglichkeit, wie sie die Pressekonferenz überstehen konnte, war
die Gewissheit, dass Key bei ihr war. Natürlich würde er ihr nicht körperlich nahe sein können,
aber sie verließ sich auf das Gefühl, dass er da war.
Als sie seine Miene sah, wusste sie, dass es keinen Sinn hatte, ihn überreden zu wollen, aber sie
musste es wenigstens versuchen. »Sie erwarten dich aber.«
»Tja, dann werde ich sie eben enttäuschen müssen. In den Zeitungen wurde angedeutet, dass ich
dich nach Montesangrines gebracht habe, um ihn zu retten.« Er deutete mit einem Nicken auf
Randall. »Aber ich bin nicht seinetwegen hingeflogen, und ich werde auch erst gar nicht so tun.«
»Man wird Sie nur für schüchtern halten, Mr. Tackett.«
Key starrte Laras Mann an. »Ich kann nicht ändern, was die Leute denken. Ich weiß nur, was ich
selber denke, und ich werde mich nicht freiwillig einer Meute Hyänen mit Kameras zum Fraß
vorwerfen. Das können Sie denen ruhig sagen, wenn ein Zitat erwünscht ist.« Mit einem Blick
auf Lara fügte er hinzu: »Und du musst auch nicht gehen. Niemand kann dich dazu zwingen.«
Sie kämpfte gegen den magnetischen Sog an, der sie zu ihm zog. Es gab so viel zu sagen und zu
erklären, aber um nicht noch mehr Schaden anzurichten, schwieg sie lieber.
Natürlich war sie froh, dass Randall nicht brutal ermordet worden war. Sie freute sich über seine
Freilassung aus der langen, teuflischen Gefangenschaft. Allerdings hätte seine Freilassung, von
einem sehr egoistischen Standpunkt aus betrachtet, zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt passieren
können. Randall war wieder frei, aber für sie fing die Gefangenschaft jetzt erst an.
Ihr stiegen die Tränen in die Augen. Eine rollte ihr über die Wange. Als Key das sah, setzte er
dazu an, etwas zu sagen, besann sich dann augenscheinlich doch eines Besseren. Sie sahen sich in
stiller Qual in die Augen.
»Soso«, meinte Randall mit einem Hüsteln. Nicht ahnend, dass er Laras Gedanken laut
aussprach, sagte er: »Scheint ja ganz so, als ob meine Wiederauferstehung ziemlich ungelegen
kommt.«
Lara riss sich von Keys Blick los. »Wie du selbst sagtest, Randall – wir sollten jetzt runtergehen.«
Er hob beschwichtigend die Hand. »Die können warten. Dies hier sollten wir allerdings besser
gleich klären.«
»Es gibt kein ›dies hier‹.«
»Du warst schon immer eine lausige Lügnerin, Lara.« Er kicherte. »Mit Rücksicht auf den
Schock, den du erlitten hast, habe ich in den vergangenen Nächten auf mein Recht als Ehemann
verzichtet. Ich hätte deine Schlafzimmertür mit Sicherheit verschlossen vorgefunden.«
Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, sagte aber nichts.
Er legte einen Finger nachdenklich an die Wange und sah Key abschätzend an. »Er ist so ganz
anders als Clark. Es wundert mich, dass du ihn anziehend findest. Er hat bei weitem nicht so gute
Manieren wie sein Bruder. Na, wahrscheinlich findet ihr Frauen diese heißblütigen, animalischen
Typen scharf.«
»Ich bin weder taub noch stumm, du Dreckskerl«, sagte Key. »Wenn du mir etwas zu sagen hast,
dann sag es mir ins Gesicht.«
»In Ordnung«, erwiderte Randall absichtlich naiv. »Finden Sie es nicht ziemlich peinlich, die
Frau zu vögeln, von der das ganze Land weiß, dass sie die Nutte Ihres Bruders war?«
Selbst Lara hätte Key nicht mehr aufhalten können. Blitzschnell hatte er die Hände um Randalls
Hals geschlossen.
»Key, nein!« Sie versuchte, seine Hände auseinanderzubiegen, aber sein Griff war stahlhart. Er
stieß Randall rücklings an die Tür – sein Kopf schlug hart und dumpf gegen das Holz. Panisch
umklammerte er Keys Hände, doch der drückte immer fester zu.
»Bitte, Key!«, schrie Lara. »Mach es nicht noch schlimmer! Bitte, es ist schon genug geschehen!«
Ihre geschriene Bitte zeigte Wirkung. Er blinzelte heftig, als wäre sie durch einen Nebel von
Wut zu ihm durchgedrungen. Als ihre Worte einsickerten, lockerte sich sein Griff langsam. Dann
ließ er Randall mit einem angewiderten Ausdruck los.
Randall erholte sich und strich sich, mit einem Anflug von Würde, Krawatte und Jackett glatt.
»Gott sei Dank tragt ihr Cowboys keine Knarren mehr mit euch rum. Sonst wäre ich jetzt tot.«
Key atmete noch immer schwer und funkelte ihn an. »Wenn Sie noch einmal so über Lara und
mich sprechen, sind Sie tatsächlich ein toter Mann.«
»Wie edelmütig«, höhnte Randall. Dann wandte er sich zu Lara um. »Also, ich frage dich ein
letztes Mal: Können wir jetzt gehen?«
Key fasste sie bei den Schultern. »Du musst nicht tun, was er sagt.« Er schüttelte sie leicht. »Du
musst es nicht.«
»Doch, ich muss, Key.« Sie sagte es ganz leise, aber mit eiserner Entschlossenheit.
Zunächst konnte er es nicht glauben. Dann wandelte sich seine Verblüffung in Verärgerung. Sie
sah, wie seine Miene sich vor Wut verzerrte. Sie wusste, dass er ihre Entscheidung nicht verstand,
und sie konnte es ihm nicht erklären. Somit blieb ihr keine Wahl, als seinen Abscheu zu ertragen.
Er ließ sie los, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Zimmer. Hilflos musste Lara
mit ansehen, wie er ihr den Rücken kehrte.
»Ist doch bestens gelaufen. Aber nach dem vielen Gequatsche kann ich jetzt gut einen Drink
gebrauchen.« Randall schlüpfte aus dem Jackett und hängte es sorgsam über eine Stuhllehne,
bevor er zur Bar ging. »Möchtest du auch etwas, Liebling?«
»Nein, danke.«
Er mixte sich einen Scotch mit Soda und schnalzte nach dem ersten Schluck genüsslich mit den
Lippen. »Eine der vielen Annehmlichkeiten, die ich in der Gefangenschaft vermisst habe.« Er
setzte sich aufs Sofa, den Drink in der einen Hand, während er sich mit der anderen die
Schnürsenkel aufband. »Du bist so still, Lara. Stimmt etwas nicht?«
»Ob etwas nicht stimmt? Nein, nichts – außer dass ich mir vorkomme wie Freiwild bei der
Eröffnung der Jagdsaison.« Sie stellte sich vor ihn. »Ich hasse es, so ausgestellt zu werden, und ich
verachte dich dafür, dass du mich wieder dazu zwingst, der Öffentlichkeit ausgesetzt zu sein.«
»Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du Key Tackett bezirzt hast, dich nach
Montesangrines zu fliegen.«
»Ich habe nichts unversucht gelassen, bevor ich schließlich Key gefragt habe. Er war meine letzte
Hoffnung. Ich habe doch erklärt, warum ich dort war. Warum ich hinmusste.«
»Ja, und deine noble Motivation wurde von der Presse registriert. Du warst sehr beeindruckend,
als du den Anblick des Massengrabes geschildert hast. Du wirst bestimmt für die Wahl zur Mutter
des Jahres nominiert.« Er nahm einen Schluck von seinem Drink. »Ich kann mir wirklich nicht
erklären, weshalb du so wütend bist.«
»Weil selbst die Schilderung des Erlebnisses auf dem Friedhof ein Eingriff in meine Privatsphäre
ist, Randall. Und wenn meine Motivation noch so ehrenhaft war – die Reporter sind es nicht. Sie
haben das Interesse an der Reise doch nur geheuchelt, und auch an unserer Begegnung mit El
Mano und welche Auswirkungen das Ganze auf die Außenpolitik haben könnte. Was sie wirklich
wollten, war, Dreck aufwühlen. ›Wieso haben Sie sich mit Senator Tacketts Bruder
zusammengetan, Mrs. Porter?‹ ›Hasst Key Tackett Sie nicht dafür, dass Sie die politische Karriere
seines Bruders zerstört haben?‹ ›War sein Tod vielleicht Selbstmord?‹ ›Was fühlten Sie, als Sie
sahen, dass Ihr Mann noch am Leben ist?‹ Was sind das bitte für Fragen?«
»Begründete, würde ich sagen.« Mit trügerischer Gelassenheit setzte er das Glas auf dem
Couchtisch ab. »Was fühlten Sie denn, als Sie sahen, dass Ihr Mann noch am Leben ist, Mrs.
Porter?«
Sie mied seinen lauernden Blick. »Ich würde es vorziehen, wenn du mich mit meinem richtigen
Namen anredest, Randall. Ich bin jetzt schon so lange Dr. Mallory. Mrs. Porter weckt nur
negative Erinnerungen in mir.«
»Ja, zum Beispiel die, dass du verheiratet bist«, sagte er mit einem höhnischen Lachen. »Du hast
wirklich Pech, nicht wahr, Lara? Es war ein ungünstiger Zeitpunkt, dich zu verlieben. Und dann
auch noch in Clark Tacketts Bruder.« Er warf den Kopf zurück und lachte schallend. »Das ist
wirklich gut!«
Lara weigerte sich, etwas darauf zu entgegnen. Ihre Beziehung zu Key, über die sie sich selbst
völlig im Unklaren war, ging Randall überhaupt nichts an. Abgesehen von der Tatsache, dass er
rechtlich gesehen immer noch ihr Ehemann war. Emotional hatte sie sich schon seit jenem
verhängnisvollen Wochenende in Virginia von ihm gelöst.
Er leerte sein Glas. »Es ist spät. Wir sollten besser schlafen gehen. Wir haben morgen früh Plätze
in der Zehnuhrmaschine nach Washington.«
»Ich komme nicht mit nach Washington.«
Er hatte sich gerade heruntergebeugt, um seine Schuhe aufzuheben. Langsam kam er wieder
hoch. »Den Teufel wirst du tun. Es ist alles arrangiert.«
»Dann musst du es eben wieder absagen. Ich fliege nicht mit.«
»Der Präsident der Vereinigten Staaten wird uns morgen im Oval Office empfangen.« Er war rot
angelaufen.
»Richte ihm mein Bedauern aus, dass ich leider nicht mitkommen konnte.«
Sie ging in Richtung Schlafzimmer. Randall sprang vom Sofa auf, packte sie am Arm und zog
sie herum. »Du wirst an meiner Seite sein, bei jedem verdammten Schritt, den ich tue, Lara.«
»Das werde ich nicht, Randall.« Sie wand sich aus seiner Umklammerung. »Und ehrlich gesagt
überrascht es mich, dass du das Rampenlicht nicht allein genießen willst. Du hast Washington
damals als gehörnter Ehemann, als lächerliche Figur verlassen, und jetzt kehrst du als Held zurück.
Du wirst bestimmt in alle möglichen Talkshows eingeladen, und du musst ein Buch schreiben –
vielleicht wird sogar ein Film darüber gedreht. Deine Glaubwürdigkeit ist wiederhergestellt, und
du hast Gehör beim Präsidenten. Wozu brauchst du mich dabei? Ich werfe doch nur einen
Schatten auf dich und erinnere alle an deine schmachvolle Vergangenheit.«
»Um den Anschein zu wahren«, antwortete er kalt lächelnd. »Du bist immer noch meine Frau.
Ich bin bereit, über deine Bettgeschichte mit Key Tackett hinwegzusehen. Immerhin musstest du
annehmen, ich sei tot.«
»Komm mir nicht moralisch, Randall. Der märtyrerhafte Ehemann, der seiner untreuen Frau
vergibt.« In ihren Worten schwang ihre ganze Verachtung mit. »Genau wie damals, als das Foto in
der Presse erschien, wie du mich aus Clarks Cottage herausgezerrt hast. Keiner würde auf den
Gedanken kommen, dass du praktisch vom Tag unserer Hochzeit an Affären hattest.«
»Was du mir nie beweisen konntest. Das unterstellst du mir doch nur, um dich selbst zu
rechtfertigen.«
»Genauso wie ich dir unterstelle, dass du in Montesangrines nicht im Zölibat gelebt hast. Wenn
du dich so gut mit deinen Wachen verstanden hast, ließ sich doch sicher was für dich arrangieren,
nicht wahr?«
»Wie gut du mich kennst, Lara. Ja, ich hatte tatsächlich eine sexuell äußerst befriedigende
Beziehung in der Gefangenschaft. Ein hübsches Kind, klein, zierlich, mit ebenholzfarbenen
Augen und mehr als bemüht, mir zu gefallen, egal was ich verlangte. Für den Guerillakampf war
das Kind kaum geeignet, aber das reizende Geschöpf war der Sache und Emilio Sanchez Peron
absolut ergeben. Als er herausfand, dass ich mich mit dem Kind amüsierte, ließ er ihm den Bauch
aufschlitzen. Ich glaube, er war eifersüchtig. Sie haben sich als Kinder sehr nahe gestanden.
Vielleicht hatte er auch Angst, dass die Hingabe zu mir die Loyalität zu ihm schmälern könnte.
Jedenfalls hat er einer höchst willkommenen Abwechslung ein sehr hässliches Ende bereitet.«
Lara war angewidert von der Geschichte und der Nonchalance, mit der Randall sie erzählte. Sie
sagte: »Ich hätte mich von dir scheiden lassen sollen, bevor du nach Montesangrines versetzt
wurdest.«
»Mag sein. Aber damals warst du schwanger. Das gestaltete es schwierig für dich.«
»Ja, aber nur, weil du gedroht hast, mir Ashley zu nehmen.«
»Was ich auch gekonnt hätte. Du warst die untreue Ehefrau. Kaum eine vorbildliche Mutter.
Kein Gericht hätte der Hure von Clark Tackett das Sorgerecht zugesprochen.«
Dasselbe hatte er ihr schon vor fünf Jahren gesagt. Und sie wusste, dass es keine leere Drohung
war. Wenn sie die Scheidung eingereicht und sich geweigert hätte, mit ihm nach Montesangrines
zu gehen, wären ihre Chancen vor Gericht, das Sorgerecht zu erstreiten, gleich null gewesen.
Wenn es um sie gegangen wäre, wäre sie bis vor den Obersten Gerichtshof gezogen, aber sie
dachte nur an Ashley. Sie wäre in den wichtigsten Jahren ihrer Entwicklung zwischen ihnen hin-
und hergerissen worden und zum Streitobjekt verkommen. Damit wäre es so gut wie unmöglich
gewesen, sie zu einem glücklichen Kind zu erziehen. Und das hatte sie ihrem Baby ersparen
wollen.
»Deine Beleidigungen können mich nicht mehr treffen, Randall. Ich liebe dich nicht, und du
liebst mich nicht. Wieso sollten wir den Mythos unnötig lange aufrechterhalten?«
»Weil das äußere Erscheinungsbild in meinem Beruf nun einmal wichtig ist«, sagte er betont
geduldig. »Du bist die Garnierung. Warst es schon immer. Die meisten Frauen sind es. Je cleverer
und hübscher ihr seid, desto besser, aber ihr seid nun mal nicht mehr als die Petersilie auf dem
Lachs.«
Angewidert wandte sie sich von ihm ab.
