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„Wer ist John Galt?

“ Wo immer Unbegreifliches geschieht, stellen


die Menschen resigniert diese Frage. Aber es ist gar keine Frage.
Es ist eine leere Floskel, für deren Bedeutung sich niemand interessiert.
Außer Dagny Taggart, der jungen Betriebsleiterin einer großen
Eisenbahngesellschaft. Dagny kann sich nicht mit dem Gedanken
abfinden, daß die scheinbar sinnlose Frage aus dem Nichts
entstanden sein soll.

Um sie herum bricht alles zusammen. Eine von Machtgier, Niedertracht,


Neid und Mißgunst zerfressene Gesellschaft versinkt im Chaos ihrer
vernunftverachtenden Unmenschlichkeit.

Dagny geht dem Geheimnis der aus stumpfer Verzweiflung allgegenwärtigen Frage nach: „Wer ist John Galt?“
Unter Lebensgefahr macht sie eine Entdeckung, die ihr neue Kraft gibt und sie zugleich lähmt. Als sie
aufgefordert wird, einen Eid zu leisten, erbittet sie sich Bedenkzeit.
Der Eid lautet: Ich schwöre bei meinem Leben und bei meiner Liebe
zum Leben: Ich werde nie für andere leben, und ich werde nie von anderen erwarten, daß sie für mich leben.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Atlas Shrugged« bei Random House, New York
Copyright ©1957 by Ayn Rand
Copyright renewed © 1985 by Eugene Winick, Paul Gitlin, and Leonard Peikoff
Copyright © der deutschen Ausgabe by GEWIS®, Hamburg
Rechte der deutschen Übersetzung by Barbara Klau und Hansjürgen Wille
Rechte der Überarbeitung der deutschen Übersetzung by Werner Habermehl
Titelgestaltung: Björn Rebner
Druck und Weiterverarbeitung: Presse-Druck - und Verlags-GmbH, Augsburg
Printed in Germany
ISBN 3 -932564-03-0
Ayn Rand
Wer ist John Galt?
GEWIS
FÜR FRANK O’CONNOR
INHALT

WIDERSPRUCHSFREIHEIT

I. Das Thema
II. Die Kette
III. Oben und unten
IV. Die unbewegten Beweger
V. Der Zenit der d ’Anconias
VI. Das Nicht-Kommerzielle
VII. Die Ausbeuter und die Ausgebeuteten
VIII. Die John-Galt-Linie
IX. Das Heilige und das Profane
X. Wyatts Fackel

ENTWEDER – ODER

I. Der Mann, der in die Welt gehörte


II. Die Aristokratie der Beziehungen
III. Ehrliche Erpressung
IV. Die Billigung durch das Opfer
V. Konto überzogen
VI. Das Wundermetall
VII. Das Moratorium für den Verstand
VIII. Durch unsere Liebe
IX. Das Antlitz ohne Furcht und Schuld
X. Das Dollarzeichen

A GLEICH A

I. Atlantis
II. Utopia der Habgier
III. Gegen die Habgier
IV. Die Lebensfeinde
V. Deines Bruders Hüter
VI. Das Konzert der Befreiung
VII. »Hier spricht John Galt«
VIII. Der Egoist
IX. Der Generator
X. Im Namen des Besten in uns
WIDERSPRUCHSFREIHEIT
I. Das Thema

