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Erfahrungsbericht einer Fachärztin: Ali und das Alter

philosophia-perennis.com/2019/05/09/erfahrungsbericht-einer-fachaerztin-ali-und-das-alter/

PP-Redaktion

Ist es nicht das größte Verbrechen, wenn Menschen über andere Menschen
entscheiden und Biographien, Leben ändern, vor allem dann, wenn nicht viel aus dem
vorherigen Leben da ist außer wenigen Zahlen? Ist Geld wichtiger als die Wahrheit in
Deutschland 2019? Warum soll eine Altersfeststellung nicht durchgeführt werden,
wenn das in erster Linie dem Schutz der Betroffenen und ihrer Biographien, ihrer
Identität dient? Ein Gastbeitrag von Dr. Ileana Vogel

Vorbemerkung (Red.): Dr. Ileana Vogel (Foto


l.), gebürtige Rumänin und
praktizierende Fachärztin für Orthopädie und
Unfallchirurgie in Deutschland ist Teil der
„Initiative an der Basis mit Flüchtlingen und
Migranten“, über die wir bereits mehrfach hier
berichten konnten: Engagierte, die haupt- oder
ehrenamtlich mit Geflüchteten und Menschen
mit Migrationshintergrund arbeiten teilweise
selber einen Migrationshintergrund haben. So
auch Dr. Vogel, die an der Entstehung des
manifestartigen, fast 50 Seiten langen “work-in-
progress”- Forderungskatalog mitarbeitete. Von
ihr stammt der folgende, spannende und
wachrüttelnde Text, den wir mit Erlaubnis der
Initiative hier veröffentlichen:

Die Geschichte eines jungen Teenies im


“Medien-Alter” liest sich einfach und
unkompliziert, keine großen Erfahrungen,
nur Geburtstag, Geburtsort, Grundschule,
Eltern, Geschwister, eine ganz normale
Datensammlung, in Stein gemeißelt bzw. in
der Cloud gespeichert.

Nicht bei Ali.


Ali kommt aus Syrien. Ali ist vor dem Krieg geflohen, vor der menschlichen Bosheit und Gier.
Er hatte keine andere Chance. Das einzige, was er aus seinem alten Leben mitnehmen
konnte, ist seine kleine Datensammlung, Erinnerungen, seine Eltern, seine Gesundheit. Das
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ist nicht viel und üppig, aber es reicht, und das Leben kann ja so wundervoll und leicht sein
ohne die Angst und den Tod vor Augen.

Wegen einer gesundheitlichen Kleinigkeit suchte Ali mich 2013 auf. Die medizinische Lösung
war einfach, wenn einfach für sowas zutrifft. Alles verlief auf Englisch, die üblichen
belanglosen Fragen in die Cloud „gemeißelt“, Krankenkassenkarte sei Dank: Alter,
Beschwerden, Unfälle etc. mit ebenso lustig gestalteten Antworten in Denglisch, und wenn
die Sprache nicht ausreichte, dann verständigten wir uns mit Armbewegungen. Ali war ein
lustiger Teenie mit den gleichen Interessen wie jeder andere 13-Jährige seines
Geburtsjahres. Die Mutter war dabei, aber sprachlich musste Ali alles übersetzen, so wie
viele Kinder von ausländischen Eltern, die eine zu große Verantwortung für Ihre Eltern früh
übernehmen. Der Abschied war auf gebrochenem, versuchtem Deutsch, verbunden mit der
Empfehlung Sport zu machen und irgendwann wieder zu kommen.

Zwei Jahre später kam Ali wieder, für mich irgendwie überraschend. Wenige Teenies in dem
Alter erinnern sich an die Empfehlungen eines biederen, fremden deutschen Arztes. Wieder
die gleichen Fragen: Alter, Beschwerden, Unfälle, auf Deutsch, gebrochen, die Mutter
besorgt wie schon vor 2 Jahren wieder mit dabei, der er wie beim letzten Mal immer
übersetzen sollte.

Ach! Stopp! Ali war immer noch 13, gleiche Krankenkasse,


andere Karte, anderes Alter, gleicher Ali.
Meine Verwirrung war komplett, aber weil ich dem Jungen Vertrauen schuldig war,
schließlich hatte er auch Vertrauen zu mir und kam wieder, fragte ich ihn, ob er immer
noch der Gleiche sei? Schließlich waren die wenigen Mitbringsel aus der Heimat nur dieses
Paket an Daten, Geburtsort, Geburtsdatum und Eltern gewesen.

Ali, schaute mich mit großen braunen Augen an und erklärte mir, das hätten die vom Amt
vorgeschlagen wegen Kindergeld und so… Die Mutter saß daneben und wartete geduldig
auf die Übersetzung. Diese Frau wusste nicht, was mir gerade unverblümt gesagt wurde.

Diese Antwort ließ mich kurze Zeit sprachlos und ich versuchte für Ali eine tragbare Lösung
zu finden. Jetzt hatte dieser Junge Krieg überstanden, und das einzige, was er mitbringen
konnte, war seine Identität, mit Geburtsort, Geburtsjahr und Eltern, und plötzlich wurde
ihm das auch genommen. Von wem? Von einem anderen Menschen in einem anderen
Land, der sich keineswegs über die Konsequenz seines Handelns im Klaren war. War das
Alis erste Lektion in Deutschland? Für Geld ändert man alles: Biographien und Leben,
einfach so auf Papier? Wie die Krankenkasse diese Änderung mit gleichen Daten
durchgeführt hatte, interessierte mich erstmal gar nicht, wer weiß.