»Deine Einwände sind angekommen«, sagte er in einer Selbstgefälligkeit, die sie fast zum
Wahnsinn trieb. Dann lächelte er. »Tatsächlich finde ich diesen neuen rebellischen Zug an dir
sogar ziemlich aufregend, aber jetzt reicht es erst mal. Heb es dir für einen passenderen Moment
auf, hmm? Du kommst mit mir nach Washington und bleibst brav an meiner Seite, genau wie du
damals mit nach Montesangrines gekommen bist und die nette Gastgeberin gespielt hast.«
»Den Teufel werd ich tun.« Sie zeigte keine Angst, als sie sich ihm entgegenstellte. »Ich habe dir
eine Chance eingeräumt, aus Rücksicht auf die schlimme Zeit, die du durchgemacht hast. Aber
du hast dich kein bisschen verändert, Randall. Du bist so egoistisch und manipulierend wie eh
und je. Vielleicht sogar noch mehr, weil du das Gefühl hast, die Welt schuldet dir etwas für das,
was man dir angetan hat. Ich bin froh, dass du lebst. Aber ich will nichts mit dir zu tun haben.
Und glaube nicht, dass du mich umstimmen kannst. Es ist vorbei. Und zwar schon seit Jahren. Ich
bin damals nur nach Zentralamerika mitgekommen, damit ich Ashley behalten kann. Ich habe
eingewilligt, bis ein Jahr nach ihrer Geburt zu bleiben. Wir waren nur wenige Wochen von
diesem Punkt entfernt, als sie getötet wurde. Ich habe sie so oder so verloren«, sagte sie bitter.
»Und da sie tot ist, kannst du mir nicht mehr drohen. Du hast nichts in der Hand, was du gegen
mich ausspielen kannst, weil ich schon alles verloren habe, was mir je etwas bedeutet hat.«
»Und was ist mit Tackett Nummer zwei?«
»Du kannst Key nichts anhaben.«
»Nein?«, fragte er hinterlistig. »Soweit ich gesehen habe, hält er ziemlich große Stücke auf seinen
toten Bruder. Denk mal drüber nach, Lara.«
Die Drohung war sehr subtil, aber äußerst real. Lara riss sich zusammen, um sich nichts
anmerken zu lassen. »Du würdest es ihm nie sagen …«
Er lachte. »Hab ich’s mir doch gedacht! Er weiß es nicht. Es ist immer noch unser beider kleines
Geheimnis.«
Sie sah ihn einen Moment prüfend an, dann schnaubte sie verächtlich. »Diesmal schüchterst du
mich nicht ein, Randall.« Sie ging zum Schlafzimmer, drehte sich an der Tür aber noch einmal
um. »Es ist mir egal, was du tust, solange du mich in Ruhe lässt. Geh nach Washington. Hol dir
deine Schlagzeilen. Schmeichle dich beim Präsidenten ein. Werde berühmt. Gönne dir alle
Affären dieser Welt. Die Scheidung, mit der ich dir vor Jahren gedroht habe, wird jetzt
Wirklichkeit. Ich werde sie sofort einreichen. Und von jetzt an bin ich für dich Dr. Lara Mallory.
Ich werde auf deinen Namen nicht mehr reagieren.«
Sie ging ins Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Kapitel 26
Janellen schirmte die Augen vor der Sonne ab, während sie ungeduldig immer wieder Ausschau
nach dem Zuhälter-Mobil hielt. Als sie es endlich von der Hauptstraße abbiegen sah, rief sie:
»Mama! Er ist da!«
Key hatte vom Flughafen aus angerufen und Bescheid gesagt, dass er in Kürze zu Hause sein
würde. Am Abend zuvor hatte er sich schon aus Houston gemeldet mit den Worten: »Der
verlorene Sohn kehrt heim. Schlachtet schon mal das Kalb.«
Ganz so weit war Janellen nicht gegangen, aber sie hatte Maydale gebeten, ein ganz besonderes
Essen zuzubereiten. Key lebte und war wohlauf. Er war zurück!
Sie sprang die Stufen hinunter und lief ihm entgegen, stellte sich mitten auf den Weg und zwang
ihn anzuhalten. Sie legte die Hände auf die Motorhaube, lächelte ihn durch die
Windschutzscheibe an, lief dann zur Fahrertür und warf sich in seine Arme, als er ausgestiegen
war.
»Oh, oh! Vorsicht, meine Rippen!« Er umarmte sie fest, hielt sie dann mit gestreckten Armen
vor sich und sagte: »Ich traue meinen Augen kaum! Du siehst toll aus!«
»Gar nicht wahr«, widersprach sie ihm.
»Zweifelst du etwa an meinem Urteilsvermögen? Irgendwas ist doch anders …«
»Nur ein neuer Haarschnitt und eine leichte Welle, das ist schon alles. Ich habe gerade beim
Friseur unter der Trockenhaube gesessen, als jemand draufklopfte und auf den Fernseher zeigte.
Ihr seid in den Nachrichten gewesen, Dr. Mallory und du. Wie ihr mit ihrem Mann über
Kolumbien nach Hause geflogen seid. Als ich dich da auf dem Bildschirm sah, wäre mir fast das
Herz stehengeblieben.«
Sein Lächeln bröckelte. »Ja, es war eine ziemlich ereignisreiche Woche.« Dann kniff er sie leicht
in die Wange und sagte: »Gefällt mir, deine neue Frisur.«
»Mama findet sie furchtbar. Sie sagt, sie wäre viel zu frivol für eine Frau in meinem Alter.
Findest du das auch?«
»Ich finde sie teuflisch sexy.«
»Oh, danke schön, Sir.« Sie machte einen kleinen Knicks.
»Hmm. Flirten kannst du neuerdings auch …« Er stemmte die Hände in die Hüften, neigte den
Kopf und musterte sie von oben bis unten. »Gibt es vielleicht etwas, was ich wissen sollte?«
»Nein.« Die Antwort kam viel zu hastig und bestimmt. Wenn ihre Wangen so rot waren, wie sie
sich anfühlten, würde ihr Bruder bestimmt sofort wissen, dass sie gelogen hatte.
»Cato hat nicht lockergelassen, was?«
Sie versuchte, nicht zu lächeln, aber sie konnte die Freude, die sie bei der bloßen Erwähnung
seines Namens durchströmte, einfach nicht unterdrücken. Sie weckte die Erinnerungen an die
Stunden, in denen sie spätnachts im Salon gesessen und darüber gestritten hatten, ob ihre
Romanze nun richtig oder falsch war – wobei sie von Ersterem und er von Letzterem überzeugt
war –, und sich die gemeinsame Zukunft ausgemalt hatten, an die sie glaubte und er nicht.
Bei dem ganzen Streit um das Wesen und die Fortdauer ihrer Beziehung wurde tatsächlich eine
daraus. Obwohl sie weit davon entfernt waren, sie auch zu vollziehen oder vierundzwanzig
Stunden am Tag zusammen zu sein, hätte Janellen kaum glücklicher sein können.
Und ihr Glück war ihr anzusehen, besonders für ihren einfühlsamen Bruder. Er grinste breit.
»Dass der Bursche dich ja gut behandelt. Wenn nicht, reiße ich ihm persönlich die Eier ab und
werfe sie den Hunden zum Fraß vor. Das kannst du ihm von mir ausrichten.«
»So etwas würde ich nie zu ihm sagen!«, entrüstete sie sich. »Das wäre nicht sehr damenhaft.«
Dann musste sie lachen, als sie daran dachte, wie freizügig sie schon mit Bowie gesprochen hatte.
Sie hakte sich bei Key unter und ging mit ihm zum Haus. »Du musst erschöpft sein. Ich habe
Maydale gebeten, dein Bett frisch zu beziehen. Du kannst gleich reinklettern, wenn du gegessen
und ein heißes Bad genommen hast.«
Plötzlich blieb Key stehen. Janellen sah auf. Auf der Veranda stand Jody und beobachtete sie
beide. Sie sah gut aus. Offensichtlich hatten die Ärzte wieder einmal übertrieben und Jody doch
recht behalten. Es ging ihr viel besser trotz der verheerenden Prognosen.
In den letzten Tagen hatte es sichtbare Anzeichen ihrer Genesung gegeben. Sie sagte, sie fühle
sich besser, und wirkte auch viel energiegeladener. Sie war munter und zeterte sogar schon
wieder, wenn sie ihre Medizin nehmen sollte. Selbst ihren Zigarettenkonsum hatte sie auf zwei
Schachteln pro Tag reduziert. Gestern war sie zum ersten Mal wieder zu ihrem festen Termin im
Schönheitssalon gegangen.
Janellen bezweifelte, dass es Zufall war, dass sie sich seit dem Tag zu erholen schien, an dem sie
erfahren hatten, dass Key Montesangrines verlassen hatte. Trotz ihres ständigen Streits standen sich
Mutter und Sohn sehr nahe.
»Hallo, Jody.« Key klang reserviert, vorsichtig. Er erinnerte sich noch zu gut an die verletzenden,
gedankenlosen Dinge, die Jody ihm vor seinem Abflug gesagt hatte. Auch Jody schien sich dessen
bewusst zu sein, denn ihr Mundwinkel zuckte kurz, als wäre ihr unwohl.
»Wie ich sehe, bist du noch ganz.«
»Mehr oder weniger, ja.«
Janellen sah unsicher von einem zum anderen, als wollte sie unbedingt die stillschweigende
Waffenruhe bewahren. »Kommt, wir gehen rein und trinken vor dem Essen noch was.«
Jody schritt ihnen zum Salon voran. Sie wollte nichts trinken, zündete sich aber eine Zigarette
an. »In der Zeitung stand, dass die Rebellen dein Flugzeug beschlagnahmt haben.« Sie schickte
eine Rauchwolke gen Zimmerdecke.
»Stimmt. Danke, Schwesterchen.« Er nahm den Scotch auf Eis, den Janellen ihm eingeschenkt
hatte. »Macht aber nichts. Der Typ, von dem wir es gemietet hatten, hoffte sowieso darauf, dass
wir es beschädigen oder irgendwas anderes damit passiert, damit er die Versicherungssumme
abkassieren kann. Er brauchte Bares.«
»So was habe ich mir fast gedacht. Du hast ja immer mit so skrupellosen Charakteren zu tun.«
»Da wir gerade bei skrupellosen Charakteren sind«, schaltete sich Janellen dazwischen. »Darcy
Winston hat sich am Tag, als ich meine Dauerwelle bekommen habe, auch gerade Locken und
eine Tönung machen lassen. Sie hat erzählt, dass ihre Tochter Heather und Tanner Hoskins nicht
die Finger voneinander lassen können. Sie meinte, sie müsse sie noch mit dem Gartenschlauch
auseinandertreiben.«
Key lachte. Janellen sah ihn perplex an. »Alle haben gelacht, als sie das sagte. Ich kapiere das
nicht.«
»Meine Güte, Janellen«, sagte Jody ungeduldig.
»Was denn?«
»Nichts, schon gut«, beschwichtigte Key. »Und weiter? Was hat Mrs. Winston noch gesagt?«
»Als ihr in den Nachrichten kamt, hat sie sich vorgedrängelt und den Fernseher in Beschlag
genommen. Und als gemeldet wurde, dass Mr. Porter doch nicht hingerichtet worden ist, hat sie
sich richtig peinlich benommen.«
»Inwiefern?« Keys Lächeln war verschwunden.
»Sie hat gelacht. Niemand sonst fand es lustig. Sie juchzte fast. Diese Frau ist wirklich
geschmacklos.«
»Sie ist eine geile kleine Schlampe«, sagte Jody, während sie die Asche in den Aschenbecher
schnippte. »Fergus dachte, wenn er diese kleine Nutte heiratet, macht er sie damit automatisch
gesellschaftsfähig. Nicht für mich. Unter ihren ganzen schicken Designerkleidern ist sie doch noch
billig. Fergus war schon immer ein Narr.«
Maydale rief zu Tisch, und Key bekam sein Lieblingsessen serviert: Hühnerfilet und Roastbeef
mit allen dazugehörenden Saucen. Zum Dessert gab es zwei große Puddings – einmal Pfirsich und
einmal Paranuss – mit hausgemachter Vanilleeiscreme.
Janellen hatte erwartet, dass er das Dinner, das sie ihm zu Ehren hatte zubereiten lassen, mit
Bärenhunger verschlingen würde, aber er aß nur wenig. Er lächelte, wenn er mit ihr sprach, und
beantwortete alle ihre Fragen, aber ohne wirklich bei der Sache zu sein. Jody gegenüber war er
höflich und sagte nichts, was sie erzürnen oder aufregen könnte. Für einen Mann, der um
Haaresbreite dem Tod durch ein Rebellenregime entkommen war, wirkte er unnatürlich still.
Wenn die Unterhaltung stockte, starrte er brütend vor sich hin und musste mit Gewalt in die
Realität zurückgerufen werden.
Nach dem Essen entschuldigte sich Jody und ging auf ihr Zimmer, um ein wenig fernzusehen.
An der Tür sagte sie noch: »Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.«
Er sah ihr nachdenklich hinterher.
»Sie meint es ernst, weißt du«, sagte Janellen leise. »Ich glaube, sie hat sich mehr Sorgen um dich
gemacht als ich, und ich war schon schlimm genug. Am Tag, als wir erfuhren, dass du am Leben
und auf dem Heimweg bist, ist eine echte Veränderung in ihr vorgegangen.«
»Sie sieht besser aus als vor meiner Abreise.«
»Du hast es auch bemerkt!«, rief sie. »Das finde ich auch! Ich glaube, sie erholt sich langsam.«
Er langte zu ihr hinüber und streichelte ihr die Wange. Doch sein Lächeln wirkte traurig.
»Da ist noch etwas, Key. Etwas mit Mama. Als ich gestern von der Arbeit nach Hause
gekommen bin, konnte ich sie nicht finden. Ich habe im ganzen Haus nach ihr gesucht – und
rate, wo sie war. In Clarks Zimmer. Sie hat seine Sachen durchgesehen.«
Plötzlich hatte sie seine Aufmerksamkeit.
»Meines Wissens war sie nicht mehr dort, seit wir seinen Beerdigungsanzug ausgesucht haben.
Wieso kommt sie jetzt plötzlich drauf?«
»Sie hat seine Sachen durchgesehen?«
Janellen nickte. »Ja, die Papiere. Zeugnisse, Jahrbücher, Zettel, Memos, die er als Senator
geschrieben hat. Und sie weinte dabei. Sie hat nicht mal bei seiner Beerdigung geweint.«
»Ich weiß. Ich war dabei.«
Erst jetzt fiel ihr auf, dass Key erstaunlich ähnlich wie damals aussah. Obwohl er äußerlich und
von dem, was er sagte, wie immer wirkte, hatte sie das Gefühl, als würde er fast automatisch
reagieren wie damals, kurz nach Clarks Tod. Er hatte etwas Erschüttertes, Verlorenes an sich, als
wäre etwas völlig Unbegreifliches geschehen.
In den Tagen nach Clarks Tod war sie zu sehr in ihren eigenen Kummer versunken gewesen, als
sich um Key zu kümmern, und wahrscheinlich hätte er sie zurückgewiesen, wenn sie es versucht
hätte. Abgesehen davon hatte sie sich unzulänglich gefühlt. Das tat sie auch jetzt, trotzdem legte
sie die Hand auf seinen Arm und drückte ihn mitfühlend.
»Ich habe ein Buch über Trauer gelesen, um mit Clarks Tod besser fertigzuwerden. Laut der
Autorin, einer Psychologin, taucht Trauer manchmal erst als verzögerte Reaktion auf. Manchmal
kann ein Mensch sie über Jahre verleugnen. Dann eines Tages passiert etwas, und alles kommt an
die Oberfläche. Glaubst du, dass das vielleicht auf Mama zutrifft?«
Key blieb nachdenklich und sagte nichts.
