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Peter Trawny
RoteReihe
KlostermannRoteReihe 104
Klostermann
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Peter Trawny · Der frühe Marx und die Revolution
Peter Trawny
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Originalausgabe
1. Vorlesung
Die Symbiose von Denken und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2. Vorlesung
Hegel, Feuerbach und die Religionskritik aus der
Umkehrung von Prädikat und Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
3. Vorlesung
Auf der Suche nach der revolutionären Klasse . . . . . . . . . . . . . 36
4. Vorlesung
Der Übergang zur Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
5. Vorlesung
Das Geld in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
6. Vorlesung
Marx und die »Judenfrage« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
7. Vorlesung
Zur Entfremdung bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
8. Vorlesung
Zur Entfremdung bei Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
9. Vorlesung
Arbeit und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
10. Vorlesung
Arbeitsteilung und Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
8 Inhalt
11. Vorlesung
Die »revolutionäre Praxis« und der Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
12. Vorlesung
Zur Revolution 1 / Das Unerträgliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
13. Vorlesung
Zur Revolution 2 / Das Ende der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . 145
Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
1. Vorlesung
Die Symbiose von Denken und Leben
1 Jonathan Sperber: Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert. C. H.
Beck: München 2013, S. 11.
2 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hrsg. von Günther Bien. Felix
Meiner Verlag: Hamburg 1985, 1178 b 33.
10 1. Vorlesung
Denkens das Leben und seine realen Ansprüche hinter sich gelassen.
Und das sogar im besonderen Sinne, denn Marx war niemals ein Pro-
fessor, er hat an keiner Universität oder Schule gelehrt. Er hat ganz
offenbar die Philosophie nicht als ein Metier aufgefasst, mit dem
man sein Überleben fristen kann. Marx’ Denken im Kontext sei-
nes Lebens zu betrachten, scheint einer essentiellen Motivation des
Philosophierens, den Anspruch des Lebens auf die bedeutungslose
Befriedigung der Bedürfnisse zu beschränken, zu widersprechen.
Doch so einfach ist die Sache nicht. Der Biograph Jonathan Sper-
ber behauptet, dass es zwischen Marx’ Ideen und seinem Leben ei-
nen Zusammenhang gibt. Er sagt darüber hinaus, dass diese Ideen
nur zu verstehen seien, wenn das Verhältnis von Denken und Leben
berücksichtigt wird. So gesehen scheint es also eine Verflechtung
von Philosophie und Leben, ja von Philosophie und Überleben zu
geben, die in der Tätigkeit des Philosophierens selbst sich nieder-
schlägt. Leben und Überleben zeigen sich im, ja als Denken.
Ein Zeitgenosse von Karl Marx, Friedrich Nietzsche, hat viel-
leicht als erster auf das Verhältnis von Biographie und Philosophie
hingewiesen. Er sagt in »Jenseits von Gut und Böse« (1886), dass
es beim »Philosophen ganz und gar nichts Unpersönliches« gebe.3
Das ist keine Nebenbemerkung. Nietzsche spricht von einer »Psy-
chologie« als einer »Morphologie und Entwicklungslehre des Wil-
lens zur Macht«, wonach das, »was bisher geschrieben wurde, ein
Symptom von dem« sei, »was bisher verschwiegen wurde«.4 Das
bedeutet, dass es in den philosophischen Texten etwas gibt, worüber
die Philosophen nicht reden, was sie »verschweigen«. Und das Ge-
schriebene sei ein »Symptom«; etwas, was mit einem anderen er-
scheint, mit ihm zusammenfällt, dieses andere anzeigt, aber nicht
dieses andere ist. Das heißt aber, dass dieses andere, das sich nicht
zeigt, das verschwiegen wird, durch das Symptom zugänglich wird.
Das, was nach Nietzsche von den Philosophen verschwiegen wird,
sei der »Wille zur Macht«. Die Philosophen wollen Macht, sie wol-
len mit Macht z. B. Gesetze geben, sie wollen Einfluss, Bedeutung,
3 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Sämtliche Werke. Kri-
tische Studienausgabe (KSA). Bd. 5. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino
Montinari. De Gruyter Verlag / DTV: Berlin, New York u. München 1980,
S. 20.
4 Ebd., S. 38.
Die Symbiose von Denken und Leben 11
Erfolg. Sie verschweigen das aber, weil es als schlecht und böse be-
trachtet wird.
Ich halte diese Psychologie für nicht sehr weitreichend, was aber
nicht heißt, dass ich überhaupt die Psychologie oder Psychoana-
lyse in Bezug auf die Philosophie für abwegig halte. Im Gegenteil,
wenn das Philosophieren aus einer bestimmten Motivation kommt,
die etwas mit der Lebenserfahrung des Philosophen – mit seinem
Überleben – zu tun hat, dann kann auch die Psychologie etwas dazu
sagen. Allerdings ist die Psychologie eben ein spezifischer Diskurs,
den ich, als Philosoph, nicht beherrsche. Daher werde ich bei der
Philosophie bleiben.
(Übrigens: Marx wird 1818 in Trier geboren, stirbt 1883 in Lon-
don; Nietzsche wird 1844 in Röcken bei Naumburg geboren, stirbt
1900 in Weimar. Bemerkenswert: Sie sind sich niemals begegnet, ha-
ben sich niemals einen Brief geschrieben, haben in ihren Werken
niemals den Namen des anderen erwähnt – haben sie sich also nicht
gekannt? Das ist im Falle Nietzsches wohl kaum möglich, da er sich
zuweilen zum »Sozialismus« und über die »Kommunisten« äußert,
ohne sich jemals ausdrücklich auf Marx (oder Engels) zu beziehen.
Bei Marx gibt es nichts, was darauf schließen lässt, dass er Nietzsche
gekannt hätte. Man stelle sich das einmal vor: Das wäre beinahe so,
als würden heute Peter Sloterdijk und Richard David Precht nichts
voneinander gehört haben – ich halte übrigens den einen, Sloterdijk,
für einen Philosophen, den anderen eher nicht. Die medial orga-
nisierte Öffentlichkeit zur Zeit von Marx und Nietzsche – in der
»industriellen Revolution« – stand erst am Anfang ihrer Entwick-
lung, ließ einem diese Freiräume der Ignoranz; sie war noch nicht
von wichtigen und überflüssigen Informationen angefüllt wie heute.
Ich verweise darauf, damit Sie einen Eindruck vom Unterschied des
19. Jahrhunderts zum 20. und 21. Jahrhundert bekommen.)
Worum es mir zunächst geht, ist, festzuhalten, dass das Philoso-
phieren einen lebensgeschichtlichen Hintergrund hat, dass also ein
»unpersönliches« Philosophieren letztlich unmöglich ist. Aber man
muss das Problem der Lebenserfahrung anders fassen als so, dass
man sagt: hier ist die Lebenserfahrung und daraus kommt irgend-
wie – gar noch kausal-determiniert die Motivation zur Philosophie.
Es gibt vielmehr eine wechselseitige Beziehung zwischen Philoso-
phie und Leben. Die Lebenserfahrung steht schon im Einfluss der
12 1. Vorlesung
5 Schon hier möchte ich einen Einwand vorwegnehmen: Die These der
Sym-Bio-Graphie klingt so, als würde sie den gerade von Marx betonten
Vorrang der Wirklichkeit vor dem Denken ignorieren. Das ist nicht der Fall.
Denn dieser Gedanke vom Vorrang der Wirklichkeit, dem ich zustimme,
meint nicht, dass die Wirklichkeit unbeeinflussbar und demnach unberühr-
bar wäre. In einem dialektischen Verhältnis reagiert sie auf Gedanken, die
sie selber evoziert hat. Dazu später mehr.
Die Symbiose von Denken und Leben 13
6 In Bonn sollte dreißig Jahre später auch Nietzsche studieren, und zwar
klassische Philologie und protestantische Theologie.
14 1. Vorlesung
Realität legte das nicht nahe. Die Welt sah doch anders aus. Die
Linkshegelianer machten darauf öffentlich aufmerksam. Wichtig
auch, dass der genannte Arnold Ruge 1838 einen gewissen Ludwig
Feuerbach zur Teilnahme an den sogenannten Halleschen Jahrbü-
chern aufforderte. Feuerbach, 1804 geboren und 1872 gestorben,
veröffentlichte im Jahr 1841 ein Buch mit dem Titel Das Wesen des
Christentums. Dieses Buch wurde als eine tiefgreifende Kritik an
der christlichen Religion verstanden. 1843 publizierte Feuerbach die
Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in denen er noch einmal
sein Hauptwerk rekapituliert. Für die Linkshegelianer war Feuer-
bach ein Mitstreiter, selbst wenn er sich eher am Rand aufhielt. Auch
auf ihn muss ich im Folgenden zu sprechen kommen. Er ist in der
Tat ein bemerkenswerter Philosoph (er war das auch für jemanden,
der hier nur am Rande genannt werden kann: nämlich für Richard
Wagner).
In Berlin kam also Marx mit diesen Linkshegelianern in Kon-
takt und spielte unter ihnen bald eine zentrale Rolle. In dieser Zeit,
um 1835/40, war Marx finanziell von seinem Elternhaus abhän-
gig. Jenny, mit der er bereits verlobt war, wartete auf ihn, wobei
sich das ständige Getrenntsein durchaus als problematisch erwies.
1838 starb auch noch der Vater, die Mutter blieb allein zurück, und
sie verwaltete das Erbe, das Marx nun in regelmäßigen Abständen
forderte. Sie starb sehr spät, so dass Marx’ Leben vom endlosen
Streit um das Erbe geprägt war, das er brauchte, um zu überleben.
Ein paar Jahrzehnte später sollte er die Abschaffung des Erbrechts
fordern.
1841 wurde Marx in Jena in absentia zum Doktor der Philosophie
promoviert. Das Thema war die Differenz der demokritischen und
epikureischen Naturphilosophie. Dieser Text gilt als verschollen. Es
gibt aber noch eine unvollständige Abschrift von fremder Hand, die
anstelle des Originals veröffentlicht wurde. An dieser Arbeit ist we-
niger wichtig und interessant, was Marx unmittelbar zu Demokrit
und Epikur zu sagen hat. Wichtiger ist, dass er seine Auseinander-
setzung mit diesen antiken Philosophen, die man ja gemeinhin als
Atomisten bzw. Materialisten bezeichnet, an Hegel und seine Schule
heranträgt. Zudem ist der Stil der überlieferten Partien alles andere
als akademisch – dazu gleich. In der Tat spielen Demokrit und Epi-
kur bei Hegel und überhaupt im Idealismus keine Rolle, eben weil
16 1. Vorlesung
Wir haben aber noch eine andere Urszene, vielleicht als Reaktion
auf den Philosophen auf der Agora: Um 387 vor Christus kauft
Platon im Nordwesten von Athen ein kleines Grundstück, eine Art
Garten oder Park, dem Heros Akademos gewidmet, um dort die
erste Philosophenschule zu eröffnen. In der »Akademie« konnten
Philosophen abgeschieden von der Öffentlichkeit, zurückgezogen
und unter sich, die philosophischen Probleme bedenken. Es war der
Ort einer verschworenen Gemeinschaft mit teilweise religiösen Ge-
bräuchen. Platon war der erste Leiter der Akademie, auf ihn folgte
eine ganze Reihe weiterer. Erst im Jahre 529 nach Christus verbot
der christliche Kaiser Justinian I. die Institution. Im 15. Jahrhundert
knüpften Intellektuelle in Florenz wieder an das Modell an. Es war
jedoch auch in der Zwischenzeit nicht gänzlich verloren gegangen,
hatte – unter anderen Vorzeichen – in den Klöstern des Mittelalters
fortgelebt. Daraus entstand dann die Universität.
Soviel zur exoterischen und esoterischen Dimension der Philoso-
phie. Der Philosoph bzw. die Philosophie geschieht in der Öffent-
lichkeit, d. h. in den Medien (im Medium), und sie findet auch an
den Universitäten statt. In den Medien präsentiert sie sich als eine
Denkform, die der Allgemeinheit etwas zu sagen hat, in den Univer-
sitäten als eine Art von Forschung, die sich auch auf Fragen einlassen
kann, die für die Allgemeinheit irrelevant sind (z. B. das Herausge-
ben von historisch-kritischen Ausgaben philosophischer Werke, die
von der Öffentlichkeit nur mehr oder weniger wahrgenommen wer-
den). Dass hier eine zuweilen krass vorgetragene Trennung besteht,
zeigt ja der Umgang mit Marx und Nietzsche im 19. Jahrhundert.
Denken Sie nicht, dass sich da besonders viel geändert hat.
Die Arbeit in der Rheinischen Zeitung war für Marx einerseits
notwendig, er musste Geld verdienen, um mit Jenny eine Familie
gründen zu können, andererseits entsprach der Schritt in die Öffent-
lichkeit aber auch seinem politischen Denken, dem Anspruch seines
Denkens. Dazu gehörte auch Marx’ Stil. Bereits in der Dissertation
pflegte Marx einen essayistischen Stil. Er war überhaupt jemand, der
– wie Nietzsche – auf Stil einen Wert legte. Auch das prädestinierte
ihn mehr zum Philosophen auf der Agora als zu einem in den Mau-
ern einer Forschungsanstalt. Wenn Marx subjektiv darunter gelitten
haben mag, von einer solchen Anstalt ausgeschlossen zu werden, so
möchte ich behaupten, dass er mit dem, was er eigentlich wollte, bei
18 1. Vorlesung
einer Zeitung viel besser aufgehoben war. Hier konnte seine Wir-
kungsgeschichte beginnen.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist das Verhältnis von Marx’ Bio-
graphie und Denken tatsächlich symbiotisch geworden. Als Journa-
list hatte er die Möglichkeit, seine kritischen Kommentare zu ver-
öffentlichen, zugleich spürte er aber auch den Effekt dieser Kom-
mentare in Form politischer Verfolgung. Im Zuge der Karlsbader
Beschlüsse von 1819 herrschte in Preußen ein sehr rigides Zensur-
System, besonders angewendet auf den Journalismus. Diese Zensur
bekam die Rheinische Zeitung zu spüren. Im Jahre 1843 wurde sie
verboten. Marx heiratete Jenny und emigrierte mit ihr nach Paris. Er
sollte niemals mehr Preußisches Staatsgebiet betreten.
Ein Ereignis in Marxens Leben möchte ich hier aber noch nach-
tragen. Während seiner Arbeit bei der Rheinischen Zeitung lernte
Marx einen gewissen Friedrich Engels (1820–1895) kennen. Engels
stammte aus einer Barmer Industriellenfamilie. Später, vor allem
nachdem er die Anteile seines Vaters an einer Textilfabrik in Man-
chester übernommen hatte, wurde er zu dem reichen Industriel-
len, der den notorisch in Geldnot steckenden Marx unter die Arme
greifen konnte. Marx und Engels verstanden sich bei ihrer ersten
Begegnung keineswegs besonders gut. Das gab sich aber mit der
Zeit. Nach 1844 bildeten Marx und Engels nicht nur freundschaft-
lich, sondern auch politisch ein Doppelgestirn, das höchst effektiv
zusammenarbeitete.
Die Schriften, die ich Ihnen vorstellen werde, entstanden alle un-
gefähr in der Zeit von 1843 bis 1850, darunter Zur Kritik der Hegel-
schen Rechtsphilosophie, Zur Judenfrage, beide 1843, die Ökono-
misch-philosophischen Manuskripte (1844), Thesen über Feuerbach
bzw. die Deutsche Ideologie (1845) und gemeinsam mit Engels das
Manifest der Kommunistischen Partei von 1848. Ich werde mich in
dieser Vorlesung nicht mit Das Kapital (1867) beschäftigen, auch
wenn ich einmal daraus zitieren werde, so wie auch aus der Kritik
der politischen Ökonomie von 1858. Das Kapital ist ein Text, der
nicht in eine Einführung in das Marx’sche Denken gehört. Er ist das
ökonomische Hauptwerk seiner reifen Jahre.
Zurück zur Biographie, die bei Marx eine gewisse Aussagekraft
entwickelt. In Paris versuchte Marx mit Arnold Ruge, die Deutsch-
französischen Jahrbücher herauszugeben. Zugleich begann er sich
Die Symbiose von Denken und Leben 19
Hegel gilt als der Philosoph, der den Staat Preußen in seinem
Denken legitimiert und sogar repräsentiert. Das ist nicht einfach so
dahingesagt, sondern basiert auf harten historischen Fakten. Wer
von Hegels Karriere in Berlin sprechen will, muss von Karl vom
Stein zum Altenstein sprechen, wie Hegel 1770 geboren, neun Jahre
nach Hegel in Berlin gestorben. Erinnern Sie sich an die Geschichte
Preußens: Preußen hatte unter der Besetzung Napoleons zu leiden.
Es hatte 1806 eine große Schlacht gegen Napoleon verloren, bei Jena
und Auerstedt. (Hegel übrigens war zu dieser Zeit Privatdozent in
Jena und sah dort Napoleon in die Stadt einreiten. Er nannte ihn
»diese Weltseele auf einem Pferde sitzend«.)7
Die Reaktion auf die militärische Niederlage und die damit ver-
bundene Okkupation Preußens war ein großartiges Reformwerk,
das Werk Karl Freiherr vom Steins und Karl August Fürst von Har-
denbergs. Zu den Stein-Hardenbergschen Reformen gehört auch
die Gründung einer neuen Art von Universität, verbunden mit dem
Namen Wilhelm von Humboldts. Noch heute spricht man von der
Humboldt-Universität und meint nicht nur die Berliner Univer-
sität, die heute so heißt, sondern einen Typ von Universität, der
bildungspolitisch von Humboldt geprägt wurde. Humboldt ging
damals stark von Kant aus, verkehrte aber auch mit Hegel. (À pro-
pos: In der Geschichte der europäischen Universität war die Hum-
boldt-Universität diejenige, die auf philosophischen Fundamenten
aufbaute. Die Universität war ein Ort der Philosophie. Das hat sich
inzwischen radikal geändert.)8
Dieser Karl August von Hardenberg war es, der nach 1815, d. h.
nach dem endgültigen Sieg über Napoleon, Karl vom Stein zum
7 Vgl. Briefe von und an Hegel. Bd. I: 1785–1812. Hrsg. von Johannes
Hoffmeister. Felix Meiner Verlag: Hamburg 1952, S. 120: »Den Kaiser – diese
Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; – es ist
in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen,
das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die
Welt übergreift und sie beherrscht.«
8 Noch heute beruft sich die reale Humboldt-Universität in Berlin in
der Präambel ihrer Verfassung von 2013 auf ihre Gründung am Beginn des
19. Jahrhunderts. Dabei hat die Bologna-Reform vom Ende der 90er Jahre
diese Form der Universität einigermaßen brutal abgeschafft. Die umfassende
Vernichtung von Bildung hat die Wirklichkeit der universitären und schuli-
schen Lehre nicht nur der Philosophie schon erreicht.
24 2. Vorlesung
von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Suhrkamp Verlag: Frankfurt
am Main 1970, S. 416 f.
10 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Ders.: Karl
Marx / Friedrich Engels. Werke. Bd. 1. Hrsg. vom Institut für Marxismus-
Leninismus beim ZK der SED (MEW). Dietz Verlag: Berlin 1958, S. 378.
