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Die Offenbarungstheologie S0ren Kierkegaards

als Theologie der »Gleichzeitigkeit«

V o n KLAUS WOLFF

Der vorliegende Vortrag beschäftigt sich mit dem Verhältnis der Wer-
ke S0ren Kierkegaards zur Offenbarung und zur Theologie der Of-
fenbarung. Der Vortrag vertritt die Auffassung, daß eine Offenba-
rungstheologie S0ren Kierkegaards letztlich nur als Theologie der
»Gleichzeitigkeit« mit Jesus Christus richtig verstanden ist.
In einem ersten Punkt werden dabei die hermeneutischen und
theologischen Prämissen dargestellt, unter denen der Vortrag das
Werk Kierkegaards betrachtet. Der zweite Hauptpunkt beschäftigt
sich mit dem Verhältnis von Offenbarung und Gleichzeitigkeit bei
Kierkegaard, einmal in der Sichtweise von oben (von Gott her), das
andere Mal in der Sichtweise von unten (vom Menschen her).
In einem dritten Punkt wird - ein gewagtes Unterfangen - ver-
sucht, den gewonnenen Kierkegaard'schen Begriff der Offenbarung
und der Gleichzeitigkeit katholisch weiterzudenken und weiterzufüh-
ren im Hinblick auf den Begriff Sakrament.
Der abschließende, vierte Punkt eröffnet thesenartig eine pastorale
Option, die diese Weiterführung des Gleichzeitigkeitsbegriffs für die
Kirchen heute und ihre Kommunikation der Offenbarung nahelegt.

I. Streitbare Prämissen

Das Werk S0ren Kierkegaards erscheint in vieler Hinsicht ambiva-


lent. Daher ist zu Beginn eine Klärung notwendig, in welcher Weise
der vorliegende Vortrag die Ambivalenz der Werke Kierkegaards
deutet.

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482 Klaus Wolff

Drei Fragen stehen dabei im Vordergrund: Einmal die Frage, ob


Kierkegaard überhaupt »Offenbarungstheologie« betreiben wollte.
Zum zweiten die Frage, wie die verschiedenen Werke Kierkegaards -
auch die Pseudonyme - einander zugeordnet werden. Drittens die
Frage, ob es so etwas wie einen Kristallisationspunkt der Werke Kier-
kegaards gibt und worin er besteht.
Die Ausführungen basieren auf folgenden drei miteinander eng
verbundenen - sicher streitbaren - Prämissen:
1. Das Werk Kierkegaards ist von Anfang bis Ende offenbarung-
stheologisch motiviert.
2. Es gibt einen Plan der Werke Kierkegaards, und seine Werke -
auch in ihrer Pseudonymität - stehen nicht unverbunden nebenein-
ander, sondern müssen in ihrer Einheit und entsprechend dem Ge-
samtplan bedacht und ausgelegt werden.
3. Der Schlüssel zu Plan und Einheit des Gesamtwerks - und damit
zur Offenbarungstheologie Kierkegaards - ist der Begriff der
Gleichzeitigkeit.

1. Was S0ren Kierkegaard in seinem Werk durchgängig anzielt, ist der


Zugang zur Offenbarung in all seinen Schattierungen. Kierkegaard ist
kein »Philosoph«, kein »ästhetischer« Schriftsteller im reinen Sinn
des Wortes, sondern was er schreibt, ist - auch in den philosophischen
oder scheinbar »nur« schriftstellerischen Passagen des Werks - offen-
barungstheologisch motiviert. In den Schriften über sich selbst hat
Kierkegaard dies eindeutig belegt, indem er selbst sagt, daß das Reli-
giöse - gemeint ist das Christliche, also die Offenbarung - von An-
fang bis Ende sein Werk bestimmt:
Das Religiöse ist zur Stelle alsogleich von Anbeginn an. [...] Sowohl am Anfang wie
am Ende findet sich also eine Sicherung dagegen, die Erscheinung so zu erklären: daß
es ein ästheti scher Schriftsteller sei, der im Laufe der Zeit sich derart änderte und
derart religiöser Schriftsteller wurde. [...] Der kleine Artikel ist eben mit dabei zum
Zeugnis, [...] um am Ende wiederum es unmöglich zu machen (wie es die »zwei er-
baulichen Reden« am Anfang tun) die Erscheinung so zu erklären, daß es ein Verfas-
ser ist, der erst ästhetischer Schriftsteller war, und dann später sich änderte und reli-
giöser Schriftsteller wurde; denn er ist eben von Anbeginn an religiöser Schriftsteller
gewesen und ist ästhetisch produktiv eben im letzten Augenblick. 1

1
So Kierkegaard in den Schriften über sich selbst: SS, S. 26f. Das schräggedruckte
Wort ist im Original gesperrt.
Die Werke Kierkegaards sind im vorliegenden Vortrag zitiert nach Gesammelte
Werke, 31 Bde., übers, von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans-Martin Jung-
hans, Gütersloher Verlagshaus, Gerh Mohn (GTB Siebernstern 600-630), Düssel-
dorf/Köln 1950ff.

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Offenbarungstheologie Kierkegaards als Theologie der »Gleichzeitigkeit« 483

2. Kierkegaard selbst hat eine Einheit und einen Plan seiner Werke,
auch der Pseudonymen Werke, behauptet.2

Einerseits ist sein Kristallisationspunkt, auf den alle Werke ausgerich-


tet sind, die Frage der Gleichzeitigkeit des Menschen mit Christus.3
Dementsprechend stellen die Pseudonyme Teilaspekte dieses Pro-
blems dar, bzw. beleuchten sie das Problem der Gleichzeitigkeit von
verschiedenen denkbaren Positionen her: So schreiben z.B. Climacus
(Philosophische Brocken, Abschließende unwissenschaftliche Nach-
schrift) und Vigilius Haufniensis {Der Begriff Angst) in Richtung auf
das Christentum hin und bezeichnen sich selbst bewußt nicht als
Christen, während Anti-Climacus (Der Krankheit zum Tode, Ein-
übung im Christentum) dezidiert vom christlichen Standpunkt aus
schreibt.
Die erste Reihe der Pseudonyme nähert sich quasi transzendental
- in einer Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen der (schon ge-
schehenen!) Offenbarung »von unten«, vom Menschlichen her der
Offenbarung an,4 während die zweite Reihe betont direkt von der
christlichen Offenbarung her schreibt und das Menschliche beleuch-
tet und kritisiert.
So sind also die verschiedenen Werke Kierkegaards in ihrer Hin-
ordnung auf das Problem der Gleichzeitigkeit zu verstehen und ha-
ben darin ihre Mitte und Einheit. Diese Interpretation schließt - viel-
leicht typisch katholisch?5 - eine letzte Widersprüchlichkeit der

2
SS, 27.
3
SS, 27: »das Fragmal der gesamten schriftstellerischen Wirksamkeit: Christ werden.«
4
Ganz deutlich ist dies ausgesprochen z.B. in BA, 94, wo Vigilius Haufniensis von der
Angst als einer letzten Annäherung an die Sünde spricht, die ja ein Offenbarungs-
begriff ist.
5
Der Vf. ist der Überzeugung, daß der Katholizismus grundsätzlich eher dazu neigt,
(möglicherweise aufgrund der positiven Zuordnung von Schöpfung und Erlösung)
die Einheit und Nicht-Widersprüchlichkeit aufzuweisen, während der Protestantis-
mus die Differenz und Widersprüchlichkeit betont.
So z.B. - ganz ähnlich zu der Frage bei Kierkegaards Werk hier - in der Frage der
Schriftauslegung, wo die katholische Exegese - entsprechend dem II. Vatikanischen
Konzil (VatII/DV 12) immer mehr die Einheit und Mitte der Schrift betont hat,
während die protestantische Exegese mehr dazu neigt, die Widersprüchlichkeit der
einzelnen Schrifttexte aufzuweisen: vgl. dazu Manfred Oeming Gesamtbiblische
Theologien der Gegenwart. Das Verhältnis von AT und NT in der hermeneutischen
Diskussion seit Gerhard von Rad, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 2/1987.
Es wäre brennend interessant, der Frage nach Begründung, Berechtigung und vor
allem existentieller Lebbarkeit der einzelnen Positionen nachzugehen, was im Rah-
men des vorliegenden Themas leider nicht möglich ist.