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Der hochgewachsene Junge hätte schon längst im Fitnessstudio sein können, aber mit 13
ging das nicht. Dadurch wurde seine Gesundheit nicht besser, sondern schlechter, weil er
jünger gemacht worden war. Wusste er, dass sein Arbeitsleben um 2 Jahre verlängert
wurde, vielleicht seine Schulzeit und seine Biographie geändert wurden, war ihm das klar?
Wollte er sich mit viel Jüngeren sein Wissen in der Schule langsamer aneignen, war ihm das
nicht langweilig?

Er selbst flehte mich an, ihm ein Attest zu schreiben, so dass er sich im Fitnessstudio
anmelden kann, er sei schließlich schon 15. Die Mutter war passiver Zuschauer und ich
konnte nur die Sorgen aus den Augen ablesen. Das Dilemma hatte nun ich, Vertrauen gegen
Wahrheit – ein ziemlich harter “Währungstausch“. Mir war nichts klar: Was soll ich tun?

Plötzlich kamen die Erinnerungen wieder, an die Flüchtlinge im Jahr 2000. Damals, als junge
Assistenzärztin noch in einem anderen Bundesland, musste ich Altersfeststellungen an
jungen Asylbewerbern durchführen. Diese waren Pflicht und wurden dementsprechend
durchgeführt. Es waren meistens junge Südosteuropäer, mit denen ich einen Teil der
Biographie – ich bin nur unter Flüchtlingen groß geworden – gemeinsam hatte. Diese jungen
Menschen nahmen die Untersuchung traurig, aber gelassen hin, keiner fragte warum, und
die meisten hatten vieles mit meinem Ali heute gemeinsam.

Geflohen vor dem Kommunismus und den Folgen, das war wie Krieg über
Jahrzehnte, suchten sie die Sicherheit und das Leben und das Glück in einem fremden Land,
mit nichts anderem im Gepäck als Geburtsort, Geburtsjahr und ohne Eltern. Keiner kam mit
Eltern an, das war ein großer Unterschied. Die Altersfeststellung war damals keine
alltägliche Untersuchung und es war interessant, die Biographien dieser Jugendlichen
wiederherzustellen. Klar, war auch da oft Geld im Spiel, Kindergeld, damals war das
deutsche Kindergeld mehr, als 2 Erwachsene an Lohn bekommen haben für einen Monat in
Bulgarien oder Rumänien. Die Entscheidung wurde immer zugunsten des niedrigeren
Alters getroffen, so zumindest laut wissenschaftlichen Arbeiten.

Die Untersuchung zur Altersfeststellung wurde damals 2000 vom Land angeordnet und
durchgeführt, und keiner dieser Jungs hatte etwas dagegen, so war es halt in einem
Rechtsstaat.

Und nun? Könnte ich das Ali 13 Jahre später vorschlagen?

War das die Lösung?


Nein, das ging gar nicht, was müsste ich mir anhören, wenn ich das getan hätte? Die
Zeitungen waren voll von Kommentaren, Altersfeststellung ist nicht möglich, die Ärzteschaft
ist dagegen, die gleiche Ärzteschaft, die vor 13 Jahren diese Altersfeststellung durchgeführt
hatte, erinnerte sich nicht mehr daran, die gleiche Gesellschaft wie vor 13 Jahren anders
darüber dachte ?
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Wirklich? Immer und immer wieder stellte ich mir die gleiche Frage, warum diese
sonderbare Änderung? Lag es an den Jungs? Lag es an der Politik? Schließlich fasste ich
schweren Herzens den Entschluss, Ali die Wahrheit zu sagen. Ich sagte ihm, dass jemand
das Einzige, was er noch mitgebracht hatte, verändert hat: Seine Biographie, und das für ein
paar Groschen mehr vielleicht. Ich klärte ihn auf, was das für ihn bedeutet: Rente, Schule,
Arbeit und die Möglichkeit, das Alter zu überprüfen. Langsam begann er Angst zu haben,
und die Mutter war nicht wirklich eine Hilfe, die Übersetzung wurde weniger. Die Augen
waren ängstlicher und trauriger, das wollte ich nicht. Ich habe Ali das Attest gegeben, ich
weiß nicht, ob er es jemals benutzt hat. Er war froh, sehr froh und erleichtert, er bedankte
sich herzlich für meine Erklärungen. Das hatte keiner so zu ihm gesagt und seine Mutter
konnte ihm nicht helfen. Ich versprach, ihm die Entscheidung zu überlassen, wie alt er sein
wollte oder sollte.

Einige Fragen sind geblieben: Ist es nicht das größte Verbrechen, wenn Menschen über
andere Menschen entscheiden und Biographien, Leben ändern, vor allem dann, wenn nicht
viel aus dem vorherigen Leben da ist außer wenigen Zahlen? Ist Geld wichtiger als die
Wahrheit in Deutschland 2019? Warum soll eine Altersfeststellung nicht durchgeführt
werden, wenn das in erster Linie dem Schutz der Betroffenen und ihrer Biographien, ihrer
Identität dient?

Warum war das vor 13 Jahren in Deutschland möglich und menschlich – und jetzt nicht?

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Der Beitrag erschien zuerst auf der Internetseite der „Initiative an der Basis mit Flüchtlingen
und Migranten“

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