»Ich glaube, es ist ein Durchbruch«, sagte Janellen. »Vielleicht begreift sie erst jetzt wirklich, dass
sie ihn verloren hat. Und wenn sie sich ihren Gefühlen stellt, ist sie vielleicht nicht mehr so
wütend. Ihr zwei seid beim Essen schon viel besser miteinander ausgekommen. Hast du gemerkt,
wie anders sie ist?«
Key lächelte sie liebevoll an. »Du bist eine unerschütterliche Optimistin, Janellen.«
»Mach dich nur lustig über mich«, sagte sie verletzt.
»Ich mache mich nicht lustig. Es war eigentlich als Kompliment gemeint. Wenn alle Menschen
so arglos wären wie du, wäre die Welt lange nicht so widerwärtig.«
Er zog spielerisch eine ihrer neuen Locken lang, aber sein Lächeln blieb oberflächlich. »Wer
weiß, was Jody veranlasst hat, Clarks Sachen anzusehen. Es könnte alles bedeuten und nichts.
Erwarte nicht zu viel von ihr. Die Dinge ändern sich nie. Du bist verliebt. Du bist glücklich und
wünschst dir, dass alle anderen es auch sind.«
Sie lehnte ihre Wange an seine Brust und umarmte ihn fest. »Du hast recht, Key. Ich bin
glücklich. So glücklich wie noch nie in meinem ganzen Leben. Glücklicher, als ich es mir je
erträumt hätte.«
»Das sieht man, und ich freue mich wirklich für dich.«
»Aber ich fühle mich so schuldig.«
Er schob sie grob von sich. »Nein«, sagte er ärgerlich. »Das darfst du nicht. Genieße dein Glück
in vollen Zügen. Du hast es verdient. Du hast jahrelang nur für sie gelebt oder für mich. Um
Himmels willen, Janellen, entschuldige dich niemals dafür, dass du glücklich bist. Versprich mir
das.«
Verblüfft über seine Heftigkeit nickte sie. »In Ordnung, ich verspreche es.«
Er drückte sie fest, küsste sie auf die Stirn und ließ sie dann los. »Ich muss gehen.«
»Gehen? Wohin? Ich dachte, du würdest heute Abend zu Hause bleiben und dich mal richtig
ausschlafen.«
»Ich bin ausgeschlafen.« Er fischte in der Tasche seiner Jeansjacke nach dem Autoschlüssel. »Ich
habe ’ne Menge nachzuholen.«
»Was nachzuholen?« Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu und ging zur Tür. »Key! Warte!
Meinst du, etwas trinken, ja?«
»Zum Beispiel.«
»Frauen?«
»Auch.«
Sie hielt ihn an der Eingangstür auf und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. »Ich habe dich
bislang nicht danach gefragt, weil ich fand, es geht nur dich etwas an.«
»Mich nach was gefragt?«
»Nach dir und Lara Mallory.«
»Was soll mit uns sein?«
»Na ja, ich dachte, ihr zwei seid vielleicht …«
»Du meinst, ob ich Clarks Platz in ihrem Bett eingenommen habe?«
»So wie du es sagst, klingt es schmutzig.«
»Es war schmutzig.«
»Key!«
»Ich muss jetzt gehen. Warte nicht auf mich.«
Ehe Lara auf das Klingeln hin die Tür öffnete, warf sie einen Blick durch die Jalousien, um dann
hastig aufzuschließen. »Janellen! Wie schön, Sie zu sehen. Kommen Sie doch herein.« Sie trat
beiseite und machte ihrem unerwarteten Gast Platz.
»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen. Es scheint, als würde ich es nie lernen, vorher
anzurufen. Aber ich habe mich ganz spontan zu diesem Besuch entschlossen.«
»Es hätte sowieso nicht viel Sinn gehabt anzurufen. Ich habe den Hörer von der Gabel
genommen. Ein paar der Reporter wollen einfach kein Nein akzeptieren.«
»Ja, sie rufen auch dauernd wegen Key an.«
Seinen Namen zu hören war, als würde ein Pfeil sie mitten ins Herz treffen. Sie bemühte sich,
den Schmerz zu ignorieren, und hob einen der Kartons von den Stühlen. »Setzen Sie sich doch.
Möchten Sie etwas trinken? Ich weiß nicht, was ich noch da habe, aber …«
»Danke, ich möchte nichts.« Janellen sah sich in dem Chaos um. »Was machen Sie hier
eigentlich?«
»Unordnung«, antwortete Lara mit einem trockenen Lächeln, während sie sich auf eine Kiste
setzte. Erschöpft strich sie eine Strähne aus ihrem Gesicht. Seit ihrer Heimkehr schienen ihr selbst
die kleinsten Bewegungen große Anstrengung zu verursachen. »Ich packe.«
»Wieso?«
»Ich verlasse Eden Pass.«
Janellen war wohl der einzige Mensch in der Stadt, der diese Neuigkeit nicht gern hörte. Ihre
Miene verriet gleichzeitig Bestürzung und Verzweiflung. »Aber warum?«
»Das ist nicht schwer zu erraten, oder?« Die Bitterkeit in Laras Stimme ließ sich nicht verbergen.
»Es hat sich für mich hier nicht so entwickelt, wie ich gehofft hatte. Clark hat sich geirrt, als er
mir das Haus kaufte. Und ich habe mich geirrt, als ich es annahm.«
Sie war gerührt, Tränen in Janellens Augen zu sehen. »Die Leute in dieser Stadt können so
dumm sein! Sie sind die beste Ärztin, die wir je hatten.«
»Die Meinung der Menschen hat nichts mit meinen Fähigkeiten als Medizinerin zu tun. Sie
haben sich eben dem Druck gebeugt.« Es war unnötig zu erwähnen, dass Jody Tackett Urheberin
dieses Drucks war.
Janellen wusste es auch so und fühlte sich schuldig dafür. »Es tut mir leid.«
»Das weiß ich. Danke.« Die beiden Frauen lächelten sich zu. Unter anderen Umständen hätten
sie gute Freundinnen werden können. »Wie geht es Ihrer Mutter? Haben die Medikamente
angeschlagen?«
Janellen erzählte ihr von Jodys bemerkenswerten Fortschritten. Lara dämpfte ihren Optimismus
nur ungern, aber sie hielt es für ihre Pflicht als Ärztin, eine realistische Einschätzung der Situation
zu geben. »Es freut mich zu hören, dass es ihr bessergeht, aber Sie müssen sie weiterhin im Auge
behalten. Achten Sie darauf, dass sie ihre Medikamente regelmäßig einnimmt, bis der Arzt etwas
anderes anordnet. Außerdem empfehle ich regelmäßige Untersuchungen. Und bevor Sie die Idee
der Angioplastik ganz verwerfen, würde ich zunächst noch weitere Tests empfehlen.«
»Ich glaube nicht, dass Mama dazu bereit ist, aber wenn ich Anzeichen von Stress bei ihr
bemerke oder sie – Gott bewahre – sogar noch einen Anfall erleidet, werde ich darauf bestehen.«
Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten, dann stand Janellen auf, um zu gehen. An der Tür
angekommen, sagte sie: »Ich habe heute Morgen Ihren Mann im Fernsehen gesehen. Sie brachten
einen Bericht, wie er vom Präsidenten empfangen wurde.«
»Ja, ich habe es auch gesehen.«
»Der Interviewer fragte, warum Sie nicht dabei seien, und darauf sagte er, Sie wären von den
Ereignissen in Montesangrines noch so mitgenommen, dass Sie nicht in der Lage gewesen wären,
ihn zu begleiten.«
Es wurmte sie, dass Randall ihr einfach Dinge in den Mund legte und falsche Informationen
über sie streute. Sie hatte ihm in Houston ihre Haltung unmissverständlich klargemacht und sich
in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen, bis sie sicher war, dass er das Hotel verlassen hatte und auf
dem Weg nach Washington war. Sie hatten sich nicht einmal voneinander verabschiedet.
Seine Entschuldigung für ihre Abwesenheit in Washington war reiner Selbstzweck, aber sie
konnte nichts dagegen tun, außer ihn zur Rede zu stellen. Aber dazu war es ihr nicht wichtig
genug. Sie würden sich das nächste Mal vor dem Scheidungsgericht sehen, und dort wollte sie
ihrem Anwalt das Reden überlassen.
»Es muss sehr …« Janellen zögerte, dann sagte sie geradeheraus: »Nein, ich kann mir nicht
vorstellen, wie es war, als Sie herausfanden, dass er noch am Leben ist.«
»Nein, das kann man auch nicht.«
Vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild von Randall in ihrer Badewanne auf. Sie hörte ihre
eigenen Schreie, die von den Fliesen widerhallten, und das Geräusch von zerberstendem Holz, als
Key die Tür eintrat, und dann spürte sie seinen Arm, den er um sie gelegt hatte. Im ersten
Moment hatten sie angenommen, Randall sei tot.
Aber er war wieder zum Leben erwacht.
Seitdem hatte Key sie nicht mehr angefasst. Nicht einmal beiläufig.
Es gab keine Worte, den Schock zu beschreiben, der in sie gefahren war, als sie Randall gesehen
hatte, also sagte sie einfach: »Ich war geschockt, als ich ihn sah.«
»Das glaube ich. Aber Sie wirken gar nicht so mitgenommen. Warum sind Sie nicht mit nach
Washington geflogen?« Sofort danach zog Janellen ihre allzu direkte Frage wieder zurück.
»Entschuldigen Sie. Das geht mich nichts an.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Die Frage ist schon berechtigt. Die Antwort lautet
ganz simpel, dass ich es nicht wollte. Die Politik ist Randalls Arena, nicht meine. Was er mit
seiner neugewonnenen Berühmtheit macht, ist mir egal. Ich wünsche nur, dass meine ganz
schnell wieder nachlässt.«
»Ja, so geht es Key auch.«
Der Pfeil wühlte in ihrem Herzen. »Er scheint sich extrem unwohl zu fühlen, so plötzlich im
Rampenlicht zu stehen.«
Janellens hübsches Gesicht wirkte völlig bestürzt, als es aus ihr herausbrach: »Er will wieder weg.
Nach Alaska, das hat er mir heute Morgen gesagt. Er hat einen Job angeboten bekommen, als
Aufklärer an einer Pipeline. Das ist der Pilot, der die Pipeline auf Lecks überprüft.«
Lara nickte.
»Er sagt, man bezahlt ihn gut und er würde dringend Tapetenwechsel brauchen. Ich habe ihm
gesagt, den hätte er doch gerade erst gehabt, aber er meinte, der Trip nach Zentralamerika würde
nicht zählen. Ich will nicht, dass er weggeht«, sagte sie, offensichtlich verstört. »Aber jetzt, wo es
Mama bessergeht, gibt es nichts mehr, was ihn aufhalten könnte.«
»Nein, ich schätze nicht.« Laras Stimme hatte einen schalen Klang.
»Ich mache mir solche Sorgen um ihn«, fuhr Janellen fort. »Erst habe ich gedacht, er ist nur
erschöpft, aber jetzt ist er schon über eine Woche zurück und hat sich immer noch nicht erholt.«
Lara war augenblicklich alarmiert. »Ist er denn krank?«
»Nein, das nicht. Jedenfalls nicht körperlich. Aber er ist so sehr in sich gekehrt. Seine Augen
leuchten nicht mehr. Er schreit nicht mal mehr, wenn er wütend wird. Und das sieht ihm gar
nicht ähnlich.«
»Das stimmt.«
»Es ist, als hätte ihm jemand den Stecker herausgezogen und ihm die ganze Energie entzogen.«
Lara wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
»Na ja«, meine Janellen betrübt. »Ich dachte, Sie sollten es vielleicht wissen.«
Sie zögerte, als hätte sie noch mehr auf dem Herzen. Lara fragte sich, ob Janellen wusste, dass sie
mit Key geschlafen hatte. Nein, sicher nicht … aber vielleicht vermutete sie es.
»Nun, äh … wann verlassen Sie die Stadt?«
»Ich habe mir keinen festen Termin gesetzt. Wenn ich fertig gepackt habe. Ich habe mir bis jetzt
noch gar keinen Makler für den Verkauf des Hauses gesucht.«
»Ziehen Sie nach Washington?«
»Nein«, entgegnete Lara scharf. Um die Antwort abzumildern, fügte sie hinzu: »Ich habe noch
keinen genauen Plan.«
»Tja, so ist es wohl«, sagte Lara mit einem schwachen Lächeln.
Janellen war verblüfft, aber ihre anerzogene Höflichkeit verbot es ihr weiterzufragen. »Wenn Sie
eine neue Adresse haben, schicken Sie sie mir dann? Ich weiß, zwischen Ihnen und uns Tacketts
war viel böses Blut, aber ich würde gern mit Ihnen in Verbindung bleiben.«
»Sie hatten ja nichts mit dem bösen Blut zu tun«, erwiderte Lara freundlich. »Ich würde mich
freuen, wenn Sie sich bei mir melden.«
Janellen schien mit sich zu ringen, ob es angemessen wäre, aber dann nahm sie Lara doch noch
einmal schnell in den Arm, bevor sie zu ihrem Wagen ging.
Lara sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Langsam schloss sie die Tür und damit, symbolisch,
ein Kapitel in ihrem Leben. Der Besuch von Janellen war wahrscheinlich ihr letzter Kontakt mit
den Tacketts.
Später saß Janellen mit Bowie aneinandergekuschelt auf dem Sofa im Salon. Es brannte kein
Licht. Jody hatte sich schon vor Stunden auf ihr Zimmer zurückgezogen. Key war wie
gewöhnlich unterwegs.
Bowie hatte sich an das Seitenkissen zurückgelehnt, Janellen lag, den Kopf an seine Schulter
geschmiegt, auf seinem Schoß und streichelte abwesend seine Brust unter dem offenen Hemd.
»Es ist traurig«, flüsterte sie. »Sie stand da inmitten der ganzen Kartons und sah völlig verloren
aus, als wüsste sie nicht, was kommen würde.«
»Vielleicht hast du es nur so gesehen.«
»Nein, das glaube ich nicht, Bowie. Sie sah aus, als hätte sie keinen einzigen Freund auf dieser
Welt.«
»Das ergibt doch aber keinen Sinn. Sie hat doch gerade ihren totgeglaubten Ehemann
wiedergefunden.«
»Ich verstehe es ja auch nicht. Wieso ist sie nicht bei ihm? Wenn ich glauben würde, du seist tot,
und dann würde ich entdecken, dass du’s doch nicht bist, würde ich dich nie wieder loslassen. Ich
liebe dich so sehr, dass ich …« Sie hob das Kinn. »Mir würde es so gehen, das ist es nämlich. Dr.
Mallory liebt ihren Mann nicht mehr. Vielleicht hat sie sich in jemand anderen verliebt.«
»Jetzt mach mal halblang. Du legst dir da was zurecht über sie, was gar nicht stimmen muss.«
»Und das wäre?«
»Das wäre, dass zwischen ihr und deinem Bruder was läuft.«
»Du glaubst es also auch!«, rief sie aufgeregt.
»Ich glaube gar nichts. Aber das ist es doch, was du denkst. Zusammen nach Montesangrines zu
fliegen und von Rebellen gefangen genommen zu werden klingt ziemlich romantisch. Wie aus
einem Film. Aber ich würde an deiner Stelle nicht was reindeuten, was da gar nicht ist.«
Sie wirkte verdrossen und gab zu, dass sie auf eine Affäre zwischen Key und Lara spekuliert
hatte. »Sie wirken beide so unglücklich, seit sie wieder da sind. Und Key will sogar weggehen.«
»Er war schon immer ein Weltenbummler. Das hast du mir selbst gesagt.«
»Ja, aber diesmal ist es etwas anderes als Fernweh. Er ist nicht nur auf ein neues Abenteuer aus,
er läuft vor etwas davon. Und genau dasselbe trifft auch auf Dr. Mallory zu. Sie macht so gar nicht
den Eindruck einer Frau, deren geliebter Mann soeben von den Toten wiederauferstanden ist.«
Sie zog eine Grimasse. »Und nachdem ich ihn im Fernsehen gesehen habe, kann ich’s ihr nicht
mal verübeln. Er hat sich wie ein echtes Arschloch angehört. Außerdem sieht er nicht halb so gut
aus wie Key.«
Bowie gluckste. »Du bist wirklich hoffnungslos romantisch, weißt du das?«
»Key hat gesagt, ich bin verliebt, und jetzt will ich, dass alle anderen auch glücklich sind. Er hat
recht.«
»Womit? Dass du willst, dass alle glücklich sind?«
»Damit, dass ich verliebt bin.« Sie sah in seine seelenvollen Augen, mit unverhohlener Liebe im
Blick. Dann nahm sie sein Gesicht in die Hände und fragte ernster: »Wann, Bowie?«
Das Thema kam oft auf. Und jedes Mal wenn es so war, wirkte es entweder anheizend oder
abkühlend auf ihre Leidenschaft. Heute Nacht führte es zu einem physischen Bruch. Er stand, die
Stirn gerunzelt, auf und knöpfte sich das Hemd zu.