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484 Klaus Wolff

Werke Kierkegaards untereinander aus und legt eine harmonisieren-


de Interpretation der Einzelwerke nahe.

Andererseits hat Kierkegaard die Pseudonymität und Verschiedenar-


tigkeit seiner Werke als eine Methode der Kommunikation von Offen-
barung angesehen.
Sein Plan6 war, die Menschen seiner Zeit dort abzuholen, wo sie sei-
ner Meinung nach standen: beim »ästhetischen Sinnentrug«, mit ande-
ren Worten bei einer Täuschung, die ihnen einen Zugang zur Wahrheit
der Offenbarung unmöglich machte. Kierkegaard wußte, und darin ist
er bis heute - was die Kommunikation theologischer Inhalte betrifft -
den Kirchen und ihren Vermittlungsmethoden in vielem voraus:
Mit unmittelbarem Angriff bestärkt man einen Menschen im Sinnentrug, und zugleich
erbittert man ihn. Es gibt überhaupt nichts, was eine so behutsame Behandlung er-
heischt wie ein Sinnentrug, wenn er behoben werden soll. Veranlaßt man auf irgendei-
ne Weise den Verstrickten seinen Willen dagegen zu setzen, so ist alles verloren [...]
Der religiöse Schriftsteller muß denn also zuerst sehen, in Rapport mit den Menschen
zu kommen. Das heißt, er muß mit einer ästhetischen Leistung anfangen. (55,37)

Angesichts der Ausgangslage der Menschen - und der Absicht Kier-


kegaards, die von Anfang an auf das Religiöse zielte, mußte also der
Weg hin zu wahrer Religiosität wesentlich indirekt, »pseudonym« be-
schritten werden, um die Menschen langsam aber sicher in das Wahre
»hineinzutäuschen«.7 Durch die Pseudonyme vermied Kierkegaard
falsche Identifikationen und Rücksichtnahmen.8 Sie garantierten die
indirekte Mitteilung9 und wahrten Kierkegaards eigene Neutralität.
Ihre Ambivalenz war beabsichtigt, um die Menschen in die Entschei-
dung hineinzuführen. 10
Die Pseudonyme und die Verschiedenartigkeit der Werke Kierke-
gaards spiegeln also sein Bemühen, die Offenbarung menschen- und
zeitgerecht zu kommunizieren:
Dies wird erreicht durch das mittelbare Verfahren, das im Dienste der Wahrheitsliebe
für den Verstrickten alles dialektisch zurechtrückt, und als dann, schamhaft, wie die
Liebe immer ist, sich dem entzieht, Zeuge bei dem Eingeständnis zu sein, welches er
nun in der Einsamkeit vor Gott sich selber macht, daß er doch in einer Einbildung ge-
lebt habe. (55,37)

6
Vgl. AUN II, 339.
7
Vgl. 55,48f.
8
Vgl. Hermann Deuser Kierkegaard. Die Philosophie des religiösen Schriftstellers,
EdF 232, Darmstadt 1985, S. 150.
9
Vgl. Τ 3,260; 55,48.
10
Vgl. Τ 4,242; 55,25, 30.

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Offenbarungstheologie Kierkegaards als Theologie der »Gleichzeitigkeit« 485

3. Wie bereits in 2. angedeutet, ist für Kierkegaard der Begriff der


Gleichzeitigkeit der alles entscheidende Kristallisationspunkt seines
Werks: »Die Gleichzeitigkeit; was Du in der Gleichzeitigkeit tust, ist
das Entscheidende« (A, 279).
Und das ist das Entscheidende! Dieser Gedanke ist mir der Gedanke meines Lebens
[...] Deshalb sterbe ich fröhlich, unendlich dankbar gegen die Lenkung, daß es mir
vergönnt war, dergestalt auf diesen Gedanken aufmerksam zu werden und auf ihn
aufmerksam zu machen. Nicht, daß ich ihn erfunden hätte, Gott bewahre, [...] nein,
die Erfindung ist alt, ist die des neuen Testaments. Aber mir war es doch vergönnt,
diesen Gedanken, leidend, wieder in Er innerung zu bringen, der wie Rattenpulver für
die Ratten, Gift ist für die Dozenten, dies Ungeziefer, welches recht eigentlich das
Christentum verdorben hat [...]
Die Gleichzeitigkeit ist das Entscheidende. (A, 283)

Es kann nicht genug betont werden, daß die Kategorie der Gleichzei-
tigkeit Kierkegaards eigentlichste Kategorie darstellt, und daß von
daher all seine Äußerungen verstanden und zueinander gedacht wer-
den müssen, und daß dementsprechend auch sein Verständnis von
Offenbarung nur im Kontext mit dem Gleichzeitigkeitsbegriff richtig
erfaßt werden kann.

II. Offenbarung und Gleichzeitigkeit

Der Begriff der Gleichzeitigkeit bei Kierkegaard ist vielschichtig. Ihn


in seiner ganzen Differenziertheit darzustellen, ist im Rahmen dieses
Vortrage weder nötig noch wünschenswert.11 Der Vortrag beschränkt
sich auf zwei wesentliche Aspekte, die das Verhältnis von Offenba-
rung und Gleichzeitigkeit bei Kierkegaard beleuchten.

7. Die Bewegung Gottes zur Gleichzeitigkeit - das Menschwerden


Gottes als Sicht der Offenbarung »von oben«

Grundsätzlich gibt es zwei Sichtweisen des Problems der Gleichzei-


tigkeit: eine von Gottes Aktivität her und eine vom Menschen aus
gesehen. Dabei ist die Sicht von Gott her - christlich - immer die
vorgängige.

11
Daher sei auf die ausführliche Darstellung bei Klaus Wolff Das Problem der
Gleichzeitigkeit des Menschen mit Jesus Christus bei Sören Kierkegaard im Blick auf
die Theologie Karl Rahners, Bonner Dogmatische Studien 8, hrsg. von Wilhelm
Breuning, Hans Jorissen u. Josef Wohlmuth, Würzburg 1991, S. 24-31, verwiesen.

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486 Klaus Wolff

Bei Kierkegaard mag bisweilen der Eindruck entstehen, als habe er


diese Vorgängigkeit vergessen, zumal sie sich in seinem Werk kaum
findet.12 Daß diese Vorgängigkeit der Bewegung Gottes bei Kierke-
gaard so unterbelichtet ist, ist allerdings kein Zufall, sondern vielmehr
beabsichtigt. Kierkegaard weist mehrfach darauf hin, daß er einem
schamlosen Mißbrauch der lutherischen Gnadenlehre, wie sie der Pro-
testantismus seiner Zeit praktiziere, vorbeugen wolle: »Dann bringt
man das Christentum an: als Beruhigungsmittel. Niederträchtige Pfaf-
fenlüge, die sich aber bezahlt macht, daß man das Christentum beruhi-
gend anbringt, anstatt daß es im tiefsten Grunde erweckend, beunruhi-
gend ist!« (A, 306). »Wenn Christus nun in sein Eigentum käme, so
fände er wohl die Gemeinden schlafend - mit Hilfe der Geistlichkeit
beruhigt in Sachen ihrer Seligkeit.«13 Daher betont Kierkegaard in er-
ster Linie die zweite Bewegung, die Aktivität des Menschen, ohne daß
er die andere Seite gänzlich vergessen hätte. Ihm ist durchaus bewußt,
daß Christwerden - Gleichzeitigkeit des Menschen mit Christus im-
mer von der Vorgängigkeit der Bewegung Gottes lebt. Drei Zitate aus
den Tagebüchern mögen das verdeutlichen:
Die rechte Nachfolge kommt nicht dadurch zustande, daß gepredigt wird: Du sollst
Christo nachfolgen; sondern dadurch, daß man davon predigt, was Christus für mich
getan hat. Be greift und empfindet ein Mensch dies recht tief und wahr, wie unendlich
viel es ist, so folgt schon die Nachfolge. (T 4,249)

