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REISEN 18.

November 2010 DIE ZEIT No 47 85

Ein Reaktor, der nicht spaltet


Bis Pater Karl kam, interessierte sich niemand für Österreichs einziges Kernkraftwerk. Heute ist der nie betriebene Meiler eine Sehenswürdigkeit VON JOHANNES SCHWEIKLE

ater Karl steht auf der Kanzel. Das unseren Volksentscheid«, sagt Stefan Zach. Der

Fotos (Ausschnitte): Philipp Horak für DIE ZEIT/www.philipphorak.com; ZEIT-Grafik


stählerne Geländer ist in einem Oran- Sprecher des Energieversorgers bekennt offen, dass
ge aus den siebziger Jahren lackiert. er gegen Kernkraft ist. Als Aktivisten von Greenpeace
Über ihm tun sich hundert kreisrunde gefragt haben, ob sie an der Fassade des Kraftwerks
Öffnungen auf, rätselhafte Stäbe ragen das Abseilen üben dürften, hat er Ja gesagt. »Aber
aus der Decke. In seiner randlosen Brille spiegeln wir sind hier nicht alle einer Meinung. Der Herr
sich Bündel von silbrig glänzenden Rohren. Mit Sieberer ist, glaube ich, ein überzeugter Anhänger
staunenden Augen schaut er sich um, sein Blick der Atomkraft.« Karl Sieberer führt die zweite Hälf-
bleibt an der Doppelschleuse hängen. Die gepan- te der Gruppe. Die Flure, Aufzüge und Treppen-
zerten Luken sehen aus wie Riesenbullaugen. »Ich häuser sind zu eng für 50 Personen auf einen Schlag.
erwarte, dass gleich Captain Kirk auftaucht«, sagt Sieberer ist Elektrotechniker, 1978 war er 22 Jahre
der Mann im schwarz-weißen Habit. Er ist nicht alt und stolz wie Bolle. Er hatte eine Stelle im Kraft-
zum ersten Mal auf dieser Kanzel, schüttelt aber werk, dem die Zukunft zu gehören schien, und
noch immer verwundert den Kopf. »So was wie fühlte sich den Kollegen aus der Wasserkraft turm-
hier gibt’s nur hier.« hoch überlegen. »Wir waren die Götter der E-Wirt-
Zwei Meter unter ihm steht Stefan Zach. Er trägt schaft«, sagt er, und noch immer tue ihm das Herz
ein rotes Poloshirt mit dem Logo der EVN, der Ener- weh, wenn er zur Führung durch seinen Beinahe-
gieversorgung Niederösterreich. Mit fröhlicher Arbeitsplatz eingeteilt werde. Aber Sieberer hadert
Miene erklärt der Unternehmenssprecher, dass nicht. Er ist in der Volksabstimmung unterlegen
diese Kanzel eine Steuerstabwechselbühne ist. Von und hat seinen Frieden mit dem Thema gemacht.
hier werden die Steuerstäbe zwischen den Brennele- Der Besucher aus Deutschland staunt darüber,
menten in den Reaktor eingefahren. Man muss sich wie Österreich den Konflikt um die Kernkraft gelöst
jetzt aber keine Sorgen machen, denn das Kernkraft- hat. Statt sich über Castor-Transporte zu echauf-
werk in Zwentendorf bei Wien ist keine Sekunde in fieren, statt geologische Details von undichten End-
Betrieb gewesen. Nichts strahlt hier, die größte lagern zu diskutieren, schlendern in diesem atomar
Gefahr droht von der Schleuse. Die gepanzerten befriedeten Land Gegner und Befürworter der
Luken, die diesen Raum im Notfall abriegeln, sind Kernspaltung Ärmel an Ärmel durch die langen,
mit Grafit geschmiert. »Diese Flecken kriegen Sie beigefarben gestrichenen Flure. Schulter an Schul-
nie wieder raus«, sagt Zach, »da hilft nur noch die ter passieren sie Stahlwände, die Flugrost angesetzt
Gewandschere.« Seine Warnung nutzt aber nichts, haben. »Wir waren eher dagegen«, sagt der Leiter
denn die fünfzig Rentner, die heute den Reaktor der Seniorengruppe jovial. Eine weißhaarige Frau,
besichtigen, drängen ohne Rücksicht auf Janker und auf einen Krückstock gestützt, sagt: »Jo eh.«
Popelinejacken in den engen Antriebsraum. Im Atomkraftwerk gibt es keine Stockwerke. Im
Aufzug werden Höhenmeter angezeigt. Bei 39,4
»Das unterscheidet uns von anderen: steigt die Gruppe aus und geht zur Brennelement-
Wir bauen erst und fragen dann« wechselbühne. Von hier fällt der Blick in das Herz
der Finsternis: einen grauen Zylinder, 20 Meter tief,
