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März 2011 DIE ZEIT No 13 DIE FOLGEN DER KATASTROPHE IN JAPAN POLITIK

Worte der Woche


» Das libysche Volk muss
beschützt werden.«
Barack Obama, US-Präsident, über die
militärische Intervention in Libyen
FRAGE

1Kann man der Regierung noch trauen?

Fotos: Clemens Bilan/dapd (A. Merkel, Debatte Atompolitik, 17.03.2011; gr.); Asahi Shimbun via Getty Images (PK mit Yukio Edano, 21.03.2011; kl.)
»Die arabischen Völker haben sich
dazu entschlossen, sich der
Unterdrückung zu entledigen. Sie
brauchen unsere Hilfe, und wir
werden ihnen helfen.«
Nicolas Sarkozy, französischer Staatschef,
zum selben Thema
Die Welt
»Unsere Enthaltung ist nicht mit
Neutralität zu verwechseln.«
nach dem GAU:
Angela Merkel, Bundeskanzlerin (CDU), zum Wie glaubwürdig ist das
deutschen Abstimmungsverhalten bei der
Verabschiedung der Libyen-Resolution im Atomkraft-Moratorium der
UN-Sicherheitsrat Bundesregierung (diese Seite)?
Sind wir Deutschen besonders
»Gegenüber Despoten kann es
hysterisch (Seite 3)?
keine Enthaltung geben.«
Heidemarie Wieczorek-Zeul, ehemalige Ministerin
Eine Japanerin beschreibt, wie
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der 11. März ihr Land
Entwicklung (SPD), zum selben Thema
verändert (Seite 4). Ein
Befürworter der Atomenergie
»Ich habe keine Zweifel, dass diese
Krise erfolgreich bewältigt wird.« fragt sich, ob er nun umdenken
Yukiya Amano, Chef der Internationalen
muss (Seite 5). Die EU ringt
Atomenergie-Behörde, über die Katastrophe in um einheitliche Sicherheits-
seinem Heimatland Japan
standards für Atommeiler.
»Wir haben den Eindruck, Und die Regierung in China
gegen einen unsichtbaren Feind lässt auf einmal Zweifel an der
zu kämpfen.« Kernkraft zu (Seite 6)
Yukio Takamaya, Chef der Feuerwehrspezialkräfte
Tokyo, über die Atomwolke in Fukushima

Während der
»Wir müssen gar nichts.« japanische
Andrea Nahles, SPD-Generalsekretärin, zur Regierungssprecher

Ausstieg aus dem


Forderung der Linkspartei, nach der Yukio Edano Neues
Landtagswahl in Sachsen-Anhalt eine aus Fukushima
rot-rote Regierung zu bilden verkündet (kleines
Foto), verteidigt
»Es gibt in Rheinland-Pfalz keine Angela Merkel im
Skandale.« Bundestag ihren
Atomkurs

Ausstieg aus dem ...


Kurt Beck, rheinland-pfälzischer
Ministerpräsident (SPD), vor der Wahl in seinem
Bundesland

»Generell müssen wir aufpassen,


dass die Seriosität der Liga nicht
leidet.«
ofür steht Angela Merkel? Rote und Grüne schon lange in der Atompolitik wieder auf: Die Versorgungssicherheit müsse gewähr- zeugend. Worte können Wähler mobilisieren. Ob

W
Joachim Löw, Trainer der deutschen Fußball- In der Umweltpolitik ge- sahen. Von einer »Zäsur« ist die Rede, von einer leistet bleiben! Der Strompreis bezahlbar! Es könne sie wahr sind, ist eine andere Sache.
nationalmannschaft, zum Wechselspiel
auf den Trainerbänken der Bundesliga
« hört diese zu den ungelös-
ten Masterfragen. Als zu-
ständige Ministerin war
»neuen Lage«, und über allem schwebt die böse
Frage, ob die Zäsur nur bis zum kommenden Sonn-
tag währt, wenn in Rheinland-Pfalz und Baden-
nicht sein, dass moderne deutsche Kernkraftwerke
vom Netz gingen und Atomstrom aus Frankreich
käme. »Verantwortungsvolle Politik«, ruft Mappus,
So hat auch die Dreimonatsfrist des Moratori-
ums wenig mit Sachargumenten zu tun. Zu lange
wollte man die Laufzeitverlängerung nicht ausset-
ZEITSPIEGEL sie angeblich für die Öko- Württemberg gewählt wird. »heißt nicht: jetzt alles abschalten!« zen – man wollte sich nicht vorwerfen lassen, man
steuer, sagte es aber nicht Die Kehrtwende in der Atompolitik erwischt vor verschiebe die Sache auf den Sankt-Nimmerleins-
laut, weil Helmut Kohl das nicht wollte. Sie forder- allem die Union an ihrem empfindlichsten Punkt: Acht Meiler sind abgeschaltet, doch die Tag. Zu kurz durfte das Moratorium aber auch
Stehen statt gehen te die Besteuerung von Flugbenzin und verwarf das
wieder, als der Kanzler sie zurückpfiff, kurz vor ei-
dem Selbstverständnis als natürliche Regierungs-
partei, die in allen historischen Fragen richtig lag und
ominöse »Stromlücke« gibt es nicht nicht sein, also schon länger als bis zum Wahltag
in Stuttgart. Dabei ist fraglich, ob man binnen
Die Briten wollen sich ein Beispiel an Ägyp- ner Landtagswahl in Hessen. Sie schrieb ein Buch -liegt. Merkels Botschaft lautet: Wir machen zwar Schon die schwarz-gelbe Entscheidung vom ver- drei Monaten wirklich die Sicherheit aller 17 Mei-
ten nehmen. Für die zum Wochenende ge- mit kernigen Sätzen, das Fachleute ziemlich dünn jetzt das, was vorher die anderen gemacht haben – gangenen Herbst, die Laufzeiten der Atomkraft- ler überprüfen kann. Der FDP-Politiker Hans-
planten Protesten gegen die massiven Kür- fanden, aber ihrer späteren Karriere als Klimakanz- aber wir haben immer noch recht. Darin, nicht im werke zu verlängern, basierte auf einer Lüge. Die Heinrich Sander, Umweltminister von Nieder-
zungen der Regierung im öffentlichen Sektor lerin tat das keinen Abbruch – ihre Partei hatte sie Kurswechsel selbst, liegt das Unverschämte ihrer Po- Meiler würden nur »so lange am Netz bleiben wie sachsen und ausgewiesener Freund der Atomkraft,
haben Studenten den Trafalgar Square in der ja nicht als wissenschaftliche Hilfskraft eingestellt. sition. Glaubwürdigkeit gewinnt man so nicht. unbedingt nötig«, sagte die Kanzlerin damals. Wür- bezweifelt das. Vor allem bei den Anlagen, die wei-
Londoner Innenstadt zum »Tahrir Square« Nur eines war stets über jeden Zweifel erhaben: Samstag vergangene Woche, die Grindehalle in den sie sofort abgeschaltet, so das Argument, gingen terhin laufen, werde dies wohl länger dauern.
ausgerufen. Dort wollen sie den Tag über aus- Angela Merkels Bekenntnis zur Atomkraft. Im Obersasbach. 250 Stühle, 350 Menschen, Schwarz- hierzulande die Lichter aus. Nun sind acht Atom- Zudem ist offen, wie der Sicherheitscheck
harren, während parallel Demonstrationen Bergbau habe es mehr Tote gegeben als bei der waldidylle vor der Mehrzweckhallentür. An einem kraftwerke vom Netz gegangen. Und dennoch überhaupt ablaufen soll. Die aktuellen Sicherheits-
gegen die Kürzungen geplant sind. Zu einer Kernenergie, pflegte sie zu sagen. Tisch sitzen sieben Nonnen, mit CDU-Schal um kommt aus den deutschen Steckdosen noch Strom standards sind 30 Jahre alt. Neuere gibt es nicht.
von den Gewerkschaften organisierten Groß- Für Atomkraft zu sein, das war für die Anhän- den Hals. Als der Ministerpräsident kommt, singen – 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. Was In drei Monaten könne man »bestenfalls Bekann-
veranstaltung werden 200 000 Teilnehmer ger der Union immer mehr als eine x-beliebige sie das Badnerlied, stehend, wie die Nationalhymne. also ist von all den anderen Argumenten zu halten? tes zu einem Bericht zusammenschreiben und das
erwartet. Doch gerade das herkömmliche Sachfrage. Für Atomkraft zu sein, das hieß, recht Ein Heimspiel. • Ohne Atomkraft müsste Deutschland Strom aus weitere Überprüfungsverfahren definieren«, warnt
Demonstrieren sehen die Studenten als nutz- zu haben. Auf der Seite der Wirklichkeit zu sein. Noch vor Kurzem füllte Stefan Mappus die Leer- Atomländern wie Frankreich oder Tschechien Wolfgang Renneberg, der frühere Leiter der Reak-
los an. »Wir haben gesehen, dass einfache Bei den Realisten. Aus Merkels Sicht bedeutete es, stelle »konservativ« in der Union vor allem dadurch, beziehen, heißt es. Doch die ominöse »Stromlü- torsicherheitsabteilung im Umweltministerium.
Demos von A nach B keine ausreichende die Normalität gegen die Spinner zu verteidigen. dass er sich als entschiedener Befürworter der Lauf- cke« gibt es nicht. Deutschland besitzt stillgelegte Wäre das Moratorium ein Politiker, es müsste
Wirkung zeigen«, sagt einer der Veranstalter. Dann kam Fukushima. zeitverlängerung gab, als Sturmgeschütz der Atom- Kohle-, Gas- oder Ölheizkraftwerke, die sofort mangels Glaubwürdigkeit zurücktreten.
Mit dem Besetzen des Trafalgar Square wolle Seither ist ein Teil der Welt im Ausnahmezustand, industrie. Auf dem Weg in die Schlagzeilen schreck- hochgefahren werden könnten. Doch was als hektische Symbolpolitik begann,
man einen Protest beginnen, der länger und die deutsche Regierung kämpft um ihre Glaub- te Baden-Württembergs Ministerpräsident vor wenig • Ohne Atomkraft würden die CO₂-Emissionen hat ganz reale Folgen. Es drohen nicht nur Klagen
dauern solle als eine einzelne Demonstration würdigkeit. Eine Kanzlerin, die immer stolz auf ihren zurück, auch nicht vor einer Rücktrittsforderung an steigen, heißt es. Der schnelle Atomausstieg wäre der Betreiber. Auch auf den Haushalt kommen
und hoffentlich den Sommer über weiterge- nüchternen Pragmatismus war und darauf, Natur- den Parteifreund Röttgen. Gift fürs Klima. Tatsächlich ist der CO₂-Ausstoß Risiken zu. Im Gegenzug zur Laufzeitverlängerung
führt werde – im Stehen oder Sitzen. AM wissenschaftlerin zu sein, bestaunt nun, dass das Neue Lage, neuer Mappus? Wenn man beide im durch europaweite Vereinbarungen gedeckelt hatte Schwarz-Gelb eine Brennelementesteuer
Mögliche tatsächlich eingetreten ist. CDU/CSU und Wahlkampf beobachtet, die neue Lage und den (siehe Wirtschaft, Seite 26). eingeführt. Die Einnahmen hat Finanzminister
FDP, die noch vor einem halben Jahr eine Laufzeit- neuen Mappus, erinnert man sich an die Mangalores, • Ohne Atomkraft würden die Strompreise steigen, Wolfgang Schäuble im Etat verplant. Gleichzeitig
verlängerung für die deutschen Atomkraftwerke als eine Gruppe von Außerirdischen aus Luc Bessons heißt es. Tatsächlich ist der billige Atomstrom ein sollten RWE, E.on, Vattenfall und EnBW einen Teil
NÄCHSTE WOCHE IN DER ZEIT epochalen Beschluss verkauften, werfen nun der Op- Science-Fiction-Oper Das fünfte Element. Die Man- Gewinnbeschaffungsprogramm für die Energie- ihrer zusätzlichen Gewinne in einen Fonds ein-
position vor, sie behindere den Ausbau der erneuer- galores können ihre Gestalt wandeln. Da ihre Natur konzerne. In ihren Meilern produzieren sie Strom zahlen, mit dem der Ausbau erneuerbarer Energien
baren Energien. Aus der »Brückentechnologie« Kern- aber stärker ist, fallen sie zur Unzeit wieder in ihr für zwei bis drei Cent je Kilowattstunde und ver- finanziert werden soll. »Wir kommen nur für Reak-
kraft ist im Zeitraffer eine »Risikotechnologie« ge- wahres Ich zurück. So wie Mappus. Im Schwarzwald kaufen ihn für etwa fünf Cent. toren auf, die laufen«, heißt es nun aus Konzern-
worden, aus Atom-Anhängern sind Ausstiegs-Spon- tritt er zunächst als der Nachdenkliche auf, als je- Es ist Wahlkampf, und da kommt es weniger kreisen. Die Betreiber wollen nicht zahlen. Und die
tis geworden und aus dem »Restrisiko« jene unver- mand, der kapiert hat. Er müsse seine Position über- darauf an, was gesagt wird – sondern wie. Kraft- Regierung, die dieses Geld dringend braucht, ist
antwortliche Gefährdung für Leib und Leben, die denken, sagt er. Dann aber bricht der alte Mappus voll müssen die Argumente klingen, und über- erpressbar geworden.

Wie sich die Angela Merkel (CDU) Rainer Brüderle (FDP) Norbert Röttgen (CDU)
Foto: Michael Wolf für DZ

»Wenn Sie einen Kuchen backen, »Die sicheren Kernkraft- »Ich habe immer gesagt, dass die
Meinung … fällt schon mal ein Mehlstäubchen
daneben. Na und? Der Kuchen
werke müssen länger
laufen können.«
längeren Laufzeiten notwendig sind
als Brücke, die uns in das Zeitalter
schmeckt trotzdem köstlich.« Juli 2008 der regenerativen Energien führt.«
März 1995, als Umweltministerin über einen fehlerhaft Oktober 2010
Google Street View spaltet das Land. Die beladenen Castor-Transport
Bevölkerung von Parum in Mecklenburg
wehrt sich mit allen Mitteln dagegen, dass
Fotos ihres Ortes ins Netz gestellt werden.
Die Bewohner Oberstaufens in Bayern haben
… ändert »Wir wollen das Zeitalter der
erneuerbaren Energien erreichen.
»Ich bin nicht der Fachmann
für Reaktorsicherheit.«
»Wenn’s nach mir ginge, müssten
wir schneller als beschlossen aus der
die Kameras von Google Street View hin-
gegen regelrecht herbeigerufen – sie erhoffen Wir können nach Japan nicht einfach 22. März 2011 Kernenergie aussteigen.«
sich davon nur Vorteile. Warum ist das so?
Eine deutsch-deutsche Mentalitätsgeschichte zur Tagesordnung übergehen.« 16. März 2011

von Christoph Dieckmann ZEITMAGAZIN 14. März 2011


POLITIK DIE FOLGEN DER KATASTROPHE IN JAPAN 24. März 2011 DIE ZEIT No 13 3

FRAGE

2 Gibt es die »German angst«? Die nächste Frage folgt auf Seite 19
Fotos: Uwe Anspach/dpa (AKW Neckarwestheim, 21.03.2011; gr.); Abc Tv/dpa (AKW Fukushima, Explosion 15.03.2011; kl.)

Nach den Explosionen


in Fukushima (kleines
Foto) protestiert
Greenpeace am
Atommeiler in
Neckarwestheim

eit das Restrisiko Realität wurde, seit nur als Farce, der drastisch beschleunigte Atom- Das gab es, aber gibt es das noch? Die Deut-

Die Bundeskanzlerin hat eine


dramatische Kehrtwende in der
Atompolitik vollzogen. Doch eine
S dem 11. März, wirken die meisten
Argumente der Atomkraft-Anhänger
nicht mehr. Auch die Warnung des
Wirtschaftsministers Brüderle (FDP),
der Ausstieg koste die Stromkunden viel Geld,
verhallt zurzeit ungehört. Einfach weil niemand
gern die Frage, ob man für 60 Euro weniger im
ausstieg scheint beschlossene Sache.
Judy Dempsey, die Berlin-Korrespondentin der
amerikanischen Herald Tribune, wusste diese Wo-
che denn auch sogleich: »Es ist kulturell. Es ist die
Furcht vor Risiko.« Da könnte man zurückfragen,
ob ein Land, das unternehmerisch auf der ganzen
Welt so erfolgreich ist, wirklich risikoscheu sein
schen haben sich 1990 wiedervereinigt, ohne
dabei nationalistisch zu werden. Sie sind in Krie-
ge gezogen, ohne militaristisch zu werden. Sie
haben sich mit Fahnen und Nationalhymne über
deutsche Siege (im Fußball) gefreut und blieben
ebenso freundlich wie friedlich. Und in der Fi-
nanzkrise, als alle Welt erwartete, dass die Deut-
Zäsur hat sie schon einmal versprochen Jahr so etwas wie Fukushima in Kauf nehmen kann. Und ob es die USA in den letzten Jahren bei schen wegen ihrer blöden angst das Geld unter
würde, mit einem klaren Ja beantwortet. Häuserkauf und Derivatehandel mit dem Risiko die Matratze legen, da blieben sie cool und gin-
VON MARC BROST, PETER DAUSEND UND Wer aktuell etwas gegen den Ausstieg aus der nicht ein klein wenig übertrieben haben. gen ungerührt ihrer patriotischen Konsumpflicht
TINA HILDEBRANDT Atomkraft vorbringen möchte, muss sich daher ein Dennoch bleibt beim Thema AKWs die Fra- nach. Die Deutschen entdeckten zu ihrer eige-
Feld außerhalb von Reaktorsicherheit und Öko- ge: Sind die Deutschen so schnell, weil sie so nen Überraschung: Wir müssen keine Angst vor
nomie suchen. Dieses Feld ist die Massenpsycho- ängstlich sind? (Wir lassen hier die Tatsache au- uns haben, andere haben sie auch nicht (mehr).
logie, die These lautet: Deutschland will jetzt nur ßer Acht, dass unter Umständen auch das Fehlen Und bei Umwelt und Atom? Es kann schon
Atomkraft, nein danke? Acht Meiler sind abge- Den Zeitplan bestimmen die Landtagswahlen. Ganz deshalb so schnell aus der Atomkraft aussteigen, von Angst auf eine psychische Störung zurück- sein, dass die Deutschen in Sachen Ökologie sen-
schaltet, aber die Unternehmen verfügen über ge- gleich, wie die Abstimmung in Baden-Württemberg weil es von Hysterie, Hypochondrie und Selbst- sibler, ja ängstlicher sind als andere, wegen ihrer
setzlich garantierte Reststrommengen, die sie pro- ausgehe, sagt Thomas Jarzombek, ein Zurück zum mitleid getrieben ist, kurzum von German angst. alten Naturromantik, wegen ihrer Angst vor Kei-
duzieren können. Übertragen sie diese auf die alten Kurs könne es nicht geben. Eigentlich ist Jar- Die Symptome, die den neuerlichen Aus- men und Strahlen, wegen ihrer Neigung zu apoka-
neueren Meiler, könnte der Ausstieg sich sogar bis zombek Verkehrspolitiker und in der Bundestags- bruch dieser Volkskrankheit belegen sollen, sind lyptischen Fantasien (als Fernwirkung jener Apo-
ins Jahr 2050 verschieben. Dann wären die neuen
Meiler älter als die alten heute.

Westerwelle schimpft auf die Grünen.


Über »Atomkraft« spricht er nicht
fraktion der Union zuständig für Netzpolitik. Vor
allem aber ist er einer der jüngeren Politiker, die auch
wegen der Anti-AKW-Politik der Grünen zur CDU
gegangen sind. Es ging ihm ums Prinzip. Jarzombek
ist Jahrgang 1973.
der Kauf von Jodtabletten, die in Radiosendun-
gen diskutierte Frage, ob man denn nun noch
Sushi essen und Jasmintee trinken darf, die Mit-
leidlosigkeit gegenüber den Japanern sowie die
blitzschnelle Kehrtwende der Regierung in der
Ein Land kalypsen, die sie erlebt und vor allem über andere
gebracht haben). Nur, was immer die kranken
Motive für das Avantgardistisch-Grüne an den
Deutschen gewesen sein mögen – der Ausgang ist
ziemlich gesund. Der grüne deutsche Sonderweg,

Heilbronn, Messezentrum, am Freitag der vergange-


nen Woche. Bevor Guido Westerwelle spricht, flim-
mert eine Diashow über die Großbildleinwand:
»Das Thema hatte symbolischen Wert, es stand
für einen grundsätzlich unterschiedlichen Lebens-
und Denkansatz«, sagt er. Möglicherweise ist das der
Grund, warum bei Deutschlandtagen der Jungen
Ausstiegsfrage nebst sofortiger Abschaltung von
sieben Meilern. Letzteres tue die Regierung le-
diglich aus Angst vor der Angst der Wähler vor
der Atomkraft, German angst in Potenz mithin.
bleibt cool der seit 40 Jahren beschritten wird, ist eine unglaub-
liche Erfolgsgeschichte. Das Leben in Deutschland
wurde dadurch besser, die Natur gesünder – und
die Exportnation Deutschland stärker. Die Er-
schöne Frauen, porentief reine Handwerker, glücks- Union immer dann der Beifall besonders laut auf- Nun ist es so, dass die Jodtabletten auch in Oft waren die Deutschen hysterisch. fahrung, die mit der Ökologie gemacht wurde, ist
beseelte Kinder. Dann redet der Vizekanzler. 42 brandete, wenn der Redner am Pult den Satz sagte: Kalifornien und in Teilen von China ausverkauft Diesmal sind sie es nicht fast durchgehend gut, daran festzuhalten zeugt
Minuten lang. Folgende Wörter kommen nicht vor: »Wir stehen zur Atompolitik.« Es war eine der letzten sind und dass es zum Ausverkauf von welchen nicht von Angst, sondern von Sachlichkeit und
Japan, Fukushima, Katastrophe, Atomkraftwerk, Fragen, bei denen man sich noch klar abgrenzen Tabletten auch immer kaum mehr braucht als VON BERND ULRICH mittlerweile von Gelassenheit. So ungerecht kann
Laufzeitverlängerung, Moratorium, Energiewende. konnte: hier wir, da die anderen. Es war die Verlän- die üblichen nachrichtensensiblen Hypochon- Geschichte sein, dass sich die deutsche Verkorkst-
Westerwelle gießt Häme über die Grünen aus (»Egal gerung der alten Kampflinien Marktwirtschaft oder der, das heißt: eine kleine Minderheit. Dass jour- heit zu einem Wettbewerbsvorteil wandeln kann.
ob Sonne oder Regen – wir sind dagegen«) und listet Sozialismus, Abrüsten oder Mitrüsten. Und nun soll nalistisch viel Aufhebens um die Frage gemacht Aus solchen Erfahrungen heraus glauben jetzt
alles auf, wozu sie angeblich Nein sagten: Straßen, sich die Wirklichkeit so schnell verändert haben? wird, was der Unfall für uns, für mich und für gehen kann, das sollen die Franzosen beizeiten die meisten Wähler, dass ein rascherer Ausstieg aus
Flughäfen, Netzleitungen, Bahnhöfe, Mobilfunk- Der Vorwurf der Wahlkampftricks liege in der Oma Erna bedeutet, ist in den letzten Tagen üb- unter sich klären.) der Atomenergie schon irgendwie technisch mach-
anlagen, Kohlekraftwerke, Gentechnologie. Nur die Luft, sagt Jarzombek, »deshalb sind die Verant- lich geworden, ein vielleicht bedauerliches, aber Ohne Zweifel hat es so etwas wie German bar und finanzierbar sein wird, dass er sich dereinst
Atomkraft fehlt auf seiner Liste. Auch Weglassen wortlichen aufgerufen, zu beweisen, dass das nicht gewiss internationales Phänomen. Gerechter- angst immer mal wieder gegeben, die Angst vor womöglich auch wieder als Vorteil erweisen könn-
kann eine Form der Lüge sein. so ist«. Er leistet sich eine Ehrlichkeit, von der die weise muss man hinzufügen, dass hierzulande dem Waldsterben, vor Tschernobyl, vor Kriegen, te. Warum also steigen die Deutschen so schnell
Schon einmal in der Regierungszeit Merkel war Kanzlerin glaubt, sie sich nicht leisten zu können. mit Abstand die meisten Zeitungszeilen und vor Rinderwahn und dergleichen war hierzulan- aus der Atomenergie aus? Weil sie es können.
von »Zäsur« die Rede und davon, dass die Welt nie Viele glauben, Angela Merkel werde nach dem Sendeminuten auf die Katastrophe selbst ver- de oft stärker als anderswo. Auch lässt sich das Hinzu kommt, keine Frage, dass in Deutschland
mehr so sein werde, wie sie zuvor war: als die Fi- Wahlsonntag zum alten Kurs zurückkehren und nur wendet werden. Einfach weil die Leute sich dafür Phänomen historisch gut begründen. Es hat zu – wie immer – Landtagswahlen anstehen. Das je-
nanzkrise ausbrach. Auch damals zerbrachen alte die AKWs abgeschaltet lassen, die ohnehin vom Netz brennend interessieren. Es gibt zudem eine gro- tun mit der Mittellage Deutschlands, mit der doch hat nichts zu tun mit German angst, sondern
Weisheiten und Glaubenssätze. Auch damals rea- genommen worden wären. Schon jetzt wird in der ße Spendenbereitschaft unter den Deutschen, späten Nation, mit der grüblerischen Philoso- nur mit German federalism. Und mit dem Zustand
gierte man hastig. Es gab keinen Masterplan und Union diskutiert, wie Sieg oder Niederlage in Stutt- und das, obwohl Japan nicht nur sehr weit weg, phie. Und mit dem Dunklen, das in den Deut- der schwarz-gelben Regierung.
kein durchdachtes Konzept. Die Märkte standen gart zu werten wären. Wäre ein knapper Sieg für sondern auch sehr reich ist. Von Gefühllosigkeit schen steckte oder steckt und das sich nirgendwo Heißt das nun, dass die Deutschen von der
vor dem Zusammenbruch. Von der »Kernschmel- Mappus der Beweis dafür, dass das Thema Atomkraft kann also nicht die Rede sein. so furchtbar gezeigt hat wie im Holocaust. Oft German angst endgültig geheilt sind? Wer sieht, was
ze« des Finanzsystems war die Rede. Es musste für die Wähler doch keine überragende Rolle spielt? Nüchtern betrachtet bleibt nur ein einziges genug haben die Deutschen Grund gehabt zur in deutschen Supermärkten regelmäßig passiert,
schnell gehen, weil es schnell gehen musste. Oder müsste man einen Sieg im Gegenteil als Zu- spezifisch deutsches Symptom: Während einige Angst vor anderen, mehr aber noch vor sich wenn eine zweite Kasse geöffnet wird, der kann sich
Der Unterschied zur Atomkatastrophe von Fukus- stimmung für den eingeschlagenen Kurs, also das Länder, wie Frankreich, sich in ihrem Atomkurs selbst – und um sich selbst. Die wehleidige deut- da nicht so sicher sein. Ob die angst endgültig weg
hima: Diesmal musste es schnell gehen, weil eine Ant- Versprechen eines Kurswechsels in der Atompolitik, kaum irritieren lassen, andere, wie China oder sche Logik lautete: Uns darf nichts Schlimmes ist, können wir nicht wissen; dass sie beim zügigen
wort auf ein Gefühl gesucht wurde. Eine Antwort auf verstehen? die USA, sich lediglich eine Denkpause aufer- passieren, sonst passiert vielleicht wieder etwas Atomausstieg keine große Rolle spielt, das wissen
die Angst. Wie erreichen wir das Zeitalter der erneu- Ob man der Regierung noch trauen kann? In der legen, wird in Deutschland schon gehandelt, das Schlimmes. Oder: Wer uns Angst macht, der wir schon. Nach Fukushima geht es nicht um
erbaren Energien? Das sei jetzt die Frage, sagt Merkel. Atompolitik eher nicht. dreimonatige Moratorium gilt dabei ohnehin sollte Angst vor uns haben. German angst, höchstens um human angst.