Es soll nicht mit der Nachfolge begonnen werden, sondern mit der »Gnade«, dann soll die
Nachfolge nachfolgen als eine Frucht der Dankbarkeit so gut man nun kann. (T4,265)

Die Nachfolge ist keine Gesetzesforderung, mit der ein armer Mensch sich selbst mar-
tern soll. Nein, eine solche herausgefolterte Nachfolge ist sogar Christo zuwider. Er
würde gewiß zu einem solchen sagen, falls er sonst Dankbarkeit bei ihm fände: Übe-
reifre dich nicht, laß dir Zeit, dann kommt es wohl, und laß es auf jeden Fall kommen
als freudige Frucht der Dankbarkeit, sonst ist es doch nicht »Nachfolge«. Ja, man
müßte ja auch sagen, daß eine solche, furchtbar herausgefolterte Nachfolge eher ein
fratzenhaftes Nachäffen wäre. (T 4,281)

Selbst Anti-Climacus räumt ein, daß die Sprache der Forderung und
des Gesetzes mißverständlich ist, »weil es so scheint, als wäre es der
Mensch selbst, der aus eigener Vernunft und Kraft sich an Christus

12
Vgl. Marie Mikulovä Thulstrup »Kierkegaard's Idea of Contemporaneity in his At-
tack upon Christendom, and a Parallel Contemporaneity« in Liber Academiae Kier-
kegaardiensis 6, hrsg. von Niels Thulstrup, K0benhavn 1986, S. 120.
13
BÜA, 61. Kierkegaard wendet sich entschieden gegen eine »frech« (KT, 119) bean-
spruchte lutherische Gnadenlehre.

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Offenbarungstheologie Kierkegaards als Theologie der »Gleichzeitigkeit« 487

halten soll, indessen es in der Sprache der Liebe Christus ist, der ihn
hält« (EC, 75).
Thulstrup weist in einem Artikel darauf hin, daß es im ganzen
Werk Kierkegaards unausgesprochen eine vorgängige Gleichzeitig-
keit Gottes und Christi mit uns Menschen gebe.14 Kierkegaard ge-
braucht hier nicht den Begriff »Gleichzeitigkeit«, aber von der Sache
her ist die Gleichzeitigkeit gemeint.
Die stärkste Ausfaltung dieses Gedankens findet sich in den Philo-
sophischen Brocken, wo die Bewegung Gottes zur Gleichheit und
Gleichzeitigkeit mit dem Menschen in der Inkarnation beschrieben
wird. Nach Kierkegaard-Climacus ist diese Bewegung Gottes zur In-
karnation, auf die das Christwerden des Menschen nur die Re-Aktion
darstellt, das Entscheidende des christlichen Glaubens: »Das Ge-
schichtliche, daß der Gott in menschlicher Gestalt gewesen ist, ist die
Hauptsache« (PB, 100). Diese Hauptsache »verschlingt ganz und gar
den Kleinkram« (PB, 101).
Im Geheimnis der Inkarnation sieht Kierkegaard die Offenbarung
»sensu strictissimo« (AUN I, 205) - und zwar die Offenbarung eines
Gottes, der Liebe ist.15 Grund der Inkarnation - der Offenbarung -
ist also die absolut freie Liebe Gottes, die den Menschen wie einen
Liebespartner für sich gewinnen möchte.
Es ist bemerkenswert, daß hier der Ansatz zum Verstehen der Of-
fenbarung in der Inkarnation und nicht, wie man es protestantischer-
seits vielleicht erwarten müßte, beim Kreuz gesucht wird.
Überhaupt spielt - das sei in aller Vorsicht gesagt - das Kreuz in
der Theologie Kierkegaards eine eher nachgeordnete Rolle - gegen-
über dem qualitativen Paradox der Inkarnation Gottes, die alles an-
dere wie »Kleinkram« erscheinen läßt. Dementsprechend ist die
Christologie Kierkegaards in die Theologie, in die Rede von der Lie-
be Gottes eingeordnet und steht nicht einfach unvermittelt im Raum.
Kierkegaard denkt konsequent von der Liebe (Gottes) her, die auf
Gleichheit (Gleichzeitigkeit) (mit dem Geliebten, dem Menschen)
zielt, und die deshalb den Weg der Inkarnation beschreiten muß, um
an ihr Ziel zu gelangen.
In der Tat ist für Kierkegaard die Inkarnation die einzig denkbare
Möglichkeit einer (an ihr Ziel kommenden) Offenbarung Gottes.

14
Vgl. Marie Mikulovä Thulstrup »Kierkegaard's Idea of Contemporaneity in his At-
tac upon Christendom, and a Parallel Contemporaneity« in Liber Academiae Kier-
kegaardiensis 6, S. 120.
15
Vgl. PB, 221

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488 Klaus Wolff

Denn einerseits verlangt die Liebe nach Begegnung und Gleichheit


mit dem Liebespartner. Andererseits aber darf wahre Liebe nicht
überwältigen, sondern muß den anderen in Freiheit gewinnen.
Hier zeigt sich die Grundschwierigkeit der Offenbarung: Einerseits
muß es Gott selbst sein, der sich dem (geliebten) Menschen nähert.
Andererseits ist es ausgeschlossen, daß Gott sich als »Gott« dem
Menschen nähert, denn das wäre Überwältigung, bzw. der Tod des
Menschen, denn Gott direkt zu schauen, ist der Tod des Menschen. 16
Die einzige Möglichkeit, daß die Liebe Gottes beim Menschen zum
Ziel kommt, besteht daher in einer Offenbarung Gottes »Inkognito«17
- und das ist die Inkarnation: Gott wird dem Menschen gleich, denn
»die Liebe ändert nicht den Geliebten, sondern ändert sich selbst«
{PB, 31). Gott verändert sich selbst zur Gleichheit mit dem geliebten
Menschen, Gott macht sich selbst als Mensch gleichzeitig mit den
Menschen.
So ist die Gleichzeitigkeit letztlich nur von der göttlichen Liebe und
dem Wunsch nach Gleichheit mit dem Menschen zu begreifen:18
Gleichzeitigkeit wird durch Inkarnation ermöglicht. Der Gott-
Mensch Christus erst schafft die Bedingung dafür, daß wir Menschen
gleichzeitig werden können, daß Offenbarung (Liebe Gottes für uns)
geschehen und ankommen kann.
Dies gilt umso mehr, als der Mensch gemäß Kierkegaard sich prin-
zipiell und unaufhebbar durch die Sünde von Gott getrennt hat.19 Da
der Mensch durch die Sünde die Un-Wahrheit ist und von sich aus
nicht mehr die Möglichkeit besitzt, erinnernd zu Gott zurückzufin-
den, bleibt nur die Inkarnation als Möglichkeit der Erlösung: Gott
wird dem Menschen gleich und gleichzeitig und eröffnet ihm so neu
die Ewigkeit in der Zeit.
Dieses Gleichzeitigwerden Gottes in der Zeit durch die Inkarnati-
on ist also einerseits von Ewigkeit her gewollte Tat der Liebe, die sich
nach Gleichheit sehnt, und zugleich Tat der Liebe, die den Menschen

16
Vgl. zum Gedankengang PB, 27-30.
17
Vgl. PB, 29f.
18
Vgl. Wolfdietrich von Kloeden »Der Begriff der Gleichzeitigkeit in den Philosophi-
schen Brocken« in Liber Academiae Kierkegaardiensis 6, S. 33.
19
Die Sünde ist ein qualitativer Sprung (vgl. BA, Iii., 41), der nicht rückgängig zu ma-
chen ist, analog einem Stein, den man wirft: Vor dem Wurf hat man Macht über ihn.
Ist der Wurf aber einmal geschehen, so ist qualitativ Neues geworden. Durch die
Sünde wird »jede Kommunikation der Immanenz auf dem Wege der Erinnerung
durch Zurücknehmen in das Ewige abgebrochen« ( A U N II, 297).