Österreichs einziges Atomkraftwerk steht direkt gut 5 Meter dick, oben offen. Dies ist der Reaktor-
an der Donau. Der viereckige, mit grauem Eternit druckbehälter, hier wären die Atome gespalten
verkleidete Klotz ragt 64 Meter über die flache worden. Der Reaktordeckel steht daneben, auf drei
Flussaue. In seinem Schlagschatten flattert eine Säulen aufgebockt. Er besteht aus geschmiedetem
rot-weiß-rote Fahne über einem Kinderspielplatz, Stahl und strahlt eine monströse Faszination aus. DEUTSCHLAND
ÖSTERREICH
daneben steht eine Holzhütte. An dieser Jausen- Man kann sich drunterstellen und sich gruseln: Was
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station machen jeden Sommer ein paar Tausend wäre, wenn einer der drei schenkeldicken Stahlbol- ÖSTERREICH
Radfahrer Rast – der Donauradweg führt direkt zen brechen würde? Dann wäre man unter einer 60
ITALIEN
am Werksgelände vorbei. Zu Beginn der Führung Tonnen schweren Kuppel lebendig begraben. Donau
hat Stefan Zach die Teilnehmer in einem Neben- »Zwentendorf steht wie kein zweiter Ort in
gebäude empfangen und gebeten, falls nötig, Österreich für ein permanentes Scheitern«, sagt Zwentendorf
gleich hier noch einmal auf die Toilette zu gehen. Stefan Zach. Es gab Pläne, die Anlage zu einem St. Pölten Wien
Das Kernkraftwerk hat zwar 1050 Räume, aber Gaskraftwerk umzurüsten. Friedensreich Hundert- A�
kein Klo. Die Fäkalien eines Reaktortechnikers im wasser wollte ein Museum der fehlgeleiteten Tech-
Dienst gelten als radioaktiver Müll. Den müsste nologien einrichten. Das graue Monument der Wienerwald
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man eigens entsorgen. »Deshalb ist in einem Kern- Sinnlosigkeit zog auch Udo Proksch magisch an.
Abtei Heiligenkreuz
kraftwerk alles verboten, was Spaß macht: Essen, Der zwielichtige Unternehmer, der sein Leben im 10 km
Trinken, Rauchen.« Gefängnis beschloss, hatte unter anderem einen
Dann referiert Zach die Geschichte von Zwen- Verein der Senkrechtbegrabenen gegründet. Das Der Zisterzienser-Mönch Pater Karl in der Schleuse des AKW Zwentendorf. Führungsteilnehmer fotografieren sich mit Aussicht auf die Donau
tendorf. Siemens hat diesen Siedewasserreaktor Freigelände um den Reaktor dünkte ihn der rechte
gebaut, 1978 war er fertig. Die Brennelemente Ort, Verstorbene in durchsichtigen Behältern aus-
waren gekauft, 200 Mitarbeiter eingestellt, man zustellen. Hollywood wollte im leer stehenden
hätte nur noch auf den Knopf drücken müssen. Kraftwerk einen Film drehen, Dolph Lundgren
Während des Baus äußerten sich kritische Stimmen sollte die Welt vor Atomterroristen retten. Dann
gegen die Kernenergie. Kanzler Bruno Kreisky ließ ging die Produktionsgesellschaft pleite.
das Volk abstimmen. Er war sich seiner Sache so
sicher, dass er seine politische Zukunft an das Kraft-
werk knüpfte: Wer ihn wolle, müsse dafür sein.
Das war ein Fehler. Im Volk herrschte Fortschritts-
euphorie, es gab noch keine grüne Bewegung. Aber
die Rechte mochte den Linken Kreisky nicht. So
Im Winter geht gar nichts.
Das Kraftwerk hat keine Heizung
Das Parlament in Wien verabschiedete 1999 ein-
stimmig ein Gesetz für ein atomfreies Österreich.
Big Art. Big Apple.
stimmte Österreich am 5. November 1978 mit Trotzdem verdient die EVN mit ihrem Kernkraft- Entdecken Sie New York aus neuen Perspektiven –
50,47 Prozent gegen sein betriebsbereites Kernkraft- werk Geld. Sie verkauft Ersatzteile nach Deutsch- in kunstvollen Bildern von Martin Sasse.
werk, das umgerechnet eine Milliarde Euro gekostet land, die Reaktoren in Brunsbüttel, Philippsburg
hatte. »Das unterscheidet uns von vielen Ländern«, und Krümmel sind ähnlich gebaut. Und die Be-
sagt Stefan Zach trocken. »Wir bauen erst und fragen treiber von Atomkraftwerken in aller Welt schi-
dann, was mit dem Bau geschehen soll.« cken ihre Mitarbeiter zur Schulung. Sie kommen
Wie aber kommt der Mönch ins Atomkraft- aus Deutschland genauso wie aus Indien und