Bibliographischer Hinweis: Ich werde mit zwei Ausnahmen die alte Ausgabe
der Werke von Marx und Engels (MEW) zitieren, wenn auch die spätere, seit
dem Ende der sechziger Jahre erscheinende Marx-Engels-Gesamtausgabe,
die sogenannte MEGA, als historisch-kritische Edition die eigentlich aka-
demische Ausgabe darstellt. Ich habe mich dazu entschieden, weil die in der
MEGA zu findende historische Schreibweise des Deutschen den Leser und
die Leserin, der und die sich in Marx hineinfinden möchte, irritieren könnte.
In der MEW wurde diese an die moderne Schreibweise angeglichen. Die
zwei Ausnahmen betreffen 1. die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte;
2. Die deutsche Ideologie. Beide Texte werden von mir aus der MEGA zitiert,
weil es sich um keine zu Lebzeiten von Marx veröffentlichten Schriften han-
delt. Die historisch-kritische Edition erfüllt hier ihren Sinn.
26 2. Vorlesung
allenfalls noch hat – das hat es nicht aus sich – es lebt vom Almo-
sen vergangner Jahrhunderte. Wäre das moderne Christentum ein
der philosophischen Kritik würdiger Gegenstand, so hätte sich der
Verfasser die Mühe des Nachdenkens und Studiums, die ihm seine
Schrift gekostet, ersparen können. Was nämlich in dieser Schrift so-
zusagen a priori bewiesen wird, daß das Geheimnis der Theologie
die Anthropologie ist, das hat längst a posteriori die Geschichte der
Theologie bewiesen und bestätigt. ›Die Geschichte des Dogmas‹,
allgemeiner ausgedrückt: der Theologie überhaupt, ist die ›Kritik
des Dogmas‹, der Theologie überhaupt. Die Theologie ist längst
zur Anthropologie geworden. So hat die Geschichte realisiert, zu
einem Gegenstande des Bewußtseins gemacht, was an sich – hierin
ist die Methode Hegels vollkommen richtig historisch begründet –
das Wesen der Theologie war.«12
Was sind »testimonia paupertatis«? Im ursprünglichen Sinne han-
delt es sich um Bescheinigungen, die jemandem ausgestellt werden,
der zu arm ist, um sich im Falle einer Gerichtsverhandlung einen
Anwalt leisten zu können, dem also Prozesskostenhilfe genehmigt
wird. Aber schon Feuerbach verwendet den Begriff des »Armuts-
zeugnisses« in unserem umgangssprachlichen Sinn; jemandem wird
ein »Armutszeugnis« ausgestellt, wenn er sich als unfähig erweist,
etwas zu tun, was ihm eigentlich leicht fallen sollte.
Was hat das »moderne Christentum« noch aufzuweisen, wenn
es das, was es repräsentiert, nicht mehr »aus sich« hat? Feuerbach
meint, dass das »moderne Christentum« sich auf etwas berufe, was
es nicht selbst hervorgebracht habe (vermutlich auf eine Kraft, die
es in vergangenen Jahrhunderten hatte). Es habe sich gleichsam
selbst schon so sehr »kritisiert«, dass eine »philosophische Kritik«
gar nicht mehr nötig sei. Was natürlich nicht heißt, dass Feuerbachs
Ausführungen etwa nicht als »kritisch« wahrgenommen wurden.
Feuerbach bekam es natürlich nach der Veröffentlichung mit der
Zensur zu tun (das Werk wurde allerdings keineswegs verboten).
Kritik ist hier zu verstehen im Sinne des Trennens, Scheidens
(krínein heißt trennen, ur-teilen etc.). Die Theologie hat in ihrer
Geschichte selber eine Trennung, Differenzierung vollzogen, in der
12
Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums (Leipzig 1841). Werke 5.
Hrsg. von Erich Thies. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1976, S. 13.
28 2. Vorlesung
klar wurde, was sie in Wahrheit ist: das »Geheimnis« der »Theolo-
gie«, so Feuerbach, sei die »Anthropologie«. Diese »Anthropologie«
sei das »Wesen des Christentums« »an sich«. Diese Erkenntnis habe
sich in der »Geschichte realisiert«, sie habe sich der Vernunft also
erst nach einer gewissen Zeit gezeigt. Wenn Feuerbach hier Hegels
»Methode« lobt, dann meint er diesen Hegel’schen Gedanken, dass
die Geschichte der Entwicklungsraum der Wahrheit ist, dass sich
erst am Ende ganz entfaltet zeigt, was an ihrem Anfang erst in nuce
vorhanden war.
Doch was soll das heißen, dass die Theologie in Wahrheit »An
thropologie« sei oder, wie Feuerbach unmittelbar nach dem Zitier-
ten schreibt: »daß der Unterschied zwischen dem produzierenden
heiligen Geist der göttlichen Offenbarung und dem konsumieren-
den menschlichen Geist längst aufgehoben, der einst übernatürliche
und übermenschliche Inhalt des Christentums längst völlig natu-
ralisiert und anthropomorphisiert ist«?13 Um das weiter zu erläu-
tern, beziehe ich mich auf eine Stelle aus dem Vorwort zur zweiten
Ausgabe von »Das Wesen des Christentums«. Die Stelle ist etwas
länger:
»Im ersten Teile [von Das Wesen des Christentums] also zeige ich,
daß der wahre Sinn der Theologie die Anthropologie ist, daß zwi-
schen den Prädikaten des göttlichen und menschlichen Wesens, folg-
lich […] auch zwischen dem göttlichen und menschlichen Subjekt
oder Wesen kein Unterschied ist, daß sie identisch sind; im zweiten
zeige ich dagegen, daß der Unterschied, der zwischen den theolo-
gischen und anthropologischen Prädikaten gemacht wird oder viel-
mehr gemacht werden soll, sich in Nichts, in Unsinn auflöst. Ein
sinnfälliges Beispiel. Im ersten Teile beweise ich, daß der Sohn Got-
tes in der Religion wirklicher Sohn ist, Sohn Gottes in demselben
Sinne, in welchem der Mensch Sohn des Menschen ist, und finde
darin die Wahrheit, das Wesen der Religion, daß sie ein tiefmensch-
liches Verhältnis als ein göttliches Verhältnis erfaßt und bejaht; im
zweiten dagegen, daß der Sohn Gottes – allerdings nicht unmittelbar
in der Religion selbst, sondern in der Reflexion derselben über sich –
nicht Sohn im natürlichen, menschlichen Sinn, sondern auf eine ganz
andre, der Natur und Vernunft widersprechende, folglich sinn- und
13 Ebd., S. 13 f.
Hegel, Feuerbach und die Religionskritik 29
14 Ebd., S. 404 f.
30 2. Vorlesung
18 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band.
MEW 23. Dietz Verlag: Berlin 1974, S. 27.
19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke 3.
Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Suhrkamp Verlag:
Frankfurt am Main 1970, S. 30.
Hegel, Feuerbach und die Religionskritik 33
ist der »Atheismus das Geheimnis der Religion selbst«, weil es in ihr
eigentlich gar nicht um das Göttliche als Göttliches geht.
In der nächsten Stunde werden wir sehen, dass Marx mit seiner
Religionskritik noch etwas anderes meint.
3. Vorlesung
Auf der Suche nach der revolutionären Klasse
Die Anfänge von Marx und der ganzen Bewegung, die mit Marx
zusammenhängt, sind mit Ludwig Feuerbach verknüpft und sei-
ner Religionskritik in Das Wesen des Christentums. Der Kern des
Christentums ist nach Feuerbach nicht Gott als ein übersinnliches,
übermächtiges, höchstes Seiendes, sondern der Mensch selbst. Theo-
logie ist Anthropologie. Es gibt einen solchen übersinnlichen, über-
mächtigen Gott nicht. Das Christentum ist daher im Grunde atheis-
tisch. Es spricht von nichts anderem als vom Menschen.
Wichtig ist auch, wie Feuerbach auf die »spekulative Philosophie«,
d. h. auf Hegel antwortet. Feuerbach gehört ja wie Marx zu den
sogenannten »Linkshegelianern«. Hier ist die Denkbewegung der
»Umkehrung« oder der »Umstülpung« (Marx) wichtig. Was wird
»umgekehrt«? Ich hatte das an einem Satz Hegels demonstriert, ei-
nem zentralen Satz der Hegel’schen Rechtsphilosophie: »Was ver-
nünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.«
Ich hatte darauf hingewiesen, dass dieser nicht anders als in dieser
Reihenfolge formuliert werden kann. Weil die Vernunft wirklich
ist, weil die Vernunft in sich die Tendenz zu ihrer Verwirklichung
hat, deshalb kann die Wirklichkeit vernünftig sein. Das Primat liegt
bei der Vernunft.
Dieses Primat muss nach Marx gebrochen werden, das Verhält-
nis zwischen Vernunft und Wirklichkeit muss »umgekehrt« werden.
Die Wirklichkeit muss als Wirklichkeit betrachtet werden, um dann
mit der Vernunft kritisch in Berührung zu kommen. Etwas grob
gesagt, findet hier eine »Umkehrung« statt, die die Philosophie seit
Platon betrifft. Seit Platon über Aristoteles und die Spätantike, das
Mittelalter, die frühe und spätere Neuzeit hatten die Philosophen
stets betont, dass das Denken vom Über- oder Nichtsinnlichen aus
auf das Sinnliche zugehen müsse. Freilich gab es auch andere Stand-
Auf der Suche nach der revolutionären Klasse 37
punkte, die man nicht vergessen darf, um nicht einer allzu ein-sin-
nigen Erzählung und dann vielleicht sogar einem Märchen auf den
Leim zu gehen: Es gab Thomas Hobbes, es gab La Mettrie (den Marx
erwähnt), es gab David Hume, es gab materialistische und empiris-
tische Positionen, die die idealistischen Strömungen des Philoso-
phierens unterbrachen. Aber Marx (und Feuerbach) bezogen sich
unmittelbar auf den Philosophen ihrer Zeit – und das war Hegel,
der Philosoph des absoluten Idealismus.
Im Verhältnis von Idee und Wirklichkeit sollte es zu einer »Um-
kehrung« kommen. Ich halte mich auch deshalb bei diesem Be-
griff auf, weil ich bald auf einen Begriff des Marx’schen Denkens
zu sprechen kommen werde, der die Umkehrung oder Umdrehung
schlechthin bezeichnet: den Begriff der »Revolution«. Dieser Be-
griff – wenn es überhaupt einer ist und nicht vielmehr ein Ereignis
oder sogar ein Mysterium – wird am Ende meiner Vorlesung im
Zentrum stehen.
Aber noch etwas anderes und durchaus Wichtiges muss hier dar-
gelegt werden. Es geht um die Methode des Hegel’schen Denkens,
die allerdings nicht nur einfach als ein dem Denken Äußerliches be-
trachtet werden darf. Die Methode – als der Weg zur Erkenntnis – ist
kein Instrument, sondern es ist nichts anderes als das Denken selbst.
Diese Methode ist für Hegel und für Marx die Dialektik. Was ist
Dialektik? Das Wort kommt vom griechischen dialégesthai, das mit
Durchsprechen übersetzt werden kann. Durchsprechen – das zeigt,
dass es um eine Bewegung geht. Der Gedanke, das Denken muss
sich bewegen, um Denken zu sein. Im Denken geht es um Denk
bewegungen und eine dieser Bewegungen haben wir schon kennen
gelernt: die Umkehrung.
Aber das reicht noch nicht, um zu verstehen, was Dialektik ist.
Ich zitiere eine Schlüsselstelle über die Dialektik aus der Vorrede
von Hegels Phänomenologie des Geistes. Sie ist eine Schlüsselstelle
auch für Feuerbach und Marx. Es heißt da: »So soll auch im philoso-
phischen Satze die Identität des Subjekts und Prädikats den Unter
schied derselben, den die Form des Satzes ausdrückt, nicht vernich-
ten, sondern ihre Einheit soll als eine Harmonie hervorgehen.«23 Ich
möchte bei der Interpretation des Satzes den Schwerpunkt auf die
26 Ebd.
27 Ebd.
Auf der Suche nach der revolutionären Klasse 41
Hegel. Der hatte noch 1830 eine Festrede zum 300. Jahrestag der
Confessio Augustana gehalten, jener Augsburger Konfession von
1530 (die auf Luther zurückgeht); ein Bekenntnis zur protestanti-
schen Kirche, das auch heute noch Bedeutung hat.28 Dieser Jahrestag
wurde offiziell im Staat gefeiert. Marx behauptet nun, dass dieser
Staat und diese Gesellschaft ein Interesse an der Aufrechterhaltung
der Religion haben. Wie dieses Interesse zu fassen ist, ist schwer zu
sagen. Denn der Preußische Staat hatte selbst kein Bewusstsein von
seiner »verkehrten Welt« (à propos: wieder ist etwas »verkehrt«,
muss also »umgekehrt« werden). Nichtsdestotrotz sorgte er für die
Erhaltung dieser Verkehrung.
Der Unterschied zu Feuerbach ist jetzt klar geworden. Er hatte
das eigentliche Problem nicht erkannt: er hatte das Verhältnis zwi-
schen dem Göttlichen und Menschlichen lediglich anthropologisch
interpretiert, ohne Interesse, seine Religionskritik politisch zu ver-
stehen und seine Untersuchungen auf die Zustände der Gesellschaft
anzuwenden. Das war für Marx natürlich eine spezifische Schwäche.
Marx geht es darum, gegen diese Verkehrung anzugehen: der
»Kampf gegen die Religion« als »mittelbarer« »Kampf« gegen die
»verkehrte Welt«. Hören wir Marx’ Text weiter: »Das religiöse Elend
ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die
Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer
der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der
Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.«29 Hier
haben wir also die berühmte Formulierung. Die Religion hat ein am-
bivalentes Wesen, das es zu bekämpfen gilt. Einerseits kann man an
ihr erkennen, dass die »wahre Wirklichkeit« eine elende ist. Denn die
Religion mit ihrer Sehnsucht nach einer anderen Welt, einer »phan-
tastischen Wirklichkeit«, ist ein Ausdruck des Elends. Andererseits
aber wird genau dieser Ausdruck des Elends zu dessen Erhaltung
genutzt, denn die Religion ist selbst keine kritisch-politische Instanz.
Ihre Wirkung ist vielmehr opiatisch. Sie tröstet und vertröstet. Die-
ser Trost und die Vertröstung aber halten den Menschen davon ab,
28 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rede zur dritten Säkularfeier der
Augsburgischen Konfession. In: Ders.: Berliner Schriften (1818–1831). Hrsg.
von Walter Jaeschke. Felix Meiner Verlag: Hamburg 1997, S. 429–441.
29 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Ders.: MEW 1.
A. a. O., S. 378.
42 3. Vorlesung
30 Ebd., S. 379.
31 Ebd.
Auf der Suche nach der revolutionären Klasse 43
32 Ebd.
33 Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eig-
ner Anschauung und authentischen Quellen. Hrsg. von Walter Kumpmann.
DTV: München 1973, S. 11. Die MEW enthält das englische Vorwort nicht.
Als eine Vorübung zu diesem wichtigen Buch erscheinen die »Briefe aus
dem Wuppertal« (MEW 1, S. 413–432), die Engels 1839 im »Telegraph für
Deutschland« publizierte. Dort heißt es z. B.: »Das Arbeiten in den niedrigen
Räumen, wo die Leute mehr Kohlendampf und Staub einatmen als Sauerstoff,
und das meistens schon von ihrem sechsten Jahre an, ist grade dazu gemacht,
ihnen alle Kraft und Lebenslust zu rauben. Die Weber, die einzelne Stühle
in ihren Häusern haben, sitzen vom Morgen bis in die Nacht gebückt dabei
und lassen sich vom heißen Ofen das Rückenmark ausdörren. Was von die-
sen Leuten dem Mystizismus nicht in die Hände gerät, verfällt ins Brannt-
weintrinken.« (S. 417)
44 3. Vorlesung
36 Ebd., S. 391.
46 3. Vorlesung
die er von Staat und Gesellschaft her erfährt. Die Revolution ist in
sich eine Emanzipation, doch nicht jede Emanzipation ist notwendig
eine Revolution. Bei Marx jedoch wurde der Begriff der Revolution
gegenüber dem der Emanzipation wichtiger, verstanden als ein Er-
eignis, das mit »materieller Gewalt« verbunden ist.
Ich möchte noch zwei Dinge aus dem Aufsatz erwähnen. Marx
spricht von einer »radikalen Revolution«. Die »radikale Revolu-
tion« betrifft die »Wurzel« (radix) der »Kritik« (in der »radikalen
Kritik«), d. h. den Menschen. So schreibt Marx: »Nicht die radikale
Revolution ist ein utopischer Traum für Deutschland, nicht die all-
gemein menschliche Emanzipation, sondern vielmehr die teilweise,
die nur politische Revolution, die Revolution, welche die Pfeiler des
Hauses stehen läßt. Worauf beruht eine teilweise, eine nur politi-
sche Revolution? Darauf, daß ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft
sich emanzipiert und zur allgemeinen Herrschaft gelangt, darauf,
daß eine bestimmte Klasse von ihrer besondern Situation aus die
allgemeine Emanzipation der Gesellschaft unternimmt.«37 Die »ra-
dikale Revolution« ist die »allgemein menschliche Emanzipation«.
Das ist ein noch unausgegorener Gedanke. Denn Marx kann hier
noch nicht zeigen, inwiefern eine konkrete Revolution diese all-
gemein menschliche, d. h. die universale Emanzipation vollziehen
soll. Das wird er später, im Manifest der Kommunistischen Partei
durchaus tun.
Wie dem auch sei: Vorerst gehe es um eine »politische Revolu-
tion«, in der eine »bestimmte Klasse« – diesen Begriff hatten wir
noch nicht kennengelernt – die »allgemeine Emanzipation der Ge-
sellschaft« – bezogen auf Deutschland – unternimmt. »Klasse«,38 das
Wort stammt von classis, der herbeigerufenen Menschenmenge (viel-
leicht spielt clamere, rufen, eine Rolle). Der Begriff wurde von engli-
schen Ökonomen benutzt, von Smith, aber auch von dem für Marx
sehr wichtigen David Ricardo. »Class« ist noch heute ein gängiger
Begriff in England, während in der deutschsprachigen Ökonomie
und Soziologie der Begriff der »Klasse« sich nur für den Marx’schen
Strang erhalten hat. Zwar bezieht sich auch noch der große Sozio-
37 Ebd., S. 388.
38 Marx spricht im interpretierten Aufsatz noch von »Stand« (Frankreich,
tiers état, dritter Stand).
Auf der Suche nach der revolutionären Klasse 47
loge Max Weber auf »Klassen«, doch wir sprechen heute im Allge-
meinen von »Schichten«.
Die Frage, die Marx hier stellt, ist die nach einer revolutionären
Klasse, die gleichsam für die ganze Gesellschaft die Revolution rea
lisieren könnte. Er sagt dazu, »daß die ganze Gesellschaft sich in
der Situation dieser Klasse« befinden müsse »also z. B. Geld und
Bildung« besitze oder »beliebig erwerben« könne.39 Er nennt das
eine »Voraussetzung« der politischen Revolution. Marx denkt an
die Situation in Frankreich, an die Französische Revolution. Hier
hatte das Bürgertum oder (Marx verwendet üblicherweise das fran-
zösische Wort) die »Bourgeoisie«40 die Aufgabe übernommen, die
Revolution zu realisieren, und zwar zum Wohle des Ganzen.