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Offenbarungstheologie Kierkegaards als Theologie der »Gleichzeitigkeit« 489

aus der Unwahrheit und der Ungleichzeitigkeit rettet, in die er sich


verloren hatte.
Immer wieder betont Kierkegaard das prinzipielle Inkognito der In-
karnation, wobei die Menschheit Jesu für Gott keine Verkleidung ist,
kein Umhang, den er wieder ablegen könnte, sondern ein mit All-
macht und Ewigkeit festgehaltener Entschluß:
Ja, in gewissem Sinne hat er damit, daß er sich gebären ließ, ein für alle Mal sich ge-
bunden; seine Unkenntlichkeit ist mit solcher Allmacht festgehalten, daß er auf gewis-
se Weise selbst in der Macht seines Inkognitos ist, und darin liegt die buchstäbliche
Wirklichkeit seines rein menschlichen Leidens, daß dieses nicht etwas bloß Scheinba-
res ist, sondern in gewissem Sinne die Übermacht, welche die angenommene Un-
kenntlichkeit über ihn selber hat [...] Nur so ist es im tiefsten Ernst damit, daß er
wahrer Mensch ist, weshalb er denn auch das Äußerste an Leiden durchleidet, das
Fühlen der Gottverlassenheit, und so ist er denn also keinen einzigen Augenblick über
das Leiden hinaus [...] Das ist eine absonderliche Art der Dialektik: daß er mit All-
macht - sich bindet; und dies so allmächtig tut, daß er sich wirklich gebunden fühlt, zu
leiden hat unter den Folgen seines freien, liebenden Entschlusses, ein einzelner
Mensch zu werden. (EC, 134)

In diesem Zitat zeigt sich - nebenbei bemerkt - wie Inkarnation und


Kreuz bei Kierkegaard von Anfang an vereint sind. Der Entschluß
Gottes zum Inkognito, zur Inkarnation (aus Liebe) fordert das Lei-
den geradezu heraus.
Denn dieses Inkognito Gottes, seine angenommene Menschheit, ist
mit Allmacht festgehalten und daher unaufhebbar.20 Es ist Ausdruck
höchster Liebe und Herrschaftsfreiheit, da es dem Menschen Freiheit
und Selbstand gewährt - bis zum Kreuz. Aus dem Gesagten folgt -
was für die Frage der Gleichzeitigkeit des Menschen mit Christus
noch eminent bedeutsam wird - ein prinzipielles Inkognito, eine prin-
zipielle Un-Kenntlichkeit Jesu Christi.
Kierkegaard vergleicht das Wesen des Inkognito (also auch Chri-
stus) mit einem Zeichen:21 »Ein Zeichen ist nicht was es unmittelbar
ist, denn unmittelbar ist da kein Zeichen, denn >Zeichen< ist Refle-
xionsbestimmung« {EC, 127). So sagt Anti-Climacus folgerichtig von
Christus: »Unmittelbar ist er einzelner Mensch, ganz wie andre Men-
schen, ein geringer unansehnlicher Mensch; aber nun der Wider-
spruch, daß er Gott ist« {EC, 128).
Unmittelbar ist Christus ein einzelner Mensch. Unmittelbar war
zur Zeit Jesu nur ein Mensch zu sehen. Um in dem Menschen das
Zeichen zu erkennen, die Gottheit Jesu in seiner Menschheit, dazu

20
Vgl. EC, 135.
21
Vgl. EC, 126f.

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490 Klaus Wolff

bedarf es der Verneinung der Unmittelbarkeit, dazu bedarf es des


Glaubens. »So mit dem Gott-Menschen. Er ist ein Zeichen, das Zei-
chen des Widerspruchs, er steht in Unkenntlichkeit, also ist jede un-
mittelbare Mitteilung unmöglich« (EC, 137).
Diese prinzipielle Unkenntlichkeit der Offenbarung, das Inkognito,
die Zeichenhaftigkeit Jesu macht die unmittelbare Gleichzeitigkeit,
die Zeitgenossenschaft mit Christus qualitativ bedeutungslos. Denn
alle Jünger stehen vor dem Inkognito: »Es gibt keinen Jünger zweiter
Hand. Aufs Wesentliche gesehen, sind der erste und der letzte einan-
der gleich, nur daß die spätere Generation die Veranlassung im Be-
richt der gleichzeitigen hat« (PB, 101£).
Und so klagt Kierkegaard über die falsche Sentimentalität der
Menschen, die sich eine Zeitgenossenschaft mit Jesus wünschen: »Die
meisten Menschen, die jetzt in der Christenheit leben, leben sicher-
lich dahin in der Einbildung: wo sie gleichzeitig mit Christus gelebt
hätten, hätten sie ihn allsogleich erkannt, der Unkenntlichkeit zum
Trotz« (EC, 130f.).
Der wahrhaft Gleichzeitige (der Christ) ist nicht der historische
Augenzeuge, sondern der Glaubende, und der Sprung des Glaubens
ist angesichts des prinzipiellen Inkognito der Offenbarung für alle
Menschen aller Zeiten gleich schwer.
Es bleibt also festzuhalten: Kierkegaard geht von der Liebe Gottes
aus. Will diese beim Menschen ans Ziel kommen, sich dem Menschen
offenbaren, dann muß sie dies »inkognito« tun - in der Unkenntlich-
keit und Zeichenhaftigkeit der Inkarnation. Der Offenbarungsbegriff
Kierkegaards fordert also grundsätzlich den Begriff des Zeichens, der
Verneinung von Unmittelbarkeit.
Es ist bedauerlich, daß für Kierkegaard der Begriff des Inkognito
und des Zeichens nur negativ gefaßt ist als Verneinung von Unmittel-
barkeit und als Verhüllung des Eigentlichen. Ansonsten hätte sich ihm
der Raum des Sakramentalen als Sprungbrett für die Gleichzeitigkeit
eröffnet. Aber darauf wird noch einzugehen sein.

2. Die Bewegung des Menschen zur Gleichzeitigkeit - das Christwer-


den des Menschen als Sicht der Offenbarung »von unten«

Wie kommt der Mensch der Offenbarung der Liebe Gottes nahe?
Wie wird der Mensch Christ?
Kierkegaard thematisiert diese Frage unter dem Stichwort der
Gleichzeitigkeit. Mit anderen Worten: Die Frage: Wie werde ich

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Offenbarungstheologie Kierkegaards als Theologie der »Gleichzeitigkeit« 491

Christ? ist gleichbedeutend mit der Frage: Wie werde ich gleichzeitig
mit Jesus Christus?
Darin behandelt Kierkegaard das Lessing'sche Problem, wie eine
heutige, gleichzeitige Beziehung zu Jesus Christus möglich ist ange-
sichts des »garstigen Grabens der Geschichte«, der zwischem dem
Heute und dem historischen Jesus von Nazareth liegt.22 Solche
Gleichzeitigkeit mit Jesus Christus ist - nach Kierkegaard - aus zwei
Gründen gefordert: Einmal aus Kierkegaards Wirklichkeitsbegriff
heraus und dann von seinem Christentumsbegriff her:
Denn einerseits ist das Vergangene »nicht Wirklichkeit für mich«
(EC, 71) - nur das Gegenwärtige, das, womit ich gleichzeitig bin, »das
Gleichzeitige ist Wirklichkeit für mich« (EC, 71). Wirklichkeit ent-
spricht Gleichzeitigkeit. Alles, was nicht gleichzeitig ist, kann ich nur
erfassen in der Kategorie der Möglichkeit.23
Andererseits muß Jesus Christus aber Wirklichkeit werden in mir
heute, denn das Christentum bindet die Seligkeit des Menschen an
die Beziehung zu Jesus Christus, also zu etwas Historischem:
Über die ewige Seligkeit des Individuums wird in der Zeit durch das Verhältnis zu
etwas Historischem entschieden, das außerdem solcherart historisch ist, daß in seine
Zusammenset zung das mit aufgenommen ist, was seinem Wesen nach nicht historisch
werden kann, und es also werden muß kraft des Absurden. 24