Stefan Mappus (CDU) Markus Söder (CSU) Volker Kauder (CDU) Annette Schavan (CDU)

»Ich bin für den Ausstieg aus dem »Auch das berühmte Kraftwerk Isar I »Wer verhindern will, dass sich »Wer will, dass Deutschland bei der
Atomausstieg. Das heißt: Solange ein ist sicher. Wenn das Kraftwerk – wie eines Tages nur noch Reiche warme Energieversorgung eine vernünftige
Atomkraftwerk sicher ist, muss man behauptet – nicht sicher wäre, Wohnungen leisten können, der muss Perspektive hat, darf die Kernkraft
seine Laufzeit nicht begrenzen.« müssten wir es ja sofort abschalten.« den Atomausstieg rückgängig machen.« nicht verteufeln.«
März 2010 8. Oktober 2010 Januar 2007 Juli 2009

»Wir müssen an die Sicherheit der »Isar I ist der einzige bayerische »Die Kernenergie war noch nie »Unser Ziel ist klar: Wir wollen den
Atomkraft neue Maßstäbe anlegen.« Reaktor, der gegen den Absturz eines Teil des Wertefundaments der CDU.« Ausstieg aus der Kernenergie zuguns-
18. März 2011
15. März 2011 großen Verkehrsflugzeuges nicht ten der erneuerbaren Energien.«
ausreichend gesichert ist.« 15. März 2011

15. März 2011


DOSSIER
WOCHENSCHAU GESCHICHTE
Auswechseln: Der FC Bayern und Die IAEA: Zur Geschichte einer
seine Trainer S. 22 wunderlichen Organisation S. 23

24. März 2011 DIE ZEIT No 13 19

3
VON ANITA BLASBERG, MATTHIAS GEIS,
TINA HILDEBRANDT, ANNA KEMPER,
FRAGE
Wie kam es zur Laufzeitverlängerung? Die nächste Frage folgt auf Seite 25
ROLAND KIRBACH, HENNING SUSSEBACH,
WOLFGANG UCHATIUS UND
STEFAN WILLEKE

R
ainer Baake müsste sich daran er-
innern können, was übrig geblie-
ben ist von dem Tag, an dem sich
Deutschland zum ersten Mal ge-
gen die Atomkraft entschied. Aber
er erinnert sich an nichts, an kei-
nen großen symbolischen Augen-
blick, nicht mal an ein Foto.
Im Mai des Jahres 2000 war Baake Staatssekretär
unter dem grünen Umweltminister Jürgen Trittin.
Biblis A Biblis B Neckarwestheim 1 Brunsbüttel Isar 1 Er war Trittins wichtigster Mann, er hatte den Atom-
ausstieg vorbereitet. Doch nicht einmal Baake würde
4,3 Mio Menschen 4,3 Mio Menschen 3,8 Mio Menschen 0,8 Mio Menschen 1,2 Mio Menschen heute von sich behaupten, dass er damals Erleichte-
im Umkreis von 50 km im Umkreis von 50 km im Umkreis von 50 km im Umkreis von 50 km im Umkreis von 50 km rung empfand. »Wir hatten etwas Wichtiges erreicht,

Fotos (von l. nach r.): P. Langrock/Zenit/laif (2); J. Eberl/action press; R. Weisflog; A. Weigel/picture-alliance/dpa; J. Sarbach/AP; euroluftbild.de/Andia.fr; H. Kehrer/Mauritius; S. Kuttig/Mauritius; B. Ducke/Superbild/Your Photo Today; H. Lohmeyer/Joker; P. Langrock/Zenit/laif; Rose/ullstein; R. Kerpa/Diagentur; Oberhäuser/Caro; A. Weigel/picture-alliance/dpa; J. Eberl/action press
1974 in Betrieb genommen 1976 in Betrieb genommen 1976 in Betrieb genommen 1976 in Betrieb genommen 1977 in Betrieb genommen wir, unsere Generation«, sagt der heute 55-Jährige,
Eigentümer: RWE Eigentümer: RWE Eigentümer: EnBW Eigentümer: Vattenfall (67 %), Eigentümer: E.on »aber es gab keinen Grund zum Feiern.«
E.on (33 %) Ein halbes Jahr lang hat er sich damals in Berlin
Laufzeit unter Rot-Grün: Laufzeit unter Rot-Grün: Laufzeit unter Rot-Grün: Laufzeit unter Rot-Grün:
immer wieder mit denselben sechs Männern getrof-
bis 2011 bis 2012 bis 2011 Laufzeit unter Rot-Grün: bis 2011
fen: dem Staatssekretär Frank-Walter Steinmeier aus
Laufzeit unter Schwarz-Gelb: Laufzeit unter Schwarz-Gelb: Laufzeit unter Schwarz-Gelb: bis 2012 Laufzeit unter Schwarz-Gelb:
dem Kanzleramt, dem Staatssekretär Alfred Tacke
bis 2020 bis 2020 bis 2019 Laufzeit unter Schwarz-Gelb: bis 2019
aus dem Wirtschaftsministerium und vier Abge-
bis 2020 279 meldepflichtige Ereignisse,
419 meldepflichtige Ereignisse 420 meldepflichtige Ereignisse, 427 meldepflichtige Ereignisse, sandten der Energiekonzerne Veba, Viag, RWE und
seit Inbetriebnahme 2004 kommt es zu einem u. a. ist im Jahr 2009 462 meldepflichtige Ereignisse, 1988 führt der Absturz eines Energie Baden-Württemberg (EnBW). Mal ver-
(Betriebsstörungen oder Kurzschluss, die Notstrom- die Notstromversorgung darunter eine Wasserstoff- Mirage-Kampfflugzeuges in handeln sie im ehemaligen Gebäude des Staatsrats
Störfalle, die den Behörden versorgung versagt, der beeinträchtigt explosion im Jahr 2001 2 km Entfernung zu einer der DDR, wo das Kanzleramt zu Beginn der rot-
gemeldet werden müssen) Reaktor wird heruntergefahren folgenlosen Sicherheitsdebatte grünen Koalition untergebracht ist, mal treffen sie
derzeit vom Netz derzeit vom Netz derzeit vom Netz derzeit vom Netz derzeit vom Netz sich im Büro eines Stromkonzerns am Pariser Platz.
Die sieben Männer wechseln die Orte und hüten
sich vor Journalisten. Nichts soll die Verhandlungen
stören, nichts darf herauskommen. Sie sind die
Hintermänner in einem politischen Geschäft.
Baake hat zwar die Rückendeckung seines grü-
nen Ministers, aber der Kanzler ist Sozialdemokrat

Der Poker um
und heißt Gerhard Schröder, ein Freund der Indus-
trie. Alles im Konsens mit der Atomwirtschaft,
nichts gegen sie – das ist Schröders Kurs. Im Wirt-
schaftsministerium regiert sein Vertrauter Werner
Müller, der nach einer Karriere bei RWE und Veba
in die Politik gewechselt ist. Müller taktiert während
Unterweser Philippsburg 1 der Verhandlungen um den Atomausstieg, Innen-
1,4 Mio Menschen
im Umkreis von 50 km
1978 in Betrieb genommen
Eigentümer: E.on
Laufzeit unter Rot-Grün:
17 Atommeiler
Im Jahr 2000 beschloss Rot-Grün den Atomausstieg, im Jahr 2010 verlängerte
3,4 Mio Menschen
im Umkreis von 50 km
1979 in Betrieb genommen
Eigentümer: EnBW
Laufzeit unter Rot-Grün:
minister Otto Schily hat rechtliche Bedenken.
Am Ende, nach sechs Monaten Verhandlung,
treffen sich Trittin, Schröder und die Energiebosse
im Kanzleramt. Es ist der 14. Mai 2000, der Strom-
konzern E.on hat die prominente Köchin Sarah
Wiener für das Catering engagiert. Schröder will
die Sache endlich vom Tisch haben, macht den
bis 2012 bis 2012
Firmenchefs ein »letztes Angebot«, wie er sagt – und
Laufzeit unter Schwarz-Gelb: Schwarz-Gelb die Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke. Warum? Laufzeit unter Schwarz-Gelb:
die Manager schlagen ein. Die Vereinbarung: Jedes
bis 2020 bis 2020
Die Geschichte einer Kampagne in sechs Schritten Atomkraftwerk darf von seiner Inbetriebnahme an
337 meldepflichtige 337 meldepflichtige 32 Jahre lang laufen. Es ist ein Atomausstieg, der
Ereignisse Ereignisse den Grünen die Laune verdirbt: 32 Jahre, eine
derzeit vom Netz derzeit vom Netz Ewigkeit! Trittin und seine Leute ziehen sich in ein
italienisches Restaurant am Gendarmenmarkt zu-
rück und diskutieren die halbe Nacht. Ein Gesetz
muss her, sagen sie, nicht nur eine Abmachung.
Ein richtiges Ausstiegsgesetz. Wenigstens das.
Als die Novellierung des Atomgesetzes endlich
beschlossen und das Ende der Atomkraft besiegelt
ist, im Februar 2002, lädt Minister Trittin in die
schleswig-holsteinische Landesvertretung in Berlin
ein. Sektgläser werden verteilt, aber es will keine
Stimmung aufkommen. Trittin hält eine kurze
Rede, sein Parteikollege Joschka Fischer spricht
von Meilensteinen, ein paar Hundert Politiker und
Grafenrheinfeld Krümmel Gundremmingen B Gundremmingen C Philippsburg 2 Beamte hören zu. Nach zwei Stunden ist alles vor-
bei. Der Kanzler ist nicht erschienen.
1,0 Mio Menschen 2,7 Mio Menschen 1,7 Mio Menschen 1,7 Mio Menschen 3,4 Mio Menschen Wie kann es sein, dass damals niemand den
im Umkreis von 50 km im Umkreis von 50 km im Umkreis von 50 km im Umkreis von 50 km im Umkreis von 50 km Atomausstieg feiern wollte? War er gar nicht so ge-
1981 in Betrieb genommen 1983 in Betrieb genommen 1984 in Betrieb genommen 1984 in Betrieb genommen 1984 in Betrieb genommen meint? Ist er es heute? Die Bundesregierung hat
Eigentümer: E.on Eigentümer: Vattenfall (50 %), Eigentümer: RWE (75 %), Eigentümer: RWE (75 %), Eigentümer: EnBW nach der Tragödie in Japan entschieden, sieben
E.on (50 %) E.on (25 %) E.on (25 %) Atommeiler sofort vom Netz zu nehmen. Das
Laufzeit unter Rot-Grün: Laufzeit unter Rot-Grün:
klingt nach einem festen Beschluss. Wie lange mag
bis 2014 Laufzeit unter Rot-Grün: Laufzeit unter Rot-Grün: Laufzeit unter Rot-Grün: bis 2018
er halten?
Laufzeit unter Schwarz-Gelb: bis 2019 bis 2015 bis 2016 Laufzeit unter Schwarz-Gelb:
Und wie ist es zu erklären, dass im Jahr 2000 ein
bis 2028 Laufzeit unter Schwarz-Gelb: Laufzeit unter Schwarz-Gelb: Laufzeit unter Schwarz-Gelb: bis 2032
geordneter Rückzug aus der Kernkraft vereinbart
bis 2033 bis 2030 bis 2030
222 meldepflichtige Ereignisse, 181 meldepflichtige wird, der zehn Jahre später, im Herbst 2010, durch
u. a. im Jahr 2001 Mängel an 322 meldepflichtige Ereignisse, 105 meldepflichtige 99 meldepflichtige Ereignisse Ereignisse eine Verlängerung der Laufzeiten für Deutschlands
Quellen: Bundesamt für Strahlenschutz, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Statistisches Bundesamt

fünf von acht Steuerventilen 2009 muss der Reaktor wegen Ereignisse Atommeiler ersetzt wird? Will man darauf eine
und 2009 Probleme mit der Elektronik- und Kühlproblemen Antwort finden, muss man sich diese zehn entschei-
Notstromversorgung abgeschaltet werden denden Jahre genauer ansehen. Die Akteure in der
soll vom Netz gehen derzeit vom Netz läuft weiterhin läuft weiterhin läuft weiterhin Politik, ihre Motive, ihre Verbündeten. Und die
sechs Schritte, mit denen sie ihr Ziel erreichten.

1. Kräfte sammeln
Insbesondere ein Mann will damals nicht aufgeben:
Gerald Hennenhöfer. Von 1994 bis 1998 leitete er im
Bundesministerium für Umwelt – unter Ministerin
Angela Merkel – die Abteilung Reaktorsicherheit und
erwarb sich den Ruf eines Atomlobbyisten in Staats-
diensten. Der hessischen Umweltministerin verbat er
per Weisung, den schon damals anfälligen Reaktor
Biblis A stillzulegen. Das Umweltministerium in
Sachsen-Anhalt zwang er, Atommüllfässer in die ein-
Grohnde Brokdorf Emsland Isar 2 Neckarwestheim 2 sturzgefährdete Salzgrube Morsleben einzulagern.
Eine der ersten Amtshandlungen von Merkels
1,9 Mio Menschen 1,6 Mio Menschen 1,0 Mio Menschen 1,2 Mio Menschen 3,8 Mio Menschen Nachfolger Trittin ist es, Hennenhöfer in den
im Umkreis von 50 km im Umkreis von 50 km im Umkreis von 50 km im Umkreis von 50 km im Umkreis von 50 km einstweiligen Ruhestand zu versetzen. Der Jurist
1984 in Betrieb genommen 1986 in Betrieb genommen 1988 in Betrieb genommen 1988 in Betrieb genommen 1988 in Betrieb genommen findet schnell einen neuen Job: Er wird Generalbe-
Eigentümer: E.on (83,3 %), Eigentümer: E.on (80 %), Eigentümer: RWE (87,5 %), Eigentümer: E.on Eigentümer: EnBW vollmächtigter für Wirtschaftspolitik beim Münch-
Stadtwerke Bielefeld (16,7 %) Vattenfall (20 %) E.on (12,5 %)
Laufzeit unter Rot-Grün: Laufzeit unter Rot-Grün: ner Energiekonzern Viag. Hennenhöfer ist einer
Laufzeit unter Rot-Grün: Laufzeit unter Rot-Grün: Laufzeit unter Rot-Grün: bis 2020 bis 2022 der vier Abgesandten der Energiekonzerne, die mit
bis 2018 bis 2019 bis 2020 Laufzeit unter Schwarz-Gelb: Laufzeit unter Schwarz-Gelb: Rainer Baake um den Ausstieg rangen. Die Verein-
Laufzeit unter Schwarz-Gelb: Laufzeit unter Schwarz-Gelb: Laufzeit unter Schwarz-Gelb: bis 2034 bis 2036 barung aus dem Jahr 2000 trägt auch Hennenhö-
bis 2032 bis 2033 bis 2034
fers Unterschrift, er muss sie als Schmach emp-
72 meldepflichtige Ereignisse 80 meldepflichtige Ereignisse, funden haben. In der Branche gilt die Faustregel,
222 meldepflichtige Ereignisse 210 meldepflichtige Ereignisse 121 meldepflichtige Ereignisse u. a. im Jahr 2009 Probleme nach der jedes Atomkraftwerk, längst abgeschrie-
mit der Notkühlung ben, Tag für Tag eine Million Euro Gewinn ab-
läuft weiterhin läuft weiterhin läuft weiterhin läuft weiterhin läuft weiterhin
Fortsetzung auf S. 20
20 24. März 2011 DIE ZEIT No 13 DIE FOLGEN DER KATASTROPHE IN JAPAN DOSSIER
Fortsetzung von S. 19 vieren. Jetzt nutzt das Atomforum die Furcht vor Sätze gesagt, die CDU/CSU und FDP nicht gefal-
dem Klimawandel, um Argumente für die angeb- len haben. Zum Beispiel diesen: »Kein Kernkraft- Atomgegner: Wolfgang Renneberg
wirft. Wie viel wäre da zu verdienen, ließe sich der lich CO₂-freie Atomenergie zu liefern. werk in Deutschland ist zu 100 Prozent sicher.« war unter Umweltminister Jürgen
Atomausstieg rückgängig machen? Im Sommer 2007 startet das Atomforum eine Für Renneberg kehrt der Atomfreund Gerald Trittin für die Reaktorsicherheit
Politische Macht hat Hennenhöfer in jenen Jah- Kampagne mit Plakaten und Anzeigen. Ein Bild Hennenhöfer in die Politik zurück, auf seine alte zuständig. Rainer Baake verhandelte
ren keine mehr. Doch er sucht andere Wege. Er be- zeigt weidende Schafe vor dem Atomkraftwerk Position. Röttgen macht den Lobbyisten wieder im Jahr 2000 den Atomausstieg.
treibt bei Viag die Fusion mit der Veba zu E.on und Brunsbüttel, darunter steht: »Kernkraftwerk Bruns- zum Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit – ein Marco Bülow, energiepolitischer
dessen Umbau zu einem reinen Energiekonzern. Er büttel: Jahreserzeugung 6 Mrd. kWh, CO₂-Aus- Signal an die Konservativen in der CDU. Röttgen Sprecher der SPD, kämpfte 2010
pflegt seine Kontakte zu CDU und FDP. 2004 stoß: Null.« Oder eine Kleingartenidylle, im Hin- will Karriere machen, er ist neu und unerfahren im vergeblich gegen die längeren
wechselt er in die renommierte Bonner Kanzlei Re- tergrund der Meiler Neckarwestheim: »Dieser Amt – denkbar, dass er Posten eher strategisch be- Laufzeiten
deker. Als Anwalt berät er das Helmholtz-Zentrum, Klimaschützer hat dem Treibhauseffekt entgegen- setzt statt inhaltlich. Die Opposition ist entsetzt,
den Betreiber des Atomlagers Asse II; dafür erhält er gewirkt, als es das Wort noch nicht gab.« Rechtsexperten äußern Bedenken. Der Kasseler
WOLFGANG RENNEBERG
fast 500 000 Euro Honorar. Das passt zu einer Strategie, die unter anderem Rechtsprofessor Alexander Roßnagel meint, bei
Der Sieg Angela Merkels bei der Bundestagswahl die Unternehmensberatung PRGS in einem inter- Hennenhöfer müsse das sogenannte Mitwirkungs-
2005 versetzt Hennenhöfer und die Stromkonzerne nen Papier empfohlen hat: Man solle den »Schulter- verbot geprüft werden: Es besagt, dass in einem
in Euphorie. Gleich nach der Wahl erstellt Hen- schluss zwischen Kernkraft und erneuerbaren Ener- Verwaltungsverfahren nicht mitarbeiten darf, »wer
nenhöfer für das jetzt von der CSU geführte Wirt- gien« betonen, um die »emotionalen Bedürfnisse außerhalb seiner amtlichen Eigenschaft in der An-
schaftsministerium ein Rechtsgutachten zum Thema der Bevölkerung« zu befriedigen. gelegenheit ... tätig geworden ist«. Doch jetzt soll
Übertragung von Reststrommengen von einem Im Frühjahr und Sommer 2009 liegen in Clubs ausgerechnet Hennenhöfer mit den Atomkonzer-
Atomkraftwerk auf ein anderes. Ausschlaggebend und Bars in 86 Städten Gratispostkarten der nen, denen er gerade noch als Jurist gedient hat, das
seien dafür allein die wirtschaftlichen Interessen der Atomlobby aus. Auf der grellbunten Vorderseite Ende des Ausstiegs verhandeln.
Kraftwerksbetreiber, schreibt er. »Sicherheitsfragen, steht zum Beispiel: »Danke ... für die letzte Nacht!« Auch für den CDU-Politiker Michael Fuchs und
insbesondere ein Sicherheitsvergleich der betroffenen Auf der Rückseite: »... und danke für die knusp- seine Freunde scheint damit alles nach Plan zu laufen.
Anlagen, sind nicht maßgeblich.« rige Steinofenpizza, für den kühlen Weißwein und Fuchs nennt sie tatsächlich seine »Freunde«, die
für den packenden Film. Vielen Dank, Backofen, Manager der Energiewirtschaft. Das müsste man
2. Luxustrips für Politiker vielen Dank, Kühlschrank, vielen Dank, Fernse- nicht unbedingt erwähnen, wenn Fuchs nicht Abge-
RAINER BAAKE M A RC O BÜ LOW
Zwar ist ein Ausstieg aus dem Ausstieg in der Großen her! Vielen Dank, Kernenergie!« Dazu ein Hinweis ordneter des Deutschen Bundestags wäre, einer der
Koalition nicht möglich, aber die Zeit des Stillhaltens auf die Website des Atomforums, die nicht nur Stellvertreter des Fraktionschefs Volker Kauder. Fuchs
ist jetzt vorbei. Die Kampagne kann beginnen. Bei unter kernenergie.de, sondern auch unter klima- war lange Zeit nur ein Hinterbänkler, aber er ist
den Wählern. Und bei den Gewählten. schuetzer.de erreichbar ist. immer wichtiger geworden, nachdem Wirtschafts- gen aber ignoriert die Wissenschaftler nicht. Im dabei um »Geschäftsgeheimnisse der Energieerzeu-
Im Grunde besteht die Stromlobby aus nur vier In dieselbe Richtung zielen Abende wie jener am experten wie Friedrich Merz die Politik verlassen Gegenteil: Er scheint ihr Verbündeter zu sein. Am ger«. De facto beschließt der Vertrag den Ausstieg
Konzernen. Ihr Vorteil ist, dass sie keine reinen 4. März 2009 im Berliner Club »40 seconds«. Das hatten. Fuchs saß im Vorstand der Bundesvereini- 1. Februar 2010 traf er die Mitglieder des Um- aus dem Ausstieg. Die Laufzeitverlängerungen sind
Atomkonzerne sind, sondern regional verwurzelte Atomforum hat eingeladen, auf dem Podium un- gung der Deutschen Arbeitgeberverbände, er war weltrates zum ersten Mal, in seinem Ministerium. juristisch kaum mehr rückgängig zu machen – und
Firmen, die auch Wasser- und Kohlekraftwerke be- terhalten sich eine schwedische Journalistin, ein Präsident im Bundesverband des Deutschen Groß- Zwei Stunden waren angesetzt – nach fünf Stun- die Randnotizen auch nicht: Nötige Sicherheits-
treiben, Wind- und Solarparks. Sie haben ihre Vertreter der Jungen Union, ein Biogasunternehmer und Außenhandels. Als Unternehmer hat Fuchs viel den saß Röttgen noch immer mit den Professoren nachrüstungen bezahlt ab einer gewissen Höhe der
Standorte überall in Deutschland, sind bis tief in und Timo Boll, Tischtennis-Europameister, über Geld mit dem Verkauf von Taschenrechnern aus zusammen. »Der Minister war voll auf Anti-Atom- Staat. Eine Brennelementesteuer soll dem Bundes-
die Kommunalpolitik hinein vernetzt, und es geht die Zukunft der Energie in Deutschland. Klingt wie Japan gemacht. Am Revers seines Jacketts trägt er Kurs«, erinnert sich einer, der dabei war. haushalt Geld einbringen für den Ausbau regenera-
um viele Arbeitsplätze: 21 000 bei Vattenfall, 20 000 eine bunte Mischung, die Gäste sind allerdings gern ein Deutschlandfähnchen, und er sagt: »Mein Das bestätigt sich, als Röttgen wenig später eine tiver Energien – doch die Konzerne, so steht es im
bei EnBW, 70 000 bei RWE, 88 000 bei E.on. sorgfältig gecastet: Die schwedische Journalistin er- Deutschland ist ein Industrieland.« Rede an der Berliner Humboldt-Universität hält. Vertrag, behalten sich vor, dagegen zu klagen.
Wenn einer der vier Konzernchefs einen Termin im klärt, warum Schweden den Atomausstieg rück- Jürgen Großmann, den mächtigen Chef von Röttgen sagt, Kernkraftwerke und Windanlagen Es ist Ende Oktober 2010, als die Parlamentarier
Kanzleramt haben will, bekommt er ihn sofort. gängig gemacht hat. Der Biogasunternehmer betont RWE, kennt der Abgeordnete Fuchs seit 40 Jahren. passten nicht zusammen. Der CDU-Mann aus den Sitzungssaal des Umweltausschusses betreten.
Es gibt keine Branche, die enger mit der Politik die Bedeutung der Atomenergie als Übergangstech- »Der Jürgen«, sagt Fuchs, wenn er über ihn spricht. Nordrhein-Westfalen, dem Stammland von RWE, Bald sollen sie im Bundestag über das neue Atom-
verflochten ist als die Stromwirtschaft. Als CDU- nologie. Timo Bolls ehemaliger Verein TTV Gön- Seit Studienzeiten sind sie Freunde. Der Jürgen hört sich an wie ein Atomkraftgegner. gesetz abstimmen, und es herrscht nervöse Unruhe.
Generalsekretär bezog Laurenz Meyer neben seinem nern wird von E.on gesponsert. Einzig Sven Gie- wurde damals Mitglied der Burschenschaft Hasso- Während Röttgens Parteifreunde die Klimafrage Gerade erst haben sie aus den Medien von dem Ver-
Abgeordnetengehalt Zahlungen seines früheren Ar- gold von den Grünen hält dagegen. Auch das gehört Borussia Freiburg, der auch Fuchs’ Brüder ange- zum Argument für längere Laufzeiten machen wol- trag mit den Stromkonzernen erfahren. Sie sollen
beitgebers RWE. Michaele Hustedt, die frühere zur neuen Strategie: Das Atomforum führt jetzt den hörten. Mit dem Jürgen telefoniert Fuchs regel- len, argumentiert der Umweltminister in der ersten hier über ein Gesetz diskutieren, das im Grunde
energiepolitische Sprecherin der Grünen, berät heu- offenen Dialog. Ideologisch verkrustet, so die Bot- mäßig, meist sonntags. Wenn der Jürgen mittags Jahreshälfte 2010 umgekehrt: Je kürzer die Lauf- längst beschlossen ist.
te RWE Innogy, eine Tochterfirma von RWE. Die schaft, sind die anderen. mal im Büro des Christdemokraten Fuchs vorbei- zeit, desto höher der Anreiz zum Ausbau der rege- »Die Regierung ist dem Diktat der Strombran-
ehemaligen Politiker Klaus Kinkel (FDP), Rezzo In achtseitigen Zeitungsbeilagen, die 2008 und schaut, kommt Rotwein auf den Tisch, und der nerativen Energien. Von drei, vier, höchstens acht che gefolgt«, sagt Bülow damals im Ausschuss, »sie
Schlauch (Grüne) und Theo Waigel (CSU) saßen im Wahljahr 2009 unter dem Titel Zukunfts!Fragen Assistent des Abgeordneten muss mittrinken. Das Jahre längeren Laufzeiten spricht Röttgen. Der hat Sicherheit für Geld verkauft.« Bülow ist der
noch 2010 im Beirat des Konzerns EnBW. Der in der FAS, der FAZ, der Welt und der Welt am Sonn- gehört sich so, wenn der Jürgen sich die Ehre gibt. Umweltminister wird zu einem Rätsel: Was will er? energiepolitische Sprecher der SPD. Er war 15, als
ehemalige SPD-Parlamentarier Reinhard Schultz tag erscheinen, gibt das Atomforum seinen stillen Im Frühsommer 2010 heckt Großmann eine Was treibt ihn? Warum holt er erst den Atomfreund der Reaktor von Tschernobyl explodierte. Bekannt
beriet Vattenfall gegen Honorar, und der ehemalige Unterstützern noch einmal Argumente an die Hand: Kampagne aus und fragt seinen Freund Fuchs am Hennenhöfer in sein Ministerium – und hört dann wurde er durch ein Buch über die Ohnmacht der
Wirtschaftsminister Wolfgang Clement sitzt im Versorgungssicherheit und Klimaschutz. Telefon: »Machst du mit?« Bekannte Persönlich- auf die Atomkritiker des Umweltrates? Parlamentarier gegenüber den Lobbyisten.
Fotos (von oben, l.n.r.): Tobias Kleinschmidt/picture-alliance/dpa ; Thomas Ruffer/Caro; Nils Bahnsen; Holger Hollemann/picture-alliance/dpa; PR; Andreas Pein/imagetrust