werk? Karl Wallner, 47 Jahre alt, ist groß und schaut üben hier den Wechsel von Brennelementen.
offen in die Welt. An seinem Kinn sprießt ein dün- »Die Inder könnten auch an einer Anlage in Li-
ner Bart. Pater Karl gehört zu den Zisterziensern tauen üben«, sagt Zach, »aber die wollen am Wo-
der Abtei Heiligenkreuz im Wienerwald. An der chenende nach Wien.« An der Außenhaut des
dortigen Hochschule unterrichtet er katholische grauen Riesen hängen quadratmeterweise blaue
Dogmatik. Bekannt geworden ist er jedoch durch Zellen. Sie produzieren Solarenergie. Gemeinsam
eine CD mit gregorianischen Gesängen, die er mit mit der TU Wien entwickelt die EVN in ihrem
seinen Mitbrüdern aufgenommen hat. Diese schaff- Atomkraftwerk die Photovoltaikanlagen weiter.
te es in die Top Ten der britischen Popcharts. Als Einer der Rentner, offenkundig Hausbesitzer,
eine Monsterwelle des öffentlichen Interesses über zeigt Interesse: »Lässt sich schon sagen, welche
die Mönche zu branden drohte, holten sie sich Rat Module die besseren san?«
bei dem PR-Profi Stefan Zach. »Seine Tipps waren Die Führungen durch das Geisterkraftwerk sind
rettend«, sagt Pater Karl. ein Renner geworden. Die EVN kann die Nach-
Irgendwann erzählte der Pater dem Pressespre- frage nicht bewältigen, es gibt Wartelisten. Und im
cher, dass er 1978 gegen sein Kraftwerk protestiert Winter geht gar nichts. Dann kühlen die Räume
habe. »Dann schau’s dir doch mal an«, sagte Zach. zwischen den 1,2 Meter dicken Stahlbetonmauern
Ob er auch ein paar Freunde mitbringen dürfe, aus. Und das Kraftwerk, das 1,7 Millionen Haus-
fragte Wallner. Und so machte das Stift Heiligen- halte mit Strom versorgen sollte, hat keine Heizung.
kreuz dieses Frühjahr einen Ausflug ins Kernkraft- Wenn der Reaktor im Betrieb wäre, würde die An-
werk. 120 Mönche und Studenten kamen, der Abt lage Dampf erzeugen, und es wäre warm genug. DUMONT Bildband
segnete die Anlage, und weil das Interesse so groß »Hier sehen Sie ein wunderschönes Stück öster- New York
war, bietet die EVN seit diesem geistlichen Probelauf reichischer Zeitgeschichte«, sagt Pater Karl. Er
öffentliche Führungen an. Und der Pater hat sich kommt gern nach Zwentendorf. Zum einen erinnert ISBN 978-3-7701-8904-5
zum Botschafter von Niederösterreich ernennen dieser Ort ihn an den Protest seiner Jugend. Vor 160 Seiten, € 24,95 (D)
lassen. Seine Mission besteht darin, das Bundesland allem aber ist er für ihn ein Symbol. Der grüne DuMont
jenseits der Heurigen-Klischees zu zeigen. Da passt Mönch ist stolz darauf, dass Österreich seinen Son-
Zwentendorf ins Bild. derweg jenseits der Atomenergie gefunden hat. »Ich
Die Führungen finden überwiegend im Konjunk- bin froh, dass ich nicht in Deutschland lebe.« Wenn
tiv statt. »Hier hätte jeder Angestellte ein Dosimeter Gäste über die Geschichte von der Volksabstimmung
bekommen, das die Strahlung anzeigt«, erklärt Zach schmunzeln, ficht ihn das nicht an. »A bisserl blöd
an der Schleuse am Eingang. Im Nebenraum hätten gelaufen ist das schon«, sagt Pater Karl. »Aber wir
die Angestellten sich umgezogen. Über nie benutz- müssen uns für diese Ruine nicht schämen.«
ten Waschbecken hängt eine Garnitur Doppelripp-
Unterwäsche in Orange. Die auffällige Farbe sollte Zwentendorf liegt 40 Kilometer nordwestlich von
daran erinnern, die kontaminierte Unterhose nach Wien. Die kostenlosen Führungen finden jeden
Freitag statt, sind jedoch für dieses Jahr bereits aus-
der Arbeit auszuziehen. Sie wäre dann mit der übrigen gebucht. Nach der Winterpause beginnen sie wieder Stöbern. Entdecken. Bestellen:
Arbeitskleidung im Kraftwerk gewaschen worden. im März. Anmeldung unter www.zwentendorf.com www.thalia.de
Als 1986 in Tschernobyl der Atomreaktor ex-
plodierte, »da sahen wir das als späte Bestätigung für www.zeit.de/audio

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