Da also nur das Gleichzeitige, das Gegenwärtige Wirklichkeit ist für


mich - und die Seligkeit an etwas Historisches gebunden ist, muß es
die Möglichkeit einer Gleichzeitigkeit mit diesem Historischen geben.
Bevor eine direkte Antwort gegeben werden kann, wie solche
Gleichzeitigkeit mit Jesus Christus denkbar ist, muß - wenigstens in
aller Kürze - auf vier zentrale Aspekte des Kierkegaard'schen Ansat-
zes eingegangen werden, die seinen Begriff von Gleichzeitigkeit in
das Gesamt seines Ansatzes einordnen und zusätzlich erhellen:

22
Vgl. AUN 1,97.
23
Das Erfassen in der Kategorie der Möglichkeit ist ungefährlich, weil meine Wirk-
lichkeit unverändert bleibt: »Wenn ich etwas in der Möglichkeit verstehe, so bleibe
ich wesentlich unverändert, bleibe im Alten, und benutze meine Phantasie; wenn es
Wirklichkeit wird, so werde ich verändert, und nun ist die Frage, ob ich mich selbst
bewahren kann.« So: Τ 4,39f. Das schräggedruckte Wort ist im Original gesperrt.
Christwerden aber bedeutet, daß Christus Wirklichkeit werden soll für mich - und
daher ist die Gleichzeitigkeit gefordert.
24
AUN II, 90 - so die Grunddefinition des Christentums in der Unwissenschaftlichen
Nachschrift. Das Zitat ist im Original gesperrt.

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492 Klaus Wolff

1. Wahre Gleichzeitigkeit ist Sache des Existierens, nicht des Den-


kens.25 Die Gleichzeitigkeit ist nicht im Denken zu erreichen, denn
die Offenbarung ist eine Existenzmitteilung, die in der Existenz ange-
nommen und erfüllt werden muß.26 Daher ist der Begriff der Gleich-
zeitigkeit ein besonders theorie-kritischer Begriff, der die Praxisan-
bindung und -Voraussetzung jeder Theorie einfordert. Alles Denken
über Offenbarung ist nur Vorbereitung, das Entscheidende aber muß
gelebt werden - in der Existenz 27
Von diesem praxisorientierten Gleichzeitigkeitsbegriff her ist es
nur verständlich, daß Kierkegaard prophetisch den Wandel des Chri-
stentumsverständnisses vorausgesehen hat - von der Orthodoxie zur
Orthopraxie:
Der Kampf um das Christentum wird nicht mehr ein Kampf bleiben um es als Lehre.
(Dies ist der Streit zwischen Orthodoxie und Heterodoxie). Es wird (veranlaßt auch
durch die sozialen und kommunistischen Bewegungen) um es als eine Existenz ge-
kämpft werden. Die Streitfrage wird die Liebe zum »Nächsten« werden, die Aufmerk-
samkeit wird sich auf Christi Leben richten, und das Christentum wird wesentlich be-
tont werden auch in Richtung der Gleichförmigkeit mit seinem Leben. Die Welt hat
allmählich diese Massen von Sinnentrug und Zwischenwänden verzehrt, durch die
man sich versichert hatte, daß die Streitfrage nur die um das Christentum als eine
Lehre bliebe. Die Empörung in der Welt ruft: Wir wollen Taten sehen. (Γ 4,217)

2. Wahre Gleichzeitigkeit ist Sache der Subjektivität. Die Subjektivität


des einzelnen ist das Entscheidende. 28 Dies bedeutet keinen Subjekti-
vismus Kierkegaards. Im Gegenteil: Die Offenbarung ist für ihn »eine
objektive Bestimmung, ein qualitatives Paradox, das als solches unbe-
weglich feststehen soll« (BtJA, 138). Aber dieses objektive Faktum
der Offenbarung ist eben nur subjektiv zu »erfassen«. Denn dem
Christentum geht es um die ewige Seligkeit des Menschen, und daher
ist entscheidend die »Annahme dieser Wahrheit durch das Subjekt«
(AUN I, 119). Eine Existenzmitteilung kann nur der einzelne in sei-
ner Existenz annehmen, oder sie wird eben nicht angenommen.

25
Vgl. AUN II, 28f., 84 Anm.
26
Vgl. AUN II, 84: »Das Christentum ist nun keine Lehre, sondern drückt einen Exi-
stenzwiderspruch aus und ist eine Existenzmitteilung.«
27
Von daher ist es natürlich nicht ganz unproblematisch, von einer Offenbarungstheo-
logie Kierkegaards zu sprechen, wie es der vorliegende Vortrag tut. Denn es geht
Kierkegaard im letzten nicht um den denkerischen Zugang, sondern um den exi-
stentiellen, weshalb er auch keine Einführung in das Chri stentum geschrieben hat,
sondern betont eine »Einübung im Christentum«!
28
Vgl. AUN 1,194.

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Offenbarungstheologie Kierkegaards als Theologie der »Gleichzeitigkeit« 493

Man kann nie Christ werden, gleichzeitig werden - nur ich kann es.
In diesem Sinn »protestiert das Christentum gegen alle Objektivität«
(AUΝ 1,119).

3. Wahre Gleichzeitigkeit fordert das Selbstwerden des einzelnen, al-


lerdings das Selbstwerden eines einzelnen, dessen Selbst durch die
Sünde gebrochen ist.29 Daher ist das geforderte Selbst-Werden nur
durch Gott möglich (durch die Offenbarung der Liebe und der Be-
gegnung mit ihr), und es geschieht wesentlich »am Objekt«, am Gott-
in-der-Zeit (an Christus). Das christliche Selbstwerden fordert dem-
nach ein Verhältnis zu-etwas-außerhalb-seiner-selbst (nämlich zu
Christus), das aber nicht ästhetisch verlangt, daß der Mensch sich
selbst verlasse, sondern vielmehr behauptet, daß der Mensch in die-
sem Verhältnis-zu-etwas-außerhalb-seiner-Selbst wahrhaft zu sich
selbst findet. An Christus kann der Mensch lernen, daß Gott in sei-
nem Selbst der Mittelpunkt ist - und darin findet der Mensch zu sich
- als dem unverwechselbar einzelnen vor und in Gott.30

4. In der sog. Stadienlehre entwickelt Kierkegaard sozusagen einen


(idealtypischen) Stufenweg31 von Lebensformen, der in der wahren
Gleichzeitigkeit mit Christus (= Religiosität B) seinen Höhepunkt
hat. Wobei zweierlei zu betonen ist: Einmal, daß die höhere Stufe die
jeweils niedrigeren nicht vernichtet, sondern integriert. Zum zweiten
ist zu betonen, daß Kierkegaard die Abgrenzungen - besonders zwi-
schen Religiosität Α und Β - nicht konsequent durchgehalten hat,
sondern seine Aussagen vielfach widersprüchlich sind.32
Man muß diese Stadienlehre im Hinterkopf haben um zu verste-
hen, wie Kierkegaard die wahre Gleichzeitigkeit des Menschen mit
Christus von anderen Lebensformen abzugrenzen sucht.
Die erste Lebensform ist die ästhetische. Hier ist der Mensch vom
Äußeren abhängig, er hat die Bedingung seines Lebens außerhalb

29
Vgl. EC, 155.
30
Kierkegaard wird nicht müde, die Bedeutung des einzelnen herauszustreichen: vgl.
SS, 107f.
31
Der Begriff »Stufenweg« ist insofern unzutreffend, als alle vier Lebensformen in-
einander greifen und das eine im anderen bewahrt bleibt. Trotzdem verdeutlicht
dieser Begriff die Hinführung zum Christwerden (Religiosität B) als dem Höhe-
punkt, auf den Kierkegaards Werk zielt.
32
Vgl. Klaus Wolff Das Problem der Gleichzeitigkeit des Menschen mit Jesus Christus
bei Sören Kierkegaard im Blick auf die Theologie Karl Rahners, Bonner Dogmati-
sche Studien, S. 68f.