»Wer ist John Galt? «


Es wurde langsam dunkel. Eddie Willers konnte den Gesichtsausdruck des Penners nicht richtig ausmachen.
Was er gesagt hatte, klang nicht wie eine Frage. Aber die letzten Strahlen der untergehenden Sonne ließen in den
Augen des Penners ein höhnisches Glitzern aufflackern. Und die Augen waren fest auf Eddie Willers gerichtet.
So als wüßten sie von der inneren Unruhe, die ihn grundlos aufrührte.
»Was soll das heißen?« fragte Eddie Willers geladen.
Der Penner lehnte sich lässig an die Wand des Hauseingangs; in den Scherben der zersplitterten Glastür hinter
ihm spiegelte sich das kalte Gelb des Himmels.
»Wen interessiert das?« fragte er.
»Mich jedenfalls nicht«, bellte Eddie Willers und griff hastig in seine Tasche. Der Penner hatte ihn auf der
Straße angehalten und nach Geld gefragt. Dann hatte er einfach weitergeredet. So als wollte er den peinlichen
Moment überspielen. Die Bettelei auf den Straßen hatte in der letzten Zeit so zugenommen, daß man
Erklärungen nicht mehr brauchte. Eddie Willers hatte keine Lust, sich das traurige Schicksal des Penners in allen
Einzelheiten schildern zu lassen.
»Kauf dir eine Tasse Kaffee«, sagte er und drückte dem Schatten mit dem unkenntlichen Gesicht eine Münze
in die Hand.
»Danke, Sir«, sagte der Penner mit monotoner Stimme. Dabei beugte er sich leicht vor, und man konnte die
wettergegerbten Züge eines von Lebensüberdruß und zynischer Resignation gezeichneten Mannes wahrnehmen.
Seine Augen wirkten intelligent.
Eddie Willers ging weiter. Er kam ins Grübeln. Warum befiel ihn um diese Tageszeit immer ohne jeden
Anlaß so ein Mißbehagen? Es gab keinen Grund zu irgendwelchen Befürchtungen, dachte er. Aber da war stets
diese maßlose und durch nichts gerechtfertigte Unruhe. Er hatte sich daran gewöhnt. Doch er konnte keine
Erklärung dafür finden. Der Penner hatte so zu ihm gesprochen, als wüßte er, was Eddie fühlte; als wüßte er, daß
man so fühlen mußte; und – als wüßte er auch warum.
Eddie Willers hob dem Kopf, in bewußtem Bemühen um Selbstdisziplin. Damit muß Schluß sein, dachte er.
Er fing an zu spinnen. Er hatte dieses Mißbehagen doch nicht immer gespürt? Er war zweiunddreißig. Er
versuchte, sich zu erinnern. Nein, das war neu! Aber wann hatte es angefangen? Es war ein Gefühl, das ihn in
unvorhersehbaren Momenten plötzlich übermannte. In der letzten Zeit allerdings immer öfter. Es ist das
Zwielicht, dachte er, ich hasse das Zwielicht.
Die Wolken und die unter ihnen aufragenden Wolkenkratzer nahmen eine bräunliche Farbe an. Wie ein altes
Ölgemälde. Die Farbe eines vergilbenden Meisterwerks. Lange Rußstreifen, die sich in die Fassaden gefressen
hatten, liefen die schlanken Gebäude herunter. Hoch oben an einem von ihnen erstreckte sich in der Form eines
erstarrten Blitzes ein Riß über zehn Stockwerke. Im letzten Licht der untergehenden Sonne stachen über den
Dächern glühende Zacken in den Himmel. Sie gehörten zu einer Turmspitze, deren Vergoldung zur Hälfte schon
lange abgeblättert war. Das Glühen war rot und verschwommen. Wie der Schimmer eines erlöschenden Feuers,
das s ich nicht wieder entfachen läßt.
Nein, dachte Eddie Willers, da war nichts Beunruhigendes im Erscheinungsbild der Stadt. Sie sah aus, wie sie
immer ausgesehen hatte.
Er ging weiter. Er war sowieso schon verspätet. Die Aufgabe, die im Büro auf ihn wartete, war ihm zuwider.
Aber sie mußte erledigt werden. Er gab sich einen Ruck und beschleunigte seine Schritte.