Aufsichtsrat der RWE Power AG, einer Tochterfir- keiten, unter ihnen die Chefs der Energiekonzerne, Für die Stromkonzerne ist das ein hässlicher An jenem Tag im Oktober 2010 beantragt Bü-
ma von RWE. 4. Einzug in die Machtzentrale der Boss der Deutschen Bank und der Fußball- Störfall. Der Widerstand gegen die Laufzeitver- low, zur Sitzung des Umweltausschusses die Öffent-
Schon im ersten Jahr der Großen Koalition wer- Der 27. September 2009 ist ein guter Tag für die manager Oliver Bierhoff, werden einen öffentlichen längerung findet sich auf einmal dort, wo sie ihn lichkeit zuzulassen. Sein Antrag wird abgelehnt.
den Abgeordnete vom Lobbyverein Atomforum Atomwirtschaft, der Sonntag des erhofften Durch- Appell unterschreiben, in dem sie fordern, an der am wenigsten erwartet haben: in der Regierung. Ebenso wie all die Anträge der Grünen, die eine
eingeladen. Ihr Auftreten ist wirkungsvoll: Die bruchs. Deutschland hat gewählt. Und die Wähler Kernenergie festzuhalten. »Ich lasse doch meine Das ärgert die CDU-Abgeordneten Joachim Anhörung zum Thema fordern. Die Parlamentarier
Fürsprecher der Stromkonzerne sind meist im Al- hatten keine Angst mehr vor einer Regierung, die im Freunde nicht im Stich«, sagt Fuchs und unter- Pfeiffer und Michael Fuchs. Als Röttgen im April kochen. Den Oppositionsfraktionen wird jetzt un-
ter ihres Gegenübers. Sie kennen dessen liebsten Wahlkampf den Ausstieg aus dem Ausstieg pro- zeichnet auch – als einziger Abgeordneter des Bun- 2010 in der FAZ keinen Hehl aus seinem Faible für tersagt, weitere Geschäftsordnungsanträge zu stel-
Fußballverein und erzählen wie zufällig von einem pagiert hat. Mit knapper Mehrheit kommt eine destags. Weil er sich vor Merkels Missbilligung grüne Energien macht, alarmiert Großmann seinen len. Bülow, der Berichterstatter seiner Fraktion, hat
Verwandten, der aus derselben Stadt komme wie Bundesregierung zustande, die sich aus CDU, CSU fürchtet, lässt er hinter seinen Namen die Bezeich- Freund Fuchs. Der läuft zur Kanzlerin und sagt: eine Erklärung vorbereitet, in der er darauf hin-
der Parlamentarier. »Wohlfühlteil« nennen das die und FDP zusammensetzt. Schon am Mittwoch da- nung »Unternehmer« setzen. »Das geht so nicht!« Im Mai fordert Baden-Würt- weist, dass dieser Vertrag nicht rechtens sei, dass
Abgeordneten. Wenig später fragen die Lobbyis- nach, am 30. September, schicken die konservativen Fuchs’ Freund Großmann ist der auffälligste tembergs Ministerpräsident Mappus Röttgens noch nicht einmal die Länder an den Geheimver-
ten, was die Menschen im jeweiligen Wahlkreis Ministerpräsidenten Roland Koch aus Hessen und Mann auf der Westachse der deutschen Atomlob- Rücktritt. Und der Parteifreund Pfeiffer legt nach. handlungen beteiligt worden seien, dass die Demo-
eigentlich dächten, wenn Jobs abgebaut würden. Günther Oettinger aus Baden-Württemberg ein by, die nach Nordrhein-Westfalen führt, zur Es sei offensichtlich, sagt er ausgerechnet der taz, kratie ausgehebelt worden sei. Doch er darf die Er-
Dann erinnern sie beiläufig daran, welche wichti- Schreiben ans Kanzleramt, das mit der Anrede be- Schwerindustrie. Die zweite Achse endet in Han- »dass Norbert Röttgen sich in diesem Fall nicht an klärung nicht vorlesen. Der Vertreter des Volkes
gen Parteifreunde sie duzen. ginnt: »Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe nover, wo einst die Firma PreussenElektra herrsch- den Fakten orientiert, sondern andere Ziele verfolgt. muss schweigen.
Auf den Schreibtischen der Energiepolitiker Angela«. In dem Papier, das Angela Merkels Koali- te, die in E.on aufging. Die dritte Achse führt nach Es gilt zu ermitteln, wie lange wir die Kernenergie Es ist ein seltsames Jahr. CDU und FDP haben
stapeln sich Einladungen. Das kann eine Fahrt zum tionsverhandlungen grundieren soll, verlangen die Süden, zu Stefan Mappus, dem Ministerpräsiden- als Brücke brauchen. Aber statt das zu tun, hat der Hoteliers Milliarden geschenkt, ihre Umfragewer-
Atomkraftwerk Isar 1 und 2 sein oder ein Ausflug beiden Ministerpräsidenten nicht nur, die Laufzeiten ten von Baden-Württemberg. Er ist der wichtigste Umweltminister Arbeitsverweigerung betrieben – te sind im Keller. Guido Westerwelle hat von spät-
zum Meiler Neckarwestheim: Flug von Berlin nach der Atomkraftwerke zu verlängern, sondern die Verbündete der Südlobby und der CDU-Abgeord- oder sogar Obstruktion.« römischer Dekadenz schwadroniert. Die Men-
Stuttgart, Bustransfer ins Schlosshotel, Abendessen Fristen komplett zu streichen. Das wäre das Ende nete Joachim Pfeiffer aus dem Rems-Murr-Kreis Das Glück der Konzerne ist: Röttgen steht schen demonstrieren gegen die Atomkraft. Aber
mit Vortrag eines EnBW-Ingenieurs. Am nächsten des deutschen Atomausstiegs, eine Karikatur des sein Mann fürs Grobe. ziemlich alleine da. Alleine im Kabinett, alleine in statt sich beim Volk verständlich zu machen,
Tag Besichtigung des Atomkraftwerks, Mittags- Erreichten, eine Kernschmelze der Umweltpolitik. Von 2002 an, dem Jahr des rot-grünen Gesetzes seiner Partei, alleine in der Koalition. peitscht die Koalition ihr Gesetz eilig durchs Par-
buffet, dann Ausflug zum Schloss Ludwigsburg. Im Koalitionsvertrag, den die Regierungsparteien über den Atomausstieg, sitzt Pfeiffer im Bundes- lament. Weil es ihr selber nicht geheuer ist?
Das Kalkül der Konzerne ist simpel: Die Wahl am 26. Oktober 2009 beschließen, wird die Kern- tag, und seit er die Energiepolitik der Union koor- 6. Geheimverträge Als das Energiekonzept der Bundesregierung
Merkels war nur der Anfang. Der eigentliche Re- energie mit nur zwölf Zeilen erwähnt. Die Koalitio- diniert, ist er eine Schlüsselfigur. In den neunziger Man erkennt Röttgens Situation an einem zweiten am 28. Oktober 2010 im Bundestag zur Abstim-
gierungswechsel steht noch bevor. Und man kann näre nennen sie »Brückentechnologie« auf dem Weg Jahren war er bei der Schwaben AG beschäftigt, Gutachten, das im Sommer 2010 vorgelegt wird. mung steht, sind die politischen Kosten offenkun-
helfen, ihn herbeizuführen. ins Zeitalter der erneuerbaren Energien. Diese Brü- die später im Energiezentrum aufging. Pfeiffer Diesmal nicht von unabhängigen Professoren, son- dig: Die Atmosphäre im Parlament ist vergiftet.
cke soll sehr lang sein. »Dazu sind wir bereit, die fordert Laufzeiten von 60 Jahren. Politiker der dern von drei bezahlten Forschungsinstituten – im Der FPD-Abgeordnete Jörg van Essen greift die
3. Postkarten für das Volk Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke ... zu verlän- Grünen bezeichnet er als »Ökostalinisten«, die Auftrag der Bundesregierung, unter Führung des komplett in schwarzer Trauerkleidung erschiene-
Im Jahr 2006 lädt Jürgen Hogrefe, Cheflobbyist des gern«, schreibt die Regierung in den Vertrag. Klimapläne der Europäischen Union als »Kampf- Wirtschaftsministeriums. Von zusätzlichen zwölf nen Grünen-Abgeordneten mit den Worten an:
Konzerns EnBW, Journalisten und Politiker zu einem Neuer Umweltminister wird Norbert Röttgen, ansage an den Industriestandort Deutschland«. Jahren Laufzeitverlängerung ist da die Rede, sogar »Es hat keinem Parlament der Welt gutgetan, wenn
Kinoabend ein. Gezeigt wird Al Gores Klimafilm eigentlich ein Sympathisant schwarz-grüner Koali- Jetzt, in der neuen Legislaturperiode, wird von 20, von 28 Jahren. eine Fraktion einheitlich gekleidet aufgetreten ist.«
Eine unbequeme Wahrheit. Bei der Begrüßung sagt tionen. Der junge Minister, so Merkels Kalkül, soll Pfeiffer in Berlin zu einem der wichtigsten Männer Der wichtigste Teil des Gutachtens wird vom Gregor Gysi von der Linkspartei sagt: »Vier Kon-
Hogrefe, er freue sich, dass das Thema Klimawandel die ökologische Glaubwürdigkeit der »Partei der der Energiekonzerne. Zu einem Krieger in einem Energiewirtschaftlichen Institut (EWI) in Köln er- zerne gewinnen – und Millionen Menschen verlie-
»endlich ernst genommen« werde. Der Energieriese Schöpfung« stärken. Dennoch entlässt Röttgen innerparteilichen Kampf um die Verlängerung der stellt. Das EWI wird mit acht Millionen Euro von ren.« Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel ruft im
und die Klimakatastrophe, nur auf den ersten Blick schnell einen der wichtigsten Männer in seinem Kraftwerkslaufzeiten. Denn noch hat sich die Lob- E.on und RWE finanziert. Mithilfe der Kernkraft Plenum der Regierung zu: »Sie spalten die Gesell-
eine seltsame Kombination. Haus: Wolfgang Renneberg, bis dahin Abteilungs- by nicht durchgesetzt. lasse sich der Ausstoß von Treibhausgasen in schaft, wo sie schon einig war.« Grünen-Fraktions-
Mitten in der Klimadebatte ergreifen die Ener- leiter Reaktorsicherheit. Renneberg hatte schon im Deutschland bis zum Jahr 2050 um 85 Prozent chef Trittin spricht von einem »Putsch«.
giewirtschaft und das Atomforum die Chance, das Jahr 2000 gemeinsam mit Rainer Baake den Atom- 5. Angriffe auf den Minister reduzieren. So steht es in dem Gutachten. Eine Den fulminantesten und zugleich unverschäm-
schlechte Image der Atomkraft zu verbessern. Bis- ausstieg geplant, er gilt als nüchterner Fachmann, Es ist der 5. Mai 2010, an dem der Umweltminister halbe Million Euro hat die Regierung dafür bezahlt. testen Auftritt legt Umweltminister Röttgen hin.
lang konnten nur die Atomgegner ihre Anhänger als einer der angesehensten Experten für Reaktorsi- einen dicken DIN-A4-Umschlag vom Sachver- Sie hat jetzt etwas in der Hand, was sie als die neue Seine Amtsvorgänger Gabriel und Trittin nennt er
durch die stärkste Emotion, nämlich Angst, akti- cherheit. Doch Renneberg hatte in seiner Amtszeit ständigenrat für Umweltfragen zugestellt bekommt. Wahrheit über die Kernenergie ausgeben kann. plötzlich »Verantwortungsverweigerer« und »ener-
Im Kuvert steckt, in grün-weißem Einband, ein Am 30. August 2010 treten Umweltminister giepolitische Blindgänger«. Während die Regie-
wissenschaftliches Gutachten von sieben Univer- Röttgen und Wirtschaftsminister Brüderle gemein- rung mit bis zu 14 Jahre längeren Laufzeiten »ein
sitätsprofessoren. Den Umweltrat gibt es seit 40 sam vor die Presse, um das Gutachten vorzustellen. revolutionäres Konzept« ausgearbeitet habe, ver-
Jahren. Er soll die Bundesregierungen vor ökologi- Der Auftritt der beiden Kontrahenten wird zu einer breite die Opposition nur »argumentationsloses
schen Fehlentwicklungen warnen. Im Mai 2010 skurrilen Veranstaltung: Während Brüderle betont, Kampfgeschrei« und schüre Ängste. Der Macht-
glaubt der Umweltrat eine solche Fehlentwicklung er halte die objektive Begründung für eine Laufzeit- politiker peitscht ein Konzept durch, das nicht
erkannt zu haben: die geplante Laufzeitverlängerung verlängerung um 20 Jahre in Händen, lässt Röttgen seines ist. Am Ende seiner Rede gratuliert die
der Atomkraftwerke. ihn mit feinem Lächeln wissen, er deute das Gut- Kanzlerin. 308 Abgeordnete stimmen schließlich
Auf 95 Seiten reißen die Professoren die Theo- achten so, dass es bei Laufzeiten der AKWs nur für die Laufzeitverlängerung, 289 dagegen.
rie von der Brückentechnologie ein. Atomkraft »marginale Unterschiede« gebe, denen »keine ent- Ein halbes Jahr später bebt in Japan die Erde.
und Sonnenenergie, Kernkraftwerke und Wind- scheidende Bedeutung« für die Energieversorgung Das Kraftwerk Fukushima gerät außer Kontrolle.
anlagen passten technisch nicht zusammen, schrei- zukomme. Am Ende halten die beiden Minister das Die Welt sieht dem Scheitern der Atomkraft zu.
ben sie. Um erneuerbaren Energien wirklich den dicke Zahlenwerk gemeinsam in die Kameras. Jetzt kann es der Regierung wieder nicht schnell
Weg zu bahnen, müsste man die Leistung eines Nichts deutet darauf hin, dass dies Röttgens genug gehen – beim Ausstieg aus dem Ausstieg aus
GERALD HENNENHÖFER JOACHIM PFEIFFER
Atomkraftwerkes senken können, sobald die Son- letzter gut gelaunter Auftritt für lange Zeit sein dem Ausstieg. Die Energiekonzerne wollen prüfen,
ne scheint – und erhöhen, wenn der Wind nicht wird. Der Umweltminister, dessen genauer Stand- ob sie gegen das Atomkraft-Moratorium der Kanz-
mehr weht. Doch Atomkraftwerke könne man punkt nie klar war, hat seine Gegner in der Regie- lerin klagen. Der CDU-Abgeordnete Michael
nicht ein- und ausschalten wie eine Herdplatte. rung unterschätzt. Die zähe Aushandlung eines Fuchs rät dem Chef des Bundesverbandes der
Atomfreunde: Gerald Hennenhöfer
Oder genauer: Man könne es schon, aber sie ver- neuen Atomvertrags zwischen Regierung und Deutschen Industrie am Telefon, bei seinem Auf-
ist jetzt im Umweltministerium
trügen es nicht besonders gut. Die Wahrschein- Stromkonzernen gerät zu einem Meisterstück der tritt in der Talkshow Maybrit Illner bloß keine
zuständig für die Reaktorsicherheit –
lichkeit von Störfällen steige. Atomkraftwerke sei- Lobbyisten. Auf der Seite der Regierung verhandelt Appeasement-Politik in Sachen Kernenergie zu be-
vorher hat er für Viag und E.on
en als Brücke noch gefährlicher als ohnehin schon. ein Team um den Kölner Anwalt Lars Böttcher, der treiben. Sein Parteikollege Joachim Pfeiffer warnt
gearbeitet. Die beiden CDU-Bundes-
Das ist die Meinung des Umweltrates. auch ein ständiger Berater von RWE ist. Mit am vor Aktionismus und Schnellschüssen. Und im
tagsabgeordneten Joachim Pfeiffer und
Die Professoren stellen ihr Gutachten auf einer Tisch sitzen die Anwälte der Konzerne. Und Hen- Umweltministerium wird überlegt, wie man die
Michael Fuchs haben beste Kontakte
Pressekonferenz vor, am nächsten Tag berichten nenhöfer, der alte Verbündete der Strommanager. Sicherheit deutscher Atomkraftwerke prüfen
zu den deutschen Stromkonzernen
die Zeitungen. Selten hat eine Stellungnahme des Am 6. September 2010, einem Montagmorgen, könnte. Einer denkt besonders eifrig darüber nach:
Umweltrates eine solche Aufmerksamkeit erzielt. unterzeichnen die Konzernvertreter einen fünfseiti- Gerald Hennenhöfer, Chef der Abteilung Reak-
Der Minister könnte die Professoren ignorieren, gen Vertrag, der zunächst geheim bleiben soll – torsicherheit. Der Mann, der mit jedem Ausstieg
MICHAEL FUCHS
warten, bis neue Themen wichtiger werden. Rött- schließlich, so CDU-Fraktionschef Kauder, gehe es aus der Atomkraft einen neuen Einstieg fand.
Überlebenskünstler: Leica

WIRTSCHAFT
lebt von seinen Liebhabern
ENDE DER SERIE S. 32/33

24. März 2011 DIE ZEIT No 13 25

4
WÄ H R U N G S U N I O N

Neinsager
FRAGE
Wie hart trifft es die Weltwirtschaft? Die nächste Frage folgt auf Seite 26
Der bescheidene Euro-Kompromiss:
Weiche Regeln, wenig Haftung!