In Deutschland ist die Lage aber eine andere. Marx sagt auch so-
gleich: »Es fehlt aber jeder besondern Klasse in Deutschland nicht
nur die Konsequenz, die Schärfe, der Mut, die Rücksichtslosig-
keit, die zum negativen Repräsentanten der Gesellschaft stempeln
könnte.«41 (»Negativ«, weil ja die Gesellschaft revolutioniert werden
soll und insofern von der »Klasse« nicht positiv repräsentiert wird.)
»Es fehlt ebensosehr jedem Stand jene Breite der Seele, die sich mit
der Volksseele, wenn auch nur momentan identifiziert, jene Genia-
lität, welche die materielle Macht zur politischen Gewalt begeistert,
jene revolutionäre Kühnheit, welche dem Gegner die trotzige Pa-
role zuschleudert: Ich bin nichts, und ich müßte alles sein.«42 Bitte
bedenken Sie, dass das schon Aussagen sind, die spätere Revolutio-
näre wie Lenin oder auch Che Guevara aufmerksam gelesen haben.
Marx sucht eine »Klasse«, die in Deutschland eine Revolution in-
szenieren könnte. Eine Bourgeoisie wie in Frankreich existiert nicht.
Natürlich existiert ein Bürgertum, doch dieses Bürgertum, dachte
Marx, hatte nicht die Radikalität wie das französische. Er schreibt:
»In Deutschland […], wo das praktische Leben ebenso geistlos, als
das geistige Leben unpraktisch ist, hat keine Klasse der bürgerli-
chen Gesellschaft das Bedürfnis und die Fähigkeit der allgemeinen
Emanzipation, bis sie nicht durch ihre unmittelbare Lage, durch die
43 Ebd., S. 390.
44 Ebd.
Auf der Suche nach der revolutionären Klasse 49
45 Ebd., S. 391.
4. Vorlesung
Der Übergang zur Ökonomie
Ich hatte Ihnen letzte Woche den Aufsatz Zur Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern vor-
gestellt und auch etwas zur Art des Textes gesagt. Man merkt, dass
er geschrieben wurde, um für eine Sache zu werben. Er ist der Text
eines Journalisten, der Marx ja war. Der hat natürlich nicht nur sol-
che Texte geschrieben, wir werden das bald sehen. Er zeigt aber, dass
Marx das Handwerk des Schreibens beherrschte. Schreiben-können
bedeutet, nicht nur einen Stil zu beherrschen, sondern verschiedene
Stile. Ich muss wissen, für wen ich schreibe und was ich damit errei-
chen will. Die großen Philosophen pflegen jeweils alle verschiedene
Stile, mal eleganter, mal gröber, mal glänzend, mal verstiegen etc.
Wir haben gesehen, wie Marx die Feuerbach’sche Religionskritik
(Stichwort: »Umkehrung« – Theologie als »Anthropologie«) aner-
kennt, übernimmt und umformt. Sie wird bei Marx politisch, d. h. als
»Waffe der Kritik« auf die Gesellschaft angewendet. Marx anerkennt,
dass sich in der Religion das »Jammertal« zum Ausdruck bringt,
d. h. die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Nur dass die Kirchen
mit ihrer Religion diese Sehnsucht zugleich betäuben. Religion sei
»Opium des Volkes«, eben weil sie die Sehnsucht nicht in eine revo
lutionäre Kraft verwandelt. (In einem noch zu erwähnenden Text
spricht Marx davon, dass die »englischen Schnapsläden« die »sinn-
bildliche Darstellung des Privateigentums«46 sind. Das wird noch
zu erklären sein. Aber klar: auch der Schnaps ist eine Möglichkeit,
der Kritik auszuweichen.)
In dieser ganzen Übernahme und Kritik der Feuerbach’schen
Religionskritik verfährt Marx dialektisch. Diese Dialektik, die er
47
Ebd., S. 400.
48
Rechtsgleichheit nur eine abstrakte Gleichheit, die von der konkreten
Ungleichheit konterkariert wird.
52 4. Vorlesung
55 Ebd., S. 386.
56 Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. A. a. O., S. 19. Vgl.
dazu auch das monumentale Werk von Jürgen Osterhammel: Die Verwand-
lung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. C. H. Beck: München
2009, S. 907–1009.
58 4. Vorlesung
Ich erinnere an die letzte Stunde: Ungefähr 1844/45 hatte Marx be-
gonnen, sich intensiv mit der Nationalökonomie auseinanderzuset-
zen. Er liest Smith, Ricardo und andere Nationalökonomen und
übernimmt deren Theorien in sein Denken. Das tut er, weil er wis-
sen will, wie die Wirklichkeit »funktioniert«. Das ist grob formu-
liert, doch in einer gewissen Hinsicht treffend. Marx betont zwar,
dass Hegel »auf dem Standpunkt der modernen Nationalökono-
men« stehe, weil er die »Arbeit […] als das sich bewährende Wesen
des Menschen«57 erkannt habe. Doch er kritisiert ihn, weil er bei der
theoretischen Erkenntnis des »Wesens des Menschen« stehen geblie-
ben sei. Die wirkliche Arbeit, die wirkliche Wirklichkeit habe Hegel
ignoriert. Marx geht es um die wirkliche Wirklichkeit – und nicht
bloß um den Begriff der Wirklichkeit, den uns die Philosophen seit
Aristoteles (enérgeia) erklären.
Aller Reichtum sei »zum industriellen Reichthum, zum Reich
thum der Arbeit« geworden. Arbeit produziert Reichtum. Dieser
Reichtum äußert sich im Besitz von Dingen. Reich ist, wer ein An-
wesen besitzt, oder wer Maschinen besitzt, mit denen Arbeiter ihre
Produkte herstellen können. Reich ist aber auch, wer über etwas
Undingliches, nämlich über Geld verfügt. Beide Formen des Reich-
tums spielen in der wirklichen Wirklichkeit eine große Rolle, aber
die noch größere spielt das Geld. Denn Geld ermöglicht beinahe
jede alltägliche Bewegung des Subjekts (»money makes the world
go round«, hieß es in dem berühmten Musical Cabaret). Wer wissen
will, wie die Wirklichkeit funktioniert, der muss sich vor allem mit
58 Ebd., S. 318.
59 Ebd., S. 281.
60 Novalis: Freiberger Studien (1798/99). In: Ders.: Schriften. Hrsg. von
Paul Kluckhohn. Bd. 3. Bibliographisches Institut A. G.: Leipzig o. J., S. 53.
61 Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. In: Ders.: MEGA I. 2.
A. a. O., S. 318.
Das Geld in der Gesellschaft 61
Das erste Zitat stammt aus Goethes Faust, aus dem Munde des
Mephistopheles:
62 Es ist vielleicht kein Zufall, dass Marx sich seine beiden Quellen für die
Beschreibung der Wirkung des Geldes aus dem Theater holt. Die Wirklich-
keit des Geldes ist theatralisch wie das Theater, das reflektiert, was im wirkli-
chen Theater geschieht. Ich danke meiner Freundin Márcia de Sá Cavalcante
Schuback für diesen Hinweis.
63 Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. In: Ders.: MEGA I. 2.
A. a. O., S. 318 f.
64 Ebd., S. 319.
Das Geld in der Gesellschaft 63
bin also nicht lahm; ich bin ein schlechter, unehrlicher, gewissenloser,
geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer.
Das Geld ist das höchste Gut, also ist sein Besitzer gut, das Geld
überhebt mich überdem der Mühe, unehrlich zu sein, ich werde also
als ehrlich präsumirt; ich bin geistlos, aber das Geld ist der wirkliche
Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein? Zudem kann
er sich die Geistreichen Leute kaufen, und wer die Macht über den
Geistreichen hat, ist der nicht geistreicher als der Geistreiche? Ich,
der durch das Geld alles, wonach ein menschliches Herz sich sehnt,
vermag, besitze ich nicht alle menschlichen Vermögen? Verwandelt
also mein Geld nicht alle meine Unvermögen in ihr Gegentheil?«65
In der wirklichen Wirklichkeit ist Geld kein neutrales Medium.
Zwar ist der Vorgang des Kaufs in jeder Hinsicht unspektakulär:
Etwas geht in meinen Besitz über. Doch bereits das Etwas, das ge-
kauft wird, verändert den Kaufakt (ich kaufe mir ein Buch anders als
ein Haus). Zudem verändert der Kauf mich selbst. Ich werde erst der,
der ich in der sozialen Wirklichkeit bin, durch Geld. Marx gibt die
aktuellsten Beispiele. Dass ich hässlich bin, ist irrelevant, wenn ich
Millionär bin. Ebenso kann ich mir ein schnelles Auto leisten (und
nicht nur ein Fahrrad). Darüber hinaus kann ich es mir leisten, gut
zu sein. Ich komme nicht in Verführung, mich irgendwie egoistisch
etc. zu verhalten. Ich kann mir Philosophen als Freunde kaufen, in-
dem ich diesen armen Teufeln mein Ferienhaus auf Sizilien zur Ver-
fügung stelle. Das Geld ist das »absolute Vermögen«, das »alle meine
Unvermögen in ihr Gegentheil« verwandelt.
Marx sagt weiter: »Wenn das Geld das Band ist, das mich an
das menschliche Leben, das mir die Gesellschaft, das mich mit der
Natur und den Menschen verbindet, ist das Geld nicht das Band
aller Bande? Kann es nicht alle Bande lösen und binden? Ist es da-
rum nicht auch das allgemeine Scheidungsmittel? Es ist die wahre
Scheidemünze, wie das wahre Bindungsmittel, die […] chemische
Kraft der Gesellschaft.«66 Die innere Struktur einer Gesellschaft
wird durchs Geld ermöglicht. Geld bindet und trennt zugleich, es
ist demnach für die Klassen- und Schichtenzugehörigkeit zuständig.
Marx nennt das die »chemische Kraft der Gesellschaft«. In der Tat
65 Ebd., S. 319 f.
66 Ebd., S. 320.
64 5. Vorlesung
wirkt es wie ein beinahe natürliches Mittel. Das ist vielleicht das
Gefährlichste am Geld, dass es den Anschein erweckt, als wäre sein
Besitz, als wären Reichtum und Armut etwas von Natur Gegebenes.
Es hat ja immer schon diese Differenz gegeben. Marx macht jedoch
darauf aufmerksam, dass Geld keineswegs naturgegeben ist, dass es
sogar anti-natürlich ist – denn es kann mich schön und jung machen,
wenn ich in Wirklichkeit hässlich und alt bin. Zum Shakespeare-
Zitat erläutert Marx:
»Shakespeare hebt an dem Geld besonders 2 Eigenschaften he-
raus:
1. Es ist die sichtbare Gottheit, die Verwandlung aller menschli-
chen und natürlichen Eigenschaften in ihr Gegentheil, die allgemeine
Verwechslung und Verkehrung der Dinge; es verbrüdert Unmög-
lichkeiten;
2. Es ist die allgemeine Hure, der allgemeine Kuppler der Men-
schen und Völker.
Die Verkehrung und Verwechslung aller menschlichen und na-
türlichen Qualitäten, die Verbrüderung der Unmöglichkeiten – die
göttliche Kraft – des Geldes liegt in seinem Wesen als dem entfrem-
deten, entäussernden und sich veräussernden Gattungswesen der
Menschen. Es ist das entäusserte Vermögen der Menschheit.«67
Geld hat in der sozialen Wirklichkeit religiöse Eigenschaften.
Erst wer es hat, existiert wirklich; wer es nicht hat, erscheint sozu-
sagen erst gar nicht. Wie ein Gott, als »sichtbare Gottheit«, kommt
es zu den Menschen und verwandelt diese, wenn es sein muss, in
ihr eigenes Gegenteil (hässlich / schön, alt / jung etc.). Das tut es üb-
rigens nicht nur im Sinne einer äußeren Zuschreibung, so dass wir
geneigt sind, den Reichen mit besonders großem Respekt zu begeg-
nen. In unseren Tagen ist die Verwandlung vielmehr ganz konkret
zu verstehen: wer Geld hat, kann sich einen anderen, neuen Kör-
per leisten – in kosmetischer und medizinischer Hinsicht. Davon
konnte Marx in seiner sozialen Wirklichkeit noch nichts wissen.
Geld ist aber als »sichtbare Gottheit« zugleich der »allgemeine
Kuppler der Menschen und Völker«. Das heißt, dass alle es begehren.
Alle streben nach seiner Vermittlungsarbeit: Wir leben mit denen,
67 Ebd.
Das Geld in der Gesellschaft 65
die soviel oder sowenig Geld haben wie wir selbst, die also so sind,
wie wir selbst.
»Wenn ich mich nach einer Speise sehne oder den Postwagen
brauchen will, weil ich nicht stark genug bin, den Weg zu Fuß zu
machen, so verschafft mir das Geld die Speise und den Postwagen,
d. h. es verwandelt meine Wünsche aus Wesen der Vorstellung, es
übersetzt sie aus ihrem gedachten, vorgestellten, gewollten Dasein
in ihr sinnliches, wirkliches Dasein, aus der Vorstellung in das Leben,
aus dem vorgestellten Sein in das wirkliche Sein. Als diese Vermitt-
lung ist es die wahrhaft schöpferische Kraft.
Die demande existirt wohl auch für den, der kein Geld hat, aber
seine demande ist ein bloßes Wesen der Vorstellung, das auf mich,
auf den 3ten, auf die [anderen] keine Wirkung, keine Existenz hat,
also für mich selbst unwirklich, gegenstandlos bleibt. Der Unter-
schied der effectiven, auf das Geld basirten und der effektlosen, auf
mein Bedürfniß, meine Leidenschaft, meinen Wunsch etc basirten
demande ist der Unterschied zwischen Sein und Denken, zwischen
der blosen in mir existirenden Vorstellung und der Vorstellung, wie
sie als wirklicher Gegenstand ausser mir für mich ist.«68
Marx nennt einmal die »Logik« »das Geld des Geistes«,69 und
er hat damit die Hegel’sche Logik im Sinne. Hier wird etwas klarer,
was Marx damit meint. Das Geld hat die Kraft, etwas aus meiner
»Vorstellung« in »sinnliches, wirkliches Dasein« zu verwandeln. Ich
habe ein objektives Verlangen (eine »demande«), das ich durch Geld
verwirklichen kann. Es ist tatsächlich in einer gewissen Hinsicht
magisch oder, wie Marx sagt, göttlich. Ich stelle mir etwas vor, und
schon existiert es, wenn ich das Geld dazu habe. Auch der Arme
kann sich das vorstellen, doch für ihn wird es »unwirklich, gegen-
standlos« bleiben. Beim Geld geht es um den Unterschied zwischen
»Sein und Denken«; hier kann man sich keineswegs auf die idealis-
tische Super-Formel der Identität von Denken und Sein berufen.
Schon im berühmten Parmenides-Fragment 5 hieß es: »Denn das-
selbe ist Denken und Sein.« Das Geld aber zeigt, dass das keineswegs
so ist. Ich kann mir denken, was ich will; wenn Geld das Gedachte
nicht vermittelt, ist es auch nicht. (Freilich heißt hier »Sein«: »wirk-
68 Ebd., S. 320 f.
69 Ebd., S. 278.
66 5. Vorlesung
lich existieren«, was bei Parmenides so nicht gemeint war. Marx geht
es an dieser Stelle aber ganz grundsätzlich darum, die spekulative
Schwäche der Philosophie darzustellen.)
»Ich, wenn ich kein Geld zum Reisen habe, habe kein Bedürfniß,
d. h. kein wirkliches und sich verwirklichendes Bedürfniß zum Rei-
sen. Ich, wenn ich Beruf zum Studiren, aber kein Geld dazu habe,
habe keinen Beruf zum Studiren, d. h. keinen wirksamen, keinen
wahren Beruf. Dagegen ich, wenn ich wirklich keinen Beruf zum
Studiren habe, aber den Willen und das Geld, habe einen wirksa-
men Beruf dazu. Das Geld – als das äussere, nicht aus dem Men-
schen als Menschen und nicht von der menschlichen Gesellschaft
als Gesellschaft herkommende allgemeine – Mittel und Vermögen,
die Vorstellung in die Wirklichkeit und die Wirklichkeit zu einer
bloßen Vorstellung zu machen, verwandelt ebensosehr die wirkli-
chen menschlichen und natürlichen Wesenskräfte in blos abstrakte
Vorstellungen und darum Unvollkommenheiten, qualvolle Hirnge-
spinste, wie es andrerseits die wirklichen Unvollkommenheiten und
Hirngespinste, die wirklich ohnmächtigen, nur in der Einbildung
des Individuums existirenden Wesenskräfte desselben zu wirklichen
Wesenskräften und Vermögen verwandelt.«70
Marx differenziert seine Analyse (ich zitiere das alles so ausführ-
lich, damit Sie sehen können, wie sehr Marx sich auf das Funktio-
nieren der wirklichen Wirklichkeit einlässt). Also: Das Geld kann
»Bedürfniß« und »Beruf« (»Beruf« heißt hier: Berufung, d. h. die
Gewissheit, dass ich als dieses besondere Selbst jenes oder dieses
machen will) überhaupt erst wecken. Habe ich kein Geld, fühle ich
nicht das Bedürfnis, zu reisen; habe ich kein Geld, erfahre ich nicht
die Berufung zu einem Studium. Habe ich aber Geld, kann ich mir
die Berufung sozusagen einbilden. Jedenfalls kann ich etwas tun,
selbst wenn ich mich nicht dazu berufen fühle. Mit anderen Wor-
ten: wenn ich mir etwas sehnlichst erwünsche (Reisen, Studium), es
mir aber nicht leisten kann, dann werden meine Wünsche zu »ab
strakten Vorstellungen«, zu »Unvollkommenheiten«, zu »qualvollen
Hirngespinsten«. Andererseits können »wirkliche Unvollkommen-
heiten und Hirngespinste«, z. B. bei einem Menschen, der überhaupt
nicht zu diesem oder jenem Studium geeignet ist, zu »wirklichen
70 Ebd., S. 321.
Das Geld in der Gesellschaft 67
71 Ebd.
68 5. Vorlesung
wohl es nichts miteinander zu tun hat. Das Geld verändert die Dinge,
die wir tun insofern, als es sie nicht nur trennt, sondern nivelliert.
Alles hat eigentlich nur einen Sinn: den Gegenwert des Geldes zu
repräsentieren.
Das eigentliche Problem für Marx aber habe ich noch nicht ge-
nannt: Die »Verkehrung und Verwechslung aller menschlichen und
natürlichen Qualitäten« ist eine Bewegung, die sich auf der Ebene
des Selbstverständnisses des Menschen als »Entfremdung« aus-
drückt. Wo alles verkehrt (oder vergleichbar) ist, weiß ich nicht mehr,
wer ich selbst noch bin. In einer Gesellschaft, in der allein das Geld
die Erscheinung der Individuen bestimmt, scheint es keine eigent-
liche Frage mehr zu sein, wer ich bin; Hauptsache, ich erscheine als
reich. Dieser Gedanke setzt voraus, dass ich zumindest der Möglich-
keit nach wissen könnte, wer ich bin. Denn die »Verkehrung« kann
nur in einem Kontext stattfinden, der nicht immer schon verkehrt
war. So schreibt Marx:
»Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältniß zur Welt
als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe
austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst
geniessen willst, mußt du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein;
wenn du Einfluß auf andre Menschen ausüben willst, mußt du ein
wirklich anregend und fördernd auf andere Menschen wirkender
Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen und zu der
Natur – muß eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens ent-
sprechende Äusserung deines wirklichen individuellen Lebens sein.
Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, d. h., wenn dein
Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe producirt, wenn du durch
deine Lebensäusserung als liebender Mensch dich nicht zum gelieb-
ten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück.«72
Eine schöne, menschliche Darstellung der Authentizität, die viel
über Marx verrät, wie ich meine. Philosophisch ist das Ganze aller-
dings nicht unproblematisch: Marx setzt etwas voraus, was ich ein-
mal als »natürliche« Welt bezeichnen möchte; eine Welt, die nicht
»verkehrt«, sondern gleichsam von Natur aus ist, wie sie eben ist.
In dieser Welt ist Liebe Liebe, Vertrauen Vertrauen, Kunst Kunst.
Es handelt sich um eine Welt, von der wir vor allem in der Erzie-
72 Ebd., S. 322.
Das Geld in der Gesellschaft 69
hung unserer Kinder so tun, als wäre sie wirklich. Das Geld verwirrt
diese Identitäten, diese Singularitäten. Singularitäten, weil ich meine
Liebe singulär als meine Liebe erfahre, und wenn sie nicht erwidert
wird, bin ich unglücklich. Das ist die gleichsam natürliche Weise,
wie Liebe geschieht. Dann habe ich gar nicht nötig, dass ich mir das
Geliebte kaufe, selbst wenn ich es könnte. Doch dieses »selbst wenn
ich es könnte« ist wichtig. Denn durch diese Möglichkeit, dass ich
mir Liebe kaufen kann (und es wäre naiv, zu meinen, das gäbe es
nicht; naiv zu meinen, es gäbe keine schichtenspezifische Partner-
wahl etc.), tritt eben eine »Entfremdung« der natürlichen Welt ein.
Die Welt wird denaturiert.
Problematisch an dieser Sicht ist, dass eine solche nicht-verkehrte
Welt beinahe wie eine Idee, ein Ideal erscheint. Marx kann nicht
behaupten, dass eine solche Welt, in der alles das ist, was es ist, je-
mals wirklich war. Gewiss, wenn es kein Wissen von einer derart
»natürlichen« Welt gäbe, könnte man nicht von einer »verkehrten
Welt« sprechen. »Verum est index sui et falsi« – die Wahrheit zeigt
sich selbst und die Falschheit an, schreibt Spinoza. (Nehmen Sie das
Licht: Es erleuchtet sich selbst und seine Grenze zur Dunkelheit.)
Doch das ist eine formale Klärung dessen, was Wahrheit ist. Wer
eine »natürliche« Welt voraussetzt, um ihre Verkehrung beschrei-
ben zu können, bleibt im Bereich des Formalen. Das widerspricht
jedoch dem Marx’schen Anspruch, zu verstehen, wie die wirkliche
Wirklichkeit funktioniert.
Dieses Problem kehrt in Marx’ Erläuterung der »Entfremdung«
wieder. Die Erkenntnis eines entfremdeten Zustands des Menschen
setzt die Kenntnis von einem nicht-entfremdeten voraus. Wir müs-
sen uns fragen, ob Marx’ mit seinem »Entfremdungs«-Verständnis
noch unsere wirkliche Wirklichkeit trifft. Das werden wir in der
siebenten und achten Vorlesung tun. Zuvor aber müssen wir uns
noch mit etwas anderem, mit Marx’ Aufsatz Zur Judenfrage von
1844 beschäftigen. Dieser schwierige Aufsatz hängt auf eine spezifi-
sche Weise mit Marxens Auffassung des Geldes in den Ökonomisch-
philosophischen Manuskripten zusammen.
6. Vorlesung
Marx und die »Judenfrage«
In der kleinen Schrift Zur Judenfrage von 1843/44 – ebenso wie der
von mir hier früher interpretierte Aufsatz Zur Kritik der Hegel
schen Rechtsphilosophie in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern
erschienen – setzt sich Marx kritisch mit einem seiner junghegeli-
anischen Kombattanten, Bruno Bauer, auseinander. Bauer war zu-
nächst ein sogenannter »Rechtshegelianer«. Er studierte bei dem
Hegelianer und protestantischen Theologen Philipp Marheineke, der
Hegels Religionsphilosophie in sein eigenes Denken übernahm und
ausbaute. 1834 promovierte Bauer und wurde anschließend habili-
tiert. Er vertrat den Standpunkt der Hegel’schen spekulativen Reli-
gionsphilosophie, änderte aber bald seine Position und wurde eine
führende Figur der Links- bzw. Junghegelianer. 1837 begegneten
Marx und Bauer sich zum ersten Mal in Berlin, und man kann wohl
sagen, dass Bauer Marx zu dieser Zeit stark beeinflusste.
In Zur Judenfrage bezieht sich Marx auf Bauers Schriften Die
Judenfrage sowie Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen,
frei zu werden von 1843. Worum aber handelt es sich beim Thema
»Judenfrage«? Ich frage so, weil Ihnen fremd vorkommen mag, dass
es in der Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt ein solches Thema
gab, dass man darüber diskutieren konnte oder sogar musste. Ver-
mutlich hängt seine heutige Fremdheit mit der Vernichtung des
europäischen Judentums in der Shoah zusammen. Sie reduzierte die
Präsenz des Judentums in Deutschland nach dem Krieg auf ein ver-
schwindendes Maß. Heute spricht man über die »Flüchtlingsfrage«,
eben weil die Flüchtlinge anscheinend eine spürbare Realität in un-
serem Leben haben. Im 19. und 20. Jahrhundert hatte das Juden-
tum diese spürbare Realität. (Wir könnten die Erfahrungen mit der
»Judenfrage« in den Umgang mit der »Flüchtlingsfrage« eingehen
Marx und die »Judenfrage« 71
lassen – was mehrere Konsequenzen hätte, die ich hier nicht weiter
erläutern kann.)
Das Stichwort, um das sich die Diskussion zwischen Bauer und
Marx dreht, ist »Emanzipation«. Ich hatte Ihnen die Bedeutung die-
ses Begriffs im Marx’schen Denken bereits erläutert: »Die deutschen
Juden begehren die Emanzipation. Welche Emanzipation begehren
sie? Die staatsbürgerliche, die politische Emanzipation.«73 So be-
ginnt Marx’ Aufsatz. Ich muss Ihnen zunächst ein wenig den Zu-
sammenhang zwischen »Judenfrage« und »Emanzipation« erläutern.
Dazu zitiere ich Ihnen einen Artikel aus einem interessanten klei-
nen Lexikon, dem Philo-Lexikon,74 das den Untertitel: Handbuch
des jüdischen Wissens hat. Es erschien 1934 im Berliner Philo Ver-
lag. Zu seinen Mitarbeitern gehörten die Rabbiner Leo Baeck und
Joachim Prinz. Vom zweiten erschien ebenfalls im Jahr 1934 ein sehr
interessantes Buch mit dem Titel Wir Juden.75 Noch konnten solche
Bücher in Nazi-Deutschland veröffentlicht werden. Prinz floh 1937
in die USA. Baeck weigerte sich, zu emigrieren, und wurde 1943
nach Theresienstadt deportiert. Er überlebte und emigrierte 1945
nach England. Hier der Eintrag »Emanzipation« aus dem »Philo-
Lexikon«:
»Emanzipation (röm.-rechtl. Begriff f. Entlassung aus d. väter-
lichen Gewalt) bedeutet in Bezug auf J Erlaß bzw. Geltung gesetz-
geberischer Akte, die d. Gleichberechtigung d. J zur Folge haben.
Geistesgeschichtlich durch Aufklärung u. Naturrecht vorbereitet,
wurde E. zuerst in der im Zusammenhang mit d. Freiheitskämpfen
d. Ver. Staaten von Amerika erlassenen Virginischen Deklaration
1776 (Gewissens- und Religionsfreiheit) verwirklicht. Mit d. Fran-
zösischen Revolution wurde auf d. Nationalversammlung (1790)
Gleichberechtigung der J verkündet. In Preußen wurde d. E.-Edikt
vom 11. 3. 1812, das d. J als Staatsbürger anerkannte, später rechtlich
u. praktisch wieder eingeschränkt. 1869 bzw. 1871 war in Dt. die E.
vollendet; seit 1933 durch Ariergesetzgebung eingeschränkt. Bestre-
bungen zur ›Gruppen-E.‹ seit 1933.«
Zeiten so, dass sich die Juden gesellschaftlich befreien konnten, in-
dem sie sich zum Christentum bekehrten. Das lehnt Bauer ab: Ja, die
Juden sollen sich von ihrer Religion befreien, aber zugleich auch von
der christlichen. Marx fasst das kritisch so:
»Es handelt sich immer noch um ein Bekenntnis für den Juden,
aber nicht mehr um das Bekenntnis zum Christentum, sondern zum
aufgelösten Christentum.«77
Man könnte sagen, dass bereits Bauers Standpunkt problematisch
ist. Die Emanzipation des Judentums wurde im obigen Lexikon-
Artikel allein rechtlich aufgefasst. Es geht darum, dieselben Bürger-
rechte zu genießen wie ein Christ oder überhaupt wie jeder Mensch
als Mensch. Diese Möglichkeit gewährt die Religionsfreiheit. Jeder
Mensch kann frei an einer Religion partizipieren. Keine Rede davon,
sich notwendig von ihr zu emanzipieren. Es ist daher seltsam, wie
Bauer zu sagen, dass die Juden erst frei würden, wenn sie ihre und
die christliche Religion noch dazu hinter sich ließen.
Marx’ Kritik nimmt diesen Einwand gegen Bauer auf, dreht ihn
aber in eine seltsame Richtung. Bevor ich Ihnen diese Richtung prä-
sentiere, möchte ich noch darauf aufmerksam machen, dass Marx
am Ende des ersten Teils von Zur Judenfrage auf Rousseaus Con-
trat social zu sprechen kommt. Er zitiert eine längere Passage aus
dem zweiten Buch über den Gesetzgeber (»Du législateur«), in dem
Rousseau davon spricht, dass derjenige, der ein Volk einrichten, d. h.
wohl ihm eine Verfassung geben will, die menschliche Natur än-
dern muss (»de changer pour ainsi dire la nature humaine«).78 Er
müsse seine natürliche und unabhängige Existenz durch eine parti-
elle und moralische ersetzen (»de substituer une existence partielle
et morale à l’existence physique et indépendente«); er müsse dem
Menschen seine eigenen Kräfte rauben, um ihm fremde zu geben
(»ôter à l’homme ses forces propres pour lui en donner qui lui soient
étrangères«). Rousseau hat dabei antike, nachgerade mythische Ge-
setzgeber wie Lykurg im Auge, der die Verfassung Spartas geschaf-
fen haben soll. Auch ein Einfluss Machiavellis ist wahrscheinlich.
Rousseau will sagen, dass die Homogenität eines Volkes durch
eine Denaturierung des Individuums hergestellt werden müsse. Der
77 Ebd.
78 Vgl. ebd., S. 370.
74 6. Vorlesung
Mensch bzw. das Individuum müsse Teil einer Gesellschaft sein, in-
dem er bzw. es aufhört, den Anderen überragen zu wollen. Der
Mensch müsse erfahren, dass er nur gemeinsam mit den Anderen
existieren kann.
Interessant ist, wie Marx das interpretiert. Er schreibt: »Alle
Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Ver-
hältnisse, auf den Menschen selbst.« Und: »Erst wenn der wirkli-
che individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurück-
nimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben,
in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen,
Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ›forces
propres‹ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und
daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der poli-
tischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Eman-
zipation vollbracht.«79
Marx bleibt in seiner Erklärungssprache nicht nur hier Hegeli-
aner, was aber nicht wichtig ist. Der Mensch müsse sich als »Gat-
tungswesen« erkennen, d. h. er müsse sich mit dem Menschen identi-
fizieren. Dann sei das Gesellschaftliche nichts mehr, was er von sich
unterscheiden könnte. Der Mensch sei nicht ein Geschöpf Gottes
und dann noch Teil einer politischen Sphäre. Er sei ganz und gar
ein Gesellschafts-, und d. h. für Marx ein politisches Wesen. Diese
Erkenntnis sei seine Emanzipation.
Was hat das mit dem Judentum zu tun? Anders als Bauer will
Marx nicht den »Sabbatsjuden« betrachten, d. h. den sich religiös
verstehenden Juden, sondern den »Alltagsjuden«, den »wirklichen
weltlichen Juden«. Dazu schreibt Marx:
»Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische
Bedürfnis, der Eigennutz.
Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Wel-
ches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.
Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also
vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation uns-
rer Zeit.«80
79 Ebd.
80 Ebd., S. 372.
Marx und die »Judenfrage« 75
Das ist die seltsame Richtung des Arguments, von der ich vorhin
sprach. Für Marx ist die Emanzipation des Juden eines »vom Geld,
also vom praktischen, realen Judentum«. Wieso ist das Geld aber
die Praxis und Realität des Judentums? Marx bezieht sich auf ein
bekanntes Narrativ:
»Der Jude hat sich auf jüdische Weise emanzipiert, nicht nur, in-
dem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und
ohne ihn, das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist
zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist. Die
Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen zu Juden
geworden sind.«81
Das bekannte Narrativ ist die Engführung von Geld / Kapital und
Judentum. Inwiefern dieses Narrativ auf historische Fakten zurück-
geführt werden kann, ist diskutabel. Hannah Arendt z. B. betont
in den »Elementen und Ursprüngen der totalen Herrschaft«, dass
Juden in den »deutschen Banken« bis in die zwanziger Jahre des
20. Jahrhunderts hinein »seit mehr als hundert Jahren eine Schlüssel-
stellung innegehabt« haben.82 Vermutlich hat sie an dasselbe Phäno-
men gedacht wie Marx: an die Macht von reichen Juden wie z. B. der
Familie Rothschild, die im 19. Jahrhundert eine der größten, wenn
nicht die größte Bank der Welt besaß.
Marx argumentiert aber nicht historisch. Denn er behauptet, dass
»durch den Juden und ohne ihn, das Geld zur Weltmacht« geworden
sei. Gewiss, das »ohne ihn« reduziert die Tragweite der Bemerkung,
doch der Anteil des Judentums an diesem Vorgang wird betont.
Zudem wird er gleichsam als eine Absicht des Judentums markiert.
Es habe sich emanzipiert, indem es den Menschen überhaupt (»die
Christen«) gewissermaßen zu Juden gemacht habe, indem inzwi-
schen das Geld tatsächlich die Welt regiert.
In der letzten Vorlesung hatte ich Ihnen gezeigt, wie Marx seine
Auffasssung der gesellschaftlichen Wichtigkeit des Geldes von
Goethe und Shakespeare aus entwickelt. Die Ökonomisch-philo-
sophischen Manuskripte sind in zeitlicher Nähe zum Aufsatz Zur
81 Ebd., S. 373.
82 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemi-
tismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Piper Verlag: München u. Zürich
1986, S. 32.
76 6. Vorlesung
90 Ebd., 511 f.
91 Wer einmal die Briefe von Marx z. B. an Engels liest, wird feststellen, dass
Marx häufig Deutsch, Englisch und Französisch in einem Brief spricht. Das
geschieht bei einem Philosophen wie Nietzsche niemals. Vgl. z. B. den Brief
von Marx an Engels aus London, vom 11. April 1868, der beginnt: »Dear
Fred, D’abord die general consolations, und speziell Tussychens, über den
verschiedenen right honourable hedgehog.« MEW 32. Dietz Verlag: Berlin
1973, S. 58.
7. Vorlesung
Zur Entfremdung bei Hegel
schon den Begriff, mit dem wir uns in der heutigen Vorlesung be-
schäftigen werden, den Begriff der »Entfremdung«.
Marx hat ihn, wie viele andere Begriffe, von Hegel. Doch bevor
ich zu Hegel komme, um ihn von da her auszulegen, möchte ich
zunächst etwas zum heutigen Gebrauch des Wortes sagen. Es ist
nun nicht gerade häufig, dass wir es verwenden. Wo aber wird es
gebraucht? In intimen Verhältnissen, will sagen, in Verhältnissen, in
denen eine Nähe, eine Vertrautheit zwischen den aufeinander be-
zogenen Wesen besteht. Ich wähle vorläufig ein dummes Beispiel,
aber es soll ja auch nur etwas klären: Ich habe einen Hund, fliege
aber für einige Zeit ins Ausland und lasse ihn bei meinen Nachbarn.
Ich komme zurück und stelle fest, der Hund hat sich mir entfrem-
det. Er verhält sich unvertraut, ich bin ihm fremd geworden. Es hat
sich also eine vorher nicht vorhandene Fremdheit eingestellt. Das
ist bemerkenswert, weil das Wort »Entfremdung« hinsichtlich der
Vorsilbe »Ent-« nicht der Wegnahme des Hauptsinnes »Fremdheit«
(wie z. B. beim Wort »Enttäuschung«) entspricht. Die Entfremdung
hier ist ein Hinzubringen von Fremdheit. Marx versteht das Wort
in unserem Sinne, während Hegel das »Ent-« noch als Aufhebung
des Fremdseins interpretiert.
Ich werde nun zu einer berühmten und sehr schwierigen Stelle
aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes von Hegel kom-
men, um den philosophischen Begriff der Entfremdung, wie er von
diesem Philosophen gefasst worden ist, zu interpretieren. Dort heißt
es:
»Der Geist wird aber Gegenstand, denn er ist diese Bewegung,
sich ein Anderes, d. h. Gegenstand seines Selbsts zu werden, und
dieses Anderssein aufzuheben. Und die Erfahrung wird eben diese
Bewegung genannt, worin das Unmittelbare, das Unerfahrene, d. h.
das Abstrakte, es sei des sinnlichen Seins oder des nur gedachten
Einfachen, sich entfremdet, und dann aus dieser Entfremdung zu
sich zurückgeht, und hiemit jetzt erst in seiner Wirklichkeit und
Wahrheit dargestellt wie auch Eigentum des Bewußtseins ist.«93
(Ich freue mich jedesmal, wenn ich etwas aus einem so großarti-
gen Text wie der Vorrede der Phänomenologie des Geistes zitieren
und interpretieren darf. Dieses Buch ist ein Höhepunkt der Ge-
»Ich habe einen Gedanken«. Dieses Verhältnis ist uns zwar nicht
immer bewusst, aber wir können es uns bewusst machen: Ich bin
ein Verhältnis.
Der »Geist« kann sich selbst »Gegenstand« werden, weil er diese
reflexive Struktur hat; re-flexiv, er kann sich auf sich selbst zurück-
beugen: Re-flexion, Rück-beugung. Dieses »Re-« ist interessant in-
sofern, als es sagt, dass die Reflexion stets ein Nachtrag ist. Erst muss
etwas sein, zu dem ich mich zurück-beugen kann. So hier: wenn ich
die ganze Zeit erkläre, was die Struktur des Geistes ist, dann habe
ich ihn schon voraus-gesetzt. Wir wissen ja schon, worum es geht.