An einer Kreuzung bog er ab und sah in dem schmalen Streifen zwischen den dunklen Silhouetten von zwei
Häusern, wie durch einen Türspalt, die Seite eines riesigen Kalenders.
Es war der Kalender, den der Bürgermeister von New York im letzten Jahr auf dem Dach eines Hauses hatte
aufstellen lassen. Die Bürger sollten, genauso wie die Uhrzeit, auch das Datum von einem öffentlichen Gebäude
ablesen können. Ein weißes Rechteck hing nun über der Stadt und verkündete den Menschen unten in den
Straßen Tag und Monat. Im rostfarbenen Licht des Sonnenunterganges stand an diesem Abend zu lesen: 2.
September.
Eddie Willers wandte sich ab. Er hatte den Anblick des Kalenders nie leiden können. Er störte ihn irgendwie,
ohne daß er das erklären oder verstehen konnte. Das Gefühl schien mit seiner inneren Unruhe zu
korrespondieren. Es war von der gleichen Art.
Ihm schoß eine Redensart, so etwas wie ein geflügeltes Wort durch den Kopf. Das war es, was der Kalender
auszudrücken schien. Aber er konnte sich nicht auf den Wortlaut besinnen. Er ging weiter. Die Worte, die er
suchte, standen ihm wie eine leere Form vor Augen, die er nicht füllen und von der er sich nicht lösen konnte. Er
blickte zurück. Das weiße Rechteck stand über den Dächern und sagte mit durch nichts zu bewegender
Endgültigkeit: 2. September.
Eddie Willers sah wieder auf die Straße, die er vor sich hatte. Vor der Veranda eines Sandsteinhauses stand
ein Gemüsekarren mit goldroten Karotten und dem frischen Grün junger Zwiebeln. Aus einem offenen Fenster
wehte eine saubere weiße Gardine. Ein geschickt gesteuerter Bus bog ein. Es überraschte ihn, daß er sich
plötzlich sicherer fühlte und den unerklärlichen Wunsch verspürte, diese Dinge geschützt und bewahrt zu wissen
vor der Leere über ihnen.
Als er die Fifth Avenue erreichte, klebten seine Augen an den Schaufenstern der Geschäfte, an denen er
vorbei kam. Er war nicht auf der Suche nach irgend etwas. Er wollte nichts kaufen. Aber es machte ihm Freude,
das Warenangebot zu sehen, was auch immer es war: von Menschen für Menschen hergestellte Produkte. Er
genoß die Ausstrahlung von Wohlstand. Von vier Schaufenstern war höchstens eines wegen Geschäftsaufgabe
unbeleuchtet und leer.
Er wußte nicht, warum er plötzlich an die Eiche denken mußte. Nichts hatte ihn daran erinnert. Aber er dachte
an sie und an die Sommer seiner Kindheit bei den Taggarts. Er hatte den größten Teil seiner Kindheit mit den
Kindern der Taggarts durchlebt, und jetzt arbeitete er für sie. Wie sein Vater und Großvater für ihren Vater und
Großvater gearbeitet hatten.
Die mächtige Eiche hatte auf einem Hügel über dem Hudson gestanden. An einer einsamen Stelle auf dem
Anwesen der Taggarts. Eddie Willers, damals sieben, ging gerne dorthin. Nur um den Baum anzuschauen. Er
hatte da seit hunderten von Jahren gestanden. Und Eddie dachte, er würde ewig dort stehen. Seine Wurzeln
hatten sich wie die Finger einer gewaltigen Faust tief in das Erdreich gegraben. Wenn ein Riese, dachte Eddie,
ihn beim Wipfel packen würde, um ihn auszureißen, dann würde der Hügel, ja die ganze Erde daran baumeln
wie ein Ball an einem Band. Er fühlte sich sicher bei der Eiche. Sie war etwas, das durch nichts verändert oder
zerstört werden konnte. Sie war sein größtes Symbol von Kraft.
Eines nachts schlug ein Blitz in die Eiche ein. Eddie sah sie am nächsten Morgen. Sie lag in zwei Hälften
gespalten am Boden. Der Stamm war hohl und wirkte wie der Anfang eines schwarzen Tunnels. Er war schon