Das war sie also, die groß angekündigte


Reform der europäischen Währungsunion.
Alle wichtigen Beschlüsse sind gefasst, die
Staats- und Regierungschefs dürften sie auf
ihrem Treffen in Brüssel am Donnerstag
dieser Woche nur noch abnicken.
Das Ergebnis wird den Süden enttäu-
schen, weil er die Hoffnung auf einen in-
nereuropäischen Länderfinanzausgleich be-
graben muss. Zwar wird ein dauerhafter
Rettungsfonds eingerichtet, aus dem Krisen-
staaten mit Finanzhilfen unterstützt werden.
Doch genau wie sein Pendant auf globaler

Fotos: Itsuo Inouye/AP (Sendai, 12.03.2011, links); Goran Tomasevic/Reuters (Lybien, zwischen Benghazi u. Ajdabiyah, 20.03.2011)
Ebene, der Internationale Währungsfonds,
verschenkt er sein Geld nicht, sondern ver-
gibt Kredite, die zurückgezahlt werden
müssen und die an strenge Auflagen gekop-
pelt sind. Und genau wie die Welt insgesamt
keine Transferunion ist, nur weil es den
Weltwährungsfonds gibt, so wird auch Eu-
ropa keine solche sein, nur weil es den Euro-
päischen Währungsfonds gibt.
Den Norden wird das Resultat ebenfalls
enttäuschen, weil in Europa weiterhin an
jeder Wegbiegung die Politiker das Sagen
haben. Ja, es werden einige Vorschriften ver-
schärft, und die Abstimmung der Wirt-
schaftspolitik wird ein wenig verbessert.
Doch Schuldensünder werden auch künftig
nicht automatisch bestraft, und private
Gläubiger tragen auch nicht automatisch
einen Teil der Kosten einer Staatspleite.
Angela Merkel hat verhindert, dass Eu-
ropa eine Haftungsgemeinschaft wird. Ni-
colas Sarkozy hat verhindert, dass es sich
strenge Regeln gibt.
Die Kritik an Madame und Monsieur
Non wird nicht auf sich warten lassen, doch
mehr als ein kleiner gemeinsamer Nenner
ist in Europa derzeit nicht möglich. Die
Politiker scheuen sich, nationale Souveräni-
tät aufzugeben, und die Bürger wollen nicht
zu viel internationale Solidarität.
Dabei werden die Staaten Europas künf-
Zwei Krisen, eine Welt: Brennende Industrieanlage im japanischen Sendai (links). Bomben gegen Gadhafi-Getreue in Libyen tig wirtschaftlich noch stärker voneinander
abhängen als bisher schon. Sollte sich in Ir-
land, Griechenland und Portugal, dem
nächsten Kandidaten für ein Hilfspro-

Erstaunlich widerstandsfähig
gramm, die Wirtschaft erholen, werden die
Deutschen ihr Geld zurückerhalten. Mit
Zins und Zinseszins. Erklären sich die Kri-
senstaaten dagegen für bankrott, ist das Geld
weg. Anders gesagt: Misslingt die Rettung,
bezahlen wir für den Euro. Gelingt sie, ver-
Die globale Ökonomie hält tatsächlich Erdbeben, Nuklearunfälle, Kriege und brennende Ölfelder auf einmal aus – bis jetzt dienen wir an ihm.
Von der wirtschaftlichen zur politischen
Union – das war der Traum der Gründervä-
n solchen Tagen erzittern die Märkte. nische Firmen liefern nach Angaben des Broker- an, in dieser Woche doch wieder die Produktion an- ter der EU. Doch vorerst wird Europa eine

A
Die Industrie
Nachdem am Wochenende die ersten Hauses CLSA weltweit zum Beispiel 40 Prozent der laufen zu lassen. Wo es dazu kommt, lassen sich Aus- Gemeinschaft unabhängiger Staaten blei-
Rafale- und Mirage-Jets libysche Trup- Die Automobilhersteller in Japan haben jetzt einen Technologiekomponenten für Computer, Handys, fälle bei Zulieferern und Herstellern durch ein paar ben. Damit liegt die Zukunft des Euro in
pen unter Beschuss nahmen, schnellten Krisenstab. Sechs Tage hat es gedauert, nachdem das Flachbildschirme und Spielkonsolen. Sonderschichten schnell wettmachen. den Händen der einzelnen Länder. Er wird
am Montag an den Rohstoffbörsen der Welt die Beben vorbei war, aber jetzt stehen die Industriema- Ironischerweise sind solche Ängste die Folge eines Zudem hat sich gezeigt, dass die weltweiten Pro- überleben, wenn alle so wirtschaften, wie es
Öl- und Gaspreise in die Höhe. »Unsicherheit und nager im ständigen Kontakt: Sie tauschen Informa- besonders effizienten Produktionssystems, das in duktionsketten klug konstruiert sind: Nur selten die Mitgliedschaft in einer Währungs-
Angst« bescheinigen Bankanalysten den Börsen- tionen aus über Schäden, Engpässe, Knappheiten und Japan erfunden wurde: der Just-in-time-Wirtschaft, kommt es vor, dass ein einzelnes Produkt nur an ei- gemeinschaft erfordert. Er wird untergehen,
händlern. In der Woche davor, gleich nach dem darüber, wie man sich gegenseitig und den Zuliefer- bei der Vorratslager verkleinert werden. Flugzeug- nem einzigen Ort, in einer einzigen Fabrik gefertigt wenn jeder auf seinen eigenen kurzfristigen
großen Beben und der zerstörerischen Welle in Ja- betrieben helfen kann. »Es gibt ein stilles Einver- bäuche und Schiffscontainer gelten als die neuen wird. In der Regel wird ein und dasselbe Zulieferteil Gewinn schaut. MARK SCHIERITZ
pan, stürzten an der Börse in Tokyo und in anderen ständnis, dass man in dieser Situation nicht konkur- Lager, ihre Inhalte werden gleich ans Band geliefert. und sogar ein und dasselbe Produkt an mehreren
Finanzmetropolen die Kurse. riert und nicht als Erster wieder mit der Produktion Für einen Augenblick sah es also so aus, als ge- Orten auf der Welt produziert. Das System zeigt sich
»Das Desaster in Japan versetzt die Märkte in loslegt«, sagt Kunihiko Shiohara, Autoexperte bei schähe hier eine Kettenreaktion wie nach dem Zu- widerstandsfähig: Fällt tatsächlich eine Lieferung aus
Schrecken«, titelt das Weltwirtschaftsblatt Finan- Goldman Sachs in Tokyo. »Arbeiter von Toyota sammenbruch der Lehman-Bank. Doch die wirk- Japan dauerhaft aus, stehen in China oder Korea
cial Times, als das Atomunglück von Fukushima helfen also durchaus einem Zulieferer, der sonst nur lichen Effekte sind bislang klein. In Shreveport im Firmen bereit, die bald einspringen können. Und
deutlich wird; darunter druckt die Zeitung ein Geschäfte mit Nissan macht.« US-Staat Louisiana findet man sie, auch in Saragossa ohnehin ist nicht überall, wo Japan draufsteht, auch 60 SEKUNDEN FÜR
Bild von Japanern in ABC-Schutzmasken. Bank- Japan drin. 77 Prozent der hierzulande verkauften
aktien geraten unter Druck: Ob wieder Geldhäuser Toyota stammten aus Fabriken in England, Frank-
kollabieren? Industrieaktien: Können die Konzer-
ne ohne Nachschub aus Japan produzieren?
Geringe Ausschläge reich, Tschechien oder der Türkei. BMW
Entwicklung wichtiger Wirtschaftsdaten in den vergangenen zwei Wochen, indiziert, 10. 3. 2011 = 100
Große, bange Fragen. Erstaunlich, wie schnell sich Eigentlich ist Abschreiben und Kopieren seit
alles wieder auf fast normal eingependelt hat. Ölpreis (WTI) Dow Jones Swiss Re (Aktienkurs)
Energie und Öl dem Rückzug des Verteidigungsministers
Der Ölpreis schoss noch vor Beginn des Libyen- 18. 3. 22. 3. Giovanni Bisignani, Direktor des internatio- uncool. Doch in Bayern gehen die Uhren
kriegs auf 104 Dollar empor, aber er stand in diesem 12. 3. 15. 3. 16. 3. Gadha� erklärt Kämpfe in Libyen nalen Luftfahrtverbands IATA, ist ein Krisenprofi. anders. So will uns jetzt BMW im Verein mit
Wa�enruhe in halten an/Fukushima
Jahr schon höher, und bis zu Beginn dieser Woche 105 erste Explosion EU-Kommissar Japans Kaiser Kaum einer Branche haben Konjunkturschwan- dem Autovermieter Sixt ein »einzigartiges und
in Fukushima Oettinger sagt: wendet sich Libyen schwelt weiter
war er wieder leicht gesunken. kungen in den vergangenen Jahren härter zuge- innovatives Car Sharing Angebot« namens
»Apokalypse« an sein Volk
Zu einer Zeit wohlgemerkt, da in den Abendnach- setzt als der Luftfahrt: Nach dem Terror vom 11. DriveNow anpreisen. Und das geht so: Noch
100
richten Bilder brennender Öltanks und Pipelines zu September 2001 kam der große Einbruch, 2008 im April soll in München und später auch in
sehen sind. Kurz vor dem Ausbruch der Weltfinanz- schlug die Weltwirtschaftskrise massiv zu Buche. Berlin eine Flotte von Minis und 1er BMW
krise im September 2008 war das Öl dagegen noch 95 Am Montag sitzt Bisignani in seinem Genfer Büro, bereitstehen, die spontan angemietet und fast
deutlich teurer: Damals musste man über 140 Dollar während 1600 Kilometer entfernt Kampfbomber beliebig wieder abgestellt werden können.
11. 3.
für ein Fass bezahlen. über Tripolis kreisen. Die Ereignisse in Nordafrika Der Kunde muss sich nur für 29 Euro einen
Erdbeben
Und so ist das Bild gerade überall. In den Ölna- 90
und Tsunami
19. 3. und Japan, sagt Bisignani, würden »starke lokale Chip für seinen Führerschein abholen. Dann
tionen Arabiens reißen die Nachrichten von Auf- Beginn des Auswirkungen haben«; einen Einbruch im Japan- kann er sich via Internet, Smartphone oder
ständen und Krieg nicht ab, die Saudis marschieren Libyenkriegs verkehr und unbekannte Folgen für den nordafri- auch direkt, wenn er eines der 300 Autos sieht,
in Bahrain ein, aus Japan kommen schreckliche 10. 3. 11. 3. 12. 3. 13. 3. 14. 3. 15. 3. 16. 3. 17. 3. 18. 3. 19. 3. 20. 3. 21. 3. 22. 3.
kanischen Markt, der aber nur zwei Prozent des bedienen. Die Nutzung kostet pro Minute
Neuigkeiten von Zehntausenden Toten, das zer- ZEIT-Grafik/Quelle: Thomson Reuters, Bloomberg; Stand 22. 3. 2011, 14.30 Uhr gobalen Luftverkehrs ausmache. Mehr nicht. Es sei 29 Cent, Sprit und Parken inklusive.
störte Atomkraftwerk schwelt weiter – aber zugleich denn, der Ölpreis explodiere. »Das ist die große Die Idee ist gut. Allerdings: Das Konzept
erholen sich überall Wertpapierpreise, Firmen geben Unbekannte«, sagt er. Jeder Dollar mehr im Jahres- kennen vor allem die Bürger von Ulm und
beruhigende Statements ab. Die Solidarität ist eine kluge Geschäftsentschei- in Spanien und in Eisenach in Thüringen; überall schnitt, rechnet Bisignani vor, belaste seine Bran- Austin (Texas) schon bestens, dort läuft seit
Experten bei Wirtschaftsforschungsinstituten dung, denn in aller Welt grassiert gerade die Angst, dort betreiben der Automobilhersteller General che mit 1,6 Milliarden Dollar. 2008/2009 das nach eben diesem Muster ge-
debattieren lebhaft darüber, ob der Katastrophen- dass der Nachschub ausbleiben könnte: Kann man Motors (GM) und seine Tochter Opel Autowerke. Die Luftfahrtbranche steht mit solchen Sorgen strickte Projekt car2go des Rivalen Daimler
März 2011 unterm Strich überhaupt eine Delle im da überhaupt weiter auf die Japaner setzen, oder In Shreveport wurde am Montag die Produktion der nicht allein da: Hinter dem Ölpreis versteckt sich – mit weiß-blauen Smarts. Zum 1. April star-
weltwirtschaftlichen Wachstum zurücklässt oder gar weicht man lieber zügig auf Lieferanten aus anderen begehrten Pick-ups gestoppt, in Eisenach und Sara- eines dieser großen »systemischen« Probleme, die die tet es mit dem Partner Europcar auch in Ham-
keine. Der Star-Investor Warren Buffett empfiehlt Teilen der Welt aus? Die japanische Autoindustrie gossa fallen ein paar Schichten bei der Produktion Weltwirtschaft aus den Angeln heben könnten – theo- burg. Nicht nur der Minutenpreis und die
den Kauf japanischer Aktien. hat es schwer getroffen. Honda ist fast dicht, viele der Opel-Modelle Corsa und Meriva aus. Ein Chip retisch. Die bangste Frage: Libyen trägt zwar nur etwa einmalige Einschreibegebühr sind in Hamburg
Was ist da los? Werke von Toyota arbeiten nicht, und vor allem sitzen aus Japan fehlt, wohl einer, der für die Motoren- zwei Prozent zur globalen Ölförderung bei, doch was, (car2go) und München (DriveNow) identisch,
Hat nicht die Finanzkrise gezeigt, dass sich 113 japanische Automobilzulieferer in Gegenden, die steuerung gebraucht wird. Solche Chips werden meist wenn sich die Unruhen auf den Ölkrösus Saudi- auch so manche Formulierung ähnelt frappant
Krisen in Windeseile auf dem ganzen Globus ver- von Erdbeben der Stärke 6 und mehr geschüttelt per Flugzeug transportiert, ungünstigerweise reichen Arabien ausweiten? Pessimisten sagen für diesen Fall der Botschaft der Konkurrenz.
breiten? Dass schon der Kollaps einer Bank an der wurden. Die Elektronikindustrie wird von Strom- die Vorräte nur für eine Woche. Solche Beispiele einen Rekordpreis von 200 Dollar voraus. In den Ob sich der neuerdings dienstwagenlose
Wall Street eine Kettenreaktion auslösen kann, ausfällen gebeutelt, und viele ihrer Mitarbeiter schaf- finden sich in vielen Branchen – wenn man lange siebziger Jahren legten hohe Ölpreise die Weltwirt- Karl-Theodor zu Guttenberg bei DriveNow
die das ganze Weltwirtschaftssystem aus den An- fen es nicht zur Arbeit, weil Züge nicht fahren. Das sucht. Trotzdem gibt ein Konzern nach dem anderen registriert hat, ist allerdings noch nicht be-
geln hebt? ist für die ganze Weltwirtschaft von Belang: Japa- Entwarnung. Etliche japanische Firmen kündigten Fortsetzung auf S. 26 kannt. DIETMAR H. LAMPARTER
26 24. März 2011 DIE ZEIT No 13 DIE FOLGEN DER KATASTROPHE IN JAPAN WIRTSCHAFT
Fortsetzung von S. 25

schaft lahm, doch auch in der Frage ist die Wider-


standsfähigkeit gewachsen. Im Westen wird der Stoff
heute sparsamer eingesetzt als damals. Und vor vier
Jahrzehnten setzten die Gewerkschaften noch saftige
Lohnaufschläge durch, wenn das Öl teurer wurde.
Damit stiegen die Güterpreise aber nur noch schnel-
ler, weil die Unternehmen neben den höheren Ener-
giekosten auch noch höhere Personalkosten hatten.
FRAGE

5 Wie schnell ist der Atomausstieg möglich?


reitag vergangener Woche, eine Büro-
Die nächste Frage folgt auf Seite 39

Den Zentralbanken blieb nichts anderes übrig, als


die anziehende Inflation durch kräftige Zinserhöhun-
gen zu bekämpfen. Heute sind die Gewerkschaften
klüger, die Lohnerhöhungen moderater – und die
Notenbanken halten sich zurück.
F flucht in einem Stahl-und-Glas-Gebäu-
de der neuen Hamburger HafenCity:
Die Erneuerbare-Energien-Tochter des
US-Konzerns General Electric eröffnet
ein Technologiezentrum für die Entwicklung von
Windkraftanlagen. Dunkle Anzüge, Schnittchen,
Prosecco. Niemand aus dem Unternehmen will
Man muss es nur wollen
Nuklearmeiler abstellen, Gaskraftwerke hochfahren, Energie sparen: Deutschland kann die
Die Währungshüter über die Nuklearkatastrophe in Japan reden, was Wende noch in diesem Jahrzehnt schaffen VON CHRISTIAN TENBROCK UND FRITZ VORHOLZ
Am vergangenen Freitag schlägt Frankfurt zurück. nicht überraschend ist, schließlich stammt das
Hinter dicken Türen aus Glas und Stahl, im Handels- Design der Unglücksreaktoren in Fukushima von
raum der Deutschen Bundesbank, sitzen Währungs- General Electric. Ob die Katastrophe der Wind-
händler vor ihren Bildschirmen. Von Punkt neun energie einen zusätzlichen Schub geben könne?
Uhr an werfen sie japanische Yen auf den Markt. Auch darauf keine klare Antwort, nur so viel:
Gegen zwei Uhr morgens mitteleuropäischer Zeit Windkraft sei in Deutschland ein stabiler Markt,
haben die Devisenhändler der Bank von Japan in die Firma wolle auf ihm weiter wachsen.
Tokyo dasselbe getan. Wenige Stunden später, wenn Wahrscheinlich tut General Electric gut daran,
in den USA die Märkte öffnen, werden sich die vorsichtig in die Zukunft zu schauen. Schließlich
Fachleute der Federal Reserve in Washington an- hat die schwarz-gelbe Bundesregierung gerade eine
schließen. Umgerechnet einige Milliarden Euro wird atemberaubende Kehrtwende vollzogen. Sie hat sie-
man am Ende bewegt haben – tatsächlich fiel der ben alte Atomkraftwerke vorübergehend geschlossen
Kurs der japanischen Währung. und will alle deutschen AKWs überprüfen. Keiner
Die Weltmächte sind entschlossen: Im Angesicht weiß mehr, wohin sich die Energiepolitik bewegt.
des Tsunami verteidigen sie die japanische Währung Die Laufzeitverlängerung für die 17 Kernkraftwerke
gegen Spekulanten. An den Finanzmärkten wetten und das schwarz-gelbe Energiekonzept, das Angela
Profiteure darauf, dass die Japaner ihr im Ausland Merkel 2010 als revolutionären Fahrplan in die Zu-
angelegtes Kapital in die Heimat zurückholen müs- kunft pries, sind jedenfalls Makulatur. Inzwischen
sen, um den Wiederaufbau zu finanzieren. Also fordern nicht mehr nur die Grünen den Atomaus-
treiben sie den Yen-Kurs erst recht in die Höhe. Das stieg, auch die Bundeskanzlerin redet vom »Ausstieg
ist gefährlich für Japan, weil es die Exporte bedroht. mit Augenmaß«. Ihr neues Motto könnte von den
Die Wirtschaft hat schon genug Probleme. Grünen stammen: »Die Energiewende vorantreiben
Die Welt beweist: Wirtschaftspolitiker aller Län- und, wo immer möglich, beschleunigen.«
der haben gelernt, sich den Märkten entgegenzustel- Schöne Worte, nach Fukushima und vor der
len. Den Yen-Kurs unten zu halten ist da nur ein Landtagswahl in Baden-Württemberg. Aber was
Beispiel. Ein anderes: Die japanische Notenbank bedeuten sie? Tatsächlich wird die Kanzlerin bald auf
pumpt umgerechnet 130 Milliarden Euro in die hei- einige sehr drängende Fragen sehr klare Antworten
mischen Finanzmärkte, damit Unternehmen und finden müssen: Kann Deutschland auf die Atomkraft
Investoren der Mut nicht verlässt. Denn im Prinzip verzichten, die gegenwärtig für immerhin 23 Prozent
kann die japanische Volkswirtschaft die entstandenen des Stroms sorgt? Und wenn ja, wie schnell? Müssen
Schäden – geschätzte drei bis vier Prozent der jähr- anstelle der Kernkraftwerke klimaschädliche Kohle-
lichen Wirtschaftsleistung – bezahlen. Die Privatleu- meiler gebaut werden – oder kann der Umbau zu
te besitzen enorme Ersparnisse, und auch der hoch Wind- und Sonnenkraft jetzt viel rascher als geplant
verschuldete Staat stellt Finanzhilfen im dreistelligen erfolgen? Und vor allem: Was kostet das? Bleibt Strom
Milliardenbereich in Aussicht. Ohnmacht in Zeiten bezahlbar? Oder wird er zum Luxusgut?
der Krise sieht anders aus. Als am vergangenen Wochenende RWE mit Bi-
blis A die letzte der sieben alten Atomanlagen vom
Netz nahm, war eines immerhin klar: Die Lichter
Die Finanzmärkte gehen nicht aus. Damit stellte sich ein zentrales Ar-
Der Freitag vergangener Woche beginnt für deutsche gument als Lüge heraus, mit dem Schwarz-Gelb die
Kleinanleger mit einem Schock. Die Anlagegesell- Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke gerechtfer-
schaft der Volksbanken, Union Investment, gibt tigt hatte: dass nämlich die Versorgung unsicher
bekannt, dass sie ihren Immobilienfonds UniImmo würde, wenn man am alten rot-grünen Ausstiegsplan
Global einfriert. Der Grund: Etwa 14 Prozent der festhalte. Von wegen. Die sei »nicht gefährdet«, ließ
Immobilien im Fonds liegen in Tokyo, niemand Wirtschaftsminister Rainer Brüderle jetzt wissen.
weiß, ob die Metropole von einer Atomwolke heim- Brüderle hätte das schon vor dem Beschluss zur
gesucht wird. Für die Anleger heißt das: kein Zugriff Laufzeitverlängerung sagen können. Denn es steht
aufs Geld und auch kein Kauf neuer Anteile. in seinem Bericht zur Energieversorgungssicherheit,
Die Weltwirtschaft ist verflochten wie nie, und den er zwar erst im Januar veröffentlichte, aber ei-
unerwartet können Krisen in einer Ecke der Welt die gentlich schon im Sommer vergangenen Jahres hätte
Firmen, Verbraucher und Staaten in einer anderen veröffentlichen müssen. Auch ohne längere Lauf-
treffen. In Japan sind auch internationale Banken zeiten sei bis 2015 »von keinen erzeugungsseitigen
dick im Geschäft. Insgesamt 1135 Milliarden Dollar Engpässen« auszugehen, heißt es da.
haben sie in dem Land verliehen. Deutsche Institute Das liegt vor allem daran, dass die Stromkonzerne
sind allein mit 61 Milliarden Dollar dabei. Der Ver- während der Monopolära munter Kraftwerke gebaut
sicherungsindustrie geht es nicht besser. Die Großen haben. Es existieren deshalb Überkapazitäten von gut
der Branche versichern sich ihrerseits wieder bei den 13 000 Megawatt. Das ist weit mehr als die gemein-
Rückversicherern, vor allem bei der Münchener Rück same Leistung der jetzt abgeschalteten Atommeiler.
in Bayern und der Swiss Re in der Schweiz. Selbst wer – wie etwa das atomkritische Freiburger
Doch es ist nicht mehr 2008, Banken und Ver- Öko-Institut – mit geringeren Überkapazitäten
sicherungen haben seither frisches Kapital ange- rechnet, kommt zum Ergebnis, dass sich die sieben
sammelt. »Der große Unterschied zu 2008 ist, dass Atommeiler durch fossile Kraftwerke ersetzen lassen.
die Bilanzen der Banken heute wieder sehr gut aus- Notfalls könnten sogar bereits eingemottete Gas-,
sehen«, sagt der New Yorker Wirtschaftsforscher Öl- oder Kohlekraftwerke wieder aktiviert werden.
Willi Semmler. Zudem halten sich die Lasten laut
Experten in Grenzen: Die Versicherungen decken Egal, was Deutschland macht, in
Risiken aus Atomschäden gar nicht erst ab. Also Europa steigen die Emissionen nicht
kalkuliert die Swiss Re nur mit Forderungen in Höhe
von 1,2 Milliarden Dollar – verkraftbar. Entgegen landläufiger Meinung ginge die verstärkte
Nutzung der fossilen Kraftwerke nicht einmal zu-
lasten des Klimaschutzes. Dank des EU-Emissions-
Die Stimmung handels ist für die nächsten zehn Jahre genau fest-
Immer wenn irgendwo auf der Welt eine Krise aus- gelegt, wie viel klimaschädliches Kohlendioxid (CO₂)
bricht, herrscht in der Zentrale des Internationalen Europas Stromfabriken insgesamt in die Atmosphä-
Währungsfonds (IWF) in Washington Hochbetrieb. re blasen dürfen. 2013 sind es 1,974 Millionen
Am 16. März hält das IWF-Direktorium eine Kri- Tonnen, 2020 nur noch 1,720 Millionen. Ließe ein
sensitzung ab. Der japanische Gesandte Mitsuhiro beschleunigter Atomausstieg die Emissionen der
Furusawa berichtet über die Folgen der Katastrophe. fossilen deutschen Stromfabriken wachsen, dann
Wiederholt zieht er den Vergleich zum verheerenden stiege zwangsläufig der Preis der Emissionszertifika-
Beben, das die Region Kobe 1995 heimsuchte. Da- te. Das wiederum würde irgendwo in Europa zu
mals brach die Wirtschaft zwar erst ein, doch bald Emissionsminderungen führen – und zwar dort, wo
ging es umso steiler nach oben. es am billigsten ist. Während also Deutschland mög-
Die Experten des Währungsfonds rechnen damit, licherweise seine selbst gesetzten Emissionsziele nicht
dass es jetzt genauso kommt. Das Erdbeben mag Brü- erreicht, würde Europa insgesamt keinen Deut mehr
cken, Straßen und Häuser zerstört haben – doch das zum Treibhauseffekt beisteuern als geplant.
lässt sich alles wiederaufbauen, und das wirkt dann Heikel wird es erst, wenn wegen des Ausstiegs der
wie ein Konjunkturprogramm. In einem Entwurf Bau von neuen fossilen Kraftwerken nötig würde, die
für seinen neuen Weltwirtschaftsausblick bleibt der womöglich lange am Netz blieben und für große
IWF recht optimistisch: Er sagt für 2011 einen Zu- Mengen CO₂ sorgten. Schon bis 2015 werden wohl
wachs der Weltwirtschaftsleistung von 4,4 Prozent zehn zusätzliche Kohle- und Gaskraftwerke in Betrieb
voraus – wohlgemerkt für den Fall, dass ein drasti- genommen, die schon geplant sind oder bereits ge-
scher Ölpreisanstieg abgewendet werden kann. baut werden. Teilweise ersetzen sie alte, ineffiziente
Foto (Ausschnitt): Tobias Hase/dpa