»Wir müssen darüber reden, Janellen.«
»Ich will nicht mehr reden. Ich will mit dir zusammen sein. Und es ist mir egal, wo es sein wird,
solange wir nur zusammen sind.«
Er wandte unsicher den Blick ab. »Ich habe vielleicht etwas für uns gefunden.«
»O Bowie!« Sie hatte alle Mühe, nicht laut zu schreien. »Wo? Wann können wir hin? Warum
hast du mir nicht früher davon erzählt?«
Er entschied sich, auf die letzte Frage zuerst zu antworten. »Weil es nicht richtig ist, Janellen.«
»Du magst das Zimmer doch nicht?«
»Nein, das Zimmer ist okay. Es ist nur …« Er hielt inne und schüttelte beschwörend den Kopf.
»Ich bin es einfach leid, mich Nacht für Nacht hier reinzuschleichen wie ein verdammter
Schuljunge, ständig meine Gefühle im Zaum zu halten und im Dunklen rumzufummeln und
flüstern zu müssen wie in einer Bücherei und mich dann durch die Hintertür hinauszustehlen. Es
ist einfach kein gutes Gefühl.«
»Aber du hast doch etwas für uns gefunden, wo wir …«
»Das ist nur noch schlimmer. Du bist mir einfach zu schade für einen schnellen Schuss in einem
Motel.« Er hob die Hand, um ihren Protest zurückzuhalten. »Und noch etwas – du glaubst
vielleicht, wir könnten ewig so weitermachen und niemand würde je etwas erfahren, aber du irrst
dich. Das ist unmöglich. Ich bin lange genug in Eden Pass, um zu wissen, wie schnell hier etwas
die Runde macht. Es ist einfach zu riskant. Früher oder später wird deine Mama davon hören.
Und dann wird sie mich mit dem Gewehr verjagen oder die Polizei rufen. Gott, ich habe schon
Schlimmeres erlebt, und wenn sie mich nicht auf der Stelle erschießt, werde ich es auch
überleben. Aber du nicht. Du wirst dein Lebtag nicht mehr glücklich werden.«
»Ich habe schon viele schwierige Situationen gemeistert.«
»Aber nicht die Art, von der ich spreche.«
Sie hatte von ihren Brüdern gelernt, dass Männer es hassten, wenn Frauen weinten, also
versuchte sie, sich zusammenzureißen. »Willst du mir klarmachen, dass Schluss ist, Bowie? Suchst
du nach einer Ausrede? Liegt es vielleicht an meinem Alter?«
»Bitte?«
Ein kleiner Schluchzer entkam ihr. »Das ist es, nicht wahr? Du versuchst dich irgendwie
herauszuwinden, weil ich älter bin als du.«
Er war gleichzeitig entrüstet und verblüfft. »Du bist älter als ich?«
»Drei Jahre.«
»Und was macht das?«
»Dir anscheinend viel. Deshalb willst du doch Schluss machen, stimmt’s? Du suchst dir eine
Frau, die jünger ist als ich.«
»Mist!« Er sprang auf, lief hin und her und fluchte leise vor sich hin. Schließlich blieb er vor ihr
stehen und sah wütend auf sie herunter. »Wie lange hast du gebraucht, dir diesen Mist
auszudenken? Ich wusste nicht mal, dass du älter bist als ich, und selbst wenn ich es gewusst hätte,
wäre es mir egal gewesen. Kennst du mich denn immer noch nicht? Verdammt!«
»Warum dann?«
Seine Wut verrauchte. Er kniete sich vor sie und nahm ihre Hände in seine. »Janellen, was mich
angeht, stehst du ganz oben über jedem anderen menschlichen Wesen, das je auf dieser Erde
gewandelt ist. Ich würde eher meinen Arm hergeben, als dir weh zu tun. Und deshalb hätte ich es
niemals so weit kommen lassen dürfen. Ich hätte meine Sachen packen und die Stadt verlassen
sollen, als ich spürte, wie viel du mir bedeutest. Ich wusste es, aber ich konnte einfach nicht
anders.«
Er hielt inne, betrachtete ihr Gesicht mit einer Intensität, als wollte er es sich für immer
einprägen. Er fuhr ihr mit dem Daumen über die bebenden Lippen. »Ich liebe dich mehr als mein
Leben. Deshalb will ich mich nicht in gemietete Schlafzimmer mit dir stehlen, dich verstecken
müssen, als wärst du ein Flittchen, und dich dem ganzen Klatsch aussetzen.«
Er kam auf die Füße und nahm seinen Hut auf. »Ich werde dir das nicht antun. Keine Chance.
Nein, Ma’am.« Er setzte den Hut auf und zog ihn fest in die Stirn. »Das war’s. Es ist zu Ende.«
Lara lehnte sich geschwächt an den Türpfosten. »Das ist keine gute Idee, Key.«
»Seit wann ist irgendwas, in das du verwickelt bist, eine gute Idee?«
Er drückte sich einfach an ihr vorbei. Sie schloss die Tür hinter ihm, nachdem sie sich
vergewissert hatte, dass ihn niemand hatte kommen sehen. Was allerdings überflüssig war, denn
der gelbe Lincoln in der Einfahrt war etwa so unauffällig, als hätte man seinen Besuch im Radio
durchgegeben.
Als sie ins Zimmer kam, lehnte er an einem der Medizinschränke. Sein Hemd hing lose über die
Jeans – eine beunruhigende sexy Erinnerung an ihre erste Begegnung, die auch in diesem Raum
stattgefunden hatte.
An jenem Abend hatte er sie nach Whisky gefragt. Diesmal hatte er seinen eigenen mitgebracht.
Der Alkohol gluckste in der Flasche, als er sie an die Lippen hob und trank. Die Wunde an seiner
Schläfe war geschlossen, aber noch nicht richtig verheilt. Ebenso wie seine Rippen. Seine Miene
war verschlossen, sein Gesicht gerötet.
»Du bist betrunken.«
»Da hast du recht.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wieso bist du hergekommen?«
»Kommt Botschafter Porter nicht her zum Spielen?«, fragte er spöttisch.
»Er ist noch in Washington.«
»Aber morgen ist er hier. In der Abendausgabe war ein großer Bericht. ›Heldenhafter Politiker
besucht Eden Pass‹, ist ein echter Reißer.«
»Wieso hast du gefragt, wenn du wusstest, dass er nicht da ist?«
Er grinste. »Nur um dich zu ärgern. Wollte mal sehen, ob dein kleines Herz bumpert, wenn du
seinen Namen hörst.«
»Ich glaube, du solltest jetzt besser gehen.« Sie wandte ihm kühl den Rücken zu und hielt die
Tür auf.
Er griff um sie herum und schlug sie wieder zu. Dann blieb er mit der aufgestützten Hand an der
Tür gelehnt stehen und klemmte Lara dazwischen ein. Sie drehte sich zu ihm um.
»Du bist mir noch immer eine Antwort schuldig.«
»Worauf?«
»Auf die Frage, ob Ashley Clarks Tochter war.«
Was wollte er hören?, fragte sie sich. Und wie viel sollte sie ihm sagen?
Die ungeschminkte Wahrheit.
O Gott, wie befreiend das wäre! Sie würde ihm die Situation erklären, kein Detail auslassen –
und vielleicht würde sich dann seine Meinung von ihr völlig verändern.
Die mildernden Umstände waren der heikle Punkt. Das war ja die Ironie. Und weil sie so heikel
waren, mussten sie geheim bleiben.
Besonders vor Key. Und ganz besonders jetzt, da sie ihn liebte.
»Randall ist Ashleys Vater.«
Enttäuschung flackerte in seinen Augen auf. »Bist du sicher?«
»Ja.«
Sie sah, dass es ihm sehr wohl etwas ausmachte, aber er bemühte sich, es nicht zu zeigen. »Dann
hast du mich also überredet, mein Leben für nichts und wieder nichts zu riskieren?«
»Ich habe dich nicht überredet, nach Montesangrines zu fliegen. Ich habe nicht mal angedeutet,
dass Clark Ashleys Vater sein könnte.«
»Aber auch nie abgestritten.« Er beugte sich zu ihr herunter. Sein whiskygeschwängerter heißer
Atem streifte ihr Gesicht. »Du bist ein ganz schön durchtriebenes Luder, nicht wahr? Ganz schön
clever. Zuerst konnte ich nicht begreifen, wie mein sonst so vernünftiger Bruder eine Affäre mit
der Frau seines besten Freundes anfangen konnte, aber jetzt weiß ich’s. Du hast ihn ganz schön
heißgemacht, stimmt’s? Hast ihn aufgegeilt, bis er nicht mehr wusste, wo hinten und vorne ist.
Und der gute alte Trottel Randall bleibt auch noch bei dir. Was für ein Waschlappen. Er ist ein
Verlierer und ein Lügner, aber nicht mal er verdient es, von dir verarscht zu werden.«
Er griff um ihre Taille und zog Lara mit einem Ruck zu sich heran. Dann küsste er sie auf den
Hals. »Du kriegst von den Männern immer, was du willst, richtig, Doc? Du hast sie doch schon
gefickt, bevor sie ihren Schwanz auspacken können.«
Lara schloss die Augen. Es war so hässlich, was er sagte. Es tat weh, besonders weil es von Key
kam. Key, der mehr als einmal sein Leben riskiert hatte, um ihres zu retten. Key, der zärtlich und
leidenschaftlich gewesen war, behutsam und liebevoll, nach dessen Berührungen sie sich sehnte
und von dessen Stimme sie träumte.
Aufgrund der Fakten, wie er sie kannte, glaubte er, sie beschimpfen zu müssen. Seine Wut
resultierte aus dem, was er für die Wahrheit hielt. Es war eine Fehleinschätzung, die sie nicht
korrigieren konnte – viel mehr um Keys willen als ihretwegen.
Sie sehnte sich so sehr nach ihm. Aber nicht auf diese Art. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass die
Verachtung der Welt auf ihr lag, aber sie hatte nicht vor, seine auch noch zu nähren.
»Ich möchte, dass du jetzt gehst.«
»Vergiss es.« Er ließ die Flasche fallen, griff ihr unter den Rock und zog ihr den Slip herunter.
»Ich rieche nur noch dich, kann nur noch dich schmecken, an dich denken.« Er küsste sie,
wütend. »Jesus, ich muss dich endlich vergessen lernen.«
»Nein, Key!« Sie presste die Schenkel zusammen.
»Warum nicht? Es ist doch nicht das erste Mal, dass du fremdgehst!«
Sie stieß seine Hand weg, die an ihren Brüsten spielte. »Hör auf!«
»Du schuldest es mir, schon vergessen? Entweder kriege ich die Neunzigtausend, oder ich
nehme mir das hier.« Er griff ihr zwischen die Beine und berührte sie an ihrer intimsten Stelle.
»Ich nehme das hier.«
»Nein!«
»Keine Angst! Vor Sonnenaufgang bin ich wieder weg. Diesmal erwischt dich dein Mann nicht.
Ich bin schlauer als mein Bruder. Außerdem auch besser. Stimmt’s?«
»Nein, bist du nicht!«, schrie sie. »Clark hat mich nie vergewaltigt!«
Das ernüchterte ihn so augenblicklich, als hätte sie ihm kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Er
ließ sie los und taumelte rückwärts. Sein Atem kam laut und schwer.
Da sie den Auslöser seiner Aggression kannte, empfand Lara mehr Mitleid als Wut für ihn. Sie
sehnte sich danach, sein Gesicht zu berühren, ihm das Haar aus der Stirn zu streichen, ihn zu
besänftigen und ihm zu sagen, dass es ihr leidtat, ihn auf die schlimmstmögliche Weise beleidigt
zu haben – indem sie ihn mit Clark verglichen hatte.
Stattdessen musste sie ihre Äußerung stehen lassen und zusehen, wie sich sein Mund vor
Abscheu für die Hure seines Bruders verzog.
Er musterte sie von oben bis unten und schnaubte verächtlich: »Nein, ich bin sicher, das
brauchte er nicht. Entspann dich, Doc. Vor mir bist du sicher.«
Als er die Tür aufzog und hinausgehen wollte, fiel er fast über die Whiskyflasche. Er kickte sie
aus dem Weg. Sie schlug gegen die Wand und zerbarst.
Er stürmte hinaus, sprang die Stufen hinunter und stieg in den Lincoln. Er startete und preschte
mit durchdrehenden Reifen davon.
Lara schloss die Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und ließ sich zu Boden gleiten. Sie
umklammerte ihre Oberarme, beugte sich vor und schluchzte laut.
Kapitel 27
Lara wurde die Luft aus der Lunge gepresst, als sie gegen die Wand schleuderte. Sie taumelte zum
Fenster. Es sah aus, als stünde der ganze Norden von Eden Pass in Flammen.
Sie griff sich die Arzttasche, rannte aus dem Haus und raste mit ihrem Wagen ohne Rücksicht
auf die Ampeln in Richtung der schwarzen Rauchsäulen. Sie hatte sofort erkannt, dass der
Brandherd nur das Green Pine Motel sein konnte.
Sekunden vor dem ersten Löschwagen und dem Dienstwagen des Sheriffs traf sie am
Unglücksort ein. Der eine Flügel des Motels war vollständig in Flammen aufgegangen. Kleinere
Explosionen folgten in Abständen und sandten Feuerbälle in den Abendhimmel. Der Sachschaden
würde enorm sein. Die Anzahl der Opfer hing davon ab, wie viele der Zimmer belegt waren.
Lara bereitete sich innerlich auf das Schlimmste vor.
»Irgendwelche Anzeichen von Überlebenden?«
Sheriff Baxter hatte Mühe, sie über den Lärm der Flammen hinweg zu verstehen. »Nein, noch
nicht. Was für ein Wahnsinn!«
Lara wusste, dass die Feuerwehr von Eden Pass, die zum großen Teil aus freiwilligen
Mitgliedern bestand, nicht die geringste Chance haben würde, gegen das Flammenmeer
anzukommen. Der Einsatzleiter war vernünftig genug, das einzusehen. Er gab seinen
bereitwilligen, aber unzureichend ausgerüsteten Männern die Anweisung, die Ausbreitung des
Feuers zu verhindern, statt zu versuchen, es zu löschen. Er forderte Unterstützung von den
Feuerwehren in der nächsten Umgebung an.
»Jemand soll bei den Tacketts anrufen!«, brüllte Sheriff Baxter. »Die Quelle ist verdammt nahe
dran!« Gus, der Hilfssheriff, setzte sich an das Funkgerät im Wagen.
»Sheriff, kann ich Ihr Autotelefon benutzen, um das County-Krankenhaus zu benachrichtigen?«,
fragte Lara. Der Sheriff nickte nur.
Sie ließ sich hinters Steuer des Dienstwagens gleiten und tippte die Nummer ein. Zum Glück
wurde sie sofort zu einer Schwester in der Notaufnahme durchgestellt.