lange von innen her verrottet. Was übrig geblieben war, war nur dünner grauer Staub, den der geringste
Windhauch davon fegte. Die Lebenskraft war versiegt. Die äußere Hülle hatte ohne sie keinen Bestand.
Jahre danach hörte er sagen, daß man Kinder so lange wie möglich vor dem Trauma der ersten Begegnung mit
Tod, Schmerz und Angst bewahren sollte. Aber ihn selbst hatte diese Begegnung nie tiefer berührt. Sein Trauma
kam, als er ganz ruhig vor dem schwarzen Loch im Stamm der alten Eiche stand. Es war eine ungeheure
Enttäuschung. Und die Enttäuschung verletzte ihn um so mehr, als er nicht wußte, worin sie eigentlich bestand.
Er wußte, daß er sich weder persönlich noch in seinem Vertrauen getroffen fühlte. Es war etwas anderes. Er
blieb noch eine Weile stehen, ganz still. Dann ging er zurück zum Haus. Er sprach zu niemand darüber. Nicht
damals und auch später nicht.
Eddie Willers schüttelte den Kopf. Das Kreischen der verrosteten Mechanik einer Verkehrsampel ließ ihn
anhalten. Er ärgerte sich über sich selbst. Es gab keinen Grund, weshalb er heute abend an die Eiche denken
sollte. Sie bedeutete ihm nichts mehr. Nur einen Anflug von Traurigkeit – und irgendwo, tief im Innern, einen
rasch, wie Regentropfen auf einer Fensterscheibe, verfließenden Wehmutstropfen, dessen Bahn in ihm ein
Fragezeichen zurückließ.
Er wollte keine traurigen Erinnerungen an seine Kindheit. Er liebte es, daran zurückzudenken. Jeder Tag,
dessen er sich entsinnen konnte, erschien ihm im Rückblick von weich glänzendem Sonnenlicht durchflutet. Es
kam ihm vor, als würden einzelne Strahlen dieses Lichts noch bis in sein gegenwärtiges Leben reichen oder
vielmehr punktuell Schlaglichter werfen, die in seine Arbeit, sein einsames Zuhause, seine leise, bedächtige
Lebensführung ab und zu etwas Glanz brachten.
Er dachte an einen Sommertag. Er war damals zehn. An diesem Tag, in einer Waldlichtung, hatte ihm die
innigst verehrte Gefährtin seiner Kinderjahre erklärt, was sie, wenn sie eines Tages erwachsen wären, machen
würden. Ihre Worte klangen hart. Und sie glänzten wie das Sonnenlicht. Er hörte ihr voller Bewunderung und
Staunen zu. Als sie ihn fragte, wozu er Lust hätte, sagte er: »Etwas Anständiges zu machen«, und fügte hinzu,
»und du müßtest etwas ganz Tolles machen. Ich meine – wir beide zusammen.«
»Was?« fragte sie.
Er sagte: »Ich weiß nicht. Das ist das, was wir rauskriegen müssen. Nicht nur das, was du gesagt hast. Nicht
nur arbeiten und Geld verdienen. Kämpfen und siegen. Menschen aus Feuersbrünsten retten. Oder Berge
besteigen.«
»Wozu?« fragte sie.
Er sagte: »Der Pfarrer hat letzten Sonntag gesagt, daß wir immer unser Bestes geben müssen. Was meinst du,
was unser Bestes ist?«
»Keine Ahnung.«
»Wir müssen es rauskriegen.« Sie antwortete nicht; ihr Blick ging hinüber zu den Gleisen der Eisenbahn.
Eddie Willers lächelte. Er hatte gesagt: »Etwas Anständiges.« Vor zweiundzwanzig Jahren. Daran hatte er
sich immer gehalten. Die anderen Fragen waren in seiner Erinnerung verblaßt. Er war zu beschäftigt gewesen,
um sie wieder zu stellen. Aber er dachte immer noch, daß es selbstverständlich war, etwas Anständiges zu
machen. Er hatte nie verstanden, wie man das Leben anders angehen konnte. Aber er hatte verstanden, daß man
das Leben anders angehen konnte. Das Prinzip erschien ihm immer noch ebenso einfach wie unverständlich.
Einfach, weil doch klar war, daß man etwas Anständiges machen mußte. Unverständlich, weil das anscheinend
niemand kümmerte. Er wußte, daß das niemand kümmerte. Während er darüber nachdachte, bog er um die