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494 Klaus Wolff

seiner selbst, ex-zentrisch, er baut sein Leben auf »etwas«, »eine ein-
zige bestimmte Sache, um die sich alles dreht« (EOl, 195). Deshalb
wird der Ästhetiker auch völlig von der Umwelt bestimmt und geht
völlig im Unmittelbaren auf.
Die zweite Lebensform, die ethische, bedeutet »hinzuarbeiten an
die Stelle, da Dein Leben eigentlich zu Hause ist« (E02, 190).
Ethisch ist das Selbst die Hauptaufgabe. Der Ethiker hat seine Pflicht
in sich. Der Mittelpunkt der Persönlichkeit ist in sich selbst. Während
der Ästhetiker alles aufgibt für »etwas«, gibt der Ethiker alles auf für
sich selbst.
Sehr verwandt dem Ethischen ist die dritte Lebensform, die Reli-
giosität A. Der Fortschritt gegenüber dem Ethischen ist, daß durch
die Religiosität Α das Ethische suspendiert werden kann. Der
Mensch in der Religiosität Α weiß um das einzigartige Verhältnis des
einzelnen vor Gott, das ihn jeder äußeren, ethischen Nachprüfung
entzieht: Ethisch gesehen - so schreibt Kierkegaard - wäre Isaaks
Opferung durch Abraham Mord - religiös gesehen ist sie gefordert,
obwohl vom Allge meinen her verboten.33
Die Religiosität Α ist die bleibende Voraussetzung der Religiosität
B. In der Religiosität Β nun tritt das Paradox auf, daß es einen histo-
rischen Ausgangspunkt für die ewige Seligkeit gibt (Christus), wäh-
rend in der Religiosität Α die Seligkeit überall und nirgends zu fin-
den war.34
In der Religiosität Β wird der Mensch er selbst im Verhältnis-zu-et-
was-außerhalb-seiner-selbst (zu Christus) - allerdings nicht ästhetisch
verstanden!
Bei aller Abgrenzung von Religiosität Α und Β bleibt ihr Verhält-
nis im letzten ungeklärt. Kierkegaards Aussagen hierzu sind wider-
sprüchlich, besonders was die positive oder negative Bewertung der
Religiosität Α betrifft. Wahrscheinlich hat diese Widersprüchlichkeit
mit einem Grundproblem Kierkegaards zu tun, einer letztlich unge-
klärten, ambivalenten Verhältnisbestimmung von Schöpfung und Er-
lösung.
Die Aussagen Kierkegaards lassen weder eine eindeutig positive
noch eine ganz negative Antwort zu. Vielleicht hat Kierkegaard sich
selbst durch seine Frontstellung gegen die Angepaßtheit der Zeit im
Weg gestanden, das Verbindende von Religiosität Α und B, von

33
Vgl. FZ, 60,63f.
34
Vgl. AUN II, 283.

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Offenbarungstheologie Kierkegaards als Theologie der »Gleichzeitigkeit« 495

Schöpfung und Erlösung nüchtern und eindeutig zu sehen und her-


vorzuheben.

Zurück zu der Ausgangsfrage: Wie wird der Mensch gleichzeitig mit


Christus? Die Antwort Kierkegaards lautet: Nur durch den Sprung des
Glaubens - aus einer Situation heraus, die ihn mit dem Ärgernis und
dem Widerspruch der Gleichzeitigkeit (des Inkognito) konfrontiert.
Der Begriff »Sprung« ist mit Sicherheit eine zentrale Kategorie
Kierkegaards.35 Christwerden bedeutet - das will Kierkegaard mit die-
ser Kategorie sagen - eine qualitative Veränderung, ein Wagnis, das
der einzelne in seiner Existenz vollziehen muß und das ihm von
nichts und niemand abgenommen werden kann. Der Sprung meint
das Wagnis des Sich-Anvertrauens, einen unableitbaren Freiheitsafcf
in der Existenz.
Nur im Wagnis des Sprungs findet der Mensch in die Gleichzeitig-
keit mit Jesus Christus, indem er die Wirklichkeit Jesu, die ihm in der
Situation der Gleichzeitigkeit als (Existenz-) Möglichkeit begegnet, in
seine eigene Wirklichkeit (Existenz) übernimmt. Für den Sprung des
Glaubens (der natürlich Gabe Gottes ist,36) der in die Gleichzeitig-
keit führt, kennt Kierkegaard viele Begriffe. Drei zentrale Begriffe
seien genannt: Wiederholung, Nachfolge, Aneignung.
Allen drei Begriffen, die den Sprung des Glaubens verdeutlichen
sollen, ist gemeinsam, daß die wahre Gleichzeitigkeit des Menschen
mit Jesus Christus keine Nachahmung bedeutet, keine Kopie Jesu, son-
dern vielmehr eine paradigmatische Vergegenwärtigung. Klaus Schäfer
hat dies wie folgt auf den Punkt gebracht: »In der Gleichzeitigkeit ist
man nicht zurückversetzt in seine Zeit und Lage, und er ist nicht auf
einmal jetzt wieder da - der Andere ist und bleibt vergangen. Viel-
mehr ist man in derselben Weise sich selbst gegenwärtig, wie er es
wurde und war.«37
Nachfolge Jesu meint ein paradigmatisches Existieren, nämlich: In
meiner Existenz - wie Jesus von Nazareth in seiner - mich absolut zu
Gott und relativ zur Welt zu verhalten. Damit wird der geschichtliche
Abstand und die Differenz der geschichtlichen Situation durch die

35
Vgl. Klaus Schäfer Hermeneutische Ontotogie in den Climacus-Schriften Sören Kier-
kegaards, München 1968, S. 233; vgl. AU Ν 1,97.
36
Vgl. PB, 104. Die Gabe der Bedingung ist immer Gabe Gottes. Deshalb ist der Jün-
ger immer nur Gott alles schuldig.
37
Vgl. Klaus Schäfer Hermeneutische Ontotogie in den Climacus-Schriften Sören Kier-
kegaards, S. 183f.

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496 Klaus Wolff

Gleichzeitigkeit nicht verwischt. Gefordert ist eine mutige Übertra-


gung (im Heiligen Geist), die letztlich nur gelingen kann, wenn ich
mich selbst - und mein Verhalten - in meiner Existenz verstehe.
Auch der Begriff »Aneignung« (EC, 204f.) darf nicht als rein passi-
ve Rezeption Christi verstanden werden, sondern meint vielmehr
eine kreative Übernahme. Diese Kreativität der Aneignung verdeut-
licht Kierkegaard an Abraham: Wahre Gleichheit und Gleichzeitig-
keit mit Abraham erlangt man nicht, indem man sein Kind opfert,
sondern allein in dem Glauben, der dieser Tat zugrundelag.38
Die Aneignung (Jesu Christi) vollzieht sich nach dem bei Kierke-
gaard häufig begegnenden Schema Wirklichkeit - Möglichkeit -
Wirklichkeit.39 Um sich eine Wirklichkeit existentiell anzueignen -
und darum geht es bei der wahren Gleichzeitigkeit mit Jesus Christus,
bedarf es einer Übertragung dieser Wirklichkeit in die Kategorie der
Möglichkeit - kein Mensch kann die Wirklichkeit eines anderen als
»Wirklichkeit« verstehen, sonst wäre die Existenz austauschbar - und
anschließend wieder einer Übertragung (eines Sprungs) von der
Möglichkeit in die eigene Wirklichkeit.
Die Zwischenstation der Möglichkeit ist das, was Kierkegaard als
Situation der Gleichzeitigkeit faßt. In dieser Situation begegnet der
Mensch der Existenz (und dem Existenzwiderspruch) Jesu Christi als
Möglichkeit und ist aufgefordert, diese Möglichkeit in seiner Existenz
Wirklichkeit werden zu lassen.
Es ist zu beachten, daß sich der Sprung des Glaubens in die wahre
Gleichzeitigkeit immer nur aus einer Situation der Gleichzeitigkeit
heraus vollzieht. Situation der Gleichzeitigkeit meint eine Situation,
die den Menschen mit demselben Paradox des Zeichens, demselben
Inkognito der Offenbarung Gottes konfrontiert - wie der historische
Zeitgenosse Jesu durch Jesus von Nazareth selbst konfrontiert wurde.
In der Situation der Gleichzeitigkeit wird der Mensch automatisch in
die Entscheidung gezwungen, vor die Wahl gestellt - entweder die
Unmittelbarkeit zu verneinen und im Sprung des Glaubens das »Da-
hinter«, das Zeichen zu erkennen oder Ärgernis zu nehmen am Para-
dox, am Widerspruch der Inkarnation: »Nein, die bestimmte Lage ge-
hört mit zum Gott-Menschen, die bestimmte Lage, daß ein einzelner
Mensch, der neben dir steht, der Gott-Mensch ist« (EC, 85).