»Schicken Sie unverzüglich Ihre Ambulanzen her. Schicken Sie zusätzliches Erste-Hilfe-Material
mit. Schmerzmittel, Bandagen, vielleicht Sauerstoff.« Sie hatten nur zwei Ambulanzen, also schlug
Lara vor, Hilfe von den umliegenden Krankenhäusern anzufordern. »Bitte benachrichtigen Sie
auch das Medical Center und das Mutter-Frances-Hospital in Tyler. Wir werden womöglich
ihren Hubschrauber brauchen, um die Schwerverletzten zu transportieren. Sagen Sie denen, die
Notrufteams sollen sich bereithalten. Rufen Sie alle umliegenden Blutbanken an, dass wir
eventuell Extraeinheiten benötigen, und checken Sie, welche Blutgruppen zur sofortigen
Verfügung stehen. Und Sie brauchen mehr Personal. Wir haben eine schlimme Nacht vor uns.«
»Da drüben!« Sheriff Baxter winkte wild in Richtung der Feuerwehrleute, als Lara auf ihn
zuging.
Von dem Flügel des Motels, der nicht von der ersten Explosion betroffen gewesen war, drangen
Schreie herüber. Lara beobachtete besorgt, wie eine Gruppe freiwilliger Feuerwehrleute in das
brennende Gebäude stürmte. Ihr Leben konnte jeden Moment von einer Explosion ausgelöscht
werden.
Nach mehreren quälenden Minuten kamen sie mit Überlebenden wieder heraus. Zwei der
Männer trugen Opfer des Unfalls auf den Schultern, andere konnten aus eigener Kraft gehen, aber
Lara konnte erkennen, dass sie benommen waren, Verbrennungen erlitten hatten und unter dem
Rauch husteten.
Sie wies die Feuerwehrleute an, die Verletzten auf den Boden zu legen, dann ging sie von einem
zum anderen, sah sich die Verletzungen an, notierte sich im Kopf diejenigen, die es am
schlimmsten erwischt hatte, und verabreichte ihnen die einzige Medizin, die ihr im Moment zur
Verfügung stand – sie machte ihnen Mut.
Noch nie war ihr das Jaulen der Sirenen so willkommen gewesen. Die erste Ambulanz traf ein
und mit ihr drei Sanitäter. Sie machten sich sofort an die Arbeit, legten Infusionen an,
verabreichten Sauerstoff, und Lara gab Anweisungen, wer von den Verletzten zuerst ins
Krankenhaus gebracht werden sollte. Die Sanitäter luden mehrere Kisten mit Erste-Hilfe-Material
aus. Dann rasten sie mit den ersten Patienten zurück ins Krankenhaus.
Die übrigen Verwundeten sahen Lara mit vor Schmerz glasigen Augen an. Sie konnte nur
hoffen, dass sie verstehen würden, wie schwer es war, Gott zu spielen und zu entscheiden, wer
mitfahren durfte und wer noch warten musste.
Die Feuerwehrleute unternahmen weitere Vorstöße in die Flammenhölle. Die Anzahl der
Überlebenden erhöhte sich, was es für Lara nur noch schwieriger machte, sich um jeden zu
kümmern. Zwei Personen waren im Schockzustand. Mehrere weinten, einer schrie vor
Schmerzen. Manche waren bewusstlos. Sie tat, was sie konnte, um wenigstens Erste Hilfe zu
leisten.
Sie kniete gerade neben einem Mann, dem sie einen Stauverband am komplizierten Bruch an
seiner Elle anlegte, als gefährlich dicht neben ihr ein Wagen mit quietschenden Reifen zum
Stehen kam. Sie drehte sich um, in der Hoffnung, er könnte endlich die zweite Ambulanz sein.
Darcy Winston stolperte aus der Fahrertür des El Dorado. »Heather!«, schrie sie. »O mein Gott!
Heather! Hat jemand meine Tochter gesehen?«
Sie lief auf das Gebäude zu und hätte sich kopfüber in das Inferno gestürzt, wenn nicht einer der
Feuerwehrmänner ihren Arm zu fassen bekommen und sie zurückgehalten hätte. Sie wehrte sich.
»Meine Tochter ist da drin!«
»O nein«, stöhnte Lara. »Nein.« Gehörte das Mädchen, das sie auf Anhieb ins Herz geschlossen
hatte, etwa zu den Opfern? Sie sah sich für Darcy unter den Verwundeten um. Heather war nicht
dabei.
»Großer Gott.«
Beim Klang von Keys Stimme schwang Lara herum und begriff sofort, dass er mit Darcy
gekommen sein musste. Sie verdrängte ihre persönlichen Gefühle und sagte: »Hilf mir, Key. Ich
schaffe das allein nicht.«
»Ich besorge einen Helikopter. Ich werde von unterwegs meine Schwester anrufen und sie zu
dir schicken.« Sein Blick streifte in die Ferne. »Mein Gott – die Quelle … «
»Sie haben schon jemanden bei Tackett Oil benachrichtigt.«
»Das ist die Sieben. Bowies Route, glaube ich. Er müsste bald da sein. Sobald er die Quelle
abgedreht hat, wird er sicher auch kommen und helfen.«
Er war ausgestiegen und um Darcys Wagen herum zur Fahrerseite gegangen. »Bist du okay?«
»Ja, sicher. Hilf mir einfach nur, diese Leute ins Krankenhaus zu schaffen.«
»Bin bald zurück.« Er schwang sich hinters Steuer und fuhr bereits an, noch ehe er die Tür
richtig zugezogen hatte. Sekunden nachdem er davongefahren war, trafen drei Ambulanzen ein.
Die Feuerwehrmänner konnten fünf weitere Opfer aus den Flammen bergen. Eine ältere Frau
verstarb wenige Minuten nach ihrer Rettung an Rauchvergiftung. Ihre Tochter hielt schluchzend
ihre leblose Hand.
Ein Kleinkind, offensichtlich unversehrt, schrie nach seiner Mutter. Lara wusste nicht, zu wem
das Kind gehörte und ob seine Mutter überhaupt zu den Geretteten zählte.
»Ich kümmere mich drum.«
Das Angebot kam von Marion Leonard. Lara sah überrascht zu ihr auf, aber jetzt war keine Zeit
für Fragen. »Das würde ihr sehr helfen. Danke.« Sie übergab das Kind an Marion, die beruhigend
auf es einredete.
Auch Jack Leonard war da. »Sagen Sie mir, was ich tun soll, Dr. Mallory.«
»Die Feuerwehrleute könnten sicher jemanden gebrauchen, der sich um die
Sauerstoffversorgung kümmert.« Er nickte und ging zu ihnen hinüber.
Fergus Winston war eingetroffen, wie Lara bemerkte. Er hielt seine Frau in den Armen. Darcy
klammerte sich an die Aufschläge seines Mantels und schluchzte heftig. »Bist du sicher, Fergus?
Bist du absolut sicher?«
»Absolut. Heather hat mich vorhin angerufen und gesagt, sie hätte heute Abend ein
Sondertraining bei den Cheerleadern. Ich habe ihr erlaubt, früher zu gehen.«
»O Gott, ich danke dir. Danke.« Darcy sank an seine Brust. Er hielt sie fest im Arm, strich ihr
übers Haar, über die tränenverschmierten Wangen und beruhigte sie, dass ihre Tochter in
Sicherheit war. Doch auf seinem schmalen, langen Gesicht und in den schmerzerfüllten Augen
reflektierte sich der Schein des Feuers, das seinen Besitz verschlang.
Als das Flattern des Rotors ihre Ohren erreichte, sah Lara nach oben. Ein Notarzt-Helikopter
war eingetroffen. Wenige Minuten später hob er mit zwei Schwerverletzten an Bord wieder ab.
Kurz darauf landete Key mit dem Privathubschrauber, den er sich auch damals zum Transport von
Letty Leonard ausgeliehen hatte. Lara brachte zwei Frauen, die schwere Schnittwunden von
einem durch die Explosion zerborstenen Fenster erlitten hatten, zu ihm.
»Hast du Janellen gesehen?«, rief er ihr zu. Lara schüttelte den Kopf. »Unsere Haushälterin hat
gesagt, sie sei nach Longview gefahren.« Er zuckte mit den Achseln. »Und niemand bei Tackett
Oil kann Bowie auftreiben.«
»Wenn sie kommen, sage ich ihr, dass du sie suchst.«
Er signalisierte sein Okay mit erhobenem Daumen. »Ich bin, so schnell ich kann, zurück.« Der
Chopper hob ab.
Lara wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu, bis sie das Gefühl für die Zeit verlor. Sie konnte sie
nur ungefähr an der Anzahl der Verletzten abschätzen, die sie versuchte am Leben zu erhalten
oder die sie anderweitig versorgte, bis sie ins Krankenhaus gebracht werden konnten. Sie
versuchte, nicht weiter über die nachzudenken, die sie nicht retten konnte.
Sie erhielt Unterstützung durch Freiwillige. Jimmy Bradley und seine seit zwei Wochen frisch
angetraute Frau, Helen, kamen und boten ihre Hilfe an. Und glücklicherweise kam auch ihre
ehemalige Sprechstundenhilfe, Nancy Baker. Sie war kompetent, fix und scheute nicht vor den
grausamsten Verwundungen zurück. Sie verweigerte niemandem die Hilfe.
In der Nacht hatten sechs Angestellte im Motel Dienst gehabt. Die Anzahl der Gäste belief sich
auf neunundachtzig – und zwei weitere, von denen niemand etwas wusste.
Bowie Cato trug seine Braut über die Schwelle der Flitterwochensuite im Shreveport Hotel.
»Oh, Bowie! Es ist wunderschön!« Janellen bewunderte den Ausblick auf die Skyline der Stadt,
als er sie in der Mitte des Raumes absetzte.
»Tja, hab mich ein bisschen umgesehen. Als ich hiervon hörte, hab ich von meinem
Bewährungshelfer eine Sondergenehmigung holen müssen, weil es schon in Louisiana liegt.«
»Das hast du alles gemacht?«
»War’s mir wert, wenn’s dir gefällt.«
»Ich liebe es.«
»Bei dem, was es kostet, werden wir uns leider einen Monat lang das Essen sparen müssen.«
Sie lachte und schlang den Arm um seine Taille. »Wenn du deinen Boss nett bittest, gibt er dir
vielleicht eine Gehaltserhöhung.«
»Ich werde es nicht zulassen, dass du mich irgendwie bevorzugt behandelst, weil ich dein Mann
bin«, sagte er plötzlich sehr ernst. »Ich bin kein Mitgiftjäger. Ich denke, das habe ich klargemacht
an dem Abend, als ich gesagt habe, dass jetzt Schluss ist mit der heimlichen Affäre, und wenn,
dann sollten wir’s richtig angehen.« Er schüttelte den Kopf. »Weiß noch immer nicht, wie das
passiert ist.«
»Du hast gesagt, du würdest mich nicht dem Spott der Leute aussetzen wollen, und daraufhin
habe ich gesagt, dass wir wohl heiraten müssen.«
Er knabberte besorgt an der Innenseite seiner Wange. »Deine Mutter könnte die Ehe annullieren
lassen.«
»Das kann sie nicht. Ich bin volljährig.«
»Key könnte mich erschießen.«
»Dann erschieße ich ihn auch.«
»Ach, ich meine es ernst. Ich hasse es, so zwischen dir und deiner Familie zu stehen.«
»Ich liebe sie, aber nichts auf der Welt bedeutet mir mehr als du, Bowie. Du bist jetzt mein
Mann. In guten und in schlechten Zeiten.« Sie senkte schüchtern den Kopf. »Jedenfalls wenn du
endlich aufhörst zu reden und mit mir ins Bett gehst.«
In ihren Stöckelschuhen war sie so groß wie er. Sie beugte sich vor und hauchte ihm einen Kuss
auf die Lippen. Er gab einen wohlig knurrenden Laut von sich, schloss sie in die Arme, zog sie zu
sich heran und küsste sie fest. Er wurde fast augenblicklich erregt, wich zurück und fragte
verlegen: »Willst du, dass ich dich einen Moment allein lasse?«
»Warum?«
Nervös rieb er sich die Handflächen auf den Oberschenkeln. »Damit du … Gott, was weiß ich!
Was die Braut eben so macht. Ich dachte, du willst vielleicht allein sein.«
»Oh.« Er konnte ihr ihre Enttäuschung ansehen. »Ich dachte, du würdest mich ausziehen
wollen.«
»Das will ich«, sagte er hastig. »Ich meine, wenn du es willst.« Sie schien gründlich darüber
nachzudenken, bevor sie schließlich nickte.
Er drehte die Finger wie ein Tresorknacker, der seine Geschicklichkeit testete, bevor er sich den
Knöpfen an ihrer Bluse widmete – kleine Perlmuttknöpfe, ziemlich ähnlich denen, die er sich in
seiner ersten erotischen Phantasie von ihr vorgestellt hatte.
Ihre Scheu nahm ab mit jedem Kleidungsstück, das zu Boden fiel. Sie nahmen sich Zeit, als sie
sich gegenseitig auszogen, und zelebrierten ihre Eroberungen. Obwohl Janellen mit zwei Brüdern
aufgewachsen war, entwickelte sie Bowies Körper gegenüber eine fast kindliche Neugier.
Staunend flüsterte sie ihm zu, wie wunderschön sie ihn fand, und er antwortete, dass er gar nicht
gewusst hätte, dass sie einen Sehfehler habe. Als er ihr sagte, wie schön sie sei, glaubte sie ihm,
denn seine Liebkosungen waren äußerst überzeugend. Er gab ihr das Gefühl, eine Göttin zu sein.
»Ich will dir nicht weh tun, Janellen«, flüsterte er, als er sich über sie beugte.
»Das wirst du nicht.«
Und es stimmte, selbst als er tief in ihr war. Sie war ängstlich und ein wenig bemüht, nichts
falsch zu machen, also sagte er, sie solle alles ihm überlassen und sich einfach entspannen. Sie
befolgte seinen Rat, und zu ihrer beider Überraschung und Freude war ihr Höhepunkt so heftig
wie seiner.
Danach tranken sie eine Flasche Champagner, die zum Service des Hauses gehörte. Sie
überlegten sich Namen für ihre Kinder. Er schwor, dass er bis zum Valentinstag genug Geld für
einen Ring zusammengespart haben würde, wie es sich für einen Bräutigam gehörte, und sie
entgegnete, dass sie keinen materiellen Beweis seiner Liebe bräuchte. Sie würde sie mit jedem
Atemzug spüren können.
Beschwipst vom Glück und Champagner murmelte er: »Willst du vielleicht den Whirlpool
ausprobieren oder lieber fernsehen oder so?«
»Ja, oder so.« Sie schenkte ihm ein vieldeutiges Lächeln, das die Matronen in Eden Pass, die sie
für eine hoffnungslose Jungfer hielten, verblüfft hätte, langte unter die Decke und nahm ihn frech
in die Hand.
»Guter Gott, sei uns gnädig«, stöhnte er keuchend. »Miss Janellen ist sexbesessen geworden!«
Hätten Bowie und Janellen den Fernseher in ihrer Suite angestellt, hätten sie die Nachricht über
das Flammeninferno in Eden Pass gesehen, das bereits zehn Menschenleben gekostet hatte. Die
Opfer waren identifiziert und die Angehörigen benachrichtigt worden.
Es dauerte Stunden, bis die Löschzüge aus sechs Countys die Flammen endlich unter Kontrolle
bekamen. Im Morgengrauen wurden die ersten Untersuchungen eingeleitet. Inspektoren
durchstreiften die noch schwelende Ruine.
Die Vermutungen gingen zunächst dahin, dass die Tackett-Quelle Nummer sieben das Unglück
ausgelöst hatte. Da Bowie unauffindbar war, hatte der Vorarbeiter angeordnet, die Bohrung zu
stoppen und die Öl- und Gasleitungen zu kappen.