Ein paar Dinge können aber auch die schlauen Anlagen. Das aber, meint Michael Hüther vom indus-
Wirtschaftsexperten in Washington nicht voraus- trienahen Institut der deutschen Wirtschaft in Köln,
sagen: zum Beispiel die Entwicklung in einem Atom- werde nicht reichen: Obendrein habe Deutschland
kraftwerk, das zuletzt immer noch weiterschwelte – »Bedarf an neuen Kohlekraftwerken«.
und auch nicht das psychologische Befinden der Kohle ist der klimaschädlichste Energieträger, aber
Wirtschaftsakteure. Eskaliert die Lage in Fukushima, er ist billig und reichlich vorhanden. Um ihn klima-
gerät sie im Nahen Osten außer Kontrolle, passieren schonender nutzen zu können, fordert Hüther,
neue Unglücke, dann könnte das Schlimmste passie- künftig verstärkt auf das sogenannte CCS-Verfahren
ren. Anleger, Verbraucher und Unternehmer könnten zu setzen, bei dem das CO₂ aufgefangen und unter
in Panik geraten, Wertpapiere abstoßen und ihr Geld der Erde gebunkert wird. Allerdings ist CCS bislang
verstecken. Und dann kehrt die Krise doch zurück. nirgendwo ausreichend erprobt worden. Ein Gesetz,
das die schwarz-gelbe Koalition seit Langem auf den 14. März in München:
THOMAS FISCHERMANN, DIETMAR H. LAMPARTER, Weg bringen will, scheiterte bisher ausgerechnet an Atomkraftgegner halten eine
INES KARSCHÖLDGEN-MATSUYAMA, ANGELA den unionsgeführten Landesregierungen in Schles- Mahnwache gegen das, was sie
KÖCKRITZ, MARK SCHIERITZ und CLAAS TATJE wig-Holstein und Niedersachsen. als Nuklearwahnsinn begreifen
WIRTSCHAFT DIE FOLGEN DER KATASTROPHE IN JAPAN 24. März 2011 DIE ZEIT No 13 27

Jeder für sich allein


Ob bei der Atomenergie oder in der Libyenfrage: Die Menschheit ist sich nicht einig, wie sie mit großen Risiken
umgehen soll. Die turbulenten Weltereignisse beleben das nationale Denken wieder VON HAROLD JAMES

»Das Verfahren ist in Deutschland kaum den Spiegel wissen. Das könne »zu massiven Pro- ie Ereignisse in Japan haben eine Rei- len Kulturen und Erfahrungen. Besonders auffällig Diese neue Demut aber nimmt auch etwas vom
durchsetzbar«, urteilt deshalb Manfred Fische-
dick, der sich am Wuppertal-Institut für Klima,
Umwelt, Energie seit Jahren mit CCS beschäf-
tigt. Allerdings glaubt auch Fischedick, dass man
nach 2015 zusätzliche Kraftwerkskapazitäten
blemen im Netz bis hin zu Stromausfällen führen«
– als sei es überwiegend die Windenergie, die den
Atomstrom kurzfristig zu ersetzen hat.
Der Manager hätte es besser wissen können. Der
für das E.on-Gebiet zuständige Netzbetreiber
D he fester Glaubenssätze über den tech-
nischen Fortschritt und die Globali-
sierung erschüttert. Sie bestärken eine
Entwicklung, die schon in der Weltfinanzkrise
ausgelöst wurde: Wir zweifeln heute daran, dass
ist, dass in dieser Frage ein tiefer Graben durch die
Mitte Europas verläuft. Frankreich und Großbri-
tannien liegen auf einer Linie mit den USA, und
zwar nicht nur in dem Punkt, dass sie einen weniger
ängstlichen Zugang zur Atomenergie haben. Sie sind
Willen, große Risiken einzugehen und zu Aben-
teuern aufzubrechen – zum Beispiel solchen einer
noch weiter globalisierten und noch stärker von-
einander abhängigen Wirtschaft und Gesellschaft.
Zur Globalisierung zählen nicht nur interna-
benötigt – vor allem dann, wenn die jetzt still- TenneT teilte der Geschäftsführung der E.on Kern- die Gesellschaft und die Wirtschaft sich vorher- jetzt auch schneller bereit gewesen, militärische tionale Bewegungen von Gütern, Menschen und
gelegten Atommeiler dauerhaft abgestellt würden kraft GmbH Ende vergangener Woche schriftlich sehbar entwickeln – dass sich alle Risiken und Mittel in Libyen einzusetzen. Kapital, sondern auch Transfers von Ideen und Ver-
und obendrein auch die restlichen AKWs inner- mit: »Nach einer ersten Einschätzung bringt das Unsicherheiten messen lassen und dass auf dieser Es gibt da einen Zusammenhang. Das stärkste lagerungen von technischem Wissen. Die Geschwin-
halb weniger Jahre vom Netz gingen. Abschalten der sieben Kernkraftwerke derzeit keine Basis für die Zukunft geplant werden kann. Argument gegen den Einsatz militärischer Gewalt digkeit der Innovation rüttelt laufend hergebrachte
Rein quantitativ kann Wind- oder Solarstrom unmittelbare Systemgefährdung mit sich.« Vor der Finanzkrise war das anders. Vielfach ist eines, das auf der Unberechenbarkeit von Risiken Vorstellungen durcheinander. Fortlaufend herrscht
für Ersatz sorgen, wegen der noch fehlenden Spei- Fest steht trotzdem, dass sich das Netz zum nahm man sogenannte historische Datensätze zur beruht. Jeder wäre wohl mit einem begrenzten Luft- Unsicherheit über Werte, Geldwerte wie fundamen-
chermöglichkeiten aber nicht 24 Stunden an jedem Flaschenhals der Energiewende entwickeln könnte. Hand, die in Wirklichkeit nur über ein paar Jahre krieg zufrieden, der einen unberechenbaren und tale Werte der Gesellschaft.
Tag des Jahres. Kurzfristig lässt sich daran nicht viel
Dass Bürger sich vielerorts gegen den Ausbau der gingen. Damit aber schätzte man die Wahr- unangenehmen Diktator vertreibt. Doch was ist, Also steckt die Globalisierung selbst in der Krise.
ändern. Deshalb warnt sogar Felix Matthes vom Netze wehren, hat mannigfaltige Ursachen. Eine scheinlichkeit extremer Umwälzungen ab. Als wenn die Intervention scheitert? Dann wäre das Ein Hinweis darauf ist eine neue Sprache, die uns
Öko-Institut davor, bei der Förderung regenerativen ist die schwarz-gelbe Energiepolitik selbst, der dann 2008 mit dem Lehman-Kollaps eine Kata- Resultat eine Konsolidierung der Macht des Dikta- aus vielen Ländern entgegenschallt. Seit 2007 rea-
Stroms »jetzt in Aktionismus zu verfallen«. bisher eine nachvollziehbare Perspektive für den strophe geschah, kam es zur plötzlichen Einsicht. tors – und die Stärkung anti-westlicher Einstellungen gieren wir auf Krisen aller Art mit erschreckend na-
Ausstieg aus der Kohle- und Atomverstromung Tatsächlich waren eine Reihe nur scheinbar von- in Nordafrika und im Nahen Osten. tionalistischen Ansichten: Die Amerikaner haben
Die erste Alternative zu Atomstrom fehlte. Einer Studie der Uni Magdeburg zufolge einander unabhängiger Risiken miteinander ver- Die auffälligste Gemeinsamkeit jener Koali- uns die Finanzkrise gebracht! Die Griechen (res-
heißt Energiesparen! akzeptieren knapp zwei Drittel der Befragten neue bunden. Es wurde also erschreckend klar: Ereig- tion von Ländern, die sich des Votums über Liby- pektive die Deutschen) haben uns die Krise der
Stromtrassen dann, wenn sie wirklich dem Trans- nisse, die einer normalen statistischen Verteilung en im UN-Sicherheitsrat enthielt – Russland, Euro-Zone beschert! Die Japaner sind mit der Atom-
Gleichwohl gibt es bei der Förderung der regene- port erneuerbarer Energien dienen – und nicht der zufolge eigentlich nur alle zehntausend Jahre ein- China und Deutschland gegen Frankreich, Groß- energie falsch umgegangen!
rativen Energien Reformbedarf. Hilfreich wäre es weiteren Nutzung von Kohle- oder Atomstrom. mal stattfinden sollten, können uns in rascher britannien und die USA –, war das historische Wir sind auf einem Weg, der in den ökonomi-
beispielsweise, Höhenbegrenzungen beim Bau von Die Akzeptanz ließe sich auch steigern, wenn Abfolge heimsuchen. Erleben der Planungskatastrophen im Kom- schen Nationalismus zurückführt, und hier geht es
Windanlagen gesetzlich auszuschließen; ein Meter Stromleitungen, wo immer möglich, nur noch Die gleiche Art von Berechnung – dass es sich munismus. Die kommunistische Erfahrung war nicht bloß um unterschiedliche Interessenlagen. Die
mehr Nabenhöhe der Rotoren bringe nach einer unterirdisch verlegt würden, so wie in Dänemark um ein Einmal-in-tausend-Jahren-Ereignis han- im 20. Jahrhundert schlicht die extremste Aus- Grundlage dieser neuen Krise sind tiefe nationale
Faustformel ein Prozent mehr Strom, sagt Her- vorgeschrieben. Der deutsche Wirtschaftsminister dele – wurde für schwere japanische Erdbeben prägung jenes fehlgeleiteten Glaubens, dass alles Glaubensunterschiede in der Frage, ob man die Welt
mann Albers, Präsident des Bundesverbandes dagegen setzt auf »Planungsbeschleunigung« – und angestellt. Sie berücksichtigte einfach nicht, dass sauber im Voraus bedacht werden könne durch kalkulierbar machen kann.
Windenergie. Und doch gälte auch dann noch: Je operiert dabei mit wenig nachvollziehbaren Zahlen. mehrere Horrorereignisse miteinander verbun- eine allwissende und wohlwollende zentrale Au-
Fotos: action press; Charly Kurz/laif (r.)

schneller der Atomausstieg kommt, desto weniger Nach Aussage von Rainer Brüderle sind 3600 Kilo- den sein können, so wie ein Erdbeben und ein torität. Nach dem Kollaps der Sowjetunion wie- Aus dem Englischen von THOMAS FISCHERMANN
werden allein die grünen Energien für Ersatz meter neue Leitungen notwendig. In einer von Tsunami. derholte Wiktor Tschernomyrdin – eine charak-
sorgen können. seinem Ministerium selbst in Auftrag gegebenen Tatsächlich erlebte die Atomindustrie wieder- teristische Figur der alten Sowjetunion, der am
Es gibt freilich Alternativen: Die Leistung von Studie heißt es dagegen, dass nur 500 Kilometer holt Beinahe-Desaster, und doch zeigten die Ad- längsten amtierende russische Premierminister
zwei Atomkraftwerken kann nach den Berech- zusätzlicher Höchstspannungsleitungen gebaut vokaten dieser Branche wie auch die politische und der Gründer von Gasprom – gern einen alten
nungen des Öko-Instituts allein dadurch ein- werden müssten. Klasse insgesamt eine allzu zuversichtliche Ein- Witz: »Wir hofften auf das Beste, aber am Ende
gespart werden, dass der Spitzenbedarf an Strom Auch bei der Erschließung von Stromspeichern, stellung. Das Interessante ist nun: Die Lektion von kamen die Dinge so wie immer.« Harold James lehrt
– er tritt jährlich an nicht mehr als 50 Stunden ohne die eine auf regenerativer Energie basierende Japan hat von Land zu Land zu unterschiedlichen Tschernomyrdin hatte recht. Wir müssen be- Geschichte an der
auf – um eine oder einige wenige Stunden ver- Stromversorgung nicht auskommt, erweist sich der Erkenntnissen geführt, abhängig von den nationa- scheidener sein, wenn es Risiken zu kalkulieren gilt. Universität Princeton
lagert wird. Solches Lastmanagement, für das vor Wirtschaftsminister als Bremser. So hat er sich
allem Kühlhäuser und besonders energieinten- bisher dem Vorhaben der Firma NorGer KS in den
sive Industrien wie Aluminiumschmelzen infrage Weg gestellt, Deutschland und Norwegen mit einer
kommen, hätte den Effekt, dass weniger Kraft- Stromautobahn zu verbinden und auf diese Weise
werksleistung, die außerhalb der Spitzenzeiten die enormen Speichermöglichkeiten Norwegens zu
brachliegt, vorgehalten werden müsste. erschließen. Brüderle müsste dafür die Kraftwerks-
Was darüber hinaus nötig ist, kann durch den netzanschlussverordnung ändern. Sie regelt, dass
Bau von Gaskraftwerken bedient werden. neue Kraftwerke ständig Strom ins Netz einspeisen
Gegen Gas als Brennstoff für die Stromerzeu- dürfen – Kraftwerke, nicht Seekabel. Es klingt ab-
gung spricht fast nichts. Bei der surd, aber damit die NorGer KS
Verfeuerung des flüchtigen Roh- sicher sein kann, nicht vom Netz
stoffs entsteht pro Kilowattstunde abgeklemmt zu werden, müsste
kaum halb so viel CO₂ wie bei der Brüderle die Verordnung um das
Verstromung in Kohlekraftwerken. Wort Seekabel ergänzen – was er
Weil Gaskraftwerke schneller an- bisher unterlassen hat.
gefahren werden können und Das Fazit also:
geringere Mindestbetriebszeiten Mit etwas gutem Willen
haben als Kohlemeiler oder Atom- könnte die schwarz-gelbe Koali-
kraftwerke, eignen sie sich oben- Das Kernkraftwerk tion für ein Ende der Kernenergie
drein besonders gut dazu, die Biblis A wurde am in Deutschland sorgen, und zwar
schwankende Stromerzeugung aus Wochenende abgeschaltet früher als gedacht. Ein Komplett-
Wind- oder Sonnenkraftwerken zu ausstieg bis 2017 sei »durchaus
ergänzen. Sie seien deshalb die bes- machbar«, sagt Armin Michels
te »Brücke ins regenerative Zeitalter«, heißt es in vom Aachener Ingenieurbüro BET. Das Um-
einer Studie des Wuppertal-Instituts. weltbundesamt und das Öko-Institut kommen
Gegenwärtig ist die Stromerzeugung in Gas- zu ähnlichen Ergebnissen. Es sei ein Szenario
kraftwerken zwar noch teurer als die in Kohle- durchsetzbar, »in dem das letzte deutsche Kern-
meilern. Aber mit Gas betriebene Anlagen sind kraftwerk zwischen 2015 und 2020 abgeschaltet
prädestiniert dafür, mittels Kraft-Wärme-Kopp- werden könnte«, heißt es in einer Analyse der
lung zusätzlich Heizenergie zu erzeugen. Da sie Freiburger Energie- und Klimaforscher. Danach
außerdem sauberer produzieren, müssen ihre Be- können zunächst Kohle- und Gaskraftwerke den
treiber weniger für Emissionszertifikate bezahlen. ausfallenden Atomstrom ersetzen, bevor schließ-
Das und der gegenwärtig niedrige Weltmarkt- lich die regenerativen Energien die Stromversor-
preis für Gas führten dazu, dass »der Bau und gung weitgehend übernehmen.
Betrieb von Gaskraftwerken schon jetzt sehr viel
attraktiver geworden ist«, sagt Michael Feist, der Ob die Strompreise massiv steigen,
Chef der Stadtwerke Hannover. lässt sich seriös nicht vorhersagen
Der vermehrte Einsatz von Gas bei der Strom-
erzeugung müsste nicht einmal zu höheren Im- Umsonst ist dieser Umbau nicht zu haben. Die
porten führen – vorausgesetzt, es gelingt, Gas beim Kosten eines dauerhaften Abschieds nur von den
Heizen zu sparen. Nicht zuletzt deshalb drängt ältesten Meilern lassen sich bereits an der Strom-
Bundesumweltminister Norbert Röttgen darauf, börse erkennen. Für einen typischen deutschen
das Tempo bei der Gebäudesanierung zu erhöhen Haushalt liegen sie bei weniger als zwei Euro pro
und dafür zwei Milliarden Euro zur Verfügung zu Monat. Der Ersatz aller Atomkraftwerke ist al-
stellen. Die halbstaatliche Deutsche Energie-Agen- lerdings teurer. Soll er bis zum Ende des Jahr-
tur hält sogar fünf Milliarden Euro für notwendig. zehnts tatsächlich vollzogen werden, sind nach
Sicher ist allerdings nur, was Röttgens zuständiger Expertenschätzung im Auftrag des Umwelt-
Kabinettskollege Peter Ramsauer bewilligt hat – ministeriums Investitionen von etwa 150 Milliar-
436 Millionen Euro für dieses Jahr. den Euro notwendig – Investitionen, die aller-
Dabei ist die Verbesserung der Energieeffizienz dings ohnehin geplant sind. Daneben kostet der
der Königsweg zu weniger Nuklearstrom und zu Abschied vom Atomstrom auch Landschaft und
mehr Klimaschutz. Aber bei der Umsetzung hakt Natur. Windräder, Strommasten und Solarzellen
es vielerorts. Gegen steuerliche Anreize zum Sparen auf Scheunen- und Hausdächern sind nicht je-
stemmt sich der Finanzminister. Gegen die ver- dermanns Sache. »Keine Energieversorgung
bindliche Einführung von Energiemanagement- bleibt ohne Nebenwirkungen«, sagt der Energie-
systemen in der Industrie wehrt sich der Wirt- forscher Manfred Fischedick.
schaftsminister. »Unsere Gegner sind Legion«, sagt Ob allerdings die Strompreise massiv steigen wer-
ein leitender Beamter des Hauses Röttgen. den, wie manche fürchten, lässt sich seriös gar nicht
Die Sparmöglichkeiten wären immens. Allein vorhersagen. Wo sie im Jahr 2020 liegen, hängt
durch effizientere Elektromotoren, durch den Ersatz nach Ansicht von Uwe Leprich, Energieexperte an
alter Kühlgeräte und durch »grünere« Rechenzen- der Hochschule für Technik und Wirtschaft des
tren könnten rund 40 Milliarden Kilowattstunden Saarlands, »von vielen jetzt nicht prognostizierbaren
Strom gespart werden – fast ein Drittel der Atom- Faktoren ab, etwa davon, wie teuer Kohle, Gas oder
stromerzeugung des Jahres 2010. die CO₂-Zertifikate werden«.
Selbst in der energieintensiven Industrie seien Nüchtern betrachtet, müsste also niemand den
noch »erhebliche Einsparpotenziale vorhanden«, Abschied vom Atom fürchten. Freilich zählt das im
heißt es in einer von der Regierung bestellten, noch politischen Geschäft oft wenig. Längst kursieren
unveröffentlichten Expertise. Doch anstatt die Nut- deshalb Szenarien, wie Schwarz-Gelb nach dem
zung dieser Potenziale zu fördern, hat Schwarz-Gelb Moratorium das Gesicht wahren, aber auch den
grün gesinnte Bürger als ärgste Gegner der Ener- Frieden in den eigenen Reihen erhalten könnte.
giewende ausgemacht. Sie seien es, die zum Beispiel Eines davon lautet: Einige alte Atomkraftwerke
den notwendigen Ausbau der Stromnetze behin- bleiben abgeschaltet, ihre Restlaufzeiten werden
derten – weshalb grüner Strom gar nicht erst die aber auf neuere Meiler übertragen. In diesem Fall
Steckdosen der Verbraucher erreiche. würde die Atomkraft der Republik noch bis Mitte
Auch E.on-Chef Johannes Teyssen bläst in des Jahrhunderts erhalten bleiben.
dieses Horn. Die meisten stillgelegten AKWs be-
fänden sich im Süden, die meisten Windräder im Weitere Informationen im Internet:
Norden, und dazwischen fehlten Leitungen, ließ er www.zeit.de/energie
WISSEN
Strahlen und Teilchen:
Was man über Radioaktivität
KINDERZEIT
wissen sollte S. 42 Japan: Warum lässt Gott so ein
Unglück geschehen? S. 47

24. März 2011 DIE ZEIT No 13 39


FRAGE
6 REAKTORUNGLÜCK

Foto: Aly Song/Reuters (Otsuchi, 15.03.2011)


Belastete Ernte
Was lernt Was die freigesetzte Strahlung
für die Ernährung bedeutet
Japan aus der Nach dem Tschernobyl-Desaster waren Pil-
ze, Wildbret und Waldbeeren der Inbegriff

Zerstörung? heimtückischer Atomgefahren. Sie speicher-


ten die radioaktiven Spuren des ukrainischen
Reaktorunglücks und bedrohten unsere Ge-
sundheit. Mit den strahlenden Wolken aus
Die nächste Frage folgt auf Seite 40 den Unglücksreaktoren in Fukushima kehrt
diese Angst zurück. Doch die Frage ist, in-
wieweit Japaner durch verstrahlte Lebens-
mittel gefährdet sind – und ob wir uns in
Deutschland fürchten müssen.
Strahlung aus Japan kann theoretisch auf
zwei Wegen in unser Essen gelangen: Das
radioaktive Cäsium-137 könnte die 9000
Kilometer lange Strecke Fukushima–
Deutschland in den Wolken zurücklegen
und sich hier auf den Kopfsalat senken.
Anders als in Tschernobyl jedoch schleudern
die japanischen Reaktoren ihre radioaktive
Fracht nicht in jene großen Höhen, in de-
nen sie Anschluss an globale Höhenwinde
fände. Zwar werden unsere hochempfindli-
chen Messstationen Auffälligkeiten regis-
trieren. Der Konsum heimischen Blattsalats
bleibt jedoch ungefährlich.
Ein mögliches Einfallstor für verstrahlte
Lebensmittel ist der Import. Die Wahrschein-
lichkeit, dass auf diesem Weg gefährliche Ware
nach Deutschland kommt, ist allerdings ver-
schwindend gering. Nur ein Promille der
importierten Lebensmittel stammt aus Japan,
vor allem Würzsoßen, Wein und Tee. Man

Nach Beben
müsste ein sehr großer Freund japanischer
Kulinarien sein, um auf diese Weise eine ge-
sundheitsschädigende Dosis zu sich zu neh-
men. Abgesehen davon werden sowohl in den
Produktionsstätten in Japan als auch an den
Importstellen in Europa die Lebensmittel auf
Strahlung kontrolliert. Es ist daher unwahr-
Erdstöße und Tsunami überraschten eine wachsame Nation, scheinlich, dass verstrahlte Sojasoße den Weg
auf deutsche Teller findet.
die jetzt neu planen muss VON CHIKAKO YAMAMOTO UND DIRK ASENDORPF Wie aber ergeht es den Japanern? In ei-
nem Kilogramm Spinat aus dem Umkreis
des KKWs Fukushima zerfallen angeblich
54 000 radioaktive Partikel pro Sekunde
ie »beste Schutzmauer Ja- für den geologischen Dienst in Tokyo gearbeitet. Die Verunsicherung ist daher groß. »Dieses und das Stromnetz noch nicht wieder funktioniert. (Becquerel). In einem Liter Milch sind es