38
Vgl. FZ, 28.
39
Vgl. Per Linning Samtidighedens situation. En Studie i S0ren Kierkegaards krisen-
domsforstaelse. Mit einer deutschen Zusammenfassung, Oslo 1954, S. 172.

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Offenbarungstheologie Kierkegaards als Theologie der »Gleichzeitigkeit« 497

Auch die Situation der Gleichzeitigkeit bedeutet keine absolute


(historische) Gleichheit der Situation, sondern bedeutet die qualitativ,
paradigmatische Gleichheit der Situation im Hinblick auf die Ent-
scheidung, vor die die Menschen zur Zeit Jesu gestellt waren. Daß es
bei der Situation der Gleichzeitigkeit auf die gleich strukturierte Ent-
scheidungssituation ankommt, wird noch einmal deutlich in der Aus-
sage Kierkegaards, der Tod sei die Situation schlechthin für das
Christwerden, der Tod sei die absolute Situation der Entscheidung:
Was macht denn den Tod zur »Situation« für das Christwerden? Es ist das Abschlie-
ßend'e und das Abgeschlossene, daß es nun vorbei ist; das hilft dazu, unbedingt auf das
Unbedingte zu bieten [...] Selbst in bezug auf den wahrsten und ernsthaftesten Chri-
sten, der je gelebt hat, wird es doch so sein, glaube ich, daß es erst bei seinem Tode
unbedingt wahr würde, daß er Christ ist. [...] Wir Menschen bedürfen der Unterstüt-
zung: und im Augenblick des Todes wird einem Menschen durch die Situation dazu
geholfen, das Wahrste zu werden, was er werden kann. [...] Alle, alle sind sie abgefal-
len, selbst der Apostel hat Christus verleugnet - der einzige mit Christus gleichzeitige
Christ war der Schacher am Kreuz - so, wenn ich so sagen darf, unendlich viel zu hoch
ist das Christentum für die Menschen, daß (wenn die Situation die anstrengendste ist,
nämlich Gleichzeitigkeit mit Christus) bei lebendigem Leibe nicht einmal der Apostel
mit Christus aushalten kann. Nur einem Schächer - einem sterbenden Schacher, nur
ihm hilft das Bewußtsein der Sünde und die Situation des Todes dazu, Christus festzu-
halten. (T 4,168)

Voraussetzung wahrer Gleichzeitigkeit ist es also, in eine Situation ge-


stellt zu werden, in der ich qualitativ vor demselben Widerspruch stehe
wie die Menschen zur Zeit Jesu und ich qualitativ in dieselbe Entschei-
dung gestellt werde.
Bedauerlicherweise hat S0ren Kierkegaard den großartigen Ge-
danken der Situation der Gleichzeitigkeit, die nicht selbst die Gleich-
zeitigkeit ist, aber die sehr wohl das Sprungbrett für den Sprung des
Glaubens bereitet, nicht positiv weitergedacht - im Sinne einer Wert-
schätzung der »Zwischenstatione« oder »Sprungbretter« für die
Gleichzeitigkeit wie Heilige Schrift, Tradition, Kirche, Sakramente.
Daß er dies nicht getan hat, mag drei Hauptgründe haben: einen bio-
graphischen, einen zeitgeschichtlichen und einen theologischen.
Biographisch schlägt bei Kierkegaard immer wieder ein ungeheu-
rer Idealismus - fast zwangsläufig verbunden mit einem tiefen Pessi-
mismus - durch.40

40
Vgl. Knud Hansen »Der andere Kierkegaard. Zu S0ren Kierkegaards Chri-
stentumsverständnis« in Sören Kierkegaard, WdF 179, hrsg. von Heinz-Horst Schrey,
Darmstadt 1971, S. 123; vgl. Anna Paulsen »Noch einmal der andere Kierkegaard«
in Sören Kierkegaard, S. 151.

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498 Klaus Wolff

Dieser Idealismus machte es ihm in der Frontstellung zur »ange-


paßten Christenheit« seiner Zeit fast unmöglich, die positiven Ansät-
ze und Situationen der Gleichzeitigkeit in seiner zeitgeschichtlichen
Lage zu sehen. Vor dem (unrealistischen) Ideal, das er vom neutesta-
mentlichen Christentum aufbaute, konnte alles Bestehende nur ent-
wertet und als »Abfall vom Christentum« {A, S. 44), als »Verbrechen«
(A, 73) eingestuft werden.
Ausschlaggebender Grund neben dieser biographisch-zeitgeschicht-
lichen Konstellation dürfte aber bei Kierkegaard auch die theologi-
sche Bestimmung des Verhältnisses von Schöpfung und Erlösung, von
Mensch- und Christsein sein.
Auch hier wäre es natürlich interessant, das Thema der Abhängig-
keit der Theologie von der Biographie bei Kierkegaard anzugehen,
was im Rahmen dieses Vortrags natürlich nicht möglich ist. Nur so-
viel sei gesagt: Die traditionell evangelische überwiegend negative
Einschätzung des Verhältnisses von Schöpfung und Erlösung im Sinn
der Betonung eines Gegensatzes von Mensch-und Christsein paßt na-
türlich zu Kierkegaards Biographie und zu seinem eigenen menschli-
chen Pessimismus sehr gut.
Nichtsdestotrotz stellt die Bestimmung des Verhältnisses von Schöp-
fung und Erlösung den Angelpunkt dar, warum Kierkegaard den Ge-
danken der Situation der Gleichzeitigkeit nicht positiv weiterdenken
konnte - der ihn - weitergedacht - möglicherweise aus dem über-
spitzten Konflikt mit der Kirche herausgeführt hätte. Hätte Kierke-
gaard die Kirche damals als Situation der Gleichzeitigkeit verstanden
(die das Sprungbrett für den einzelnen bereiten kann!), er hätte sie
vielleicht in dieser Schärfe nicht überschätzen und angreifen müssen,
auch wenn hier natürlich der prophetische Mut Kierkegaards, als ein-
zelner dem Bestehenden im Kirchenangriff den Spiegel vorzuhalten,
in keiner Weise entwertet werden soll.

III. Der Begriff »Sakrament« als Schlüssel zu einem katholischen


Weiterdenken des Kierkegaard'schen Verhältnisses von Offenbarung
und Gleichzeitigkeit

In dem folgenden Kapitel soll ein gewagter Versuch unternommen


werden. Nämlich: die Ansätze Kierkegaards zur Gleichzeitigkeit un-
ter verändertem Vorzeichen weiterzudenken. Wie wäre es, wenn man
das, was Kierkegaard - unter dem negativen Vorzeichen des Verhält-
nisses von Schöpfung und Erlösung - zu Offenbarung, Gleichzeitig-