Wir müssen das nur noch etwas ent-wickeln.
Nun sagt Hegel noch etwas weiteres, was wir eigentlich schon
kennen: Der »Geist« muss sein »Anderssein aufheben«. Ich habe
Ihnen schon den Sinn des Wortes »Aufheben« bei Hegel und auch
bei Marx erläutert. Es geht um die dialektische Bewegung des Den-
kens, des Geistes. Der Geist wird »sich« ein »Anderes«. Doch er
bleibt nicht an dieser Position seiner »Bewegung«. Er geht durch
diese Position, dieses »Anderssein«, hindurch. Das tut er so, i ndem
er es »aufhebt«, d. h. vernichtet, bewahrt und heraufhebt zugleich.
Er verneint sein Anderssein, er bewahrt etwas davon (es ist ja eine
Entwicklung) und hebt es hinauf; wird demnach, wenn Sie so wol-
len, immer etwas klüger bzw. geistiger. (»Aus Schaden wird man
klug.«)
Ein weiterer wichtiger Begriff des Hegel’schen Denkens erscheint:
die »Bewegung« sei »Erfahrung«. Vielleicht kennen Sie den Begriff
der »Erfahrung« von der Kantischen Philosophie her, vielleicht so-
gar von David Hume, von dem Kant ihn hat. Für Hume ist »Erfah-
rung« stets sinnliche Erfahrung, eine Erfahrung, die sich selbst als
»wirklich« erweisen kann. In dieser Hinsicht ist die Naturwissen-
schaft Erfahrungswissenschaft. Sie ist auf Gegenstände bezogen, die
in der Wirklichkeit vorliegen (selbst wenn sie sich in den atomaren
oder subatormaren Bereich begibt, selbst wenn es Schwierigkeiten
»objektiver Erkenntnis« gibt, ist die Naturwissenschaft doch immer
auf etwas Seiendes bezogen). Für Hegel aber stellt sich das Problem
der Erfahrung etwas komplexer dar.
Die »Erfahrung« ist für Hegel die Bewegung des Selbst von e inem
zu einem anderen Anderssein. Wir verwenden den Begriff Erfahrung
ja zuweilen auch so: jemand ist erfahren, er verfügt über eine reiche
Zur Entfremdung bei Hegel 83
verlieren. Ich bin nicht mehr in der Musik, in der Liebe, wenn ich
mir klarmachen soll, dass dieses »in« eigentlich ein »Unerfahrenes«
ist. Denken Sie an den Tanz: Sie tanzen gerade Samba oder Salsa und
nun sagt jemand: »Denke, mache Dir bewusst, was Du hier tust.«
Ja, dann ist es wohl vorbei mit dem Tanz. Die Frage ist demnach:
wieviel darf eigentlich an der Unmittelbarkeit einer Erfahrung ver-
nichtet werden, so dass sie sich weiterentwickelt. Vielleicht weiß ich
wirklich mehr über den Tanz Salsa, wenn ich darüber nachdenke,
wie er funktioniert. Aber ich habe doch den Tanz verloren, ja, ich
bin jetzt auch kein Tänzer mehr. Und darum geht es doch beim Tan-
zen, Tänzer zu sein. Ich muss nicht wissen, wie man schwimmt, ich
muss schwimmen können … Aber in der Philosophie geht es nun
einmal vorzüglich um das Denken, nicht um das Tun. Trotzdem ha-
ben Philosophen wie Schopenhauer oder Nietzsche Hegel für diesen
Gedanken kritisiert: dass gleichsam erst die Abtötung des Lebens
dieses selbst verständlich werden lässt.)
Zurück zu unserer Stelle. In dieser Erfahrung bzw. Bewegung ist
es, »worin das Unmittelbare, das Unerfahrne, d. h. das Abstrakte,
es sei des sinnlichen Seins oder des nur gedachten Einfachen, sich
entfremdet«. Noch steht uns das Wort des »Abstrakten« im Wege.
Für uns ist das Abstrakte etwas Ausgedachtes, bloß Theoretisches.
Hegel hört in dem Wort den lateinischen Ursinn: das Ab-strakte ist
etwas Ab-gezogenes, so wie wir von einem Hasen das Fell abzie-
hen können.94 Dann haben wir nicht den Hasen selbst, aber doch
eben sein Fell. Das Abstrakte ist das nur Abgezogene, das mit dem
eigentlichen Ding gar nichts mehr oder kaum etwas zu tun hat. Das
ist nun für Hegel das Unmittelbare oder Unerfahrene. Es ist das
noch nicht Verstandene, das daher noch nicht konkret geworden ist.
Das Unerfahrene ist das Abstrakte, die Erfahrung des Hasen besteht
nicht darin, dass man sein Fell in der Hand hat. Der Hase ist mehr
oder sogar etwas Anderes als sein Fell.
Der abstrakte Hase – damit habe ich schon gesagt, dass für Hegel
auch das »sinnliche Sein« abstrakt sein kann, also nicht nur etwas
Gedachtes, Ausgedachtes. Wenn ich etwas Sinnliches nur flüchtig
zur Kenntnis nehme, dann bleibt es abstrakt. Tanzen kann ich nicht
94 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wer denkt abstrakt? In: Ders.:
Jenaer Schriften (1801–1807). Werke 2. A. a. O., S. 575–581.
Zur Entfremdung bei Hegel 85
flüchtig zur Kenntnis nehmen, ich muss Tanzen können, d. h. ich
muss mir konkret aneignen, wie man tanzt. Jemand, der weiß, wie
man tanzt, es aber nicht kann, der hat ein »abstraktes Wissen«, was
ihm beim Tanzen aber nicht weiterhilft.
Das kann nun bei einem Gedachten genauso sein: wer sich nur
den Wikipedia-Artikel über Hegel anschaut und nicht versucht,
seine schwierigen Texte durchzuarbeiten, der bleibt bei einem nur
»abstrakten Wissen« stehen, er weiß nicht, worum es Hegel »kon-
kret« geht.
Nun also: diese Bewegung ist es, worin sich das »Unmittelbare«
»entfremdet«. Ich habe Ihnen Beispiele dafür geliefert. Liebe und
Tanz ereignen sich doch nur so, indem sie uns vertraut sind. Wir
sind ganz darin, im Lieben, im Tanzen, und jeder Gedanke daran
unterbricht dieses Darinsein. Daher ist die Bewegung, die dieses
Unmittelbare »vermittelt«, d. h. verstanden sein lässt, eine »Entfrem-
dung«, eine Störung oder Zerstörung des Vertrautseins. Jetzt, in der
Entfremdung, wird verstanden, worum es eigentlich im Vertraut-
sein ging.
Das geschieht aber erst wirklich in der Rückkehr: »und dann aus
dieser Entfremdung zu sich zurückgeht, und hiemit itzt erst in sei-
ner Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt wie auch Eigentum des
Bewußtseins ist.« Das heißt die Entfremdung wird nicht aufrecht
erhalten, sie wird aufgehoben zu einer endgültigen Aneignung des-
sen, was vorher noch nicht verstanden, noch nicht erfahren worden
war.
Mit anderen Worten: Die Entfremdung ist für Hegel etwas, was
der Geist notwendig durchmachen muss. Er muss, um erfahrener
zu werden, sich von seinen bisherigen Vertrautheiten, von dem, was
gleichsam schon in ihm steckt, entfremden. Erst so kann er sich
wirklich besitzen, kann er sich sich selbst aneignen.
Dafür gibt es durchaus auch Beispiele: So werden Sie z. B. nichts
kennenlernen, wenn Sie immer schön in Ihrer Wohnung hocken
bleiben. Der Stubenhocker (nerd), der nicht ȟber den Tellerrand
hinaus« schaut und denkt, der wird die Welt nicht kennenlernen,
der wird nichts erfahren in seinem Leben. Dafür müsste er sich ei-
ner gewissen Entfremdung aussetzen. Wir sollten doch auch einmal
ein anderes Land, eine andere Kultur sehen, um nicht dumm in uns
selbst stecken zu bleiben. Wer nicht bereit ist, sich dem Fremden
86 7. Vorlesung
95 Dazu kann aber auch gehören, aus den gemachten Erfahrungen mit dem
Fremden seine frühere Position zu korrigieren. Das Fremde kann sich durch-
aus als gewalttätig erweisen; ihm muss dann anders entgegengetreten werden.
Trotzdem bleibt seine Vernichtung ausgeschlossen schon allein deshalb, weil
das Vertraute sich nur in der Auseinandersetzung mit Fremdem erweist.
8. Vorlesung
Zur Entfremdung bei Marx
Was macht nun Marx mit diesem Begriff der »Entfremdung«? Ich
befinde mich immer noch in den Ökonomisch-philosophischen
Manuskripten. Marx kritisiert Hegel deutlich: »Der entfremdete
Gegenstand, die entfremdete Wesenswirklichkeit ist – da Hegel den
Menschen = Selbstbewußtsein sezt – nichts als Bewußtsein, nur
der Gedanke der Entfremdung, ihr abstrakter und darum inhalts
loser und unwirklicher Ausdruck, die Negation.«96 Wir kennen die
Marx’sche Kritik an Hegel ja nun inzwischen. Marx wirft Hegel
vor, dass sich dessen Philosophie sozusagen nur im und für das Be-
wusstsein ereignet. Hegels Philosophie versteht die Entfremdung
nur als »Gedanken«, als eine Entfremdung im Denken, im Geist,
wenn Sie so wollen. Hegels Entfremdung ist eine Negation nur auf
der Ebene der Logik.
Nach Marx soll es aber nicht um die gedachte Wirklichkeit ge-
hen, sondern um die wirkliche Wirklichkeit. Erst im Ausgang von
der wirklichen Wirklichkeit ist es sinnvoll, zu philosophieren. Ent-
fremdung muss wirkliche Entfremdung sein, wenn man schon von
ihr sprechen will.
Klar, Marx hatte nach seiner Kritik an Hegel erkannt, dass man
nicht einfach von der »bürgerlichen Gesellschaft« sprechen kann,
ohne sie zu verstehen; ohne zu wissen, wie sie funktioniert (wie
Wirklichkeit funktioniert …). Daher hat er sich mit den Theorien
der Nationalökonomie beschäftigt (von Smith, Ricardo und ande-
ren). Bei dieser Beschäftigung überrascht es nicht, dass man den Pri-
mat des philosophischen Denkens aufs Spiel setzt. Marx ging davon
aus, dass die »Logik« (im Hegel’schen Sinne) nicht die apriorische
97 Ebd., S. 290.
98 Ebd.
Zur Entfremdung bei Marx 89
»Zahl 2«? Nein, es gibt einen Körper, der das Bedürfnis spürt und
darauf reagiert.
Marx hat etwas zum »Hunger« geschrieben, und zwar in den
Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, um die es immer noch
geht. Ich finde das ganz anschaulich, möchte es deshalb kurz erwäh-
nen und besprechen. Marx schreibt:
»Daß der Mensch ein leibliches, Naturkräftiges, lebendiges, wirk-
liches, sinnliches Gegenständliches Wesen ist, heißt, daß er wirk-
liche, sinnliche Gegenstände zum Gegenstand seines Wesens, sei-
ner Lebensäußerung hat oder daß er nur an wirklichen, sinnlichen
Gegenständen sein Leben äussern kann. Gegenständlich, natürlich,
sinnlich sein und sowohl Gegenstand, Natur, Sinn ausser sich haben
oder selbst Gegenstand, Natur, Sinn für ein drittes sein ist identisch.
Der Hunger ist ein natürliches Bedürfniß; er bedarf also einer Natur
ausser sich, eines Gegenstandes ausser sich, um sich zu befriedigen,
um sich zu stillen. Der Hunger ist das gestandne Bedürfniß meines
Leibes nach einem ausser ihm seienden, zu seiner Integrirung und
Wesensäusserung unentbehrlichen Gegenstand.«100
Ein Natur-Wesen zu sein heißt für Marx, »seine Natur ausser sich
haben«. Insofern der Mensch ein natürlicher Gegenstand ist (er hat
einen Körper), hat er auch Gegenstände außer sich. Ich bin mir nicht
ganz sicher, wie das gemeint ist. Aber womöglich könnte man sagen,
dass die Philosophie des (Selbst-)Bewusstseins davon ausgeht, dass
es alles in diesem Bewusstsein hat, dass es eine Bewusstseins-Imma-
nenz gibt, in der sich das Bewusstsein einnisten kann. Das Bewusst-
sein hängt nicht von etwas ab, was es außer sich hat, wie der Leib.
Es ist nun die Frage, welche Bedeutung wir dem Hunger im Ver-
gleich zum Gedanken, dem Körper und seinen natürlichen Bedürf-
nissen im Bezug zum Denken zusprechen. Müssen wir nicht z. B.
sagen, dass der Mensch sich primär zu seiner Welt oder Wirklichkeit
so verhält, dass er seine Bedürfnisse stillen muss? Müssen wir nicht
arbeiten, genau deswegen, weil wir unseren Hunger, unseren Durst,
unser Wohnbedürfnis etc. befriedigen müssen? Was wäre geschehen,
wenn der Höhlenmensch lediglich an die Zahl 2 gedacht hätte, ohne
zu erkennen, dass sein Verhältnis zur Natur darin besteht, in ihr nur
auf der Basis von Arbeit überleben zu können?
Es gibt allerdings »Hunger« und – Hunger. Der wirkliche Hun-
ger ist eine Grenzerfahrung. Er nähert sich der Vernichtung des
Menschen, seines Menschseins. Hunger, der tief ins Leben schnei-
det, ist unerträglich. Jedenfalls ist er ein Anzeichen dafür, dass das
Unerträgliche möglich ist. Die Frage ist nur, was aus unerträglichem
Hunger noch hervorgehen kann.101 Ich erwähne das Unerträgliche
des Hungers nicht beiläufig. Vielmehr steht das Unerträgliche im
Zentrum von Marx’ Auffassung der Revolution.
Hier ist der Hunger und der Durst des Körpers zunächst der
Zugang zur wirklichen Wirklichkeit. Oder anders gesagt: Die Wirk-
lichkeit erweist sich als Hunger und geht deshalb den theoretischen
Möglichkeiten des Menschen voraus. Das hat Marx u. a. in folgenden
eindringlichen Sätzen dargestellt:
»Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte
Sein, & das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.«102
»Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben
bestimmt das Bewußtsein.«103
»Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, son-
dern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein
bestimmt.«104
Der erste Satz aus der Deutschen Ideologie bestätigt in einer ge-
wissen Hinsicht Hegel. Er besagt: ja, es geht um das Bewusstsein,
der Mensch ist Bewusstsein, aber das »bewußte Sein« ist der »wirk-
liche Lebensprozeß« des Menschen. Dieser ist sozusagen prinzipiell
hungrig und durstig – er muss sich versorgen, muss wohnen, braucht
Wärme und Wasser, Elektrizität. Er möchte Kinder zeugen und auch
101 Vgl. zum Hunger Carolina Maria de Jesus: Tagebuch der Armut. Auf-
zeichnungen einer brasilianischen Negerin. Christian Wegner Verlag: Ham-
burg 1962. Es handelt sich bei diesen Aufzeichnungen um das Tagebuch
einer Frau, die in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit ihren
drei Kindern in einer Favela bei São Paulo lebt.
102 Karl Marx / Friedrich Engels: Deutsche Ideologie. Manuskripte und Dru-
cke. Text. MEGA I. 5. De Gruyter Verlag / Akademie Forschung: Berlin 2017,
S. 135.
103 Ebd., S. 136.
104 Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. In: Karl Marx / Fried-
rich Engels: Werke (MEW). Bd. 13. Dietz Verlag: Berlin 1974, S. 9.
Zur Entfremdung bei Marx 93
sie versorgen. Das ist es, was unser Bewusstsein zuerst beschäftigt –
und was den Menschen ausmacht.
Der zweite Satz (ebenfalls aus der Deutschen Ideologie) sagt
noch etwas mehr. Marx verwendet das Wort »bestimmen«. »Bestim-
men« wird hier verstanden als »beherrschen«. Nun sagt Marx ganz
direkt: das Leben bestimmt das Bewusstsein und nicht anders h erum.
Das ist eine weitreichende Behauptung. Kann sie gestützt werden?
Zunächst: wenn ich meine Bedürfnisse nicht befriedige, sterbe ich.
Das ist eine Banalität. Doch was bedeutet sie? Nun: als Asket kann
ich mich sehr weitgehend gegen meine Bedürfnisse wenden, ich
kann sogar willentlich verhungern – aus welchen Gründen auch im-
mer. Ich kann mich selbst töten. Ist das nicht ein Beweis dafür, dass
die Umdrehung, die Marx vollzieht, wieder zurückgedreht werden
kann? Beweist nicht die Möglichkeit des Selbstmords, dass das Be-
wusstsein stärker ist als das Leben? Andererseits gibt es Zustände
heftigen Hungers und Durstes, in denen das Bewusstsein sich so
sehr verändert, dass es zu keiner Entscheidung mehr in der Lage ist.
Sei es wie es sei; in einem Punkt hat Marx Recht: Es ist ja wirklich
so, dass das gesellschaftliche Leben des Menschen zunächst d arin
besteht, seine Bedürfnisse zu befriedigen und diese Befriedigung zu
sichern. Das besagt jener dritte Satz; er stammt aus der Kritik der
Politischen Ökonomie, einem späteren Text von Marx. Das »gesell-
schaftliche Sein« bestimmt in all seinen Bedeutungen tatsächlich das
Bewusstsein. Jede Tätigkeit, die das Subjekt im »gesellschaftlichen
Sein« ausführt, dient primär der Befriedigung seiner Bedürfnisse.
Wir arbeiten, um unser gesellschaftliches und d. h. auch privates Da-
sein zu sichern. Und diese Arbeit, das kann man doch sagen, hat
absoluten Vorrang. Man kann vielleicht sagen: Ich könnte mich ge-
gen die Arbeit entscheiden, gegen das Arbeiten, doch ich tue es fak-
tisch nicht, weil ich dann nicht mehr als gesellschaftliches Wesen
leben könnte. Unser »gesellschaftliches Sein« ist ein Sein der Arbeit,
nicht der philosophischen Diskussion. Wir philosophieren so, wie
es uns unser »gesellschaftliches Sein« erlaubt. Das heißt, dass wir
unerträglich hungernd nicht mehr philosophieren.
In dieser Hinsicht trifft also Marx’ Betonung der wirklichen
Wirklichkeit gegen Hegels vernünftige Wirklichkeit doch zu: Auch
Hegel arbeitete als Berliner Philosophie-Professor und wäre nie auf
den Gedanken gekommen, die Freiheit des Bewusstseins dadurch zu
94 8. Vorlesung
107
Xenophon: Die Sokratischen Schriften. Memorabilien / Symposion / Oiko
nomikos / Apologie. Hrsg. von Ernst Bux. Alfred Kröner Verlag: Stuttgart
1956, S. 76.
Zur Entfremdung bei Marx 97
tät, die für seine jeweilige Besonderheit oder sogar Eigenheit (oder
Eigentlichkeit?) kein Interesse aufbringt, für einen neutralen Beob-
achter erstaunlich sein müsste. Nach Marx hat die durch-kapitali-
sierte Wirklichkeit den Menschen in seine totale Selbstaufgabe ge-
trieben. Die Frage ist allerdings, ob er überhaupt etwas hatte, was
aufzugeben war.