D
pans« wurde sie genannt, Nirgendwo auf der Welt gebe es ein dichteres Netz Erdbeben hat den Menschenverstand umgewor- Essen und Medikamente sind knapp. »Die Erkäl- 1500 Becquerel, und auch das Trinkwasser
die »große Mauer von an seismischen Sensoren, Bojen und Pegeln. Nir- fen«, sagt ein Beamter der Präfektur Kochi, »wir tungskrankheiten nehmen zu«, sagt der Leiter einer strahlt. Die Aufnahme von 80 000
Taro«. 30 Jahre lang lebten gendwo sei die Bebengefahr bis hin zu jedem ein- werden unseren Umgang mit der Tsunami-Gefahr Notunterkunft in der Grundschule von Kesennuma, Becquerel Cäsium-137 über die Nahrung
die knapp 5000 Bewohner zelnen Straßenzug so genau analysiert. Und: »Kein ganz neu überdenken müssen.« Auf die Magnitude in der 400 Menschen untergebracht sind, »es gibt entspricht einer Strahlenbelastung von
des Küstenstädtchens Taro Tsunami ist jemals so gut dokumentiert worden.« 8,0 waren Bauvorschriften und Sicherheitsmaß- keine Kleider zum Wechseln.« rund 1 Millisievert (siehe Grafik auf Seite
in der Präfektur Iwate hin- Allein entlang der Küste sind 500 GPS-Emp- nahmen an der Nordostküste ausgelegt. Mit 9,0 42). Umgerechnet bedeutet dies, dass der
ter dem zehn Meter hohen, drei Meter breiten fänger installiert, die Erdbewegungen registrieren. aber war das Jahrhundertbeben um ein Vielfaches ber insgesamt funktionierten viele lokale Genuss von zwei Kilogramm Spinat der
und über zwei Kilometer langen Tsunami-Schutz-
wall aus Stahlbeton mit einer eigens entwickelten
strömungsresistenten Oberfläche. Hinter ihm
Schon die erste Auswertung ihrer Messdaten heftiger – wodurch im Extremfall Schutzmaß-
führte zu einer aktuellen Warnmeldung: Das nahmen zu Todesfallen wurden.
enorme Beben hat nicht nur den gesamten Archi- In Japan sind längst Expertenteams aus-
A Strukturen erstaunlich gut, auch in größter
Not. Glück hatten die 80 Flüchtlinge in
einem buddhistischen Tempel in Rikuzentakata.
Strahlendosis entspricht, die ein Deutscher
jedes Jahr weitgehend problemlos verkraf-
tet. Wer aber ein derartig verstrahltes Le-
fühlten sich die Menschen sicher. Zu sicher, wie pel gen Osten verschoben, sondern auch seine geschwärmt, um aus den Verheerungen Lehren für Ihnen kann die Stadt Lebensmittel liefern. Zum bensmittel häufig isst, trägt auf Dauer ein
sich am 11. März 2011 zeigen sollte. Ostküsten um bis zu 1,20 Meter in den Pazifik die Zukunft zu ziehen. Erster Schritt: alles gründlich Frühstück gibt es Reis mit Misosuppe, abends erhöhtes Risiko, an Krebs zu erkranken.
»Der Tsunami war fast doppelt so hoch wie die sinken lassen. Seit dem Tag des Bebens zeigen die rekonstruieren. Eine wichtige Aufgabe dieser Teams Gemüse und Fisch. Der Notstromgenerator wurde Aus diesem Grund schätzt auch die Weltge-
Mauer«, sagt Giichi Kobayashi. Das Haus des 76- Pegel der Präfektur Fukushima fälschlicherweise ist es, die Modelle zu überprüfen, mit denen Aus- repariert, nur mangelt es noch an Treibstoff. Der sundheitsorganisation das Problem zu
jährigen Fischers stand direkt dahinter. Jetzt ist es einen um 45 Zentimeter höheren Meeresspiegel breitungsgeschwindigkeit, Stärke und Höhe eines 66-jährige Tokuichi Sugano organisiert das Leben Recht als ernst ein.
verschwunden – wie Zehntausende andere ent- – tatsächlich ist die Insel um diesen Wert aus der Tsunami für jeden Küstenabschnitt vorhergesagt der Obdachlosen. »Die Kinder spielen mit dem, Bis jetzt ist der Spinat nur oberflächlich
lang dem über 200 Kilometer langen Küstenstrei- Horizontalen gekippt. Die Schräglage verschärft werden. Dabei fließen neben der Lage des Epizen- was sie unter den Trümmern gefunden haben«, be- kontaminiert. Je länger aber die Katastrophe
fen in Nordostjapan, den die Welle überspült hat. nicht nur die Tsunami-Gefahr. Japans Meteoro- trums, der Stärke und der Tiefe des Bebens auch die richtet er, »der Tsunami hat uns alles genommen, dauert und je mehr radioaktives Material
»Als ich das Erdbeben spürte, flüchtete ich auf die logischer Dienst (JMA) warnt: Auch Springfluten Beschaffenheit des Meeresgrunds und das unter- aber das Lachen der Kinder gibt mir Hoffnung.« sich über die Landschaft verteilt, desto tiefer
Mauer«, berichtet Kobayashi. »Aber dann sah ich werden künftig deutlich höher auflaufen. seeische Höhenprofil in die Rechnung mit ein. Das Leben mit den Gefahren hat Japans Be- dringt es in die Nahrungskette ein und wird
den riesigen Tsunami heranrollen und rannte auf Genau hinsehen, großzügig rechnen – so lautet Beim Ausbessern der Katastrophenpläne wird das völkerung sensibilisiert. Was ein Erdbeben ist, – wie die Erfahrungen mit Tschernobyl zei-
einen Hügel.« Das hat ihm das Leben gerettet, eine Faustformel im Katastrophenschutz. Im Küsten- Augenmerk der Forscher vor allem darauf liegen, muss den Kindern niemand erklären. Jeden Mo- gen – dort lange bleiben. Kontrollen dürften
viele seiner Nachbarn blieben im Ort und ertran- ort Taro war man überzeugt, genau das getan zu wie sich eine Evakuierung beschleunigen lässt. Sie nat wackelt hier die Erde, dann heißt es: unter verhindern, dass viele Japaner durch ver-
ken. Der alte Fischer befürchtet: »Vielleicht fühl- haben. 1896 hatte ein Tsunami hier 1859 ist oft die einzige Überlebenschance und den Tisch kriechen, sich an einem Tischbein fest- strahltes Essen zu Schaden kommen. Sollte
ten sie sich durch die Mauer zu gut geschützt.« Einwohner getötet, im Jahr 1933 150 km war wohl auch am 11. März der wich- halten und auf Anweisung von Erwachsenen sich das Unglück ausweiten, dann werden
ZEIT-Grafik
Trotz all der Verheerung, die das Wasser ent- ertranken 911. Danach erwog man tigste Faktor. Sonst wären in Japan warten. Es erleichtert die Vorbereitung, wenn das viele Flächen für die Pflanzenproduktion
lang der Küste angerichtet hat, sind die meisten die Umsiedlung. Doch ein geeig- Taro bis jetzt nicht über zwanzigtausend Risiko ständig in Erinnerung gerufen wird. für lange Zeit wegfallen. Japan muss ande-
Experten überzeugt, dass sich kein Land weltweit neter höherer Ort war schwer Iwate Menschen tot oder vermisst, Anders in Deutschland, wo das letzte große Er- renorts Äcker finden und zur Not mehr
Miyako
besser gegen Erdbeben und Tsunamis gewappnet zu finden, und die Mehrheit Otsuchi sondern es wäre wohl eher wie eignis, das »Baselbeben« mit einer Magnitude von Nahrung importieren. HARRO ALBRECHT
hat als Japan. Umso aufschlussreicher dürften der Fischer wollte direkt am
J A PA N Rikuzentakata an Weihnachten 2004 am In- etwa 7, bereits 650 Jahre zurückliegt. Erdgeschicht-
nun die Lehren sein, die sich aus der gewaltigen Meer bleiben. Sendai
dischen Ozean eine sechsstel- lich ist diese Zeitspanne nur ein Augenblick, für
Katastrophe ziehen lassen. Welche Maßnahmen, So begann 1934 der Bau lige Zahl von Flutopfern zu das gesellschaftliche Erinnerungsvermögen aber ist
fragen sich auch in Deutschland die Geologen einer Schutzmauer, 1960 be- beklagen. »Ohne die gute Vor- sie eine Ewigkeit. Auch auf der Schwäbischen Alb
und Hydrologen, haben sich in dieser extremen
Situation bewährt, welche haben versagt? Waren
stand sie ihre erste Bewährungs-
probe. Das stärkste je gemessene
Fukushima 1 u. 2
Tokyo
bereitung hätte es mit Sicherheit
noch sehr viel mehr Opfer gege-
oder in der Niederrheinischen Bucht gab es in den
letzten tausend Jahren zahlreiche Beben der Stärke
Ruhe, bitte!
die Such- und Rettungsarbeiten gut organisiert? Beben hatte vor Chile einen Tsunami ben«, sagt der Katastrophenforscher 6,5. Doch eine Erinnerung daran existiert nicht, Meditation ist nicht nur gut für den Psycho-
Haben die japanischen Evakuierungspläne, hat ausgelöst, der viele Stunden später mit bis Wolf Dombrowsky, Mitglied der Schutz- ein Bewusstsein für Bebengefahr ist den Deutschen haushalt, für die innere Ausgeglichenheit.
die Versorgung der Opfer funktioniert? zu fünf Meter Höhe auf die japanische Küste traf. kommission des Bundesinnenministers. fremd. »Ich möchte nicht wissen, wie Stuttgart Aus Amerika erreicht uns die Nachricht,
Bislang sind weder alle Toten und Verletzten In vielen Nachbarorten gab es Tote, Taro blieb ver- Jeder Japaner weiß, wo im Fall eines Erdbebens oder Köln aussehen würden, wenn morgen wieder dass Schüler mithilfe der Transzendentalen
gezählt, noch ist die Zerstörung an Gebäuden und schont. »Wir waren überzeugt, dass unsere Mauer der nächstgelegene Schutzraum ist. Wo Über- ein Beben käme«, sagt Jörn Lauterjung, der Physi- Meditation (TM) ihre Leistungen in Ma-
Infrastruktur ermittelt. Aber man weiß, dass zu- an der größten anzunehmenden Welle ausgerichtet flutungsgefahr droht, gilt es bei entsprechenden ker, der den Aufbau des Tsunami-Warnsystems für thematik und Englisch verbessern konnten.
mindest eine häufig verbreitete Feststellung nicht war«, sagt Toshio Torii von der Stadtverwaltung in Warnungen einen »Tsunami Hinan Biru«, ein den Indischen Ozean koordiniert hat. In einer Studie der Maharishi University of
zutrifft: dass »große Teile Japans« betroffen seien. Miyako. Dass sie jetzt um bis zu fünf Meter höher mindestens dreistöckiges Gebäude aus Stahlbeton, Jahre werden vergehen, bis Forscher die Zer- Management im US-Staat Iowa meditierten
Die japanische Geospatial Information Authority überspült wurde, hat ihn schockiert. »Ich weiß nicht, aufzusuchen. An diesen Bauten führen Außen- störung des 11. März vollständig verstehen. Mit Sechst- und Siebtklässler zweimal am Tag
(GSI) hat errechnet, dass 400 Quadratkilometer wie wir in Zukunft planen sollen.« treppen direkt aufs Dach. Gut als Schutzinseln einer Prognose zur Dauer des Wiederaufbaus eine Viertelstunde lang – schon nach drei
vom Tsunami verwüstet worden sind. Die Wasser- geeignet sind Parkhäuser, da das Wasser dort wagte sich die Weltbank in Washington vor: fünf Monaten schnitten sie bei Tests besser ab.
walze und nicht das Beben ist für fast alle Todes- enauso unerwartet war die Wucht des Er- durch die offenen Untergeschosse strömen kann, Jahre – nicht mehr als eine Spekulation. Nach Die TM geht zurück auf den schillern-
fälle und den Großteil der Schäden verantwortlich.
Noch sind laut GSI nicht alle Satellitenaufnahmen
ausgewertet, und die Schätzung mag ungenau sein
G eignisses für die Experten auf der anderen ohne dass es die Standfestigkeit gefährdet.
Seite der Welt. Torsten Schlurmann, Im Bezirk Wakabayashi der Millionenstadt
Direktor des Franzius-Instituts für Küsteninge- Sendai dient die Arahama-Grundschule als Schutz-
dem schweren Erdbeben von Kobe im Jahr 1995
waren binnen zwei Jahren alle Schäden beseitigt
worden. »Diese Trümmerberge, die zusammen-
den Maharishi Mahesh Yogi, der mit seiner
Lehre schon die Beatles in seinen Bann zog.
Die aktuelle Studie
– aber 400 Quadratkilometer, das wären weniger nieurwesen an der Universität Hannover, hegt raum. 300 Menschen retteten dort am 11. März ihr gebrochene Infrastruktur, die halbe Million HALB wurde gefördert von
als 0,1 Prozent der Landesfläche.
Auch der Eindruck einer flächendeckenden Zer-
aufgrund seiner ersten Analysen einen bösen Ver- Leben. Aus den obersten Etagen sahen sie zu, wie
dacht. Er hat sich die Videoaufnahmen aus Taro das Gebäude eine Viertelstunde nach dem Schrillen
Menschen, die obdachlos sind, und fünf Millio-
nen ohne Strom – hier Ordnung rein- und alles
WISSEN der Stiftung des Re-
gisseurs David Lynch,
störung trügt. Einfach deshalb, weil Reporter ihre genau angesehen und vermutet: »An der Mauer der Warnsirenen bis zum zweiten Stockwerk über- wieder in Gang zu bringen«, sagt Katastrophen- auch ein Maharishi-Fan. Die größten
Kameras auf die Schutthaufen des Küstenstreifens hat sich eine stehende Welle gebildet.« Ein solches flutet wurde. Noch in der folgenden Nacht began- schutzexperte Dombrowsky, »ist eine herkulische Schlagzeilen machten Anhänger des Yogis
richten. Würden sie ihre Geräte um 180 Grad dre- Phänomen tritt auf, wenn sich zurückgeworfenes nen Hubschrauber mit ihrem Einsatz, um fünf Uhr Aufgabe.« Aber er zweifelt nicht daran, dass das bislang mit weitaus exotischeren Experi-
hen, könnten sie – trotz des Jahrhundertbebens – Wasser mit der nächsten heranrollenden Welle morgens waren alle Flüchtlinge in Sicherheit. Land aufgrund seiner Geschichte auch dafür ge- menten: Sie versuchten, den Weltfrieden
vielerorts intakte Gebäude und Straßen filmen. überlagert. Das kann die Höhe der Wassermasse Längst nicht überall ging die Rettung so schnell. rüstet ist: »Die Japaner werden schneller sein als herbeizubeten, oder behaupteten, per TM
»Wir werden noch sehr viel aus diesem Beben geradewegs verdoppeln. Die tragische Erkenntnis Und knapp zwei Wochen nach dem Beben leben alle anderen Gesellschaften.« die Gesetze der Physik aushebeln und im
lernen«, sagt der Geologe Andreas Küppers vom für Taro lautet: In diesem Fall hat der Wall ge- noch immer 350 000 Menschen in Notunterkünf- Schneidersitz fliegen zu können. Mit der
Geoforschungszentrum Potsdam. Er hat viele Jahre schadet statt geschützt. ten. Viele sind ungeheizt, weil Öl für die Öfen fehlt www.zeit.de/audio Einsicht, dass Ruhe vor der Schule eine po-
sitive Wirkung entfalten kann, verkündet
Helfer inmitten von Trümmern im Ort Otsuchi, den der Tsunami besonders schwer getroffen hat die Psychosekte nun eine Erkenntnis, der
kaum jemand widersprechen kann. CD
40 24. März 2011 DIE ZEIT No 13 DIE FOLGEN DER KATASTROPHE IN JAPAN WISSEN

FRAGE

7 Sind Abklingbecken gefährlicher als Reaktoren?


Die nächste Frage folgt auf Seite 47

GAU
im Pool

Foto (Ausschnitt): Nigel Treblin/ddp


Alte Brennstäbe können
außer Kontrolle geraten –
eine ignorierte Gefahr
VON HANS SCHUH
Blick ins Abklingbecken des Kernkraftwerks Krümmel

ormalerweise sind Abklingbecken in schen«, warnt Wolfgang Sandner, Präsident der Darum hat die Kühlung der Becken höchste Prio- gespielt. Nur wenige Kernphysiker rechneten da-

N
Dach
Kernkraftwerken beschaulich stille kernenergiefreundlichen Deutschen Physikalischen rität. Bis Redaktionsschluss am Dienstag schien dank mit, dass sich ein Abklingbecken aufheizen und
Orte. Ihr Wasser ist klar und blau, 25 Gesellschaft. Der Inhalt eines Abklingbeckens kön- des heroischen Einsatzes der Feuerwehrleute ein Be- Schaden nehmen könnte.
Grad warm. Sie erinnern an Hallen- ne dann »ein mindestens vergleichbares Risiko dar- cken-GAU gerade noch verhindert worden zu sein. Erst als nach den Anschlägen vom 11. September
Kran bäder – ein Hauch von Wellness. stellen wie ein havarierter Reaktor«. Sandner ist gut Gebannt ist die Gefahr damit aber längst nicht. Die 2001 Terrorgefahren in den Fokus rückten, wurde in
Abklingbecken Hier chillen in zwölf Meter tiefem Wasser abge- informiert über Fukushima. Gerade hat er ein welt- sieben Hauptgefahrenquellen – neben den Reaktoren den USA (aber auch in Deutschland von der Gesell-
brannte Brennstäbe. Die Wärme, die sie abgeben, weites Expertennetz mit aufgebaut, das die japa- 1 bis 3 auch alle vier Abklingbecken – müssen über schaft für Reaktorsicherheit GRS) das Problem gründ-
ist nur noch ein schwacher Nachhall – wenige Pro- nischen Kollegen unterstützen soll. viele Monate hinweg ständig gekühlt werden. Sollte licher analysiert – und die Erkenntnisse größtenteils
mille – der gigantischen Hitzeleistung, die im Reak- Mit seiner Warnung steht der Physikerpräsident aus einer dieser Quellen extreme Strahlung entwei- unter Verschluss gehalten. Immerhin eine Studie des
tor entfesselt wurde. Dieser friedliche Eindruck hat keineswegs allein da. Auch in den USA werden chen, wären die Helfer gezwungen, das Kraftwerk Nationalen Forschungsrates der USA kam zu einem
Kerntechniker jahrzehntelang in Sicherheit gewiegt. diese Gefahrenherde diskutiert. So titelte die New aufzugeben – dann drohten weitere GAUs. eindeutigen Ergebnis, das zumindest teilweise im Jahr
Da reicht etwas Kühlung und Lüftung; wo ist das York Times: »Alte Brennstäbe bergen größere Gefahr 2006 veröffentlicht wurde: Ja, in Abklingbecken
Problem? als Reaktoren«. Im Kraftwerk Fukushima-Daiichi Das Dach über Brunsbüttel hält können katastrophale Zirkonbrände entstehen!
Doch der Atomunfall von Fukushima zeigt enthielten die alten Brennstäbe in den Wasser- höchstens einem Kleinflugzeug stand Womit sich die Frage stellt, was für ein Ereignis
Schleusen
drastisch, wie in den scheinbar harmlosen Bassins becken »vier Mal so viel radioaktives Material wie außer einem desaströsen Tsunami die Kühlung eines
geö�netes
ein nukleares Inferno entstehen kann. Tagelang alle Reaktorkerne zusammen«. Zur schieren Menge Wie aber konnten die blau-schimmernden Becken Abklingbeckens noch zu unterbrechen vermag, sodass
Brennstäbe Druckgefäß ohne Kühlung, entwickeln die Lagerbecken eine kommt hinzu, dass zwar die Kernschmelze im zur Gefahrenquelle von so großem Ausmaß wer- Überhitzung und Kernschmelze drohen. Wie gut sind
Brisanz wie havarierte Reaktoren. Die Konstruk- Reaktor von einem Druckbehälter und den Stahl- den? Ihre starke Beladung und die entsprechend die Wasserwannen hiesiger Siedewasserreaktoren gegen
teure der Meiler hatten nicht nur die Wucht von betonwänden des Containments abgeschirmt wird, große Hitzeentwicklung, besonders bei Reaktor 4, Flugzeugabstürze geschützt? Zum Beispiel das Kern-
Tsunamis unterschätzt, sondern auch das Risiko die Becken jedoch viel weniger gesichert sind. dürfte nur einen Teil der Erklärung liefern. Unter kraftwerk Krümmel an der Elbe. Die Sprecherin des
bereits abgebrannter Kernbrennstäbe. Das Inferno in einem trockenfallenden Abkling- dem Dach von Wissenschaftsorganisationen oder Betreibers Vattenfall, Barbara Meyer-Bukow, betont:
Nicht nur in Japan, weltweit haben Kraftwerks- becken beginnt mit der Zerstörung der röhrenför- kernkraftkritischen Verbänden diskutieren im In- »Eine 1,5 Meter dicke Betondecke schirmt das Becken
Containment betreiber die Möglichkeit eines GAUs im Becken migen, aus metallischem Zirkon bestehenden ternet weltweit Experten die möglichen Ursachen auch vor dem Absturz einer Passagiermaschine ab.«
verdrängt. Dabei gab es längst ernst zu nehmende Hüllen der heißen Brennstäbe (Letztere bilden ge- des Desasters. Hat bereits der Ruck des Erdbebens Und flussabwärts in Brunsbüttel? Dort dürfte höchs-
Warnungen. Doch entsprechende Studien wurden bündelt ein Brennelement). Was sich dabei abspielt, die Füllung der Wannen aufgeschaukelt, das Wasser tens ein Kleinflugzeug abstürzen.
ZEIT-Grafik von der Atomlobby angezweifelt oder blieben unter erklärt Walter Tromm, Sprecher des Programms herausschwappen lassen oder die Brennelemente Zumindest wirtschaftlich, räumt die Sprecherin
Verschluss. Nun wird Fukushima weltweit zur Nukleare Sicherheitsforschung am Karlsruher In- durcheinandergeworfen? Was haben die nach den ein, stehe dieser Reaktor Vattenfall-intern auf dem
Neubewertung der Sicherheit von Abklingbecken stitut für Technologie, so: »Oberhalb von 900 Grad Explosionen herabstürzenden Deckentrümmer in Prüfstand – wegen der erhöhten Brennelemente-
führen, auch in Deutschland. Für manch alten Celsius kommt es zur Reaktion des Zirkons aus den den Pools angerichtet? Niemand weiß es genau. steuer. Nun, unter dem Eindruck der prekären Zu-
Stabwechsel Meiler dürfte dies das Ende bedeuten. Hüllrohren mit der Luft beziehungsweise mit
Wasserdampf.« Aus dem Wasserdampf entsteht
Durchaus möglich ist auch ein Leck. Die Ab-
klingbecken bestehen zwar aus massivem Beton
stände in den Abklingbecken von Fukushima, er-
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Brennstoff-Austausch in einem Sie- In den Wasserbecken lag viel mehr Wasserstoff – jenes explosive Gas, das Dach und und sind ausgekleidet mit Edelstahl. Aber sie haben
dewasserreaktor: Zum Entladen wer- radioaktives Material als im Reaktor Wände der Kraftwerksgebäude zerstörte. Nur sie eine Achillesferse: das Schleusentor, das sich in
den die Deckel des Containments trennen die Becken von der Außenwelt. Richtung des Reaktors öffnen lässt, nebst seinen
und des Reaktordruckgefäßes abge- Nach dem kompletten Stromausfall in Fukushima Zusätzliche Hitze beschleunigt die Zerstörung Dichtungen. Dieser Durchlass ist nötig, damit beim
nommen, das Innere wird bis auf die waren es dort besonders die Abklingbecken, die der Hüllen. »Schließlich ist der Brennstoff frei- Entladen des Reaktors die besonders heißen und
Höhe des Wasserspiegels im Abkling- verzweifelte Kühlungsversuche mit Hubschraubern gelegt«, beschreibt Tromm den Verlauf. Flüchtige heftig strahlenden Brennelemente nicht heraus-
becken geflutet. Dann öffnet sich die und Wasserwerfern erzwangen. Dabei hatte ins- radioaktive Spaltprodukte wie Jod oder Cäsium ge- gehoben werden müssen, sondern unter Wasser
Schleuse, und ein Kran hebt die abge- besondere das Kraftwerk 4 zunächst als unproble- langen in die Umgebungsluft. Der bröselige Brenn- verschoben werden können – ein aufwendiges Pro-
brannten Brennelemente aus dem matisch gegolten, denn sein Reaktor stand wegen stoff – hauptsächlich aus Urandioxid, aber durch- zedere (siehe Grafik links). scheinen teure Nachrüstungsauflagen zwingend.
Reaktordruckgefäß heraus, hinüber einer Wartungspause seit einem Vierteljahr still und setzt mit gefährlichen Stoffen wie Plutonium – fällt Es gibt also triftige Gründe dafür, bei Siedewas- Dieser neu entstandene Druck dürfte Brunsbüttel
in ein Gestell im Becken. war völlig entladen. Dennoch kam es auch hier zu wie Schüttgut auf den Beckenboden. Spätestens serreaktoren die Abklingbecken oberhalb des Reak- das Licht auspusten. Meyer-Bukow mag dazu nicht
Die abgebrannten Elemente strah- einer heftigen Wasserstoffexplosion, zu Bränden dann, wenn das gesamte Wasser verdampft ist, tors anzubringen. Doch diese Platzierung gilt seit viel sagen: »Darüber können Sie spekulieren. Ich
len extrem stark, müssen daher unter und massiven Zerstörungen am Gebäude – ähnlich »könnte es auch zu einer Schmelzbildung kom- Langem als Schwachpunkt, weil die Pools hoch werde das nicht kommentieren.«
Wasser bleiben. Im Abklingbecken wie in den zuvor detonierten Blöcken 1 und 3. Der men«. Im Extremfall wäre gar eine unkontrollierte oben, knapp unterhalb der Decke des Reaktor-
bleiben sie viele Monate lang. Wäh- Grund: Die abgebrannten Brennstäbe hatten ihre nukleare Kettenreaktion möglich – verbunden mit gebäudes, zu wenig geschützt sind. Ein weiteres Mitarbeit: GERO VON RANDOW
renddessen müssen sie ständig ge- Wasserkühlung weitgehend verloren. »Freiliegende Explosionen und der Freisetzung großer Mengen Risiko – dass Abklingbecken lecken können – galt
kühlt werden. HST Brennstäbe sind aber auf Dauer nicht zu beherr- Radioaktivität. bislang als äußerst gering und wurde herunter- www.zeit.de/audio

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die Weltspitze zu schaffen. Winzer, die Rebsorten und die Entwicklung der Weinkultur Südtirols vorstellen.

UNSERE QUALITÄTSGAR ANTIE


— Wir finden für Sie Winzer, die mit Leiden-
schaft, besonderer Sorgfalt und Nachhal-
tig keit an der Individualität und Qualität
ihrer Weine arbeiten
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zu den Winzern und berichten von den
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Geschmack, den die Trauben dem
typischen Terroir der Region verdanken
69,95 € Elena Walch, Pinot bianco Selezione, 2010
St. Michael-Eppan, Merlot Riserva 2008
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der Anbaugebiete kennen und schätzen www.zeit.de/shop zeitshop@zeit.de
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64-seitiges Begleitbuch
24. März 2011 DIE ZEIT No 13 47
RIT
SC

P O L I T I K , W I S S E N , K U LT U R U N D A N D E R E R Ä T S E L F Ü R J U N G E L E S E R I N N E N U N D L E S E R
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Fragebogen
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VERRÜCKTE VIECHER (17)

Dein Vorname:
Kuckucksraupe
Vor einigen Wochen wurde an dieser Stelle
der Glanzkuckuck vorgestellt, der seine Kü-
Wie alt bist Du?
ken von fremden Vogeleltern aufziehen
lässt. In der Natur gibt es viele solcher
Schmarotzer, also Lebewesen, die auf Kos-
ten anderer leben. Die Raupe des Kreuz-
Wo wohnst Du?
enzian-Ameisenbläulings – ein bei uns
heimischer Schmetterling – ist besonders
geschickt. Sie ahmt die Geräusche nach, die
eine Ameisenkönigin macht, wenn sie mit
Was ist besonders schön dort?
ihren Arbeiterinnen spricht. Die Raupe ruft
und bettelt so lange in Königinnensprache,
bis sie die Arbeiterinnen schließlich ins
Ameisennest holen. Von nun an wird sie
Und was gefällt Dir dort nicht?
umsorgt wie ... na ja, wie eine Ameisenköni-
gin eben, ziemlich königlich. Sie wird gefüt-
tert und beschützt – wenn ein Angriff droht,

8
bringen die Arbeiterinnen sogar erst die
Was macht Dich traurig?
Raupe in Sicherheit, bevor sie sich um ihre
eigenen Larven kümmern. Die kleine Ku-
ckucksraupe frisst sich dick und rund, bis
sie sich schließlich verpuppt. Erst wenn aus FRAGE
Was möchtest Du einmal werden?
der Puppe der fertige Schmetterling schlüpft,
fliegt der ganze Schwindel auf. Aber zu spät,
denn ehe die Ameisen reagieren können, ist
der Falter auch schon auf und davon.
Warum Was ist typisch für Erwachsene?

lässt Gott Wie heißt Dein Lieblingsbuch?