Es hatte weitere Explosionen gegeben, die darauf schließen ließen, dass die Quelle das Feuer
speiste.
Key, der einzige auffindbare Tackett, wurde von den Agenten des Departments für Tabak,
Alkohol und Feuerwaffen befragt.
»Hatten Sie früher schon Probleme mit der Quelle, Mr. Tackett? Gab es eventuell Lecks?«
»Meines Wissens nicht, aber ich leite die Firma nicht.«
»Wer dann?«
»Meine Schwester. Sie ist nicht in der Stadt.«
»Ich dachte, Ihre Mutter leitet das Unternehmen.«
»Schon seit ein paar Jahren nicht mehr.«
»Ich würde trotzdem gern mit ihr sprechen.«
»Tut mir leid, aber das kommt nicht in Frage. Sie hatte erst vor ein paar Wochen einen leichten
Schlaganfall und ist noch bettlägerig.«
Lara, die neben ihm stand, widersprach ihm nicht. Auch niemand sonst.
»Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass Tackett Oil immer sehr auf Sicherheit bedacht war.
Wir haben uns nichts vorzuwerfen.«
Die Agenten steckten die Köpfe für eine weitere interne Besprechung zusammen.
Mittlerweile hatte sich eine große Schar Schaulustiger eingefunden, die die Katastrophe jetzt, da
die Gefahr vorbei war, aus der Nähe begutachten wollten. Sie bemühten sich, Darcy und Fergus
über ihren enormen Verlust zu trösten.
Darcy, die nach wie vor makellos aussah, während alle anderen mit einer Rußschicht überzogen
waren, suchte immer wieder die Menge nach ihrer Tochter Heather ab. Sie fragte mehrmals Lara,
ob sie sie gesehen hätte. Sie weinte leise vor sich hin und sagte immer wieder zu denen, die ihr
Trost anboten: »Ich kann es einfach nicht glauben, dass all die harte Arbeit in Flammen
aufgegangen ist. Wir werden es wieder aufbauen.«
Fergus dagegen wirkte eher nervös als untröstlich. Lara wunderte sich über sein Verhalten.
Vielleicht hatte er die Versicherungsprämie nicht bezahlt.
Sie hörte, wie Darcy zu Fergus sagte: »Sie müsste doch längst hier sein.« Offensichtlich meinte
sie, dass Heather nicht fehlen durfte bei ihrem Auftritt in den Medien.
Zwei Rufe erklangen fast gleichzeitig.
Beide kamen von jenem Flügel des Komplexes, in dem die erste Explosion stattgefunden hatte.
»Ich brauche hier drüben Hilfe!«
»Sir! Sie sollten sich das hier mal ansehen.«
Lara und Key gehörten zu denjenigen, die sofort zu dem Mann liefen, der als Erster gerufen
hatte. »Hier liegt eine Leiche.«
Key half ihm, einen Eisenträger von den verkohlten Überresten eines menschlichen Körpers
hochzuheben.
Ehe überhaupt jemand den Schock verdauen konnte, sagte einer der umstehenden Agenten:
»Gott, hier ist noch eine.« Er hatte die grausige Entdeckung nur ein paar Meter weiter gemacht.
»Sir!« Der Mann, der als Zweiter gerufen hatte, lief zu seinem Vorgesetzten. Er war außer Atem
von dem Sprint über zwanzig Meter. »Ich habe etwas gefunden!« Er zeigte aufs offene Feld. »Es
könnte eine Gasleitung sein, aber sie liegt auf dem Gelände des Motels. Sie steht vertikal hoch.
Ich glaube, sie ist mit der unterirdischen Pipeline verbunden, die zur Quelle führt.«
Key drängte nach vorn. »Was sagen Sie da?«
Der Vorgesetzte runzelte die Stirn. »Mr. Tackett, es sieht ganz so aus, als hätte jemand Ihre
Quelle angezapft.«
In diesem Moment zerriss ein Schrei die Morgendämmerung. Er kam aus der Menge hinter der
Absperrung. Darcy hatte ein junges Mädchen bei den Schultern gepackt und schüttelte es grob.
»Was sagst du da? Du lügst!« Sie schlug das Mädchen. »Heather war beim Training. Sie hat
Fergus gesagt, sie würde früher gehen, weil sie zu einem Sondertraining wollte. Ich sollte dich
umbringen, du kleines verdorbenes Miststück!«
Das Mädchen schluchzte. »Ich lüge nicht, Mrs. Winston. Heather hat gesagt, ich soll sie decken,
falls Sie bei mir zu Hause anrufen. Wir hatten heute gar kein Training. Sie hat gesagt …« Sie
bekam Schluckauf, die Worte kamen nur abgehackt über ihre Lippen. »Heather hat gesagt, sie
würde sich hier mit Tanner treffen und die Nacht in einem der Zimmer verbringen.« Das
tränenüberströmte Gesicht des Mädchens war vor Entsetzen ganz verzerrt. »Sie hat gesagt, es
würde bestimmt romantisch werden, weil sie die Flitterwochensuite nehmen wollten.«
Ollie Hoskins hatte die ganze Nacht unermüdlich mit angepackt und geholfen, wo immer er
gebraucht wurde. Als er hörte, dass sein Sohn angeblich hier gewesen war, bekam er es mit der
Panik. »Tanner? Tanner war hier? Nein, das kann nicht sein! Mein Junge … er … Nein!«
Darcy schob das schluchzende Mädchen beiseite und sah, wie die Feuerwehrmänner zwei
Bahren heraustrugen aus dem, was einst die Flitterwochensuite gewesen war. Auf jeder der
Bahren lag ein verschlossener schwarzer Plastiksack.
»Nein! Nein, Heather! Nein!«
Dann sah die Menge in lähmendem Entsetzen, wie Fergus auf die Knie sank, die Arme über
dem Kopf zusammenschlug und unter einem markerschütternden Schrei mit dem Gesicht zuerst
zu Boden fiel.
»Ich könnte einen Kaffee vertragen«, sagte Key, als Lara gerade in ihr Auto steigen wollte.
»Außerdem bin ich ohne Wagen da.« Er war mit Darcy zusammen gekommen, und zwar nicht
zufällig, aber es wäre unangemessen gewesen, jetzt darauf hinzuweisen. »Ich rufe mir von deiner
Praxis aus ein Taxi, wenn’s recht ist.«
Er war genauso schmutzig wie sie. Seine Kleidung war verklebt von Schweiß und Ruß. Lara
hatte nicht mitgezählt, wie oft er mit dem Helikopter gelandet und wieder gestartet war, um die
Verletzten ins Krankenhaus zu transportieren.
Als alle überlebenden Opfer des Unglücks versorgt waren, hatte er den Feuerwehrleuten
geholfen. Lara war dageblieben, um Erste Hilfe bei kleineren Schnittverletzungen und
Verbrennungen zu leisten. Unterbewusst hatte sie dabei immer auf Keys Stimme gelauscht. Sie
hatte sie selbst in dem Tumult unter all den anderen ausmachen können.
Sie bedeutete ihm mit einem Kopfnicken einzusteigen. Als sie unterwegs waren, fragte sie: »Was
meinst du, was wird mit Fergus passieren?« Er war in Handschellen abgeführt worden.
»Der verbringt den Rest seines Lebens hinter Gittern. Außer dass er uns bestohlen hat, hat er
auch noch zwölf Menschenleben auf dem Gewissen.«
Lara schauderte. »Einschließlich dem seiner Tochter.«
»Er sollte besser beten, dass sie ihn nicht rauslassen. Darcy hat gedroht, ihn umzubringen, wenn
er jemals freikommen sollte, und das kann man ihr glauben.« Nach einer Pause fügte er hinzu:
»Ich habe nur dieses eine Mal mit ihr geschlafen. In der Nacht, als sie auf mich schoss.«
Offensichtlich war der Blick, den Lara ihm zuwarf, eher ungläubig gewesen, da er fortfuhr:
»Gestern Abend hatte ich ihr gerade gesagt, sie solle mich zu meinem Wagen zurückbringen, und
mich deswegen mit ihr gestritten, als die Explosion passierte.«
»Ich habe ihr unrecht getan«, gestand Lara mit leiser Stimme. »Ich habe ihr vorgeworfen, sie
würde nur sich selbst lieben, aber sie liebte ihre Tochter sehr. Ich weiß, wie es ist, ein Kind zu
verlieren. Und ich kann verstehen, dass sie Fergus töten will, wenn man bedenkt, welche Schuld
er an Heathers Tod trägt. Es war zwar ein Unfall, aber er allein trägt die Verantwortung dafür.«
Sie bog in die rückwärtige Auffahrt ihrer Praxis ein, zögerte aber, ins Haus zu gehen, weil sie
wusste, was sie dort vorfinden würde. »Randall ist da drin.«
»Ich würde jetzt kaum jemanden lieber sehen«, spottete Key. Er holte tief Luft, ehe er die
Wagentür öffnete. Gemeinsam betraten sie das Haus. »Nicht abgeschlossen«, bemerkte Key.
»Ich bin einfach rausgelaufen. Hab nicht drauf geachtet.«
Sie gingen zusammen durch die dunklen, stillen Räume. Die hässlichen Tatsachen, die ihr
wenige Momente vor der Explosion offenbart worden waren, drangen ihr nun wieder ins
Bewusstsein und machten sie wütend.
»Ich glaube, er ist nicht mehr da«, sagte Key.
»Er würde nicht so einfach gehen.«
»Hey, Porter! Wo versteckst du dich?«, rief Key. Er kam an die Tür zu Laras Büro, die einen
Spalt offen stand. Er stieß die Tür leicht an.
Lara beschlich eine düstere Vorahnung: »Key, bevor du …«
»Porter?« Er betrat den Raum. »Heilige Scheiße!«
Sein Fluch versetzte sie in Alarm. Sie stürzte vorwärts, blieb aber wie erstarrt auf der Schwelle
stehen. »O mein Gott!«
Key kniete neben Randall. Es bestand kein Zweifel, dass er tot war. Unter seinem Kopf hatte
sich eine Blutlache gesammelt. Sein Gesicht war eine gefrorene Maske des Staunens.
»Ich war es nicht«, keuchte Lara. »Ich war es nicht! Ich hab doch gar nicht abgedrückt!«
Key hob den Kopf und sah sie an. »Was redest du denn da? Natürlich warst du es nicht!«
»Ich habe auf ihn gezielt, aber …«
»Du hast was?«
»Mit der Magnum.« Er folgte ihrem Finger, mit dem sie auf die Waffe zeigte, die an derselben
Stelle lag, wo sie sie fallen gelassen hatte. »Aber ich habe nicht abgedrückt.« Sie hielt die Hand vor
den Mund. Plötzlich wurde ihr übel beim Anblick des vielen Blutes. »Die Druckwelle der
Explosion hat mich gegen die Wand geschleudert, aber ich habe nicht abgedrückt! Oder habe
ich?« Der Panik nahe streckte sie die Hand nach Key aus. »Key! Habe ich?«
Er stand auf und stieß die Magnum mit der Stiefelspitze an. Seine Miene war völlig ausdruckslos.
»Ich habe es nicht getan!«, wiederholte sie und schüttelte dabei heftig den Kopf. »Ich schwöre
bei Gott! Ich könnte es nicht! Ich wollte ihm doch nur Angst machen, so wie er uns Angst
gemacht hat, bei Emilio, im Lager. Damit er weiß, wie so etwas ist!«
»Lara, was redest du da?«
»Randall war schuld an Ashleys Tod!«, rief sie verzweifelt, weil er sie nicht verstand.
»Wie denn das?«
»Er hat von Anfang an alles mit Emilio geplant!« In abgehackten Sätzen wiederholte sie, was sie
von Randall erfahren hatte.
»Ich weiß, es klingt total unglaubwürdig, aber es ist die Wahrheit! Ich schwöre es! O Gott!«,
schluchzte sie und presste die Handballen gegen die Schläfen, als sie Keys skeptischen
Gesichtsausdruck sah. »Nicht noch einmal! Ich stehe das nicht noch einmal durch! Ich habe es
nicht getan! Nicht schon wieder!«
»Ich glaube dir doch, beruhige dich!«
»O Gott, Key! Ich habe ihn nicht erschossen. Ich könnte es nicht. Ich war es nicht!«
»Nein. Ich war es.«
Das plötzliche Geständnis stammte von einer rauen, heiseren Stimme, die durch den Spalt
zwischen der halb offenen Tür und der holzvertäfelten Wand erklungen war. Key griff nach der
Tür, um zu sehen, wer sich dahinter versteckt hielt.
Kapitel 29
»Jody!«
Jody Tackett saß in der Ecke auf dem Boden, die Beine unter sich über Kreuz. Eine Pistole,
offensichtlich die Tatwaffe, lag neben ihr. Sie war bei Bewusstsein, hatte aber keine Kontrolle
mehr über ihre linke Gesichtshälfte. Speichel tropfte ihr auf die Bluse.
»Sie hat einen Schlaganfall erlitten.« Lara schob Key beiseite und kniete sich neben seine Mutter.
»Ruf einen Krankenwagen!«
»Spar dir die Mühe, ich sterbe. Ich will es. Jetzt kann ich es.« Jodys Aussprache war
beeinträchtigt, die Worte kamen undeutlich von ihren nur halb geöffneten Lippen, doch sie
strengte sich an, wollte sich verständlich machen. »Durfte es nicht zulassen.«
»Was nicht zulassen?«, fragte Key, der sich wieder hingekniet hatte. »Du durftest was nicht
zulassen?«
Lara wählte selbst den Notruf. Zum zweiten Mal innerhalb von zwölf Stunden rief sie zwei
Ambulanzen – eine für Jody und die andere für Randall. Dann ging sie zurück zu Jody und legte
ihr die Manschette des Blutdruckmessers um den Oberarm. »Sie muss gleich, nachdem ich
losgefahren bin, angekommen sein«, sagte sie zu Key. »Er ist exakt an dem Punkt
zusammengebrochen, wo er stand, als ich ging.«
»Durfte ihn das nicht über Clark sagen lassen.« Jody rang nach Worten.
»Sie sollten jetzt nicht sprechen, Mrs. Tackett«, sagte Lara behutsam. Sie ließ die Manschette los
und umfasste Jodys Handgelenk, um ihren Puls zu messen. »Der Krankenwagen ist schon
unterwegs.«
»Was ist mit Clark?« Key stützte Jodys Kopf. »Was hat Randall Porter über Clark gewusst, was
sonst niemand wissen durfte?«
»Key! Das ist nicht der passende Zeitpunkt. Sie ist wirklich krank.«
»Sie hat deinem Mann das Gehirn rausgepustet!«, brüllte er sie an. »Wieso, verdammt? Ich will
wissen, was meine Mutter zu einem Mord getrieben hat! Weißt du es?«
»Du regst meine Patientin unnötig auf«, entgegnete sie bestimmt.
»Gott. Du weißt es also. Was ist es?«
Lara schwieg.
Er sah zu Jody hinunter und erkannte wie Lara auch, dass sie verzweifelt versuchte, etwas zu
sagen, ehe es zu spät war. »Jody? Was war es? Wusste Porter irgendetwas über Clarks Tod? Hatte
es politische Hintergründe, und sollte es nur wie ein Unfall aussehen? Wusste Clark, dass Porter
noch am Leben war?«
»Nein!« Flehend richtete sie ihren Blick auf Lara. »Sag du’s ihm!«
Lara schüttelte langsam, aber bestimmt den Kopf. »Nein.«
»Lara, um Gottes willen! Er war mein Bruder!« Key langte über Jody hinweg, umfasste Laras
Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Was weißt du, was ich nicht weiß? Was hat Porter gewusst,
dass es selbst jetzt noch eine Bedrohung für Clark war? Deshalb wollte Jody dich nicht in Eden
Pass haben, richtig? Sie hatte Angst, du könntest das Geheimnis verraten.«
»Porter«, stammelte Jody. »Porter war …«
»Nein, Mrs. Tackett«, flehte Lara. »Sagen Sie es ihm nicht. Es hilft ihm nicht, es tut nur weh.«
Sie sah zu Key. »Frag nicht weiter. Sie ist daran zerbrochen. Es hat sie zu einem Mord getrieben.