9. Vorlesung
Arbeit und Natur
108 Die Stelle lautet im Zusammenhang: »In einer höheren Phase der kom-
munistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Indi-
viduen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und
körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel
zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem
mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte
gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums vol-
ler fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz über-
schritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach
seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« Karl Marx: Kritik des
Gothaer Programms. MEW 19. Dietz Verlag: 1969, S. 21.
100 9. Vorlesung
nen und achten sich und einander gegenseitig, ihre Tätigkeiten und
Bedürfnisse. Das wäre eine nicht-entfremdete Welt.
In der Welt, in der wir hier und jetzt leben, spielt die »Arbeit«
eine zentrale Rolle. Ich hatte Ihnen in der letzten Stunde den Ge-
danken aus der Kritik der Politischen Ökonomie vorgetragen, der
im Zentrum des Marx’schen Denkens steht: »Es ist nicht das Be-
wusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesell-
schaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.« Dieser Gedanke
ist in jeder Hinsicht einflussreich geworden. So in unserer Einsicht,
dass die Umstände, in die jemand hineingeworfen wird und in denen
jemand aufwächst, »prägen«. Wenn Sie in eine Familie von »Arbei-
tern« hineingeboren werden (was wir heute »untere Mittelschicht«
nennen), dann haben Sie nicht dieselben Chancen wie ein Kind in
einer reichen Familie. Und wenn sie in einer brasilianischen Favela
aufwachsen, dann haben Sie erst recht bestimmte Chancen – die
einer akademischen Karriere z. B. – nicht.
Marx hat diesen Gedanken auch noch anders gefasst. Ebenfalls
in der Kritik der Politischen Ökonomie schreibt er:
»In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die
Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige
Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Ent-
wicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die
Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische
Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristi-
scher und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte ge-
sellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen.«109
Das will sagen, dass der Mensch in seinem »gesellschaftlichen
Sein« die Verhältnisse, in denen er existiert, nicht frei wählt. Sie sind
von seinem »Willen unabhängig«. Ich kann nicht einfach reich sein
wollen und schon bin ich es. Und selbst wenn ich reich bin, wenn
ich also meine gesellschaftlichen Verhältnisse verbessert haben sollte,
muss ich immer noch in Verhältnissen leben, die ich nicht so einrich-
ten kann, wie ich will. Selbst der »Kapitalist« muss gesellschaftliche
Verhältnisse akzeptieren, die er nicht organisieren kann.
Diese Verhältnisse als »ökonomische Struktur« bilden eine
»reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau«
111 Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke 3. A. a. O., S. 154, 433. Nor-
malerweise zitiert man solche Stellen nicht, ohne sie ausführlicher zu inter-
pretieren; was mir hier aus Zeitgründen nicht möglich ist.
Arbeit und Natur 103
Marx schreibt im ersten Band des Kapitals: »Die Arbeit ist zu-
nächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin
der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat
vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als
Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Natur-
kräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um
sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form
anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer
ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur.
Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft
das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit.«112
Der Mensch ist nicht in der Lage, wie die Tiere das unmittel-
bar Gegebene der Natur für sich zu nutzen. Er muss das, was er in
der Natur vorfindet, verändern, bearbeiten. Um die Natur verän-
dern und bearbeiten zu können, muss er sich allgemeine Werkzeuge
schaffen, um sich damit spezielle Werkzeuge zu schaffen (so z. B. die
Schmiede, um Messer und Beile etc. zu produzieren). Er muss das
tun, er hat keine andere Wahl. Ein seltsames Phänomen: er muss der
Natur selber »als Naturmacht« »entgegentreten«, weil er, wenn er
es nicht täte, der Natur ohnmächtig ausgeliefert wäre.
Marx sieht schon, dass diese Begegnung keine symmetrische ist.
Es findet eine Unterwerfung der Natur statt. Der Aspekt der Macht
und Herrschaft im Verhältnis zwischen Mensch und Natur ist der
Philosophie seit dem Beginn der Neuzeit bekannt. Auch Descartes
macht darauf aufmerksam, dass es darum gehe »nous rendre comme
maîtres et possesseurs de la nature«.113 Der Mensch kann das, weil
er in der Mathematik das Mittel dazu hat. Der Mensch sei demnach
Meister und Besitzer der Natur. Sicher gab die christlich-theologi-
sche Erbschaft dazu den Anstoß: Gemäß dem Satz aus der Genesis,
dass der Mensch auf Gottes Gebot hin sich die Erde unterwerfen
solle, entstand der Gedanke eines dominium terrae, einer Herrschaft
über die Erde also.
114 Vgl.
Bruno Latour: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klima-
regime. Suhrkamp, Berlin 2017.
Arbeit und Natur 105
Auch der Mensch ist Teil der Natur. Sein Körper hat nicht nur
Bedürfnisse, denen er ausgeliefert ist, sondern er ist auch fragil: ich
schneide mich, ich blute; ich habe Schnupfen, mir läuft Schleim aus
der Nase. Da zeigt sich, dass der Körper einer Matrix ausgeliefert ist,
in der ich mich als ohnmächtig erfahre. Der Tod ist dabei die ultima-
tive Erfahrung. Mein Körper zerfällt, ob ich will oder nicht. Um mit
diesem Körper leben und überleben zu können, müssen wir arbeiten.
Das Arbeiten befindet sich keineswegs außerhalb der Natur. Es
ist Teil einer Kausalität genau wie das Leben der Tiere. Ich kann die
Natur nur bearbeiten, indem ich mich in ihre Ursache-Wirkungs-
Ketten geschickt einfüge, indem ich ein Teil von ihnen werde. Auch
Primaten benutzen Werkzeuge, um Lebensmittel für den Verzehr
vorzubereiten. Das lässt sich zwar noch nicht als Arbeit bezeichnen,
erinnert aber an sie. Dennoch muss es zwischen den Tieren und dem
Menschen einen radikalen Unterschied geben.
Die Tiere sind in einer Weise in die Natur eingefügt, in der es
ihnen nicht möglich ist, die Natur nachhaltig zu verändern. Tiere
beeinflussen die Natur nicht so, dass Spuren der Vernichtung un-
übersehbar werden. Mehr noch: So wie ein Krokodil den Nil, in dem
es schwimmt, nicht zerstören kann, wie es sich auch selber nicht zu
töten vermag, scheint auch die Natur selbst sich nicht vernichten zu
können. Der Mensch dagegen hat die Fähigkeit, sich selber zu töten –
und wohl auch die Fähigkeit, die Erde und die mit ihr identifizierte
Natur zu vernichten.
Der Unterschied zwischen Tier und Mensch besteht ohne Zwei-
fel darin, dass die Tiere sich zwar in der Natur verhalten, doch sie
erfahren kein Verhältnis zu ihr. Sie wissen nicht, dass sie Teil der
Natur sind. Der Mensch aber verhält sich in und zur Natur. So hat
er überhaupt einen Begriff von der Natur, kann sie nicht nur bearbei-
ten, sondern auch erforschen. Doch welche Konsequenzen hat diese
menschliche Möglichkeit, sein Verhältnis zur Natur zu reflektieren?
Ich frage deshalb so, weil ja doch einzig und allein seine Arbeit in
und an der Natur, seine Bedürfnisse und die in Arbeit ausgedrück-
ten Weisen ihrer Befriedigung, unmittelbar erdgeschichtliche Kon-
sequenzen haben können. Die Reflexionsfähigkeit als solche bleibt
ohne Folgen; Denken allein kann Natur nicht bearbeiten. – Wie wäre
es deshalb, wenn wir annehmen würden, dass es zwischen den Tie-
ren und dem Natur-Ganzen eine intime Verständigung gibt, einen
106 9. Vorlesung
Ich hatte Ihnen in der letzten Stunde Marx’ meines Erachtens äußerst
aktuelle Bestimmung der »Arbeit« vorgestellt.
Diese Bestimmung enthält in nuce das Verhältnis des Men-
schen zur Natur. Mit ihr haben wir uns bereits ausführlich ausein-
andergesetzt. Ich hatte versucht, Ihnen zu zeigen, inwiefern in der
Marx’schen Erörterung der Arbeit noch die Sündenfall-Geschichte
nachklingt. Die Arbeit ist Ausdruck der Vertreibung aus dem Para-
dies, will sagen, Ausdruck einer Differenz zwischen dem Menschen
und der Natur. Diese Differenz kann nicht absolut sein, weil es un-
sere eigene Natur und Bedürftigkeit ist, die uns dazu antreibt, die
Natur zu unseren Gunsten zu bearbeiten und zu verändern.
Der Mensch verändert die Natur, indem er sie bearbeitet, und in
dieser Bearbeitung verändert er sich selbst als Gattungswesen, d. h.
er bereichert sich, er sorgt für seine Gesundheit, er entwickelt Tech-
nologien, mit denen er seinen Körper zu verändern beginnt bis hin
zum Cyborg. Das geschieht in der Arbeit bzw. geschah in den Jahr-
tausenden, seit der Mensch begann, die Natur zu bearbeiten. Seither
hat der Mensch immer neue Technologien entwickelt, mit denen er
weitere Technologien entwickeln konnte. (Ob er sich damit aller-
dings die Arbeit allgemein erleichtert hat, ist eine schwierige Frage.)
Nun komme ich zu einem weiteren Charakterzug der »Arbeit«.
Dabei erinnere ich an ein Marx-Zitat aus der vierten Stunde: »Das
subjektive Wesen des Privateigenthums, das Privateigenthum als für
sich seiende Thätigkeit, als Subjekt, als Person, ist die Arbeit.« Zwi-
schen Privateigentum und Arbeit, so haben wir bereits festgestellt,
besteht eine Beziehung, anscheinend eine direkte. Diese Beziehung
ist nichts anderes als Sinn und Zweck der Nationalökonomie. Öko-
nomie ist die theoretische Erfassung des Bezuges von Privateigen-
tum und Arbeit.
108 10. Vorlesung
was er will. Arbeit führt also zu Privateigentum, über das ich frei
verfüge. Gibt es dazu eine Alternative?
Diese Alternative kennt Marx in den Ökonomisch-philosophi-
schen Manuskripten noch nicht. Was er weiß, ist, dass es eine Arbeit
gibt, die im kollektiven Interesse vollzogen wird und sich daher ei-
nes Eigentums bedienen muss, das ebenfalls kollektiv ist. Doch was
soll das für das Subjekt, für die Person bedeuten? Verliert sie jedes
Eigentum? Lebt sie nur noch in einer Welt des kollektiven Eigen
tums? Marx wird später erklären, dass in der kommunistischen Ge-
sellschaft das Privateigentum abgeschafft sein wird. Die kommu-
nistische Gesellschaft ist nicht die sozialistische Gesellschaft, in der
die Produktionsmittel, also die Mittel, mit denen die Subjekte ihre
Arbeit verrichten, verstaatlicht werden. In der kommunistischen Ge-
sellschaft gibt es auch die Verstaatlichung nicht mehr, weil es den
Staat nicht mehr gibt. Das klingt jedem irgendwie in europäischen
Überlieferungen Aufgewachsenen sehr fremd, geradezu abenteu-
erlich. Wie soll die Person ohne Privateigentum leben, existieren?
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Aussage: Marx und
Engels wollen das Privateigentum abschaffen, differenziert werden
muss. Sie betonen im Manifest, dass sie das »persönliche Eigen
tum« im Sinne des »bürgerlichen« in der Tat aufheben wollen. Zu-
gleich aber wird festgehalten, dass der »Kommunismus« keinem
»die Macht« nehme, »sich gesellschaftliche Produkte anzueignen«.
Er nehme lediglich »die Macht, sich durch diese Aneignung fremde
Arbeit zu unterjochen«.116 Die Frage, wie sich »gesellschaftliche Pro-
dukte« vom uns bekannten Privateigentum unterscheiden, kann ich
hier nicht weiter verfolgen. Ich will zunächst festhalten, dass Marx
die Frage nach der Arbeit mit dem Privateigentum verbindet. Und
dass die Nationalökonomie diese Beziehung als unveränderlich
nimmt.117
Nun geschieht aber mit der Arbeit noch etwas Anderes, und zwar
etwas ganz Entscheidendes: Zum Verständnis der Entfremdung stel-
len Sie sich einen Bauern vor, der sich selbst versorgt. Was muss er
tun? Er will nicht nur Karotten pflanzen und sie essen, er will auch
Brot essen. Also muss er Korn ernten. Was braucht er dazu? Eine
Sense, jedenfalls ein Messer. Kann er das Messer ernten? Nein: er
braucht eine Esse und eine Schmiede, um ein Messer herzustellen.
Kann er das? Nein: das muss ein Schmied erledigen. Ich rede von
dem, was Marx »Arbeitsteilung« nennt.
Die Arbeit teilt sich in viele verschiedene Sparten und Tätigkei-
ten auf. Das »Wesen der Theilung der Arbeit«, sagt Marx, müsse
»als ein Hauptmotor der Production des Reichthums gefaßt«118 wer-
den. Es habe in der Geschichte der Menschheit an einem Punkt eine
»Vermehrung der Bedürfnisse« und eine »Vermehrung der Bevöl-
kerung« gegeben. Und dann: »Damit entwickelt sich die Theilung
der Arbeit, die ursprünglich nichts war als die Theilung der Arbeit
im Geschlechtsakt, dann Theilung der Arbeit, die sich vermöge der
natürlichen Anlage (z. B. Körperkraft), Bedürfnisse, Zufälle &c. &c.
von selbst oder ›naturwüchsig‹ macht.«119 Also: Die »Teilung der Ar-
beit« entwickele sich einfach dort, wo die Gesellschaftsverhältnisse
komplexer werden, wo die Menschen und damit die Bedürfnisse
sich vermehren.
(An dieser Stelle zunächst einige Hinweise zum Werk Die deut-
sche Ideologie von 1845/46, dem ich mich sogleich zuwenden werde.
Nachdem ich mich zunächst mit der Kritik der Hegelschen Rechts-
philosophie aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern beschäftigt
habe, habe ich vor allem die Ökonomisch-philosophischen Manu
skripten interpretiert; die Manuskripte, in denen Marx sich von der
reinen Philosophie entfernt und sich seinem späteren Thema, der
Ökonomie, annähert. Das Kapital ist ja nichts anderes als eine Um-
interpretation der gewöhnlichen Nationalökonomie à la Smith und
Ricardo zu einer Marx’schen Ökonomie als Kritik des Kapitalismus.
würde auf eine Phänomenologie des Dinges hinauslaufen; eine ihrer Fragen
wäre, was an einem Ding das Charakteristische des Privateigentums aus-
machte. Marx’ Verständnis des »Fetisch« gehört in diesen Kontext.
118 Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEGA I. 2. A. a. O.,
S. 429.
119 Marx / Engels: Deutsche Ideologie. MEGA I. 5., A. a. O., S. 31.
Arbeitsteilung und Eigentum 111
wichtiger: »Die Theilung der Arbeit wird erst wirklich Theilung von
dem Augenblicke an, wo eine Theilung der materiellen & geistigen
Arbeit eintritt.«120 Es gibt eine Teilung der körperlichen und der
geistigen Arbeit. Dazu Folgendes:
Die Geschichte der Arbeit ist ein eigenes Thema. Wie haben z. B.
die Griechen die Arbeit verstanden, wie die Römer, wie die Chris-
ten, die Mönche; wie haben sie gearbeitet? Für die Griechen war
es keine Frage, dass die geistige Betätigung keine Arbeit war. Das
Denken war frei von Arbeit, ermöglicht von Sklavenarbeit.121 Ar-
beit wurde wirklich als die unterste Tätigkeit der Lebensversorgung
betrachtet. Bitte erinnern Sie sich daran, Arbeit wurde biblisch als
Fluch bezeichnet, als Bestrafung, als Verlust des Paradieses; das war
auch unter Nicht-Juden und -Christen eine weit verbreitete Ansicht.
In der Neuzeit und Moderne wird das anders. Die »Bestrafung«
wird zum Dauerzustand. Arbeit wird der Lebenszustand des Men-
schen, er versteht sich als Arbeiter, selbst wenn er kein Arbeiter im
Sinne des Fabrikarbeiters mehr ist. Ja, das Sich-Verstehen wird noch
selbst zur Arbeit erhoben (vgl. Hegels Arbeit des Begriffs). Anfang
der dreißiger Jahre, kurz bevor die Nationalsozialisten die Macht
übernahmen, hatte Ernst Jünger seine Total-Metaphysik der Arbeit
präsentiert.122 Ich erinnere auch an den Begriff der »Trauerarbeit«
von Alexander und Margarete Mitscherlich.123 Der Begriff will sagen,
dass »Trauern« eine schwierige Aufgabe ist, sie will geleistet sein.
Wenn Marx von der Teilung der Arbeit in körperliche und geis-
tige Arbeit spricht, wenn er an die griechischen Philosophen denkt,
die ihre Bedürfnisse von Sklaven haben versorgen lassen, dann denkt
er durchaus unhistorisch. Denn er sagt: »Von diesem Augenblicke
an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas Andres als
das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vor-
zustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen.«124 Die Philosophen
120 Ebd.
121 Vgl. Egon Flaig: Weltgeschichte der Sklaverei. C. H. Beck: München 2009,
S. 48 ff.
122 Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Hanseatische Ver-
lagsanstalt: Hamburg 1932.
123 Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Piper
Verlag: München 1967.
124 Marx / Engels: Deutsche Ideologie. MEGA I. 5., A. a. O., S. 31.
Arbeitsteilung und Eigentum 113
Ihnen gezeigt, dass Hegel durchaus den Anspruch erhob, etwas zur
»Wirklichkeit« sagen zu können (auch wenn er nur etwas zum »Be-
griff« der »Wirklichkeit« sagte) –, der muss sich eben auf das einlas-
sen, was diese »Wirklichkeit« bestimmt, prägt, organisiert, für Marx
eben die Ökonomie oder Nationalökonomie. Doch selbst das war
für Marx nicht genug. Und nun zitiere ich Ihnen einen Satz, den
sie wahrscheinlich alle schon einmal gehört haben. Die sogenannte
11. (und letzte) These zu Feuerbach lautet: »Die Philosophen haben
die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt aber drauf an, sie
zu verändern.«130 Diese Thesen über Feuerbach gehören in den Um-
kreis der Deutschen Ideologie.
Was will Marx damit sagen? Nun, das ist nicht besonders schwie-
rig. Die Philosophen haben in ihrer Tätigkeit stets der Theorie Vor-
rang eingeräumt, sie haben daher die Welt gedeutet, »interpretiert« –
und zwar verschieden. Doch Marx fügt das Wörtchen »nur« hinzu.
Damit will er sagen, dass die Interpretation der Welt nicht zureicht.
Offenbar ist sie wichtig, denn ich verstehe die These so, dass ohne
eine Interpretation der Welt auch keine Veränderung anfangen kann.
Doch auf diese Veränderung kommt es ihm letztlich an.
Damit geschieht etwas in der Geschichte des Denkens recht Er-
staunliches. In der ersten Feuerbach-These kritisiert Marx Feuer
bach im Grunde ganz analog der Tendenz seiner Kritik an Hegel.