WAS SOLL ICH SPIELEN?
das zu?
Strauß voraus Die nächste Frage
Bei welchem Wort verschreibst Du Dich immer?

folgt auf Seite 50


Afrikanische Strauße liefern sich ein Rennen
Neena Sasaki ist fünf Jahre alt. Das Haus ihrer Familie wurde völlig zerstört
über vier Trampelpfade in der Savanne. Je-
der Spieler hat einen eigenen Strauß, den er
mit seinen Spielkarten in Richtung Ziel be- Willst Du auch diesen Fragebogen ausfüllen?

Angst, Fragen, Zweifel


wegt. Die Karten bestimmen die Zugweite Dann guck mal unter www.zeit.de/fragebogen
und die Farbe des Zielpfads. Am besten ist
es, wenn mein Strauß seine
Spur nicht verlassen muss.
Dann bekomme ich einen
Bonus, insbesondere wenn EIN KNIFFLIGES RÄTSEL:
ich mich zuvor taktisch Überall auf der Welt haben Menschen Mitleid mit den Erdbebenopfern von Japan. Und die, die Findest Du die Antworten
klug habe zurückfallen und – in den getönten Feldern –
lassen. Die Standardstrecke an Gott glauben, fragen sich: Warum verhindert er solches Unglück nicht? VON WOLFGANG HUBER das Lösungswort der Woche?
ist ganz einfach, aber bereits bei der zweiten
Partie bauen wir eine anspruchsvollere
Rennbahn auf. Jetzt stellen sich Löwen, U 1. ERFAHRE ES hier: Ein guter ... musste
in kleines Mädchen in nen, für den die Hilfe nicht zu spät Wenn so etwas geschieht, darf man

E
M damals sein, wer neue Erdteile entdecken
Krokodile oder Stachelschweine den Strau- S
ßen in den Weg, Treibsand sorgt für Behin- rosafarbener Winterja- kommt. Ebenso dankbar sind wir für sich nicht ausmalen, Gott säße an einem wollte
derungen, und eine enge Seilbrücke schafft cke trägt ein paar Hab- jeden, der hilft. Schalter, um solche Vorgänge in Gang E 2. Sein Projekt im Jahr 1492: Westwärts in
ein Nadelöhr. seligkeiten durch eine Die Welt, in der wir leben, ist Gottes zu setzen oder abzuschalten. Er hat der C
K den Osten!
Fraser Lamont und Gordon Lamont: verwüsteteLandschaft. Schöpfung. Aber sie ist keine heile, im- Natur mit ihren Gesetzen ihr eigenes C
Fotos: Paula Bronstein/Getty Images (Rikuzentakata, Provinz Miyagi, 15.3.11), Ethikrat (u.), Jeremy Thomas (Tier), Frank Sorge/Caro (im Wappen); Illustrationen für DZ: Apfel Zet (Piktogramme), Niels Schröder (Wappen)

Ein Schiff wird vor der mer glückliche Welt. Es gibt in ihr nicht Recht eingeräumt; und er hat uns Men- 3. Einiges wussten die Europäer darüber,
Strauß voraus! H
Kosmos Spiele 2010; ca. 23 Euro; für 2 bis 5 E durch Marco Polos Berichte noch mehr
Flutwellehergetrieben; nur den plätschernden Bach, sondern schen die Freiheit anvertraut. Mit den
Spieler ab 8 Jahren N
schließlich kippt es um wie eine Streich- auch den reißenden Tsunami. Früher Gesetzen der Natur müssen wir rechnen 4. Wie Forscher ihre Ausflüge oder
holzschachtel. Ein Japaner rettet sich auf haben die Menschen sich die Erde als – auch mit der Verschiebung von Erd- G Weltreisen nennen
das Dach seines Hauses und wird doch eine Scheibe vorgestellt; wir wissen heu- platten, mit Erdbeben und Tsunamis. E
SC H E H U D 5. Auf Gold und ... waren die Europäer
NI ins Meer hinausgerissen. Ein Hubschrau- te, dass das eine beschränkte Sicht war. Und durch unsere Freiheit dürfen die A scharf, die zu anderen Erdteilen aufbrachen
E L E K T RO

C
D

ber überfliegt das Kernkraftwerk von Heute denken wir uns die Erde als einen Gefahren nicht noch vergrößert werden. 6. Weil sie glaubten, in Südasien zu sein,
H
Fukushima; fast hilflos sieht es aus, wie Globus, rund und gleichmäßig. Auch Gott ist auf der Seite der Opfer. Ihr Lei- T nannten die Entdecker die Amerikaner ...
der Pilot über einem der Reaktoren Was- dieses Bild ist viel zu harmlos, zu einfach. den müssen wir Menschen verhüten,
ER

D Bleeker ser abwirft. Niemand kann solche Bilder Die Erde birgt nicht nur Rohstoffe wie soweit es irgend geht. Wenn dennoch
7. Ein Wettrennen zu dem lieferten sich
Amundsen und Scott anno 1911
vergessen. Wir sehen sie jeden Tag. Öl oder Kohle, die wir ausbeuten, so als Schlimmes geschieht, sind wir zur Hilfe
Und wo ist Gott in all dem? Er ist bei ob wir mehrere Planeten zur Verfügung herausgefordert. 8. Den bereiste Captain Cook, landete auf
Tonga, Hawaii, Tahiti
dem kleinen Mädchen, bei den Schiffs- hätten. Sie birgt auch Lavamassen, die Wo ist Gott? Von dem russischen
passagieren, bei dem einsamen Mann sich plötzlich in einem Vulkanausbruch Kosmonauten Jurij Gagarin wird er- 9. Hinter Tasmanien erspähte Seefahrer
auf dem Hausdach und bei dem Hub- Raum schaffen. Zu ihr gehören auch zählt, er sei von seiner Weltraumfahrt Tasman Neuland in der See – dieses
schrauberpiloten. Er ist auch bei einem Erdplatten, die sich gegeneinander ver- zurückgekommen und habe erklärt: 10. Keine weiteren gibt’s auf Erden zu
alten Mann, der von lauter Trümmern schieben und ein gewaltiges Erdbeben Nun sei er auch im Himmel gewesen entdecken, seit 1820 die Antarktis gesichtet
umgeben ist. Inmitten die- auslösen können, so wie und habe Gott nicht gesehen. Damit wurde
ser Trümmer seines bishe- jetzt in Japan. wollte er sagen: »Wir vertrauen auf die
rigen Lebens sagt der Die Erde, auf der wir Technik, nicht auf Gott. Unser eigenes 1
R
Mann: »Ich bete, dass es leben, ist in ständiger Be- Handeln bestimmt die Zukunft, nicht 2
doch noch gut wird.« wegung. Sie bietet Raum Gott.« Wenn wir auf Japan schauen, U
Der alte Mann geht mir für Schönes, das wir be- können wir es sehen: Keiner von uns hat 3
N
nicht aus dem Sinn: Er wundern, für Gutes, das die Zukunft in der Hand. Die moderns- 4
betet. Inmitten der Zer- sich entwickeln kann. Doch te Technik macht die Zukunft nicht si- P O
5
störung hält er an der ihre Kräfte können auch cherer. Jeden Tag unseres Lebens emp- UE
Wolfgang Huber ist
Hoffnung fest. Er erinnert evangelischer Theologe zerstörerisch wirken. Beides fangen wir als ein neues Geschenk. 6
mich an die Worte eines und ehemaliger Bischof gehört zusammen. In dieser Dankbarkeit und Gottvertrauen sind N
7
Psalms aus der Bibel: Spannung ist die Welt ge- eine Kraftquelle für unser Leben. UE
»Gott, hilf mir! Denn das schaffen. Nicht nur Men- Wer das vergisst, steht in der Gefahr, 8
Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich schen üben Gewalt aus, streiten und sein Vertrauen ganz auf die Technik zu Z
9
versinke in tiefem Schlamm, wo kein kämpfen; auch die Natur kann gewalt- setzen. Allein die Technik soll eine gute D
Grund ist; ich bin in tiefe Wasser gera- sam sein. Es gibt nicht nur eine Ge- Zukunft ermöglichen. Sie soll uns abso- 10
ten, und die Flut will mich ersäufen. schichte der Kriege, die bis zu dem Krieg lute Sicherheit geben. Doch das kann sie N T
Gott, nach deiner großen Güte erhöre reicht, der gerade in Libyen herrscht. Es nicht. Diesem Irrtum dürfen wir deshalb
Schick es bis Dienstag, den 5. April,
mich mit deiner treuen Hilfe.« gibt auch eine Geschichte der Natur- nicht länger aufsitzen. Das haben die auf einer Postkarte an
Wie ich den Alten am Fernsehschirm katastrophen, die bis zum Erdbeben auf Kernreaktoren in Fukushima deutlich
DIE ZEIT, KinderZEIT,
sprechen höre, spüre ich etwas von Got- der japanischen Hauptinsel Honshu und gezeigt. Der Einsatz von Atomenergie 20079 Hamburg,
tes Nähe mitten in dem Chaos von Erd- dem anschließenden Tsunami reicht. Es setzt absolute Sicherheit voraus. Doch und mit etwas Losglück kannst Du mit der
beben, Tsunami und Atomgefahr. Ich kann sogar vorkommen, dass die Kräfte eine solche Sicherheit gibt es nicht. Des- richtigen Lösung einen Preis gewinnen,
spüre: Gott ist bei den Menschen in Not. der Natur und menschliche Fehler zu- halb müssen wir uns selbst bemühen, die ein tolles Bücher-Überraschungspaket.
Bei denen, die kein Dach mehr über sammenwirken; dann wächst die Gefahr. Risiken nicht zu hoch zu schrauben. Für Lösung aus der Nr. 11:
dem Kopf haben. Weil Gott bei ihnen In Japan hat sich eine Naturkatastrophe unsere Zukunft und die unserer Mit- 1. Detektive, 2. Krimi, 3. Spurensuche,
4. Alibi, 5. verfolgen, 6. Diebesgut,
ist, können sie uns nicht gleichgültig mit einer von Menschen verursachten menschen. Denn bei ihnen wie bei uns 7. Steckbrief, 8. gestehen, 9. verhoert,
sein. Dankbar sind wir für jeden Einzel- Katastrophe verbunden. ist Gott. 10. Gericht. – EINBRECHER
50 24. März 2011 DIE ZEIT No 13 DIE FOLGEN DER KATASTROPHE IN JAPAN FEUILLETON

Voller Mitgefühl, aber auch mit

9
Verwunderung schauen viele Deutsche
auf die Haltung, mit der Menschen
in Japan die Katastrophe ertragen. Drei
Versuche, die japanische Mentalität
FRAGE
Wie fühlen die Japaner?
Die nächste Frage folgt auf Seite 61
zu erklären (Seite 50–53)

an kann es machen wie die Redak- sinn der Japaner, für die Einordnung in die Gruppe. nähert man sich vermintem Gelände, denn von der

Fotos (Ausschnitt): Yomiuri Shimbun/Reuters (Minamisanriku, 16.3.2011) oben; PictureContact/akg-images


teurin eines deutschen Nachrich- Gewiss, Gemeinsinn schlägt leicht in sozialen Einzigartigkeit ist es nur ein Schritt zur Reinrassig-
tenmagazins. In tiefer Nacht rief Zwang um, in Konformismus und Kadavergehor- keit und zum Überlegenheitsdünkel. Vor einer
sie den Philosophen Kenichi Mi- sam. Für all dies hält die japanische Geschichte «durchrassten Gesellschaft« graut es viele Japaner
shima in Tokyo an, wollte mit unrühmliche Beispiele bereit. Aus Ordnungsliebe nicht weniger als einem Edmund Stoiber. Es ist kein
ihm ein Telefoninterview zur Nuklearkatastrophe wird Regelungswut, an der Hierarchiegläubigkeit Zufall, dass der Ausländeranteil noch heute bei
führen. Als Mishima sie an die Uhrzeit erinnerte, verkümmert das Improvisationstalent. Kreativität, wenig mehr als 1 Prozent der Bevölkerung liegt.
schickte sie ihm eine Mail (»ein oder zwei Zitate Eigenverantwortung – das, woran es den Japanern Japan, schreibt der Essayist Ian Buruma, sei die
würden für unseren Artikel vielleicht genügen«) fehlen mag, wird durch Opferbereitschaft auf- »inselhafteste aller Nationen«. Buruma spricht von
hinterher, in der sie die folgenden denkwürdigen gewogen. Aber auch hier gilt, wir sollten vorsichtig der »Neurose eines Landes, das zeit seiner Existenz
Fragen an ihn richtete: »Warum bleiben die Japa- sein, den Japanern beispiellosen Heroismus zu- am Rande einer großen Zivilisation postiert war«.
ner in Japan? (...) Haben Sie für diese, uns sehr zuschreiben. Das Ethos des Helfens umspannt alle In seinem wunderbaren Buch Der Staub Gottes
überraschende Tatsache eine Erklärung? Warum Kontinente. Die Amerikaner feiern die Polizisten, (Eichborn Verlag) schreibt Buruma: »Die Frage,
bleiben die Japaner ruhig und in Japan?« die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 was es bedeutet, Japaner zu sein – worin besteht das
Mishima, so heißt es in Japanologen-Kreisen, in die Treppen des World Trade Center hinaufhasteten, Wesen des Japanertums? – ist wie ein fauler Zahn,
denen die Anfrage des Nachrichtenmagazins kursiert, bis heute als Helden. in dem alle herumstochern.« Es gibt aber nicht nur
sei »gekränkt, empört, beleidigt«. Und ein bisschen Wie ihr Todesmut, so hat auch die Ruhe, mit die westliche Stilisierung Japans als des »ganz ande-
schämt man sich mit ob so viel frivoler Ignoranz. der in Japan Freiwillige sich daranmachten, in ren«, vor der die Japanologin Irmela Hijiya-Kirsch-
Ja, warum nur bleiben die Japaner in Japan? Fukushima die Reaktoren unter Kontrolle zu brin- nereit warnt (Das Ende der Exotik, Suhrkamp). Es
127 Millionen Menschen, die müssten sich doch gen, Bewunderung ausgelöst. Die »Fukushima gibt auch, wie sie schreibt, eine »japanische Selbst-
längst auf den Weg gemacht haben. Warum sind sie Fünfzig« haben eine neue Heldensaga begründet. exotisierung«. Diese komme auf zweifelhafte Wei-
zu Hause geblieben? Als in Deutschland schon Jod- Treue, Loyalität, Opferbereitschaft – all dies mag se in den nihonjinron, den »Japanertheorien« zum
tabletten und Geigerzähler gehortet wurden, als sich im täglichen Leben der Japaner keine größere Rol- Ausdruck. In Japan fürchteten nicht wenige um die
an den Abfertigungsschaltern von Tokyos Flughäfen le spielen als bei uns. Und doch: Die Geschichte der »Reinheit und Unversehrtheit des Japanischen«.
die Ausländer drängten, da standen vor den Ämtern 47 Samurai, die ihrem hintergangenen Herrn über Das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung ist
der Hauptstadt japanische Bürger Schlange, um pünkt- dessen Tod hinaus die Treue hielten und ihm, groß. Jahrein, jahraus debattieren die Medien
lich zum Abgabetermin am 15. März ihre Steuerer- nachdem sie seine Schmach gerächt und seine Ehre über das wahre Japanertum. »Der japanische
klärungen einzureichen. Ein merkwürdiges Volk. wiederhergestellt hatten, durch seppuku – den ritu- Geist ist Gegenstand einer fast schon krankhaf-
Konzentrierte sich darauf, die Toten in den Erd- ellen Selbstmord – in den Tod folgten, diese Episo- ten Besorgnis«, schreibt Buruma. »Die Seele der
bebengebieten zu bergen und zu bestatten. Darauf, Eine junge Frau in der Wüste der Zerstörung, die einmal die Stadt Minamisanriku war de aus dem Edo des Jahres 1703 kennt noch heute Nation: wie sie wiederbelebt, verteidigt, ja sogar
den Überlebenden ein Dach zu geben, sie mit De- jeder Japaner. Die 47 Samurai wurden zum Sinnbild als Vorbild für die Welt draußen hochgehalten
cken, mit Reis und Wasser zu versorgen. Und darauf, der Treue. Die Kamikazeflieger hingegen, die sich werden muss – über dieses nebulöse Etwas zer-
die havarierten Reaktoren in Fukushima an das
Stromnetz anzuschließen, um so eine Kernschmelze
zu verhindern. Haute einfach nicht ab.
Vielleicht ist das Merkwürdige nicht das Ver-
halten der Japaner, sondern unser Erstaunen über
Frivole Ignoranz im Pazifischen Krieg auf die US-Kriegsschiffe
stürzten, verkörpern aus heutiger japanischer Sicht
einen fanatischen Opferkult, dem sie sich mit ihrem
Treueeid auf den Tenno unterwarfen.
Dem Gottkaisertum hat Hirohito, der damalige
brechen sich Politiker, Journalisten, Wissen-
schaftler endlos den Kopf.«
Genau wie in Deutschland!, möchte man aus-
rufen. Die Sarrazin-Debatte – was war sie anderes
als die jüngste Folge eines endlosen Geredes über
ihre Disziplin, Ordnung und Ruhe. Um noch ein- Exotisch sind nicht die Japaner in ihrem Stoizismus. Exotisch ist unser Tenno, am Neujahrstag 1946 formell entsagt. Nach deutsches Wesen? Die Ängste einer alternden
mal Kenichi Mishima zu Wort kommen zu lassen, der Verfassung ist der Tenno nur noch »das Symbol und schrumpfenden Nation, die Fragen nach
der in der Frankfurter Rundschau zu bedenken kenntnisloser Blick auf eine fremde Kultur VON MATTHIAS NASS des Staates und der Einheit des Volkes«. Gleichwohl: Vergangenheit und Normalität, die seltsame Ver-
gab: »Waren die meisten Bürger, die in Sachsen Als sich am vergangenen Mittwoch Kaiser Akihito, bindung von Naturmystik und Ingenieurselig-
vor ein paar Jahren vom Hochwasser getroffen der Sohn Hirohitos, an sein Volk wandte, zum keit – all das ist uns seltsam vertraut. Exotisch
wurden, nicht ebenso diszipliniert und hilfsbereit? ersten Mal überhaupt aus aktuellem Anlass, da sind nicht die Japaner in ihrem Stoizismus. Exo-
Damals sprachen in Japan einige Besserwisser mit keine Ausschreitungen. Man vergleiche die Reaktion lichkeit der Dinge. Das höchste schintoistische Hei- horchte Japan auf. Sein Wort: »Ich hoffe nachdrück- tisch ist unser kenntnisloser Blick auf eine frem-
Bewunderung von teutonischer Begabung für der Japaner mit der Lage in New Orleans nach dem ligtum, der Ise-Schrein, wird alle zwanzig Jahre abge- lich, dass die Anstrengungen der Beteiligten eine de Kultur. Die Prognose sei gewagt, dass unser
Organisation und germanischem Durchhaltever- Hurrikan Katrina 2005, dann kann man das Maß an rissen und neu errichtet. Die Japaner sind nicht so Verschlimmerung der Lage verhindern werden«, Interesse an Japan mit der Strahlung in Fukushi-
mögen. Ich hielt so etwas für töricht.« Seien wir Zivilisiertheit ermessen, mit der sie die Katastrophe naiv, zu glauben, sie könnten die Natur mit Technik konnte gar nicht anders verstanden werden denn ma abklingen wird.
also vorsichtig mit pauschalen Urteilen über den bewältigen. Anders als in New Orleans herrscht eben besiegen. Aber sie tun alles, um die Technik so zu ver- als direkter Befehl, alles Menschenmögliche zur Doch zum Glück ist Fukushima nicht »überall«,
Nationalcharakter uns fremder Völker. nicht »das verzweifelte Recht des Stärkeren«, wie Uwe vollkommnen, dass sie die Schrecken der Natur, so Abwendung des Super-GAUs zu unternehmen. ist es bisher kein zweites Tschernobyl geworden.
Indes scheint es legitim, zu fragen, warum es den Schmitt in der Welt schrieb. weit es eben geht, zähmt. Der Kaiser mag den meisten jungen Japanern Und das ist tatsächlich der Tapferkeit von ein paar
Japanern gelang, die Fassung zu bewahren und auf Seit je leben die Japaner auf schwankendem Boden. Der Einzelne steht der Naturgewalt hilflos gegen- herzlich gleichgültig sein. Für viele Ältere aber ist Hundert Arbeitern und Technikern zu verdanken.
bewundernswerte Weise die gesellschaftliche Ord- Erdbeben, Taifune, Tsunamis haben ihre Zivilisation über, er kann nur vor ihr fliehen. Historisch mag dies die Institution des Tennos noch immer Symbol und Und der Ruhe eines disziplinierten Volkes, das sich,
nung aufrechtzuerhalten. Es gab keine Plünderungen, von Beginn an begleitet. Sie wissen um die Vergäng- der tiefste Grund sein für den ausgeprägten Gemein- Verkörperung japanischer Einzigartigkeit. Hier nun unter Tränen, an die Arbeit gemacht hat.

WAS MACHE ICH HIER ?