nächste Ecke und stand vor dem Wolkenkratzer von Taggart Transcontinental.
Das Gebäude war das höchste und imposanteste des ganzen Straßenzuges. Eddie Willers Gesicht wirkte
immer fröhlich, wenn er sich ihm näherte. Die langen Fensterreihen waren sauber und gepflegt, anders als die
zersplitterten Fenster der Nachbarhäuser. Die in den Himmel aufragenden Linien bröckelten nicht, zeigten keine
Anzeichen von Verfall. Das Gebäude wirkte wie neu. Unberührt. Es würde ewig dort stehen, dachte Eddie
Willers.
Jedes Mal, wenn er das Taggart-Gebäude betrat, spürte er ein Gefühl der Erleichterung und Sicherheit. Dies
war ein Ort der Leistung und der Macht. Der Boden der Eingangshalle war aus spiegelndem Marmor. Durch die
Milchglasscheiben der rechteckigen Lampen strahlte ungetrübtes Licht. Hinter großen Fenstern saßen in Reihen
Typistinnen an ihren Schreibmaschinen. Das rhythmische Klappern der Tasten erinnerte an das Geräusch eines
schnell fahrenden Zuges. Und die Wände vibrierten, als wäre es ein Echo, wenn unten in den Tunneln des
Terminals unter dem Taggart-Gebäude die Züge abfuhren, um den Kontinent zu durchqueren, oder wenn sie
nach der Reise durch den Kontinent wieder ankamen. So wie sie seit Generationen abgefahren und wieder
angekommen waren. Taggart Transcontinental, dachte Eddie Willers, von Ozean zu Ozean. Der stolze Slogan
seiner Kindheit. Strahlender und heiliger als die Gebote der Bibel. Von Ozean zu Ozean – für immer, dachte
Eddie Willers. Es war für ihn wie ein Schwur. Er ging durch das blitzsaubere Gebäude in die Schaltzentrale: das
Büro des Vorstandsvorsitzenden von Taggart Transcontinental, James Taggart.
James Taggart saß an seinem Schreibtisch. Er sah wie ein Mann um die Fünfzig aus, der, ohne je jung
gewesen zu sein, vom Kind gleich zum alten Mann geworden war. Er hatte schmale, heruntergezogene Lippen
und dünnes, auf einer Halbglatze klebendes Haar. Seine Haltung war schlaff und von einer jede Bewegung
erfassenden Nachlässigkeit, so als wollte er seine eines Aristokraten würdige schlanke, hochgewachsene Gestalt
Lügen strafen. Er wirkte wie ein dümmlicher Flegel. Seine Haut war blaß und weich. Seine Augen farblos und
verhangen. Sie bewegten sich langsam, ohne sich jemals fest auf irgend etwas zu richten. Was auch immer sie
sahen, sie verachteten es. Er strahlte einen merkwürdig kraftlosen Eigensinn aus. Er war neununddreißig.
Das Geräusch der sich öffnenden Tür ließ ihn verärgert aufblicken.
»Stör mich nicht, stör mich nicht, stör mich nicht«, sagte er.
Eddie Willers trat an den Schreibtisch von James Taggart.
»Es ist wichtig, Jim«, sagte er leise.
»In Ordnung, in Ordnung. Worum geht’s?«
Eddie Willers sah auf die Karte an der Wand. Die Farben unter dem Glas waren verblichen. Wie viele
Vorstandsvorsitzende von Taggart Transcontinental hatten davor gesessen? Und wie lange schon? Das Netz roter
Linien, die Strecken von Taggart Transcontinental, die die verblaßte Landkarte des Landes von New York nach
San Francisco überzogen, dieses Netz sah aus wie ein Blutkreislauf. Man konnte den Eindruck gewinnen, daß
sich irgendwann vor langer Zeit das Blut der Hauptarterie unter dem Druck seiner überfließenden Kraft wahllos
an bestimmten Stellen verzweigt hatte und nun das ganze Land durchfloß. Eine der Adern schlängelte sich von
Cheyenne in Wyoming hinunter nach El Paso in Texas – die Rio-Norte-Linie von Taggart Transcontinental. Die