Das Wesen des Christentums betrachte nur das »theoretische Ver-
halten als das echt menschliche«. Dadurch begreife Feuerbach nicht
»die Bedeutung der ›revolutionären‹, der ›praktisch-kritischen‹
Tätigkeit«.131
Mit diesem Begriff der »›revolutionären‹, ›praktisch-kritischen‹
Tätigkeit«, die Marx dann einfach »revolutionäre Praxis« nennt, hat
er seinem eigenen Verständnis nach die Philosophie hinter sich ge-
lassen. Das zeigt sich dann besonders am Manifest der Kommunis-
tischen Partei. Dieses Manifest ist ja schon von der Textsorte her
keine philosophische Schrift mehr. Aber auch Das Kapital ist kein
philosophischer Text, sondern ein ökonomisches Mammutwerk, das
die Grundlage einer »revolutionären Praxis« liefern sollte.
130 Karl Marx: Thesen über Feuerbach. In: MEW 3. Dietz Verlag: Berlin 1969,
S. 7.
131 Ebd., S. 5.
Arbeitsteilung und Eigentum 119
132 Ebd.
133 Vgl.
der Materialismus-Streit. Hrsg. von Kurt Bayertz, Myriam Gerhard
und Walter Jaeschke. Felix Meiner Verlag: Hamburg 2012. Gegen Carl Vogts
politische Ideen wendet sich Marx’ Schrift »Herr Vogt« von 1860.
122 11. Vorlesung
einem von Hegel ausgehenden Denken dann auch von einem »objek-
tiven Idealismus« spricht). In der ersten These heißt es dann weiter:
»Feuerbach will sinnliche – von den Gedankenobjekten wirklich
unterschiedene Objekte: aber er faßt die menschliche Tätigkeit selbst
nicht als gegenständliche Tätigkeit. […] Er begreift daher nicht die
Bedeutung der ›revolutionären‹, der ›praktisch-kritischen‹ Tätig-
keit.«
Da haben wir diese Formulierung von der »›revolutionären‹, ›der
praktisch-kritischen‹ Tätigkeit«; um diese soll es gehen, um eine
»gegenständliche Tätigkeit«, die unmittelbar auf die soziale Wirk-
lichkeit einwirkt.
Die zweite These lautet:
»Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahr-
heit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische
Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit
und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über
die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der
Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.«134
Um die Praxis geht es, nicht um die Theorie, die hier von Marx
sogar als »Scholastik« ein wenig diffamiert wird. Die Formulierung
»scholastische Frage« verweist ja darauf, dass sie im Grunde über-
flüssig ist: Ob das Denken Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit hat,
ist eine Frage, mit der sich Gelehrte an abgelegenen Orten beschäf-
tigen können. Es soll vielmehr darum gehen, dass der Mensch sein
»Denken« »in der Praxis« »beweist«.
Die dritte These geht nun in die Richtung, die »›revolutionäre‹,
›praktisch-kritische‹ Tätigkeit« zu organisieren:
»Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände
und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen
verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß
daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr
erhaben ist – sondieren.
Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der
menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revo-
lutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.«135
In der Differenz von Basis und Überbau hatte Marx zuvor schon
implizit den Gedanken formuliert, den er dann an verschiedenen an-
deren Stellen seines Werkes ausgeführt hat: Der Charakter des Men-
schen, vielleicht auch sein Wesen, ist das Ergebnis der Umstände, in
denen er aufwächst. Diese Erkenntnis ist tief in die sozialdemokra-
tische Pädagogik eingegangen. Wenn heute zuweilen noch »Chan-
cengleichheit« gefordert wird, dann ist das ein Relikt dieses Wis-
sens, dass die Herkunft und die Umstände, in die einer oder eine
hineingeboren wird, für den Lebensweg der Subjekte entscheidend
ist. (Es ist übrigens einigermaßen verwegen zu glauben, wir würden
in Zeiten der Chancengleichheit leben.)
Es geht also um ein »Ändern der Umstände«, um das Bearbeiten
der sozialen Wirklichkeit, in der wir leben. Diese Änderung muss
notwendig mit einer Änderung der »menschlichen Tätigkeit« und
d. h. als »Selbstveränderung« geschehen. Keine Revolution, könnte
man sagen, ohne eine Revolution der Denkungsart. Revolution bei
Marx, wir werden das noch deutlicher besprechen, ist stets auch
Selbst-Revolution.
Der erste Teil dieser dritten These enthält freilich schon einige
Auskünfte über das, was »revolutionäre Praxis« sein müsste. Um
zur Veränderung zu erziehen, müssen die »Erzieher selbst erzogen
werden«. Das ist eine diskutable Äußerung, die unterschiedlich in-
terpretiert wurde. Sie hat tief in die Realität sozialistischer Gesell-
schaftsauffassungen eingegriffen. Wie lassen sich gesellschaftliche
Verhältnisse verändern, wenn nicht durch einen direkten Eingriff in
die sie bestimmenden Umstände? Diese Eingriffe müssen von Indi-
viduen besorgt werden, die ihr Handeln mit einer bestimmten Idee
verbinden. Woher bekommen Individuen aber ihre Ideen? Dafür
wurde eine Doktrin, eine Ideologie, entwickelt, die den »Erziehern«
aufoktroyiert wurde. Aus Marx’ Denken wurde der »Marxismus«;
ob das in Marx’ Sinn war, ist schwer zu sagen.
Die sechste These lautet:
»Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf.
Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum in-
wohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble
der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht ein-
geht, ist daher gezwungen:
124 11. Vorlesung
Der Humanismus ist aber in der Tat kein Materialismus, wie ja auch
Marx an dieser Stelle sagt. Das scheint eine gewisse Unschärfe ins
Marx’sche Denken zu bringen.
Denn einerseits betont Marx, dass der Mensch nichts anderes sei
als das »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«. Dieser Sicht
gemäß besteht die Geschichte des Menschen in nichts anderem als
in Veränderungen des Basis-Überbau-Verhältnisses, d. h. in Ände-
rungen, die materialistisch – und nicht idealistisch – interpretiert
werden. Ein wenig später hat Marx das »Klassenkampf« genannt.
(Das hat man dann in sozialistischen Ländern zur »Wissenschaft«
ausbauen wollen – mit dogmatisierter Dialektik etc.)
Andererseits: Wäre Marx ganz und gar Materialist, dann ließe sich
nicht verstehen, warum er überhaupt den Hauptimpuls seines Den-
kens auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse des »Proletariats«
gesetzt hat, d. h. auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse derer,
die nicht, wie die »Kapitalisten« oder die »Bourgeoisie«, am ge-
sellschaftlichen Leben teilnehmen können. Materialistisch betrach-
tet ist es doch ganz gleichgültig, wer herrscht, oder dass überhaupt
jemand herrscht.
Es geht, mit anderen Worten, um den emanzipatorischen Geist
des Marx’schen Denkens. Marx ist gewiss kein Idealist der Freiheit
wie Schelling oder Hegel, doch er ist ein Materialist der Freiheit –
und den könnte es in einem dogmatischen Materialismus, für den
Freiheit notwendig allenfalls eine Illusion ist, gar nicht geben. In
dieser Hinsicht ist Marx also tatsächlich ein »Humanist«: es gibt
einen humanistischen Impuls in seinem Denken.
Man könnte demnach in Bezug auf die Formulierung vom »en-
semble der gesellschaftlichen Verhältnisse« sagen, dass für Marx nur
der Mensch in einer Gesellschaft lebt, nicht die Tiere. Das gesell-
schaftliche Dasein des Menschen ist demnach so etwas wie eine Aus-
zeichnung dieses Lebewesens. Das steht übrigens nicht im Wider-
spruch dazu, dass Marx dieses Dasein grundsätzlich materialistisch
betrachtet, indem er von den basalen Bedürfnissen des Menschen
ausgeht.
So funktioniert auch die Kritik an Feuerbach in der sechsten
These. Marx wirft Feuerbach vor, dieser nehme den Menschen nicht
als innergesellschaftliches und geschichtliches Wesen, sondern iso-
liert, als Individuum. Für Marx ist das Lebewesen Mensch aber von
126 11. Vorlesung
138 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke 7. A. a. O., § 198–208.
139 Marx / Engels: Deutsche Ideologie. In: MEGA I. 5. A. a. O., S. 116.
128 11. Vorlesung
das sehr deutlich: der Staat ist »weiter Nichts als die Form der Or-
ganisation« einer bestimmten Machtkonstellation, und zwar »nach
Außen als nach innen«: so wie er äußere Widerstände niederschlagen
wird, so auch diejenigen, die im Inneren entstehen könnten.
Der Staat spielt also nach Marx der Gesellschaft gegenüber keine
neutrale Rolle. Die Polizei beschützt nicht die Gesellschaft, sondern
lediglich ihren herrschenden Teil; anders gesagt: sie beschützt die
Gesellschaft im Sinne der herrschenden Klasse. Während bei Hegel
der Staat tatsächlich »die Sittlichkeit« als solche repräsentiert, politi-
siert Marx den Staat, fasst ihn als Kampfplatz verschiedener antago
nistischer Interessen auf. Er schreibt weiter:
»Da der Staat die Form ist, in welcher die Individuen einer herr-
schenden Klasse ihre gemeinsamen Interessen geltend machen & die
ganze bürgerliche Gesellschaft einer Epoche sich zusammenfaßt, so
folgt daß alle gemeinsamen Institutionen durch den Staat vermittelt
werden, eine politische Form erhalten.«140
Die Institutionen eines Staates verkörpern Interessen; sie garan-
tieren und stabilisieren einen bestimmten Zustand der Gesellschaft.
Dass es hier um den »freien Willen« gehe (wie bei Hegel), sei eine
»Illusion«. Welche Rolle das Eigentum bzw. das Privateigentum
spielt, hatte ich Ihnen schon in den letzten Stunden erläutert. Arbeit
vergegenständlicht sich stets in Privateigentum, hat keinen anderen
Sinn. Wenn Privateigentum die Instanz ist, auf dem die bürgerliche
Gesellschaft überhaupt aufbaut, dann muss der Staat als eines seiner
ersten Bestimmungen die Sicherung des Privateigentums und damit
der Bourgeoisie betreiben. Dazu gehört, dass er stets für genug Ar-
beit sorgt – und dass er die, die keine mehr finden, zumindest dazu
alimentiert, an einem Phantasma des Privateigentums, der ausrei-
chenden Versorgung mit Lebensmitteln, teilhaben zu können.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei Marx der Staat als eine
Macht erscheint, die den Bestand einer Gesellschaft sichert. Nega-
tiv gesagt: vom Staat als solchem wird niemals der Impuls zu einer
maßgebenden Veränderung der Gesellschaft ausgehen. Sei der Staat
eine Monarchie oder eine Diktatur, eine Aristokratie oder Demo-
kratie – stets wird er den status quo fixieren und verteidigen. Das
ist nicht meine Privatmeinung, sondern nur eine Interpretation des
Marx’schen Gedankens, dass der Staat »weiter Nichts ist als die
Form der Organisation, welche sich die Bourgeois sowohl nach
Außen als nach innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigen
tums und ihrer Interessen notwendig geben«.
Die »revolutionäre Praxis« besteht darin, die reine Betrachtung
der politischen Situation zu Gunsten einer Praxis hinter sich zu las-
sen. Das heißt aber für Marx nicht, dass diese Praxis auf eine klare
Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Verhältnisse verzichten
könnte. Im Gegenteil: »Revolutionäre Praxis« braucht ein Ver-
ständnis der sozialen und politischen Situation, die sie verändern
will. Dazu möchte ich zum Schluss, gleichsam als Ausblick auf die
nächste Vorlesung, eine längere Passage aus der Deutschen Ideolo-
gie zitieren. Sie lautet:
»Es zeigen sich hier also zwei Fakta. Erstens erscheinen die Pro-
duktivkräfte als ganz unabhängig & losgerissen von den Individuen,
als eine eigne Welt neben den Individuen, was darin seinen Grund
hat, daß die Individuen, deren Kräfte sie sind, zersplittert & im Ge-
gensatz gegen einander existieren, während diese Kräfte anderer-
seits nur im Verkehr & Zusammenhang dieser Individuen wirkliche
Kräfte sind. Also auf der einen Seite eine Totalität von Produktiv-
kräften, die gleichsam eine sachliche Gestalt angenommen haben
& für die Individuen selbst nicht mehr die Kräfte der Individuen,
sondern des Privateigenthums [sind], & daher der Individuen nur
insofern sie Privateigenthümer sind. In keiner früheren Periode hat-
ten die Produktivkräfte diese gleichgültige Gestalt für den Verkehr
der Individuen als Individuen angenommen, weil ihr Verkehr selbst
noch ein bornirter war. Auf der andern Seite steht diesen Produk-
tivkräften die Majorität der Individuen gegenüber, von denen diese
Kräfte losgerissen sind & die daher alles wirklichen Lebensinhalts
beraubt, abstrakte Individuen geworden sind, die aber dadurch erst
in den Stand gesetzt werden, als Individuen miteinander in Verbin-
dung zu treten.«141
Hier ist sogleich ein Marx’scher Terminus zu erklären, den ich
noch nicht erwähnt habe, der der »Produktivkräfte«. Das Wort, das
sich aus den Begriffen »Produktion« und »Kraft« zusammensetzt,
bezeichnet alle Formen der natürlichen (Wind, Sonne, Kohle etc.),
143 Zum Nachprüfen des Zitats verweise ich auf das worldwideweb.
144 Marx / Engels:
Deutsche Ideologie. In: MEGA I. 5. A. a. O., S. 41 f.
134 12. Vorlesung
146 Vgl. Primo Levi: Ist das ein Mensch? S. Fischer Verlag: Frankfurt am Main
und Hamburg 1961 sowie Warlam Schalamow: Durch den Schnee. Erzählun-
gen aus Kolyma I. Hrsg. von Franziska Thun-Hohenstein. Matthes & Seitz
Verlag: Berlin 4/2007. Schalamows Erfahrungen nach seiner ersten Verhaf-
tung in Moskau im Jahre 1929 und in der Verbannung nach Sibirien nach
1937 stehen in Beziehung zur Russischen Revolution. Die erste Verhaftung
geschah, weil er in Moskau »Lenins Testament« verteilt hatte, also jenen Brief
des todkranken Lenin von 1922, in dem er vor Stalin warnt. Stalins Politik
der Lager mit Marx zu verknüpfen, halte ich für illegitim.
136 12. Vorlesung
147 Was wir seit einiger Zeit z. B. in Brasilien erleben, scheint revolutionä-
res Potential zu haben. Eine Gruppe von Großgrundbesitzern und Indus-
triellen reißt schamlos die Macht an sich, indem sie übrigens eine Art von
Medien-Diktatur zu errichten versucht. Die alten Gegensätze dieser noch
immer ökonomisch extrem separierten Gesellschaft treten wieder auf. Auch
weltanschauliche Differenzen werden wieder betont: die »gute« Politik ist
christlich-konservativ, die »böse« marxistisch. Doch eine gewaltsame Beseiti-
gung dieser korrupten und gierigen, alle möglichen und unmöglichen Mittel
zum Machterhalt nutzenden Gruppe ist nicht in Sicht.
148 Marx / Engels: Deutsche Ideologie. In: MEGA I. 5. A. a. O., S. 38 f.
Zur Revolution 1 / Das Unerträgliche 137
Marx meint, dass erst die Dimension des Universellen, d. h. der
Welt als ganzer, der Revolution, der Revolution zur kommunisti-
schen Gesellschaft, den Raum öffnen kann. Innerhalb einer natio
nalen Situation würde eine Revolution nur den »Mangel verallge-
meinern« und »also mit der Notdurft auch den Streit«, so dass »die
ganz alte Scheisse« sich wiederholen müsste, womit Marx sagen will:
die Revolution würde in die Phase einer Konterrevolution überge-
hen und die alten Herrschaftsverhältnisse wieder herstellen. W arum?
Das ist nicht so leicht zu sagen; gerade dieser Gedanke von Marx
wurde ja auch viel diskutiert. Lenin und Stalin z. B. kamen zu ande-
ren Ergebnissen. Vielleicht will Marx sagen, dass in einer geschichtli-
chen Situation, in der der Weltmarkt sich etabliert hat und die Völker
in weltgeschichtlichen Verhältnissen ko-existieren, eine nationale
Revolution nicht das Resultat haben kann, das Marx sich von ei-
ner Revolution erwartet. Zudem seien die »unerträglichen Mächte«
gerade die, die im Zuge der Steigerung der internationalen Mobili-
tät den universalen Markt-Raum entstehen lassen. Das scheinen die
Punkte 1 bis 3 zu besagen.
1847/48, als Marx die Schritte in die »revolutionäre Praxis« be-
denkt, bietet sich Engels und Marx die Möglichkeit, ein Manifest für
den »Bund der Kommunisten« zu verfassen, einen Geheimbund, der
aus seinem Vorgänger, dem »Bund der Gerechten« hervorgegangen
war. Der Bund – man geht von ungefähr 500 Mitgliedern aus – traf
sich 1847 zwei Mal in London. 1852 wurde er aufgelöst, weil wäh-
rend der revolutionären Unruhen in Frankreich und Deutschland
zwischen 1848 und 1850 führende Mitglieder des Bundes aufgeflo-
gen und 1852 im sogenannten Kölner Kommunistenprozess zu teils
langen Haftstrafen verurteilt worden waren. Er gilt als die Keim-
zelle aller späteren sozialistischen und kommunistischen Parteien
in Europa und damit der ganzen Welt.
Marx und Engels verfassten also ein Manifest der Kommunis-
tischen Partei. Es hat einen sehr klaren Aufbau. Nach einer kur-
zen Einleitung mit dem klassischen Satz: »Ein Gespenst geht um
in Europa – das Gespenst des Kommunismus.«149 folgen die latei-
nisch gezählten Teile: I. Bourgeois und Proletarier; II. Proletarier
149 Karl
Marx / Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In:
MEW 4. Dietz Verlag: 1972, S. 461.
138 12. Vorlesung
dafür die Institutionen des Staates benutzt, die Polizei, das Militär,
die Universitäten etc. Um die Gesellschaft zu verwandeln, eine Re-
volution zu realisieren, mussten die Gegensätze in der Gesellschaft
ins »Unerträgliche« sich steigern. Marx sah diesen Punkt unmittel-
bar bevorstehen.
Ich springe noch einmal an den Anfang des Manifests: »Ein Ge-
spenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle
Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd ge-
gen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und
Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.«152 Klemens
Wenzel Lothar von Metternich war 1847 ungefähr siebzig Jahre alt.
Doch als Organisator des »Wiener Kongresses« 1813 war er im-
mer noch die Galionsfigur der Restauration (er starb 1859). Auch
Francois Guizot, ein französischer monarchistischer Politiker der
Restauration, galt als reaktionärer Gegner sozialer Reformen und
Feind des Kommunismus. Die vielleicht führende politisch konser-
vative Kraft in Europa war der Zar Nikolaus I., der 1826 die Ab-
schaffung der Leibeigenschaft abgelehnt hatte.
Es geht dann weiter:
»Es ist hohe Zeit, daß die Kommunisten ihre Anschauungsweise,
ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen
und dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest
der Partei selbst entgegenstellen.
Zu diesem Zweck haben sich Kommunisten der verschiedens-
ten Nationalität in London versammelt und das folgende Manifest
entworfen, das in englischer, französischer, deutscher, italienischer,
flämischer und dänischer Sprache veröffentlicht wird.«153
Die Rede vom »Gespenst« hat eine gewisse Karriere gemacht.