149
Marion Dönhoff Preis
für internationale Verständigung und Versöhnung
In Tokyo unter Robotern
Vier Tage vor dem Erdbeben war ich in Tokyo und türliche Weise kugelgelagert. Die Technik tritt
habe dort das Museum für Zukunftstechnologie dabei immer dienend in Erscheinung. Sie ist demü-
Vorschläge erbeten und Innovation besucht. Das Gebäude steht auf tig und butlerhaft und fördert das reibungslose Mit-
einer künstlich aufgeschütteten Einkaufs- und Ver- einander, das der japanischen Konsensgesellschaft

MARION DÖNHOFF PREIS 2011


gnügungsinsel im Hafengebiet der Stadt. Es ist ein so viel bedeutet. Und korrespondiert die Roboter-
Sakralbau japanischer Technologiegläubigkeit. Jeder liebe nicht auch mit dem Bedürfnis nach Harmonie
Ausstellungsebene, jeder Glasfassade, jedem Pikto- und Beschränkung auf das Wesentliche? Asimo ist
gramm wohnt das Versprechen inne, dass die Zu- ein Wunderwerk an Geschmeidigkeit. Wenn er
Marion Gräfin Dönhoff war die langjährige Chefredakteurin und Herausgeberin der ZEIT. Das geistige Erbe dieser ganz und gar ungewöhnlichen Frau
kunft etwas Helles und Großzügiges ist und die lautlos aus dem Dunkel schnürt, geht ein begeister-
wachzuhalten – das ist das Ziel des Marion Dönhoff Preises für internationale Verständigung und Versöhnung. Die ZEIT-Stiftung, die Marion Dönhoff
Technik das Leben verbessert. Der spektakulärste tes »Ah« durch die Zuschauerreihen, so elegant mit
Stiftung und DIE ZEIT werden ihn im neunten Todesjahr der Publizistin zum neunten Mal vergeben. Marion Dönhoff war nicht nur selbst Aufklärerin, Frau
Teil des Museums ist die Roboterabteilung. Hier leicht eingeknickten Knien ist sein Laufschritt. Alle
des Widerstandes und moralische Instanz, sie hat auch anderen Menschen Mut gemacht – »Menschen, die wissen, worum es geht«. Die ZEIT-Leser sind
kann man Halluc II bewundern, den Rettungs- sind verzaubert von ihm. Asimo ist süß. Er kann
eingeladen, Preisträger vorzuschlagen.
roboter in Kakerlakenform, der sich auf acht Rol- sprechen, gegen einen Ball treten und wie beseelt
lenfüßen in jede beliebige Richtung bewegt und auf sein Astronautenhaupt neigen. Nach zehn Minuten
Metallbolzen über Hindernisse krabbelt. Er ist mit winkt er scheibenwischerartig ins Publikum und
Ein Preis für Einsatz und Beharrlichkeit Die Jury: Sensoren ausgestattet, hat ein starkes Greifmaul zum trippelt zurück in seine Garage.
Der Marion Dönhoff Preis würdigt Dienste im Namen der internationa- Hermann Graf Hatzfeldt, Vorsitzender des Vorstands Zupacken und soll bei Katastrophen nützlich sein. Das Museum zeigt in Filmeinspielungen, wie
len Verständigung und Versöhnung und zeichnet Menschen aus, die der Marion Dönhoff Stiftung Man kann die Robbe Paro streicheln, einen thera- mühsam es war, die Roboter das Laufen zu lehren.
sich aus eigener Kraft und innerer Überzeugung dafür einsetzen. Vor Manfred Lahnstein, Vorsitzender des Kuratoriums der ZEIT-Stiftung peutischen Kuschelroboter, der Einsame tröstet und Man sieht Ingenieure in weißen Schutzanzügen und
35 Jahren schrieb Marion Dönhoff das Buch »Menschen, die wissen, Janusz Reiter, polnischer Botschafter a. D. Autisten zum Sprechen bringt. Und es gibt Asimo, mit roten Sturzhelmen, wie sie sich in den Pionier-
worum es geht« – über Menschen, denen sie begegnete und die in Helmut Schmidt, Bundeskanzler a. D., Mitherausgeber der ZEIT den Star der Abteilung, den schneeweißen Men- zeiten sorgenvoll über hässliche Monstren aus
ihren Augen etwas ganz Besonderes waren. Theo Sommer, Publizist, Editor-at-Large der ZEIT schenroboter von Honda. Für die Japaner ist er ein Metallstreben und Kabelgekröse beugen. Der 1980
Im Vorwort dazu heißt es: »Sie haben alle eins gemeinsam. Fritz Stern, amerikanischer Historiker nationales Maskottchen. Der Museumsshop ist voll konstruierte WL-9DR etwa brauchte eineinhalb
Sie sind ganz echt – sie lassen sich nicht vom Zeitgeist oder von Richard von Weizsäcker, Bundespräsident a. D. von Plüsch-Asimos, Gummifiguren und Bausätzen Minuten, um einen einzigen wackeligen Schritt zu
Werbeagenturen stilisieren. Sie machen keine Konzessionen an Anne Will, Journalistin und Fernsehmoderatorin
zum Selberbasteln. Wenn Asimo zweimal am Tag vollführen. Wenn die Roboter umkippten, konn-
Publikum, Mode, Karriere. Sie sind ohne Furcht. Sie folgen ihren eige- aus seiner Garage tritt, drängeln sich die Kinder und ten sie nicht mehr alleine aufstehen. Das hat
nen Maßstäben und ihrer Intuition. Intuition hat mit Gefühl zu tun – Ehrenpreis: Für namhafte Persönlichkeiten oder Institutionen, Erwachsenen hinter Absperrleinen. »Wollt ihr ihn erst HRP-2P fertiggebracht: Er hievt sich aus
und nicht im Sinne von Emotionen, sondern im Sinne von Gewißheit. die in besonderem Maße zur internationalen Verständigung und denn mal rufen?«, fragt die Museumsangestellte der Rückenlage auf den Händen wie ein
Ebendarum: Menschen, die wissen, worum es geht.« Versöhnung beitragen in ihr Mikrofon, und alle brüllen: »A-si- Hebekran in den Stand. Die japanischen
mo! A-si-mo!« Roboter, so lehrt uns das Museum, durch-
Der Marion Dönhoff Preis soll Menschen auszeichnen, die zum Beispiel Förderpreis: 20.000 Euro, für Menschen, die ein besonders unterstüt- Die Japaner haben ein großes Fai- laufen die gleiche evolutionäre Entwicklung
mit kulturellen oder wissenschaftlichen Projekten, mit der regelmä- zenswertes Projekt betreiben, das zur internationalen Verständigung ble für das Vollautomatische. Sie lieben wie der Mensch.
ßigen Begegnung von Jugendlichen oder mit anderen Initiativen ein und Versöhnung beiträgt alles gut Geölte und elektromag- Als ich (zurück in Deutschland) die Bilder
respektvolles und aufrichtiges Miteinander der Nationen fördern.
netisch Surrende. Die Türen in vom rauchenden Atomreaktor in Fukushima
Kennen Sie solche Menschen? Verleihung: Am 27. November 2011 im Deutschen Schauspielhaus in den Taxis öffnen sich wie von sah, habe ich vergeblich darauf gewartet, dass
Hamburg. Die Preisträger werden kurz vor der Preisverleihung in der Geisterhand, die Vorhänge Japan nun seinen Roboterpark in Bewegung setzt.
Schreiben Sie uns, und begründen Sie Ihren Vorschlag!
ZEIT bekannt gegeben.
Per Post: DIE ZEIT, Stichwort: »Marion Dönhoff Preis«, in den Luxushotels lassen Ich habe auf Halluc II gewartet, der radioaktiv
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Speersort 1, sich auf Knopfdruck schlie- verseuchte Trümmer beiseiteräumt, und auf
20095 Hamburg ßen, und nirgendwo funktionieren die Asimo, der die kaputten Kühlsysteme repariert.
Per E-Mail: marion-doenhoff-preis@zeit.de pneumatischen Schleusen in den Stattdessen stehen Feuerwehrmänner und Sol-
Online: www.zeit.de/marion-doenhoff-preis öffentlichen Verkehrsmitteln so daten mit ihren Wasserschläuchen im Giftqualm.
geräuscharm wie in Tokyo. Ein Die Roboter können die Welt offenbar nicht
Einsendeschluss ist der 15. April 2011.
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Fremder bewegt sich dort in dem retten. Sie sind sich selbst genug. CLAUS SPAHN
Gefühl, die ganze Stadt sei auf na-

Der Roboter Asimo im Museum


für Zukunftstechnologie in Tokyo
DIE FOLGEN DER KATASTROPHE IN JAPAN 24. März 2011 DIE ZEIT No 13 61

FRAGE

10
Wie

Fotos (Ausschnitte): T. Yamanaka/AFP/Getty Images (Minamisanriku, 18.3.11); A. Song/Reuters (rechts, Miyako, 14.3.11)
können
wir
helfen?
Tausende Menschen in ungeheizten Notunter-
künften, bittere Kälte und verwüstete Städte, über
allem der drohende GAU – den Japanern in einer
solchen Lage zu helfen ist ein menschliches Be-
dürfnis. Am besten so schnell und direkt wie
möglich. Gern wüsste jetzt jeder Spender, wen er
unterstützen soll. Doch Hilfe in einer derartigen
Krise ist eine strategische Herausforderung, bei
der man dem Urteil professioneller Helfer vor Ort
vertrauen muss. »Wo 500 Kilometer Infrastruktur
weggespült wurden, kann man nicht einfach Lkws
reinschicken«, sagt Rainer Lang vom Katastro-
phenschutz der Diakonie. Deswegen sind kleine
Initiativen derzeit relativ machtlos. Große Hilfs-
organisationen haben meist mehr Erfahrung mit
logistischen Hindernissen.
Gebet über Leichen und Trümmern: Soldat in Minamisanriku, 18. März Langer Moment der Trauer: Einwohnerin von Miyako, 14. März Doch selbst sie stehen vor außergewöhnlichen
Problemen: Da Japan eine Industrienation ist,
haben viele Hilfsorganisationen dort kein be-
allein auf fossile Brennstoffe stützen, Sonnen- oder meine Familie retten könnte, würde ich mein Leben Von Menschen gemacht Wenn ich sterbe stehendes Netzwerk. Sie konzentrieren sich sonst
Windenergie reichen nicht aus. Wie lange ertragen geben. Normalerweise sind wir Japaner keine guten auf ärmere Länder. Eine Ausnahme ist das Rote
die Japaner die restriktive Einschränkung der Ener- Bürger. Wir hören nicht darauf, was die Regierung Das Erdbebenland Japan betreibt bekanntlich Atomkraftwerke sind ungeeignet für Japan, wo Kreuz, da es auch für die Erdbebenvorsorge in
gieversorgung? Es gibt keine andere Möglichkeit sagt, gehen ungern zur Wahl, wollen wenig Steuern über 50 Atomkraftwerke. Für NGOs habe ich es so oft Erdbeben gibt. Der Unfall in Fukushi- Japan zuständig ist. »Normalerweise treffen wir
für uns als die atomare Stromerzeugung, fürchte zahlen, spenden auch selten. Aber diesmal ist es mich zehn Jahre damit befasst, wie ein nachhal- ma bringt uns hoffentlich eine große Wende. die japanischen Kollegen immer als Spezialisten
ich. Ich bin wütend auf die Kritiker. Als Allererstes anders. Wir wollen der Regierung jetzt glauben. tiges Leben funktionieren kann. Wenn Erdbeben Wenn ich Kinder hätte, würde ich wahrschein- bei Auslandseinsätzen«, sagt Svenja Koch, Spre-
gilt es, einen Brand zu löschen und die Ursache zu Seit vorgestern haben die Kinder bei uns Schul- eine Naturkatastrophe sind, dann ist das Reak- lich die Stadt verlassen. Denn falls wirklich ein cherin des Deutschen Roten Kreuzes. Sie wundert
finden, bevor man kritisiert. Ich glaube fest daran, ferien, gestern sah ich sie auf dem Spielplatz. Un- torunglück in Fukushima eine von Menschen Unglück passiert, kommt man aus Tokyo nicht sich nicht, dass das Japanische Rote Kreuz bisher
dass es möglich ist, Atomkraft sicher zu machen. sere Familie bleibt auch hier. Mein Sohn schaut oft gemachte Katastrophe. Betreibergesellschaften, mehr raus. Nein, ich bin nicht religiös. Wenn keine personelle Unterstützung aus anderen
Ryujiro Kanda, 64, Ingenieur in Osaka vorbei. Wir sparen Strom und fahren Fahrrad. Aufsichtsbehörden und Verwaltungen haben die ich sterbe, dann ist es aus und vorbei. Mut Ländern eingefordert hat. 55 000 Mitarbeiter und
Takeshi Hasegawa, 63, ist Rentner und lebt in der Risiken immer wieder geleugnet. Bei ihren Wor- machen mir die Überlebenden der Katastro- zwei Millionen ausgebildete Freiwillige stehen
Stadt Funabashi, Präfektur Chiba, östlich von Tokyo ten überkam mich schon immer ein ungutes phe. Ich danke allen ausländischen Rettungs- dem japanischen Roten Kreuz zur Verfügung.
Gefühl. Wie anmaßend der Mensch doch ist. mannschaften, die nach Japan gekommen sind, Finanzielle Unterstützung wird dennoch ge-
Wohin wir fliehen könnten Wir müssen unseren Kindern eine Zukunft er- für ihre Hilfe! braucht. Straßen freiräumen, Benzin verteilen
Wir vermissen einen Verwandten. Mit der Familie möglichen, darin besteht unsere eigentliche Le- Decken, Suppen und Medikamente verteilen, all
beraten wir, wohin wir fliehen könnten. Was mich
Was wir jetzt wissen bensaufgabe. Allein auf Bequemlichkeit und Ef-
Aoki Nao, 47, Schriftstellerin, Tokyo
das ist teuer. Falls Geld übrig bleibt, steckt das
bewegt, sind unter anderem die Ärzte und Kranken- Anfangs waren die Nachrichten über Fukushima fizienz zu setzen hat böse Konsequenzen. Wie Japanische Rote Kreuz es in die Katastrophen-
schwestern, die weiterarbeiten, obwohl sie sich an ein Chaos. Jetzt kann man auf der Website des wollen wir unser Leben ändern? Jeder Einzelne vorsorge. »Nach dem Beben ist vor dem Beben«,
sicherere Orte begeben sollten. Was mir Angst Erziehungsministeriums die akute radioaktive Ver- sollte auf seine innere Stimme hören. Unsere Enkel schützen sagt Svenja Koch. Allein der guten Vorbereitung
macht, ist ein scheinheiliger Journalismus, der seuchung im östlichen Teil Japans sehen. Die eng- Niiro Heita, 36, Umweltaktivist, Tokyo Die Bilder im Fernsehen waren so tragisch, der Japaner auf Erdbeben und Tsunamis sei es zu
Unruhe in die Gesellschaft tragen könnte. lische Version steht unter http://www.mext.go. dass ich viel geweint habe. Ich bewundere die verdanken, dass trotz des Desasters bisher alles
Masao Tsuramaki, 54, Reiseveranstalter, Gunma jp/english/radioactivity_level/index.htm. Bürger- Geduld der Leidtragenden, die einfach abwar- relativ glimpflich ablief.
initiativen fangen an, den Evakuierten zu helfen. ten, ohne dass es zu irgendwelchen Gewalt- Doch obwohl der wirtschaftliche Schaden in
Niino Morihiro, 52, Theaterkritiker, Tokyo
Keine Himmelsstrafe tätigkeiten kommt. Jeder Einzelne fragt sich, Japan von der Weltbank auf bis zu 166 Milliarden
Wir krochen alle sofort unter den Tisch im Kon- was er jetzt tun kann. Ich will kein Geld mehr Euro geschätzt wurde, gibt es in Deutschland Dis-
Die Welle kommt ferenzraum. Dort schauten wir uns in die verängs- für Unterhaltung und Luxusartikel ausgeben, kussionen, ob die reichen Japaner überhaupt
Die Fernsehbilder des Tsunami kamen mir vor tigten Gesichter. Jemand sagte, dass das Gebäude sondern lieber spenden. Selbst die Kinder in Hilfe brauchten. Wer vermeiden möchte, dass
wie aus einem Hollywoodfilm. Aber die Stimme Der falsche Weg nach neuesten erdbebensicheren Standards gebaut der Schule schicken Briefe und E-Mails, um mehr Geld als nötig in die Japan-Hilfe gesteckt
des Reporters war real: »Die Welle kommt! Die Noch heute haben wir Japaner die Fernsehbilder worden sei. Wir machten alle möglichen positiven den Opfern Mut zuzusprechen. Die Gemeinde wird, sollte den Zweck seiner Spende offenlassen.
Welle kommt wirklich!« Spontan dachte ich an aus den Zeiten der Ölkrise im Kopf. Wie die Bemerkungen, um uns gegenseitig zu ermutigen. einer katholischen Kirche, die sich im Epizen- Man trägt auf der Überweisung nicht mehr als
meine verstorbene Großmutter – irgendwie halte Leute sich bei Hamsterkäufen um Toiletten- Später liefen wir raus auf einen Sportplatz. Da- trum des Bebens befand, aber nicht zerstört Verwendungszweck »Japan« oder »Tsunami« ein,
ich sie für meinen Schutzengel. Am wenigsten papier stritten! Wegen der Ölkrise fand die neben setzten Bauarbeiter ihre Arbeit fort, wir sahen wurde, beginnt systematisch zu helfen. Bei je- sondern spendet das Geld frei, sodass die Hilfs-
traue ich den Zeitungsberichten mit sensationel- Atomenergie ja so großen Rückhalt. Der Anteil es mit blassen Gesichtern. Der Tokyoter Gouver- dem Gottesdienst sammeln die Christen Spen- organisation selbst entscheidet, wofür es benötigt
len Überschriften wie »Weltuntergang« oder des Atomstroms an Japans Energieversorgung ist neur hat die Katastrophe als »Himmelsstrafe« be- den und schicken sie direkt an ein Evakuie- wird. »Viele Menschen spenden auch außerhalb
»Apokalypse«. Solche Wörter zu benutzen ist res- mittlerweile auf fast 30 Prozent gestiegen! Wir zeichnet. Ein völliger Irrsinn. Ich fühle mich nicht rungszentrum. Angst habe ich vor der Aus- besonderer Katastrophen zweckgebunden, weil
pektlos gegenüber den Betroffenen. Vor 47 Jah- müssen nun diskutieren, warum Japan so viel bestraft, sondern geprüft: Schaffe ich es, Stärke zu breitung radioaktiver Strahlung. Unsere En- sie den Organisationen misstrauen«, sagt Burk-
ren habe ich in Niigata auch ein großes Erdbeben Energie verbraucht, obwohl es keine eigenen zeigen? So wie die Bauarbeiter! kelkinder sind noch so jung und könnten gra- hard Wilke, Leiter des Deutschen Zentralinsti-
erlebt und mit meiner Familie in einer Turnhalle Rohstoffquellen hat. In Zukunft müssen wir uns Sae Aoki, 36, Angestellte, Tokyo vierende Schäden erleiden. Wenn die Strah- tutes für soziale Fragen (DZI), »dabei sollte man
gewohnt. Ich erinnere mich noch an die kalten auf natürliche Energiequellen konzentrieren. lung intensiver wird, schicken wir sie ins Aus- nur an Organisationen spenden, von denen man
Mahlzeiten und die kleine Bettdecke. Heute bin Das bisher so selbstverständliche Leben im Über- land oder nach Süd- oder Westjapan. überzeugt ist.« Ihnen kann man die Entscheidung
ich überrascht, dass die Notunterkünfte noch fluss war der falsche Weg. Die japanische Wirt- über den Verwendungszweck anvertrauen.
fast genauso aussehen. Viele Japaner sagen, dass schaft hat jetzt die Chance zum Neuanfang. Ruhig bleiben Yuriko Iseki, 63, Lehrerin, Tokyo
Spontane Helfer stehen oft vor ungeahnten
sie den Helfern im AKW dankbar sind. Aber Tada Marika, 33, Moderedakteurin, Tokyo Das Haus meines jüngeren Bruders in Miyagi, Hürden. So hat die Aktion 1000 Leben auf www.
Dankbarkeit klingt oberflächlich. Wenn ich an nicht weit vom Epizentrum des Bebens, wurde projapan.de Deutsche gesucht, die japanische
sie denke, bin ich sprachlos. zerstört, doch gab es keine Verletzten in der Fa- Junge Hoffnung Kinder und Eltern für eine Zeit aufnehmen und
milie. Es ist wunderbar, wie viele der Opfer sich Den Reaktorstandort Fukushima habe ich un- Geld für ihre Flüge spenden. 1000 Begeisterte
Tae Sasaki, 54, Hausfrau aus Niigita, Nordjapan Erdbebenkrank inmitten einer unbeschreiblichen Verwüstung zählige Male besucht: eine ganz normale Ge- meldeten sich. Da merkte Initiator Reinhard
Selbst wenn die Erde nicht wackelt, wird mir ruhig und gesittet verhalten haben, ohne sich gend, in der man mit Fischerei und Landwirt- Pregla, dass die Familien, die in Japan alles verloren
schwindelig. Das nennt man »erdbebenkrank«. Es von ihrem Schmerz überwältigen zu lassen. schaft seinen Lebensunterhalt bestritt. Heute haben, oft auch keine Pässe mehr besitzen. Von
Tempelgebete kommt wohl von der seelischen Belastung und dem Seishiro Otsuki, 79, Rentner, Tokyo früh im Fernsehen sagte Herr Watanabe, der drei Müttern mit Kindern, für die Flüge bezahlt
Am letzten Wochenende fanden die Andachten Stress. In Gedanken bin ich bei den Helfern von Bürgermeister der dem Unglücksort am nächs- wurden, kam bisher eine an. Ob die potentiellen
zur Tagundnachtgleiche statt, und ich habe mei- Fukushima. Um der Lage Herr zu werden, braucht ten gelegenen Stadt Iwaki, die Verstrahlung Gastfamilien geeignet sind, muss auch kontrolliert
nen Eltern, die einen buddhistischen Tempel es sicher das Wissen aller Atomexperten der Welt. betrage 0,73 Mikrosievert, dies sei gesundheit- werden. Weil die Arbeitsweise privater Initiativen
führen, bei ihrer Arbeit geholfen. Natürlich ha- Niino Shinobu, 51, Übersetzerin und
Verlorene Eltern lich unbedenklich. Doch die Gerüchte sagen schwer zu beurteilen ist, rät das DZI zu Vorsicht.
ben wir die Menschen in Nordostjapan in unsere Museumsführerin, Tokyo Das erste Beben dauerte ewig, und in unserem etwas anderes: Wegen der Nähe zum Atom- »Wir verstehen uns als Plattform, die Leute zu-
Gebete eingeschlossen. Wir bemühen uns, einan- Laden fielen alle Waren aus dem Regal. »Zum meiler kommen keine Hilfslieferungen an. In sammenbringt. Generalstabsmäßig organisieren
der zuversichtlich und heiter zu begegnen. Ich Glück verkaufen wir kein Porzellan«, scherzte einem Altenheim der Stadt werden die Lebens- können wir nicht«, sagt Pregla. Doch selbst wenn
kenne einen Arzt, der am dritten Tag nach der eine Kollegin. »Wir müssen die Kleider nur auf- mittel in ein oder zwei Tagen aufgebraucht er sein Angebot perfektioniert, weiß er, dass es nur
Katastrophe nach Fukushima reiste, um zu hel-
Panische Ausländer heben und den Staub ausschütteln. Dann ist alles sein, und die jungen Pflegekräfte wollen das für Menschen gilt, die sich aus eigener Kraft aus
fen; ein anderer floh am zweiten Tag nach dem Bei mir zu Hause sind nur ein paar Bücher wieder in Ordnung.« In Wirklichkeit war gar verbliebene Essen den Alten überlassen. Viele den Krisengebieten befreien und zum Flughafen
Erdbeben mit seiner Familie nach Okinawa in und eine kleine Vase zu Boden gefallen. Mein nichts mehr in Ordnung. Zu Hause erfuhr ich, Menschen aus dem Katastrophengebiet leben begeben können. FRANZISKA BULBAN
Südjapan. Auch Japaner reagieren unterschied- Mann konnte nicht mit der Bahn nach Hause dass die Hälfte des Dorfs meiner Schwiegereltern und arbeiten heute in Tokyo. Seit dem letzten
lich. Ich persönlich sehe die Zerstörungen wie zurückkommen und blieb über Nacht in ei- in Nordjapan vom Tsunami verschlungen wur- Wochenende fahren wieder Fernbusse in den Spendenadressen:
eine riesige Wellenbewegung der Natur. Es ist nem Lokal, mein Sohn blieb im Büro, und de. Würde die andere Hälfte dem großen Feuer Nordosten. Die mit unendlich viel Gepäck be- Das DZI hat unter www.dzi.de eine Liste
ein Ein- und Ausatmen des Erdballs, während meine Kollegin schlief in einer Turnhalle. Ja- dort zum Opfer gefallen sein? Eine Woche wuss- ladenen jungen Leute, die die Busse besteigen, zusammengestellt, auf der zuverlässige
das Schicksal, dass jeder allein geboren wird und paner müssen auf alles vorbereitet sein. Wir te niemand, wo die Schwiegereltern sind, bis sie werden von Unbekannten ermutigt, man Hilfsorganisationen mit guten Kontakten
allein stirbt, sich erfüllt. Erdbeben und Tsunami haben eine Redensart: Die Katastrophe sich vom Krankenhaus aus meldeten. Warum steckt ihnen aufmunternde Briefe zu. Ein jun- nach Japan aufgelistet sind. Dazu gehören
gehören zur Natur. Vor ihr habe ich Ehrfurcht. kommt, wenn man nicht daran denkt. Meine klingen negative Nachrichten glaubwürdiger als ger Mann, der als Nichtsnutz galt, kümmert das Deutsche Rote Kreuz e.V., Bank für
Doch mit der Radioaktivität verhält es sich an- Bekannten in Deutschland, der Schweiz und positive? Ich habe festgestellt, dass es sinnlos ist, sich jetzt im Katastrophengebiet nun um alte Sozialwirtschaft, Konto 414141, BLZ
ders. Sie ist vom Menschen gemacht. Österreich schickten mir E-Mails, ob ich noch Hoffnung woanders als im eigenen Herzen zu Menschen und kleine Kinder. Mir scheint, die 370 205 00, und die Aktion Deutschland
Henmi Taeko, 50, Hausfrau, Tokyo lebe. Solche Fragen sind schon überraschend. suchen. Hoffnung ist eine Entscheidung. Mit jungen Leute wachsen über sich hinaus. Das hilft e.V., Bank für Sozialwirtschaft,
Immerhin liegt Tokyo 250 Kilometer von Fu- dieser Einsicht konnte ich zum ersten Mal nach hätte ich ihnen nicht zugetraut. Solange es Konto 102030, BLZ 370 205 00
kushima entfernt. Wir bestaunen die extreme dem Erdbeben den Fernseher ausschalten und solche Menschen gibt, geht Japan bestimmt
Reaktion des Auslands, Deutschland beispiels- ruhig schlafen. Nächste Woche wollen wir die nicht unter.
Schlechte Bürger weise evakuiert seine Bürger, und ausländische Schwiegereltern mit dem Auto nach Tokyo ho-
In Deutschland sind die fünfzig Ingenieure von Piloten einer japanischen Fluggesellschaft ha- len. Momentan gibt es noch nicht genug Benzin. Kimura Keiichi, 63, Unternehmensberater, Tokyo
Fukushima anscheinend Helden. Aber hier kämp- ben es abgelehnt, von Fukuoka nach Haneda Nach fünf Stunden Wartezeit an der Tankstelle Aufgezeichnet von MAI AOKI, YURIKO ISEKI ,
fen auch Soldaten, Feuerwehrmänner, Polizisten, zu fliegen, deswegen fallen zwei Flüge pro Tag darf man nur 20 Liter tanken. Das reicht nicht EVELYN FINGER und den Autoren
Grenzschützer und Ärzte gegen die Katastrophe. aus. Das verstehen wir Japaner nicht. mal für den Hinweg von 350 Kilometern.
Welche Wege gibt es, die eigene Sterblichkeit zu Aus dem Japanischen und Englischen von Mai Aoki,
sehen und dennoch Mut zu bewahren? Falls ich Tamiko Todaka, 61, Reiseführerin für ganz Japan Kanako Miura, 30, Verkäuferin, Tokyo Annegret Bergmann und Michael Adrian

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