Lass es ruhen, Key. Ich flehe dich an. Key. Lass es.«
Ihr Flehen stieß auf taube Ohren. Er beugte sich über Jody, bis ihre Gesichter nur Zentimeter
voneinander entfernt waren. »Porter war was? Hat er mit Clark in etwas dringesteckt? Einem
geheimen Waffendeal? Eine politische Intrige, aus der sie nicht rauskamen? Vielleicht Drogen?«
»Nein.«
»Sag es mir, Jody«, drängte er sie. »Bitte, versuche es. Sag es mir. Ich muss es wissen.«
»Randall Porter war …«
»Ja, Jody? Was?«
»Nein, Key. Bitte. Bitte nicht.«
»Sei still, Lara. Randall Porter war was, Jody?«
»Clarks Geliebter.«
Mehrere Sekunden war Key wie versteinert. Dann schnellte sein Kopf hoch, und er sah Lara an.
»Mein Bruder und Porter …«
Lara sank gegen die Wand. Geschlagen. Das Geheimnis, das sie seit fünf Jahren verzweifelt
versucht hatte abzuschütteln, starb nicht mit Jody. Sie hätte es sich gewünscht, weil ihr dann der
Anblick der Enttäuschung erspart geblieben wäre, die nun Keys Gesicht wie schwarze Tinte
überzog.
»Sie waren Liebhaber?« Seine Stimme klang brüchig wie uraltes Pergament. Sie bröckelte bei
jedem Wort.
Sie nickte verloren.
»An diesem Morgen in Virginia war mein Bruder mit Porter im Bett, nicht mit dir? Du hast sie
ertappt?!«
Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie wischte sie mit dem Handballen ab. »Ja.«
»Verdammt«, fluchte er in sich hinein. »Oh, verdammt!« Er stützte den Ellenbogen aufs Knie,
fuhr sich durchs Haar und presste die Stirn gegen die Hand. In dieser Position blieb er einen
langen Augenblick.
Schließlich ließ er die Hand sinken und sah seine Mutter an. »Clark hat es dir gebeichtet, nicht
wahr?«
»Als er ihr …«
»Als er für Lara das Haus gekauft hat«, beendete Key für sie den Satz. Jody nickte. In ihren
Augen schwammen Tränen. »Du hast ihn zur Rede gestellt, warum er einer Frau, die seine
Karriere ruiniert hat, ein solches Geschenk macht, und da ist er zusammengebrochen. Er hat dir
die Wahrheit gesagt. Und du hast ihn verstoßen, wahrscheinlich sogar enterbt. Also hat er sich das
Leben genommen.«
Ein schreckliches Geräusch entfuhr Jodys Brust.
»Key, tu ihr das nicht an«, flüsterte Lara.
Doch es war gar nicht seine Absicht, sie zu quälen. Er ließ seinen Arm unter ihren Rücken
gleiten und hob sie zu sich hoch. Sie wirkte schmal und zerbrechlich in seinem Arm, diese Frau,
die sich mit Verstand statt Schönheit den berüchtigtsten Casanova von Eden Pass geangelt hatte,
die Fergus Winston dazu gebracht hatte, aus Rache Betrug zu begehen, und die seit Jahrzehnten
den uneingeschränkten Respekt ihrer Angestellten und die Loyalität einer ganzen Stadt genoss.
Key wischte ihr den Speichel vom Kinn und legte dann seine Wange an ihre Stirn. »Es ist gut,
Mutter. Clark wusste, dass du ihn liebst. Er wusste es.«
»Key.« Sie sagte seinen Namen – nicht vorwurfsvoll, sondern reumütig. Sie konnte gerade noch
die Hand heben und ihm auf den Arm legen. »Key.«
Er schloss so fest die Augen, dass kleine Tränen herausgepresst wurden. Er hielt seine Mutter
noch immer im Arm, als die Ambulanz eintraf, und wiegte sie zärtlich wie ein Baby.
Doch Jody Tackett war längst tot.
»Vielen Dank, Mr. Hoskins.« Ollie hatte ihr eigenhändig den Einkauf zum Wagen getragen und
verstaute die Tüten jetzt im Kofferraum.
»Gern geschehen, Dr. Mallory.«
»Wie geht es Mrs. Hoskins?«
Er zog ein Taschentuch aus der Gesäßtasche und tupfte sich unverhohlen die Augen. »Nicht
sehr gut. Sie ist ständig in Tanners Zimmer, wischt Staub und so. Fährt so oft mit dem
Staubsauger über den Teppich, dass er schon ganz durchgescheuert ist. Sie isst nicht mehr und
schläft auch nicht.«
»Warum kommen Sie nicht mal mit ihr bei mir vorbei? Ich könnte ihr ein mildes
Beruhigungsmittel verschreiben.«
»Danke, Dr. Mallory. Aber ihr Problem ist nicht körperlich.«
»Kummer kann sich physisch niederschlagen. Ich weiß das. Reden Sie ihr zu, dass sie bei mir
vorbeischaut.«
Er nickte, dankte ihr noch einmal und kehrte an seine Arbeit im Supermarkt zurück. Es war der
Mittwoch vor Thanksgiving, und im Laden herrschte reges Treiben wie überall auf der Texas
Street.
Eine Gruppe Freiwilliger hängte Dekorationen auf, spannte bunte Lichterketten quer über die
Straße; auf dem Dach der Bank wurde ein Santa Claus mit Cowboyhut und Stiefeln installiert.
Zuschauer gaben gutgemeinte Kommentare ab.
Das Leben in Eden Pass ging weiter, trotz der Katastrophe, die sich kürzlich ereignet hatte.
Lara wollte gerade in ihr Auto steigen, als Keys Lincoln direkt hinter ihr auftauchte und die
Ausfahrt versperrte. Er stieg aus und zwängte sich zwischen dem Pick-up neben ihr und ihrem
Wagen durch.
Lautstarkes Hupen und Fluchen ertönte von der Straße. »Hey, Tackett, schaffst du dieses gelbe
Ungeheuer bald mal aus dem Weg, oder was?«
Key rief zurück: »Du kannst doch drum rumgehen, du Bastard.« Mit einem freundlichen
Grinsen zeigte er seinem Kumpel Beutelratte den Mittelfinger. Er lachte noch immer, als er Laras
Wagentür erreichte. Er klopfte an die Seitenscheibe und setzte die verspiegelte Sonnenbrille ab.
»Hey, Doc, wo hast du gesteckt?«
Seit Jodys Tod hatten sie sich nicht mehr gesehen. Wenn Key sich freundlich gab, konnte sie es
auch, dachte Lara im Stillen. Aber ihr Herz raste. »Ich hab angenommen, du wärst nach Alaska
gegangen.«
»Nächste Woche erst. Ich habe Janellen versprochen, bis nach Thanksgiving zu bleiben. Für sie
und Bowie ist es das erste gemeinsame. Sie bestehen darauf, dass ich den Truthahn anschneide.«
»Sie hat ihn mir vorgestellt.«
»Den Truthahn?«
Lara verdrehte die Augen, um ihm zu zeigen, wie gut sein Witz war. »Ich mag deine
Schwester.«
»Ja, ich auch. Was mir besonders an ihm gefällt, ist, dass er auf keinen Fall den Verdacht
aufkommen lassen will, er hätte Janellen wegen ihres Geldes geheiratet. Er schuftet wie ein
Ochse, um das Gegenteil zu beweisen. Jede einzelne Quelle hat er einer Sicherheitsprüfung
unterzogen. Er macht sich Vorwürfe, weil er nicht eher etwas wegen Quelle Nummer sieben
unternommen hat. Er hat damals schon gemerkt, dass was nicht stimmt, hatte aber nicht mehr
genügend Zeit, um rauszufinden, was es war. Na ja, die beiden sind jedenfalls völlig vernarrt
ineinander. Ich komme mir schon vor wie das fünfte Rad am Wagen. Wenn ich weg bin, haben
sie das Haus für sich. Ich hab ihnen meine Hälfte überschrieben.«
»Das ist sehr großzügig von dir.«
»Ich habe keine guten Erinnerungen an das Haus. Kaum, jedenfalls. Vielleicht wird es für ihre
Kinder mal ein besseres Zuhause.« Er lachte kopfschüttelnd. »Wer hätte gedacht, dass die kleine
Janellen einfach so heiratet?« Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »Na, der Zeitpunkt war
ziemlich heikel. Ich glaube, sie wird es sich nie verzeihen, dass sie nicht hier war, als Jody starb.«
Er nannte seine Mutter also wieder Jody. Lara erinnerte sich, mit welcher Zärtlichkeit in der
Stimme er sie in der Stunde ihres Todes Mutter genannt hatte. »Weiß Janellen das von Clark?«
»Nein. Wozu sollte das gut sein? Es war schlimm genug für sie zu erfahren, dass Jody deinen
Mann erschossen hat.«
Es hatte eine Untersuchung gegeben. Key hatte Jodys Tat mit ihrer zunehmenden Schwäche
erklärt. In ihrer Verwirrung, so hatte er dem Richter gesagt, hätte sie Randalls plötzliches erneutes
Auftauchen mit Clarks Tod in Verbindung gebracht. Sie hätte ihn erschossen in der Annahme,
damit ihren Sohn zu schützen. Das Gericht kaufte ihm die Story ab. Die Täterin war sowieso tot.
Der Fall wurde zu den Akten gelegt.
Key richtete seine blauen Augen direkt auf Lara. »Du hättest bei der Untersuchung die Wahrheit
sagen können.«
»Wie du selbst gesagt hast – wozu wäre das gut gewesen? Vor fünf Jahren hätte mir auch
niemand geglaubt. Ich konnte damals wie heute nichts beweisen. Außerdem hätte es das Ganze
endlos in die Länge gezogen. Ich war froh, dass es endlich vorbei war. Für mich war nur wichtig,
dass Ashleys Tod gesühnt wurde.«
Sie hatte Randalls Leiche einäschern lassen. Da er schon vor Jahren ein offizielles Begräbnis
erhalten hatte, sparte sie sich das Spektakel. Sie hatte einen Gedenkgottesdienst in Maryland für
ihn halten lassen, im engsten Kreis. Nur eine Handvoll seiner ehemaligen Kollegen waren dazu
eingeladen worden.
»Was ist mit dem Plan, den Porter mit Sanchez ausgebrütet hatte?«
»Als der Präsident mir sein Beileid aussprach, sagte ich ihm, dass ich mit Randalls Einschätzung
der Situation in Montesangrines nicht übereinstimmen würde. Ich habe ihm auch gesagt, dass ich
El Manos Brutalität und die seiner Feinde aus erster Hand miterlebt hätte. Und als Steuerzahlerin
und Bürgerin würde ich auf jeden Fall verhindern wollen, dass unser Land dieses Regime
unterstützt.«
»Er hat mich angerufen, aber ich habe mich, glaube ich, nicht ganz so gewählt ausgedrückt.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
Er lehnte sich gegen den klapprigen Pick-up, winkelte ein Bein an und stützte sich mit der
Sohle seines Stiefels an die Beifahrertür. Er sah aus, als würde er genau dort hingehören, in seiner
texanischen Uniform – Jeanshose und Jeansjacke. Der frische Herbstwind wirbelte sein Haar auf.
Sie sehnte sich nach ihm.
»Ich dachte, du würdest aus Eden Pass wegziehen, Doc.«
»Nein, ich habe mich anders entschieden und die Praxis wiedereröffnet. Die Menschen hier
akzeptieren mich jetzt. Es läuft gut. Ich konnte sogar Nancy wieder einstellen. Und die hat mich
schon um eine Hilfe gebeten.«
»Glückwunsch.«
»Danke.«
Keiner von beiden wusste, wohin er den Blick wenden sollte, wenn eine Lücke zwischen den
Sätzen entstand.
»Marion Leonard ist schwanger«, sagte Lara schließlich. »Sie hat bestimmt nichts dagegen, dass
ich es dir sage. Sie haben es sowieso gleich allen erzählt. Sie war eine der ersten Patienten, als ich
die Praxis wieder aufgemacht habe.«
»Hmm, das ist gut.« Key nickte. »Dann war also nie etwas dran an dem Gerücht, dass sie dich
verklagen wollen.«
»Nein, ich denke nicht.«
Sie gingen nicht weiter darauf ein, dass sehr wahrscheinlich Jody für dieses Gerücht
verantwortlich gewesen war.
»Hast du in der Zeitung gelesen, was die Untersuchung erbracht hat?«, fragte er.
Nach mehreren Wochen hatten die Behörden ihre Berichte veröffentlicht. Die Explosion im
Green Pine Motel war durch eine illegale Gasleitung verursacht worden, die von der Tackett-
Quelle Nummer sieben abgeleitet worden war und zum Motel führte. Das abgezweigte Gas war
für die Beheizung und Kühlung des Motels verwendet worden. Aus einem Leck in der Leitung
waren große Mengen geruchlosen Gases in die Flitterwochensuite gelangt. Der bei dem
Kurzschluss entstandene Funke hatte die Explosion ausgelöst.
Fergus Winston hatte sich gegen den Rat seines Anwalts in allen Punkten für schuldig bekannt
und büßte derzeit die ersten Wochen seiner lebenslangen Haftstrafe ab.
Darcy hatte das Haus verkauft und die Stadt verlassen. Die Gerüchteküche brodelte. Es hieß, sie
würde nachts am Grab ihrer Tochter wachen und tagsüber vor dem Gefängnis stehen und auf
eine Gelegenheit hoffen, ihren Mann zu töten. Andere Gerüchte besagten, sie wäre vollkommen
ausgerastet und in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert worden. Wieder andere wussten zu
berichten, dass sie sich mit einem Baseballspieler aus der Minor League eingelassen hätte und mit
ihm nach Oklahoma gegangen sei.
»Ja, wie ich es verstanden habe, hat Fergus eine der alten Signalleitungen angezapft«, sagte Lara.
»Richtig. Früher waren die verbreitet. Sie haben das Gas aus den Quellen verbrannt. Dann hat
mein Großvater sich entschlossen, zusätzlich zum Öl auch Gas zu fördern. Er hat die Leitungen
gekappt. Irgendwann wurden die sowieso verboten. Fergus wusste von dieser Leitung, hat sie
angezapft und das Gas zum Motel geleitet. Er hat jahrelang umsonst Gas bezogen und sich
wahrscheinlich vor Schadenfreude ins Hemd gemacht.«
Wieder entstand eine Pause. Als das Schweigen langsam unbehaglich wurde, griff Lara nach dem
Zündschlüssel. »Tja, ich muss jetzt mal los. Hab ein paar Sachen im Kofferraum, die ins
Tiefkühlfach müssen.«
»Hast du schon vor jenem Morgen gewusst, dass Clark und dein Mann ein Paar waren?«
Diese Frage traf Lara unvorbereitet. Ihre Hand sank vom Lenkrad.
Key ging neben ihrem Wagen in die Hocke, so dass ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren.