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Offenbarungstheologie Kierkegaards als Theologie der »Gleichzeitigkeit« 499

keit und Situation der Gleichzeitigkeit sagt, einmal mit einem positi-
ven Vorzeichen bei der Verhältnisbestimmung von Schöpfung und
Erlösung neu betrachtet?
Für S0ren Kierkegaard ist Offenbarung Gottes - Bewegung Gottes
zur Gleichzeitigkeit - nur »inkognito« möglich, nur im Zeichen, das
die Unmittelbarkeit zu überschreiten auffordert.
Während Kierkegaard das Inkognito und das Zeichen, in dem Gott
sich offenbart, nur negativ verstanden hat (als Verhüllung des Eigent-
lichen, als Verneinung des Unmittelbaren), könnte man -wenn man
(katholisch) von einer Einheit von Schöpfung und Erlösung ausgeht
- das Inkognito und das Zeichen auch positiv bestimmen im Sinne
des Sakraments (Symbols) - als Selbst-Ausdruck im anderen.41 Die
Menschheit Jesu wäre dann der Selbst-Ausdruck Gottes in dieser
Welt.
Der Vorteil des Sakramentenbegriffs ist, daß er die Doppelheit von
Nähe und Distanz, von sichtbarem Zeichen und Bezeichnetem wahrt -
und demnach die Nähe und die Fremdheit der Offenbarung zum
Ausdruck bringt. Die Offenbarung Gottes erscheint dann nicht als
das gegenüber der Schöpfung total Fremde und Unbegreifliche, son-
dern knüpft bei ihr an. Grundsätzlich würde ein solches Verständnis
klarmachen, daß christliche Offenbarung (Gleichzeitigkeit) immer sa-
kramental geschieht, immer in Form von menschlichen Zeichen, und
daß es die grundsätzliche Notwendigkeit einer solchen welthaften
Vermittlung zur Begegnung mit dem Geheimnis Gottes gibt. Wo der
Glaube eine solche Vermittlung gänzlich bestreiten würde, bestünde
zumindestens die Gefahr der Un-Menschlichkeit und Welt-losigkeit.
Ein zweiter Vorteil dieses Gedankengangs wäre die Identifikations-
möglichkeit der Situation der Gleichzeitigkeit mit dem Sakrament.
Das Sakrament - als Zeichen, das auf ein (unsichtbares) Bezeichne-
tes verweist - hat genau die Struktur, die Kierkegaard der Situation
der Gleichzeitigkeit zuschreibt: Es konfrontiert den Menschen mit
einer Situation, in der er entweder mit den Augen des Glaubens die
Unmittelbarkeit überschreitet oder Ärgernis nimmt daran, daß etwas
scheinbar nur Menschliches, Weltliches göttliche Tiefe haben soll. Von
daher könnte man - wie es die katholische Theologie im Anschluß an
das II. Vatikanische Konzil tut42 - Christus, Kirche, Hl. Schrift und Sa-

41
So z.B. bei Karl Rahner »Zur Theologie des Symbols« in Ders. Schriften zur Theolo-
gie 4. Neuere Schriften, Einsiedeln Zürich Köln 5/1967, S. 275-311.
42
Vgl. VatII/LG 1.

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500 Klaus Wolff

kramente allesamt sakramental verstehen - als (natürlich untereinan-


der gestufte) Situationen der Gleichzeitigkeit.
Damit wäre sowohl deren positive Bedeutung als auch die notwen-
dige Relativierung gewahrt, denn das Sakrament bietet einerseits im
Zeichen immer das Bezeichnete, andererseits aber ist das Bezeichne-
te mit dem Zeichen niemals absolut identisch, sondern geht über es
hinaus und ist auch unabhängig vom Zeichen zu »haben«.
Christus, Kirche, Schrift und Sakramente wären damit als Zwi-
schenstationen begriffen, die dem einzelnen niemals den Sprung des
Glaubens abnehmen können, die ihn aber mit der Situation der
Gleichzeitigkeit konfrontieren und ihm so das Sprungbrett für den
ur-persönlichen Sprung in die Gleichzeitigkeit bereiten.
Ja, man könnte wahrscheinlich noch einen Schritt weitergehen -
und unter der Prämisse der Einheit von Schöpfung und Erlösung -
die gesamte menschliche Existenz sakramental - als Situation der
Gleichzeitigkeit - verstehen. Denn auch das scheinbar ganz Menschli-
che, Alltägliche wäre dann sakramental, Zeichen für die eine Liebe
Gottes, die der Grund für Schöpfung und (!) Erlösung ist, und zu be-
greifen als die Situation, die mich auffordert, meine Existenz glau-
bend als Zeichen solcher Liebe anzunehmen oder Ärgernis zu neh-
men an meiner Menschlichkeit und Existenz.
Damit wäre die Situation der Gleichzeitigkeit nicht mehr ideali-
stisch, sondern wahrhaft existentiell, alltäglich verstanden - was ei-
gentlich auch im Sinne Kierkegaards sein müßte.

IV. Hinführung zur Gleichzeitigkeit und Kommunikation


der Offenbarung heute - die Chance eines sich selbst als sakramental
begreifenden Christentums

Für S0ren Kierkegaard war der Gleichzeitigkeitsbegriff ein im wahr-


sten Sinn des Wortes pastoraler Begriff,43 der Antwort war auf eine
bestimmte Praxis der Christenheit damals, der diese Praxis der Chri-
sten kritisch beleuchten wollte und zu einer anderen Praxis hinführen
sollte. Kierkegaard versuchte, zu dieser neuen Praxis hinzuführen
durch seine indirekte Methode seiner Werke, mit der er die Men-
schen in die wahre Gleichzeitigkeit »hineintäuschen« wollte und die

43
Im Sinne des II. Vatikanischen Konzils: Vatll/GS 1 und 4; vgl. zum Begriff >pastoral<
Elmar Klinger Armut. Eine Herausforderung Gottes. Der Glaube des Konzils und
die Befreiung des Menschen, Zürich 1990, S. 98-101.

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Offenbarungstheologie Kierkegaards als Theologie der »Gleichzeitigkeit« 501

er als die geeignete Kommunikation der Offenbarung für die damali-


gen Menschen ansah.
Vor dem Hintergrund der heutigen Praxis der Menschen - zumin-
destens in Mitteleuropa - stellt sich die Frage, welche Form der Kom-
munikation der Offenbarung und Hinführung zur Gleich zeitigkeit
sich heute nahelegt?
Mit Sicherheit ist die indirekte Methode, das Abholen der Men-
schen da, wo sie stehen, eine Form der Offenbarungskommunikation,
die heute - angesichts des Zerbrechens von selbstverständlicher Tra-
dition, Autorität und Institution - aktueller ist denn je. Wenn man
aber die Menschen da abholen will, wo sie stehen, muß man die Zei-
chen der Zeit, von denen sie bestimmt werden, richtig einschätzen.
Ob Kierkegaard die damaligen Zeitzeichen richtig eingeschätzt hat,
mag dahingestellt bleiben.
Für heute kann man u.E. auf jeden Fall als ein markantes Zeitzei-
chen einen großen Symbolhunger der Menschen feststellen - einen
Symbolhunger, den die Menschen vielfach außerhalb der traditionel-
len Glaubensgemeinschaften stillen, sei es in Konsum, in Esoterik, in
Sekten, in massenmedialer Form oder sonstwie. Aber auch die Men-
schen innerhalb der Glaubensgemeinschaften spüren im Gegensatz
zum Rationalismus früherer Tage, daß das Symbol für den Zugang
zum Geheimnis des Lebens eine entscheidende Rolle spielt.
Gerade angesichts einer solchen Praxis müßte das Christentum - um
der Gleichzeitigkeit willen und der Menschen willen, denen es das
Sprungbrett bereiten soll - sich seiner selbst bewußt sein, seine riesi-
gen Chancen begreifen, gerade weil es in seiner sakramental-symboli-
schen Wirkweise und Mächtigkeit eigentlich genau dem entspricht,
wonach die Menschen suchen. Wenn die Gleichzeitigkeit nur sakra-
mental kommuniziert werden kann, müßte der Umgang mit dem Sa-
kramental-Symbolischen in den Kirchen ein ganz anderer sein als er
jetzt ist - ein viel bewußterer und tieferer.
Von daher ist Theologie und Praxis des Symbols das pastorale Ge-
bot der Stunde.
Das Bewußtmachen, Beleben und Leben der grundsätzlich sakra-
mental-symbolhaften Strukturen alles Christlichen und der Vermitt-
lung der Offenbarung überhaupt wäre der zeitgerechte Beitrag der
Kirchen zu einer Gleichzeitigkeit der heutigen Menschen mit Jesus
Christus.

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