Besonders Jacques Derrida hat sich in seiner Auslegung von Marx
in einem Text namens Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat,
die Trauerarbeit und die neue Internationale154 mit dieser façon
de parler – die übrigens keineswegs von Marx und Engels erfunden
155 Derrida bezieht sich auf Shakespeares Hamlet, was bei Marx scheinbar
naheliegt. Doch auch bei Feuerbach heißt es im »Wesen des Christentums«:
»[…] so spukt doch immer noch unsrer Zeit und Theologie, infolge ihrer un-
entschiedenen Halbheit und Charakterlosigkeit, das übermenschliche und
übernatürliche Wesen des alten Christentums wenigstens als ein Gespenst im
Kopfe.« Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Werke 5. A. a. O., S. 14.
156 Marx / Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW 4. A. a. O.,
S. 462.
Zur Revolution 1 / Das Unerträgliche 141
schoben, ständig vertagt wird. Jedenfalls ließ sich die Geschichte der
Bourgeoisie als eine Erfolgsgeschichte beschreiben. »Die Bourgeoi-
sie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt«,
sagt Marx doch mit einer gewissen Bewunderung. Doch diese »re-
volutionäre Rolle« greift tief in das menschliche Bewusstsein ein:
»Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feu-
dalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die
buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürli-
chen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein an-
deres Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das
nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹. Sie hat die hei-
ligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeiste-
rung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser ego-
istischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den
Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und
wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit
gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen
und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, un-
verschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.
Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer
Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie
hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der
Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.«159
Damit nähert sich Marx der Darstellung seiner eigenen Gesell-
schaftsspannung, seines eigenen sozialen Antagonismus:
»Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktions
instrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesell-
schaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unver-
änderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die
erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die
fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene
Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicher-
heit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen
aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von
altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst,
alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Stän-
dische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die
Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegen-
seitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.
Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre
Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Über-
all muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen
herstellen.«160
Sie sehen, zu welcher Rhetorik Marx und Engels fähig waren,
wenn man von ihnen ein Manifest forderte. Die Bourgeoisie hat die
Menschen endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegensei-
tigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen«. Das ist im
Kern das, was Max Weber am Beginn des 20. Jahrhunderts die »Ent-
zauberung der Welt«161 nennen sollte. Marx beschreibt hier beinahe
unsere eigene Gegenwart. Denn immer noch glauben wir an die re-
volutionäre Dynamik der technischen-wissenschaftlich-ökonomi-
schen-medialen Welt. So kommt eine weitere »Digitale Revolution«
in Form einer Robotisierung der Arbeitswelt auf uns zu, die unser
alltägliches Leben noch einmal verändern wird.
Ich habe Ihnen in der letzten Sitzung doch etwas ausführlicher aus
dem Manifest der Kommunistischen Partei vorgetragen und habe
auch darauf hingewiesen, in welchem historischen Zusammenhang
es steht, z. B. als Orientierungsschrift des »Bundes der Kommu-
nisten«, der sich 1847/48 in London organisierte. Ich habe das
Manifest als Konsequenz der »revolutionären Praxis« dargestellt,
d. h. als Konsequenz der 11. These über Feuerbach, wonach man
die Welt nicht (nur) interpretieren, sondern vor allem verändern
müsse. Hat man diese Konsequenz einmal gezogen, muss man den
Schritt in die politische Öffentlichkeit machen und dort politisch
tätig werden.
Für Marx (und Engels) hieß das aber: an der Vorbereitung nicht
einer Revolution zu arbeiten, sondern an der Vorbereitung der letz-
ten. Warum? Weil die Geschichte der Klassenkämpfe (das ist Marx’
Auffassung der Geschichte) an einen Punkt gekommen sei, wo eine
Revolution mit Notwendigkeit einen universalen Charakter haben
müsse. Das liege an der Entwicklung der Produktionsmittel in der
Dimension des »Weltmarkts«. Eine nur lokal ausgetragene Revolu-
tion würde keine Wirkung haben, sie würde an der gesellschaftlichen
Situation nichts ändern. Daher müssen sich dann eben, wie es am
Ende des Manifests auch heißt, die »Proletarier aller Länder« ver
einigen. (Dazu noch ein historische Anmerkung: Aus dem »Bund
der Kommunisten«, in dessen Auftrag Marx und Engels das Kom-
munistische Manifest verfasst hatten, entwickelte sich später das,
was man »Internationale« genannt hat – also die »Erste Internatio-
nale« (Internationale Arbeiterassoziation) von 1864 in London, die
»Zweite Internationale« 1889 in Paris, die »Dritte Internationale«
1919 in Moskau und die »Vierte Internationale« wieder in Paris von
1938, die eher schon ein Niedergangsphänomen war.)
146 13. Vorlesung
früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein
Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil
der Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen Verständnis der
ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben.«162
Ein bemerkenswerter Kommentar – weil Marx hier seine eigene
Rolle reflektiert. Marx gehörte ja keineswegs zur Klasse der Arbeiter.
Und natürlich musste bedacht werden, dass trotz aller Unerträg-
lichkeit für den Arbeiter die Revolution als Möglichkeit der Lösung
seiner Lebensprobleme keineswegs auf der Hand lag. Sie sehen, dass
es hier eine Unklarheit gibt, die m. E. im Grunde erst Lenin in seiner
Revolutionstheorie gelöst hat.163 Wie ist der geschwächte Körper des
Arbeiters, der um sein Leben zu kämpft, dahin zu bringen, dass er
sich an einem Projekt beteiligt, dass die Geschichte beenden soll –
nämlich die Geschichte, insofern sie eine der Klassenkämpfe ist? Das
setzt einen Horizont voraus, den dieser Arbeiter für gewöhnlich
nicht hat, nicht haben kann.
Es ging also darum, der »revolutionären Praxis« ihren Hinter-
grund oder ihre Basis zu schaffen. Es gibt eine Klasse, »welche die
Zukunft in ihren Händen trägt«. Doch dieser Klasse fehlt gleichsam
das Bewusstsein, ihr »Klassenbewusstsein«.164 Eine seltsame Figur,
wenn man bedenkt, dass es ja angeblich gar nicht um das Bewusst-
sein gehen soll. Doch das ist nur ein Schein. Eine Klasse muss ein
Bewusstsein über sich entwickeln. Die Bourgeoisie hat das bereits
getan, sie weiß, was sie will, was gut oder schlecht für sie ist. Nur
die revolutionäre Klasse hat das noch nicht vermocht. Ihr müssen
die Marxens und Engels’ zur Hand gehen. Man könnte auch sagen:
die Klasse muss erst einmal »gebildet« werden – durchaus im Sinne
ker, der Bauer« – heute würde man z. B. Beamte und Angestellte da
hinzuzählen. Diesen »Ständen«, so Marx, gehe es nur um die Siche-
rung ihres Auskommens, sie wollen nicht verschwinden. Daher sind
sie »konservativ« oder nur insofern »revolutionär«, als sie sich im
eigentlichen Klassenkampf zwischen der Bourgeoisie und dem Pro-
letariat auf der Seite der Unterdrückten befinden werden. Schließlich
spricht Marx noch vom gesellschaftlichen Anteil des »Lumpenprole-
tariats«, d. h. von einem Proletariat, das noch unterhalb der gewöhn-
lichen Lohnarbeiterschaft steht (bedenken Sie, dass es nach einer
neuen Statistik selbst heute noch ungefähr 340 000 »Obdachlose«
in Deutschland gibt).
Marx fährt fort:
»Die Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind schon ver-
nichtet in den Lebensbedingungen des Proletariats. Der Proletarier
ist eigentumslos; sein Verhältnis zu Weib und Kindern hat nichts
mehr gemein mit dem bürgerlichen Familienverhältnis; die moderne
industrielle Arbeit, die moderne Unterjochung unter das Kapital,
dieselbe in England wie in Frankreich, in Amerika wie in Deutsch-
land, hat ihm allen nationalen Charakter abgestreift. Die Gesetze,
die Moral, die Religion sind für ihn ebenso viele bürgerliche Vor-
urteile, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen ver-
stecken.
Alle früheren Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, such-
ten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die
ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbs unterwarfen.«166
Die Frage ist nun, was die soziale Situation des Proletariers be-
sonders auszeichnet? Für Marx ist das Proletariat die revolutionäre
Klasse, was bedeutet, dass sich in ihr die Voraussetzungen der Re-
volution kristallisieren. In einer gewissen Hinsicht wird dadurch
das Proletariat zur Avantgarde, zu derjenigen Klasse, die unter den
herrschenden Bedingungen am weitesten in Richtung auf ein revo-
lutionäres Bewusstsein von der Unhaltbarkeit bourgeoiser Lebens-
und Produktionsweisen fortgeschritten ist. Das betrifft auch das
»bürgerliche Familienverhältnis«. Der Proletarier lebt nicht mehr
in der bürgerlichen Großfamilie, die nicht zuletzt vom Prinzip der
Erbschaft lebt. Letzte Woche fragte mich jemand nach dieser Insti-
166 Ebd.
150 13. Vorlesung
tution der Erbschaft. Und es ist auch für Marx, der sich mit dieser
Frage auseinandersetzt, klar: das Erben ist ein wesentliches Prinzip
des bürgerlichen Familienverständnisses. Denn die bürgerliche Fa-
milie definiert sich durch das »Eigentum«. Das »Eigentum« ist aber
nicht der verbrauchbare Besitz, also das, worüber ich unmittelbar
verfüge, um mein Leben zu ermöglichen (das, was sich in meinem
Kühlschrank befindet). Das »Eigentum« einer Familie ist das, was
der nächsten Generation übergeben werden kann, und was diese
Generation an die nächste weiterzugeben vermag. So etwas existiert
natürlich unter Arbeitern nicht (es ist stets eine traurige Sache, der
»Entrümpelung« von Wohnungen zuzuschauen – man sieht, hier hat
jemand gewohnt, der über kein »Eigentum« verfügte – was übrig
bleibt, ist armseliges Gerümpel, das auf dem nächsten Flohmarkt an
ebenso Eigentumslose für cent-Beträge verkauft wird). Marx meinte,
dass mit der proletarischen Revolution und dem Verschwinden der
Bourgeoisie auch das Erbrecht und das Erben abgeschafft werden
würde.
Das findet sich in dem schon zitierten Satz: »Die Gesetze, die
Moral, die Religion sind für ihn ebenso viele bürgerliche Vorurteile,
hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken.«
Natürlich »versteckt« sich hinter dem Erbrecht das Interesse der
jenigen, die etwas zu vererben haben (übrigens entsteht das Erbrecht
im römischen Recht, d. h. in einer Patrizier-Gesellschaft, in der es
vor allem Grund und Boden und mit diesem politische Macht zu
vererben gab). Doch nicht nur die Gesetze dienen dem bürgerlichen
Interesse, auch die »Moral« und die »Religion«. Über die Religion
hatten wir schon erfahren, dass sie »Opium für das Volk« sei. Marx
denkt, dass der Überbau (Moral und Religion) einer spezifischen
gesellschaftlichen Situation entspringt. In diesen Überbau schreibt
sich das Interesse der herrschenden Klasse ein. Er trägt zur Stabili-
sierung einer spezifischen gesellschaftlichen Lage bei, ist Ausdruck
eines Interesses der Bourgeoisie – man darf übrigens nicht davon
ausgehen, dass die herrschende Klasse dies zugeben wird. –
Nachdem aber die Bourgeoisie sich im Klassenkampf nach der
Französischen Revolution als maßgebliche politische Macht und
auch Lebensform durchgesetzt hat, muss das Proletariat gleichsam
die bisher herrschende »Aneignungsweise« abschaffen. »Privat
sicherheiten und Privatversicherungen« und andere Formen, das
Zur Revolution 2 / Das Ende der Geschichte 151
***
Ich möchte noch einmal kurz zusammenfassen, was ich Ihnen vor-
gestellt habe. Ich hatte mich zunächst auf Jonathan Sperbers Bio-
graphie Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert bezogen, um
mein Verständnis von der Wichtigkeit des gelebten Lebens in der
Philosophie darzustellen. Man hat nicht nur einen möglichen Ein-
fluss des Lebens auf das Denken, sondern besonders den Rückschlag
des Denkens auf das Leben in Betracht zu ziehen. In dieser Hin-
sicht gibt es eine Symbiose von Denken und Leben. Anstelle einer
Biographie würde ich bei Philosophen von einer Sym-Bio-Graphie
sprechen. Ich habe dann eine Quelle des frühen Marx’schen Den-
kens etwas ausführlicher erläutert, und zwar Ludwig Feuerbachs
Das Wesen des Christentums von 1841. Marx beginnt als sogenann-
ter Linkshegelianer und bezieht sich besonders auf Feuerbachs Re-
ligionskritik. Vor dort aus kritisiert er dann das Hegel’sche Denken
(das hier überall im Hintergrund steht: Stichwort Dialektik). Dazu
habe ich Ihnen den Aufsatz aus den Deutsch-Französischen Jahrbü-
chern von 1843/44 Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«
ausgelegt. In dieser Zeit wurde Marx klar, dass die Wendung zur
wirklichen Wirklichkeit des Menschen (nicht nur zum Begriff der
Wirklichkeit) implizierte, dass er sich mit der klassischen National-
ökonomie (Smith, Ricardo etc.) beschäftigen musste. Das tat er in
den sogenannten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von
1844. Ich habe mich dort besonders mit Marx’ Theorie des Gel-
des und seinem Verständnis der »Entfremdung« auseinandergesetzt.
Dabei habe ich ausführlich auch eine Stelle aus Hegels Phänome-
nologie des Geistes interpretiert, an der sich zeigt, was Hegel unter
168 Marx: Kritik des Gothaer Programms. MEW 19. A. a. O., S. 28.
Zur Revolution 2 / Das Ende der Geschichte 153
lorener, auf dem Weg zum totalen Verlust. Das sagen uns jedenfalls
Zeugnisse, die aus solchen Verhältnissen stammen.
Die Revolution ist ein Ereignis, das Revolutionäre braucht. Dass
sie im Auftrag der Befreiung von einem Unerträglichen agieren, ge-
hört zu ihrer Würde. Dass diese Befreiung mit einer gewalttätigen
Beseitigung der Herrschenden einhergeht, gehört zu ihrer Schuld.
Der Revolutionär, der in »revolutionärer Praxis« sein eigenes Le-
ben einsetzt, zerstört das anderer. Eine Vorlesung über die Revolu-
tion und ihre Theorien müsste diesen Aspekt der Gewalt besonders
reflektieren.
Marx Idee einer »revolutionären Praxis« indessen hat unser Ver-
hältnis zur Philosophie verändert. Marx hat uns gezeigt, dass die
Theorie (nicht nur) eine Schwäche hat. Insofern sie auf den Status
und die Veränderung der Wirklichkeit hinaus will, gerät sie unver-
sehens in den Verdacht der Hypokrisie. Der Philosoph, der in gut
oder schlecht besuchten Vorlesungen den Anspruch der Philosophie
erhebt, mit der Wirklichkeit in Kontakt zu treten, ist eine komische
Figur, wenn er nicht berücksichtigt, dass die wirkliche Wirklich-
keit nichts mit seiner Vorlesung zu tun hat. Die Wirklichkeit des
Philosophie-Professors (selbst wenn er ein außerplanmäßiger ist),
hat – außer dass er ein recht hohes Gehalt bekommt (nicht der außer-
planmäßige) – mit der wirklichen Wirklichkeit nicht viel zu tun. Die
»revolutionäre Praxis« hat die Schwäche der Philosophie offenbart.
Seit Marx haben der Philosoph und die Philosophen das Stigma,
dass sie viel über die Gerechtigkeit zu sagen haben, ohne damit
die wirkliche Wirklichkeit erreichen zu können; ja, ohne dass sie
sie überhaupt jemals erfahren hätten. Sie lehren und forschen im
Schutz einer Institution, die mit den herrschenden Kräften gemein-
same Sache macht. Marx ist – neben Nietzsche – der Philosoph des
19. Jahrhunderts, der die Frage nach dem Ort der Philosophie ge-
stellt hat.
Ist eine Revolution noch möglich? Diese Frage ist so leicht zu
stellen, wie sie schwierig zu beantworten ist. Genauer betrachtet
gibt es auf sie keine Antwort. Zumindest das lässt sich sagen: So-
lange die wirkliche Wirklichkeit eine gerechte Gesellschaft verhin-
dert haben wird, wird die Frage immer wieder gestellt worden sein.
Ein »vor der Revolution« wird noch stets ein »nach der Revolution«
gewesen sein.
Zur Revolution 2 / Das Ende der Geschichte 155
Das Motto dieses Buches: »Die Ethik, auf die Geschichte an-
gewendet, ist die Lehre der Revolution.«169 von Walter Benjamin
bleibt daher wahr, auch wenn die Revolution selber eine Art von
Anathema geworden ist. Was in der Geschichte ethisch sein könnte,
ist eine Gerechtigkeit, die das Leiden der Hungernden, der Armen,
der An-den-Rand-Gedrängten, belohnt. Denn sie haben den Reich-
tum erlaubt.
Auf dem Weg zu einer Philosophie, die sich nicht nur den gegen-
wärtigen gesellschaftlich-politischen Problemen gewachsen zeigt,
sondern darüber hinaus nicht hinter bestimmten Einsichten zum
Verhältnis von Wirklichkeit und Subjekt zurückfällt, muss das
Marx’sche Denken berücksichtigt werden. Ich halte die Einsicht,
dass die wirkliche Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens den
jeweiligen theoretischen Charakter der Philosophie (auch die Pro-
duktionen der Kunst) prägt, für unbezweifelbar.
Dies ist besonders dort der Fall, wo selbst noch das Argumentie-
ren eine Form des Self-Marketings geworden ist; wo die argumen-
tierende Philosophie als ein kleines, aber nicht unlukratives Segment
des techno-ökonomisch-medialen Apparats erscheint. Nachdem die
»Bologna-Reform« am Ende der neunziger Jahre die noch einiger-
maßen intakte Humboldt-Universität zu Gunsten einer ökonomi-
schen Vereinheitlichung des Bildungsraums Europa zerstört hatte,
ist die Kapitalisierung der Welt (Stichwort: »Employability«) wei-
ter fortgeschritten. Die dem Denken (und künstlerischen Schaffen)
intrinsische Freiheit droht als eine nostalgische Erinnerung abge-
schafft zu werden. Dass zu dieser Freiheit die Anerkenntnis der
Macht des Wirklichen gehört, ist Moment ihrer Dialektik: Freiheit
ist wirkliche Freiheit – oder sie ist nicht.
Die dynamischen Gesellschaften des frühen 21. Jahrhunderts
scheinen sich gegen jede spürbare soziale Veränderung zu immu-
nisieren. Sie schließen sich in einem komplexen Gewebe von wirt-
schaftlichen, technologischen, wissenschaftlichen und medialen Sys-
temen ein. Ihre Stabilität wird von einer ungeheuerlichen Produk-
tivität gewährleistet. Ein stets möglicher Zusammenbruch würde
das soziale Gefüge sprengen. Die Frage nach dem gerechten Gesell-
schaftsmodell ist noch nicht endgültig beantwortet.
158 Nachbemerkung