Dann verschränkte er locker die Finger und stützte die Handballen auf das heruntergekurbelte
Fenster. »Hast du es gewusst?«
»Ich hatte keine Ahnung«, antwortete sie leise. »Ich war wie betäubt, als ich sie sah. Aber dann
wurde ich hysterisch.«
»Und wer hat die Presse benachrichtigt?«
Sie dachte nicht einen Moment daran, ihm auszuweichen oder etwas zu beschönigen. »Das
Telefon auf meinem Nachttisch klingelte. Ich bin aufgewacht und ging ran. Der Anrufer sagte
nur, er sei ein guter Freund von Clark, und dann hat er ihn beschimpft.« Ein Anflug von Schmerz
überzog Keys Miene, aber Lara fuhr unbeirrt fort. »Er fragte, ob Clark ihn vielleicht wegen
Randall fallen gelassen hätte. Dann hängte er ein. Zunächst dachte ich, es sei nur irgendein
obszöner Anruf, und wollte Randall wecken. Aber er lag nicht mehr neben mir im Bett. Ich stand
auf und ging ihn suchen.« Sie senkte den Kopf und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die
Stirn. »Ich fand ihn in Clarks Schlafzimmer. Später kam ich darauf, dass derselbe Anrufer
wahrscheinlich auch die Presse informiert und ihnen gesagt hatte, er hätte eine explosive Story
über uns drei. Ein paar Minuten nach meiner Entdeckung trafen jedenfalls die Reporter ein.
Clark wurde fast so hysterisch wie ich. Es war Randalls Idee, es so aussehen zu lassen, als …« Sie
zuckte mit den Achseln und seufzte. »Den Rest kennst du ja.«
Key murmelte Beschimpfungen über den Botschafter Porter. »Wieso ist dieser Typ, der
angerufen hat, nicht an die Presse gegangen und hat die Story richtiggestellt?«
»Ich nehme an, ihn hat wohl der Mut verlassen. Außerdem hatte er doch erreicht, was er wollte.
Er hat Senator Tackett zu Fall gebracht.«
»Du hättest sie bloßstellen können, Lara. Warum hast du es nicht getan?«
Sie lachte sarkastisch. »Wer hätte mir denn geglaubt? Randall hatte auch zig Affären mit Frauen.
Die hätten doch alle geschworen, dass er heterosexuell ist.«
Key runzelte verwirrt die Stirn.
»Randall wusste von Clarks sexuellen Gewohnheiten und nutzte das aus. Ich schätze in der Art
von: Tust du mir einen Gefallen, tu ich dir einen. Randall war so ein Typ. Er hat Clark benutzt.
Er hat mich benutzt. Er hätte alles getan, um zu kriegen, was er wollte.«
»Zum Beispiel, sich jahrelang für tot auszugeben.«
»Ja. Und es hat ihm absolut nichts ausgemacht, dass unsere Tochter bei dem angeblichen
Attentat umkam.« Sie zögerte, ehe sie weitersprach, weil das, was sie sagen wollte, sehr heikel
war. »Key …« Sie wandte den Blick ab. »Ich habe Randall nicht geglaubt, was seine Bisexualität
betraf. Offen gesagt glaube ich im Nachhinein sogar, dass er Emilios Geliebter war. Auf jeden Fall
habe ich immer wieder Bluttests von Randall und mir machen lassen während der ersten Monate
meiner Schwangerschaft. Ich wollte auf keinen Fall das Risiko eingehen, eventuell Aids auf mein
Baby zu übertragen. Die Tests fielen alle negativ aus. Aber ich habe es nie darauf ankommen
lassen. In der Nacht, in der ich Ashley empfangen habe – nur wenige Wochen nach dem
Zwischenfall im Cottage –, habe ich zum letzten Mal mit Randall geschlafen.« Sie sah ihm in die
Augen. »Zum allerletzten Mal.«
»Ich habe nicht danach gefragt.«
»Aber du hast ein Recht darauf, es zu wissen.«
Sein fester Blick war entnervend. Sie waren von Lärm und Trubel umgeben, aber zwischen
ihnen breitete sich ein bedrückendes Schweigen aus. Lara hielt es nicht mehr aus und ergriff
erneut das Wort.
»Was meine Glaubwürdigkeit angeht – ich bin der lebende Beweis dafür, dass das Prinzip
›Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils‹ ein Mythos ist. Noch bevor ich mich ganz von dem
Schock erholt hatte, meinen Mann mit einem anderen Mann im Bett erwischt zu haben, war ich
als die Betrügerin gebrandmarkt, die man in flagranti erwischt hatte. Wenn ich damals die
Wahrheit gesagt hätte, hätte man es mir doch nur als gemeinen Konter ausgelegt.«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich war bereits in dem Moment verurteilt, als das Foto von mir
geschossen wurde, wie mein Mann mich im Nachthemd von Clarks Cottage wegschleift.«
»Ich hatte angenommen, mein Bruder besäße mehr Integrität, als einen anderen Menschen für
sich büßen zu lassen.«
»Er war genauso in Randalls Lügennetz gefangen wie ich. Die Konsequenzen daraus waren so
extrem, dass er wirklich nicht erwägen konnte, die Wahrheit zu sagen. Aber ihm ist es, anders als
Randall, aufs Gewissen geschlagen. Dass er mir die Praxis hier in Eden Pass gekauft hat, war seine
Art von Wiedergutmachung. Seine Art, mir zu sagen, dass es ihm leidtat.« Sie lächelte schwach.
»Sei nicht so hart mit ihm, Key. Er hat jahrelang ein Leben als verdeckter Homosexueller geführt.
Es muss ein sehr einsames und unglückliches Dasein gewesen sein.«
»Ich habe immer noch Schwierigkeiten, das Bild meines Bruders, wie ich es im Kopf habe, mit
Randall Porter zusammenzubringen. Ich denke immer wieder an den Sommer, als wir zusammen
ins Jugendcamp fuhren. Sicher, wir haben all die Spielchen gemacht, die man als Junge eben im
Wald so treibt. Wir haben gerubbelt, bis wir ganz wund waren. Wir haben’s um die Wette
gemacht. Warum konnte er es mir nicht sagen? Wir standen uns doch so nahe …«
»Vielleicht wusste er es damals noch nicht.«
»Vielleicht. Aber als er Senator wurde, wusste er es doch. An dem Abend, als er seinen
Konkurrenten bei der Wahl geschlagen hatte, sind wir losgezogen und haben einen draufgemacht.
Wir haben gesoffen, bis wir umgekippt sind.« Er schmunzelte bei der Erinnerung daran. »Am
nächsten Morgen musste er mit dem schlimmsten Kater in der Geschichte der Menschheit vor die
Presse treten. Er hat mir gedroht, mich umzubringen, weil ich ihm das angetan hatte. Wir haben
noch darüber gelacht, als ich ihn das letzte Mal sah.« Sein Lächeln erlosch. Er starrte ins Leere.
»Ich wünschte, er hätte den Mut gehabt, es mir zu sagen.«
»Hättest du es denn akzeptiert?«
»Ich bilde es mir jedenfalls ein.« Er kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Jodys Einstellung
zur Homosexualität war nie ein Geheimnis«, sagte er bitter. »Sie konnte es unmöglich tolerieren.
Das muss eine Szene gewesen sein, als Clark es ihr sagte …«
»Ich bin sicher, es war für beide verheerend.«
»Was immer sie zu ihm gesagt hat – es hat ihm den Rest gegeben.« Er stand auf und steckte die
Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans, mit den Handflächen nach außen. »Das konnte sie gut,
weißt du – die Leute an den Rand der Klippe treiben. O Gott«, schnaubte er angesichts der
Untertreibung. »Darin war sie unschlagbar! Sie wusste genau, wann sie was sagen oder tun musste,
wann sie zustechen musste. Sie konnte die Leute einfach nicht das sein lassen, was sie wollten.
Weder Clark noch Janellen noch mich oder meinen Dad.« Er sah plötzlich zu ihr auf. »Sie hat mir
einen Brief hinterlassen.«
Lara räusperte sich. »Ja, Janellen hat es erwähnt.«
»Hat sie auch gesagt, was drinstand?«
»Nein. Nur, dass sie jedem von euch einen Brief hinterlassen hat, der im Fall ihres Todes
geöffnet werden sollte.«
»Richtig. Nach dem Datum muss sie meinen geschrieben haben, als wir in Montesangrines
waren.« Seine Mundwinkel krümmten sich nach unten, und er zuckte mit den Achseln. »Sie
schrieb, dass alle gedacht hätten, sie würde Daddy hassen, weil er sich immer wieder andere
Frauen nahm und sie alleinließ. Doch die Wahrheit sei, schrieb sie, dass sie ihn geliebt hat. Über
alles. Über jede Vernunft. Das sind Zitate.«
Er hielt den Kopf gesenkt und den Blick auf die Stiefel gerichtet. »Sie hat ihn geliebt, und er hat
ihr weh getan. Schlimm weh getan. Sie schrieb, dass sie jedes Mal, wenn er sich eine … eine
andere Frau nahm, das Gefühl hatte, als würde ihr ein Messer in die Brust gerammt, weil sie nicht
hübsch und locker sein konnte. Nicht die Art Frau, die ihn halten konnte. Sie wusste, dass der
einzige Grund, weshalb er sie geheiratet hatte, der war, dass er damit aus einem Schlamassel raus
war. Aber er wusste nicht, dass sie ihn aufrichtig liebte. Und wenn doch, dann war es ihm egal.
Und genau wie er angenommen hatte, war die Ehe für beide Seiten von Vorteil. Jody bekam die
Leitung über Tackett Oil, also das, was sie immer gewollt hatte, und er konnte sie als
Sicherheitsnetz für seine Affären benutzen. Kein schlechter Handel, wenn Jody ihn nicht geliebt
hätte und durch seine Untreue immer wieder verletzt worden wäre.«
Er zog die Hände aus den Taschen und rieb sie aneinander. Dann betrachtete er die
Handflächen, als könnte er an den Linien etwas ablesen. »Und«, sagte er, tief Luft holend, »in dem
Brief stand noch, dass sie immer so hart zu mir gewesen sei, weil ich genau so wäre wie mein
Daddy. Ich würde wie er aussehen, hätte sein Temperament, und mir ginge es doch auch immer
nur um meinen Spaß. Und als ich älter wurde, wäre ich ebenso ein Weiberheld geworden wie er.
Sie … sie hat auch geschrieben, dass sie mich immer geliebt habe, aber dass es ihr weh tun würde,
mich nur anzusehen. Am Tag meiner Geburt war mein Dad bei einer anderen Frau gewesen. Ich
war die lebende Erinnerung daran, deshalb konnte sie mir nie ihre Liebe zeigen. Komischerweise
hatte sie am meisten Angst davor, dass ich sie zurückweisen könnte, so wie Daddy es getan hat.
Deshalb versuchte sie es erst gar nicht.« Er rollte die Schultern; ein tapferer Versuch, lässig zu
wirken. »Na ja, so was stand in dem Brief. Lauter so ’n Unsinn.«
»Ich finde nicht, dass es Unsinn ist, und du auch nicht.« Er hob den Kopf und sah sie an. »Jody
hat ihre beiden Söhne geliebt, Key. Sie hat bis zu ihrem Ende darum gekämpft, Clark vor dem
Skandal zu schützen.«
»Wieso musste sie dann ihre letzten Atemzüge dazu benutzen, es mir zu sagen?«
»Weil sie wollte, dass du weißt, dass Clark sie enttäuscht hat. Er war immer ihr Sonnenschein,
und du weißt es. Sie weigerte sich zu sterben, bis die Dinge ins rechte Licht gerückt waren. Das
war ein großes persönliches Opfer für sie, und es sollte dir beweisen, wie sehr sie dich liebte.«
Er blinzelte, doch sie konnte nicht sagen, ob von der Sonne oder von der Erkenntnis, die ihn
plötzlich durchfuhr. »Diese Sache mit persönlichem Opfer hat es dir wirklich angetan, was?«
Sie neigte den Kopf und sah Key verständnislos an. Er setzte zu einer Erklärung an. »Du hast
doch Clarks Geheimnis nicht für dich behalten, weil du befürchtet hättest, es würde dir niemand
glauben. Du hast geschwiegen, weil du Clark geliebt hast. Das hast du mir selbst gesagt auf dem
Weg nach Montesangrines. Es war Freundschaft, nichts Sexuelles. Auch wenn Randall Porter
eine miese kleine Ratte war – du hättest ihn nie betrogen, solange ihr noch verheiratet wart. Das
weiß ich jetzt. Aber du hast Clark als Senator geschätzt und ihn als Freund geliebt. Deshalb hast
du ihn nicht verraten, selbst nicht, als er dich hinterging. Dann hast du dich wegen des Babys mit
Porter in die Verbannung schicken lassen. Wieder ein persönliches Opfer. Ist anscheinend eine
Angewohnheit von dir, den Menschen, die du liebst, persönliche Opfer zu bringen, Lara.« Er
beugte sich vor und stützte sich auf das offene Fenster. »Als Jody mir sagen wollte, dass Porter,
und nicht du, mit Clark im Bett gewesen war, hast du sie angefleht, es nicht zu tun. Du hattest
die Chance, all die hässlichen Dinge, die ich zu dir und über dich gesagt habe, zu widerlegen.
Aber du hast sie nicht genutzt, weil du mich vor der Wahrheit über meinen Bruder schützen
wolltest.« Sein Blick durchbohrte sie. »Und seitdem muss ich darüber nachdenken, warum das so
ist.«
Laras Stimme klang belegt. »Und hast du schon eine Antwort gefunden?«
»Ich glaube, ich stehe kurz vor einem Durchbruch.« Er öffnete unvermittelt ihre Tür. »Steig
aus.«
»Bitte?«
»Aussteigen.« Er ergriff ihren Arm und zog sie heraus. Dann presste er sie mit dem Rücken
gegen den Wagen, fasste sie im Nacken und bog ihren Kopf für einen harten, leidenschaftlichen
Kuss zurück.
»Ich will nicht nach Alaska«, verkündete er abrupt, als er sie wieder losgelassen hatte. »Es ist
arschkalt da oben, und die können eine Hühnerbrust nicht von einem Steak unterscheiden. Ich
habe hier mehr Aufträge, als ich bewältigen kann. Und draußen am See ist ein hübsches
Grundstück, auf das ich schon seit Jahren scharf bin. Kam mir nur irgendwie immer wie
Verschwendung vor, da für mich ganz allein ein Haus draufzustellen, so ohne Frau und Kinder.«
Lara presste das Gesicht an seine Brust. Ihre Tränen sickerten in den rauen Stoff seines Hemdes.
Dann legte sie den Kopf in den Nacken und fragte ihn: »Willst du damit andeuten, dass du mich
liebst?«
»Nicht andeuten. Du hörst nicht richtig zu.«
»Doch, ich habe zugehört …«
Er dämpfte die Stimme zu einem beschwörenden Flüstern. »Dann sag, dass ich nicht gehen soll,
Doc.«
Ihre Fingerspitzen fuhren seine Brauen entlang, über die Nase, zu seinem wunderschön
geschwungenen Mund. »Was könnte ich sagen, damit du bleibst?«
»Sag ja.«
»Ja zu was?«
»Zu allem. Die Fragen setzen wir später ein.«
Danksagung
Bei der Arbeit an diesem Buch konnte ich mich auf die große Unterstützung durch Fachleute der
unterschiedlichsten Gebiete verlassen; sie alle waren überaus hilfsbereit und schenkten mir
großzügig ihre kostbare Zeit. Mein besonderer Dank gebührt:
Bob McNeece, der mehr vom Ölgeschäft versteht, als ich jemals begreifen werde.
Larry Collier, einem »Pumper«, dem ich durch Zufall begegnet bin, der sich aber als wahrer
Schatz an Informationen erwies.
Dr. Ernest Stroupe, Notarzt, der mich zusammen mit dem freundlichen und hilfsbereiten
Personal des Mutter-Frances-Hospitals in Tyler, Texas, bei den medizinischen Teilen dieses
Buches beriet.
Und nicht zuletzt einem Piloten, der nicht nur sein Wissen über die Kunst des Fliegens mit mir
teilte, sondern überdies und unverblümt eine ganze Reihe von Begebenheiten preisgab, über die
er eigentlich lieber den Mantel des Schweigens gedeckt hätte.
Sandra Brown