Strecke war kürzlich über El Paso hinaus verlängert worden. Eddie Willers drehte sich hastig um, als seine
Augen den Punkt erreichten, zu dem die inzwischen eingetragene neue rote Markierung führte.
Er sah James Taggart an und sagte: »Es geht um die Rio-Norte-Linie.« Er bemerkte, wie Taggarts Blick zu
einer Ecke des Schreibtisches wanderte. »Wir hatten wieder einen Unfall.«
»Sowas passiert jeden Tag. Mußtest du mich deshalb stören?«
»Jim, du weißt, worum es mir geht. Die Rio-Norte-Linie ist hin. Wir können die Strecke abschreiben.
Komplett.«
»Wir kriegen bald neue Schienen.«
Eddie Willers fuhr fort, als hätte er nichts gehört. »Wir können die Strecke abschreiben. Es hat keinen Sinn
mehr, da noch Züge einzusetzen. Die Leute fahren nicht mehr damit.«
»Soweit ich weiß, gibt es im Land keine einzige Eisenbahnlinie, die nicht auf ein paar Strecken Verluste
schreibt. Wir sind kein Sonderfall. Das ist ein landesweites Problem. Aber das wird nicht für immer so bleiben.«
Eddie sah ihn wortlos an. Was Taggart an Eddie Willers nicht mochte, war diese Art, den Leuten direkt ins
Gesicht zu sehen. Eddies Augen waren blau, groß und fragend. Er hatte blondes Haar und ein eckiges, wenig
einprägsames Gesicht. Da war nur diese gespannte Aufmerksamkeit und die nicht verhehlte Verblüffung.
»Ich bin nur gekommen, weil es wichtig ist, daß du es weißt. Irgendeiner mußte es dir ja sagen.«
»Daß wir wieder einen Unfall hatten?«
»Daß wir die Rio-Norte-Linie nicht aufgeben dürfen.«
James Taggart hob selten seinen Kopf. Wenn er jemand ansah, hob er nur seine schweren Augenlider und
betrachtete ihn von unten. Aus dem Schatten seiner haarlosen Stirn.
»Wer will die Rio-Norte-Linie aufgeben?« fragte er. »Es stand nie zur Debatte, sie aufzugeben. Ich finde es
nicht gut, daß du so etwas sagst. Ich finde das überhaupt nicht gut.«
»Aber wir haben in den letzten sechs Monaten nie unseren Fahrplan eingehalten. Kein einziger Zug ist
gefahren, ohne daß es irgendwelche Pannen gegeben hätte. Ob nun kleine oder große. Wir verlieren alle unsere
Kunden. Einen nach dem anderen. Wie lange können wir das durchhalten?«
»Du bist ein Pessimist, Eddie. Du hast kein Vertrauen. Sowas untergräbt die Moral einer Firma.«
»Willst du damit sagen, daß dir die Rio-Norte-Linie egal ist?«
»Kein Stück. Sobald wir das neue Gleis haben…«
»Jim, wir kriegen kein neues Gleis.« Er beobachtete, wie sich Taggarts Augenlider langsam hoben. »Ich
komme gerade zurück von Associated Steel. Ich habe mit Orren Boyle gesprochen.«
»Was hat er gesagt?«
»Er hat anderthalb Stunden mit mir gesprochen und mir keine einzige klare Antwort gegeben.«
»Warum bist du überhaupt zu ihm gegangen? Ich meine, die erste Schienenlieferung war nicht vor nächsten
Monat fällig.«
»Eigentlich wäre sie schon vor drei Monaten fällig gewesen.«
»Unvorhersehbare Umstände. Orren konnte absolut nichts dafür.«
»Da war er aber schon sechs Monate in Verzug. Und nicht zum ersten Mal. Jim, alles in allem läßt uns
Associated Steel seit 13 Monaten auf die Schienen warten.«
»Was soll ich machen? Ich bin nicht Orren Boyle.«
»Du mußt doch einsehen, daß wir nicht länger warten können.«
Taggart fragte langsam, mit einer Mischung aus Spott und Unruhe in der Stimme: »Was sagt meine
Schwester?«
»Vor morgen ist sie nicht zurück.«
»Also, was soll ich machen?«
»Das ist deine Entscheidung.«
»Sag, was du willst, aber komme mir nicht mit Rearden Steel.«
Eddie zögerte einen Moment. Dann sagte er ruhig: »In Ordnung, Jim. Ich sage nichts.«
»Orren ist ein Freund von mir.« Er hörte keine Entgegnung. »Ich finde, du hast nicht die richtige Einstellung.
Orren Boyle liefert die Schienen, sobald das menschenmöglich ist. Wenn er nicht liefern kann, kann niemand
uns dafür die Schuld in die Schuhe schieben.«
»Jim! Was redest du? Begreifst du nicht, daß die Rio-Norte-Linie zusammenbricht – egal, wer schuld daran
ist?«
»Wenn nicht Phoenix-Durango wäre, würden die Leute sich irgendwie arrangieren. Was sollten sie auch sonst
machen?« Er sah, wie Eddies Gesichtszüge sich anspannten. »Niemand hat sich jemals über die Rio-Norte-Linie
beklagt, bis Phoenix-Durango auftauchte.«
»Phoenix-Durango hat sich brillant entwickelt.«
»Willst du etwa behaupten, daß dieser Laden, der sich Phoenix-Durango nennt, mit Taggart Transcontinental
konkurrieren kann? Vor zehn Jahren war das nicht mehr als ein Molkereitank auf Schienen, der von Milchbauer
zu Milchbauer fuhr.«
»Inzwischen ist Phoenix-Durango der größte Frachtführer in Arizona, New Mexico und Colorado.« Taggart
reagierte nicht. »Jim, wir dürfen Colorado nicht verlieren. Es ist unsere letzte Hoffnung. Colorado ist für alle die
letzte Hoffnung. Wenn wir nicht in die Gänge kommen, verlieren wir da unten alle großen Frachtkunden an
Phoenix-Durango. Die Wyatt-Ölfelder haben wir schon verloren.«
»Ich begreife nicht, was alle mit den Wyatt-Ölfeldern haben.«
»Ellis Wyatt ist ein genialer…«
»Ein Scheißkerl ist er!«
Waren die Ölquellen, dachte Eddie plötzlich, nicht irgendwie ein bißchen wie die roten Adern auf der Karte
von Taggart Transcontinental? Wirkten sie nicht wie das mit einer längst unvorstellbar gewordenen Energie
geschaffene Streckennetz? Sie stießen die schwarzen Ölströme fast schneller aus, als Phoenix-Durango sie
transportieren konnte. Das Ölfeld war ein felsiges Revier in den Bergen von Colorado, das vor vielen Jahren als
erschöpft aufgegeben worden war. Der Vater von Ellis Wyatt hatte aus den versiegenden Quellen bis zu seinem
Tod einen noch gerade fürs Nötigste ausreichenden Ertrag herausgequetscht. Jetzt war es, als hätte das Herz des
Berges irgendwoher einen Adrenalin-Stoß bekommen. Das Herz hatte begonnen wieder zu pumpen. Das
schwarze Blut war durch die Felsen gebrochen. Blut, dachte Eddie Willers, es ist wirklich Blut. Blut gibt Kraft,
gibt Leben. Und genau das hatte Wyatt Oil dem Land gegeben. Es hatte öde Landstriche zum Blühen gebracht.
Es hatte neue Städte entstehen lassen, neue Kraftwerke, neue Fabriken. In einer Region, die zuvor ein weißer
Fleck auf den Landkarten gewesen war. Neue Fabriken, dachte Eddie Willers, zu einer Zeit, in der das
Frachtaufkommen aller alten Industrieregionen von Jahr zu Jahr langsam sank. Ein reiches neues Ölfeld zu einer
Zeit, in der die berühmten alten Ölfelder nach und nach aufgegeben wurden. Ein neuer Industriestaat, wo
niemand jemals etwas anderes erwartet hätte als Viehherden und Rüben. Einer hatte das zuwege gebracht. Und
in nur acht Jahren. Das, dachte Eddie Willers, war wie die Geschichten, die er in seinen Schulbüchern gelesen
und nie wirklich geglaubt hatte. Geschichten von Männern und Frauen aus den frühen Jahren. Zu gern hätte er
Ellis Wyatt einmal getroffen. Es wurde viel von ihm gesprochen. Aber nur wenige waren ihm jemals begegnet.
Er kam selten nach New York. Es hieß, er sei dreiunddreißig und aggressiv. Ihm war es irgendwie gelungen,
erschöpfte Ölquellen wieder in Betrieb zu nehmen. Und er nahm immer neue in Betrieb.
»Ellis Wyatt ist ein Profitgeier. Den interessiert nichts außer Geld«, sagte James Taggart. »Und es gibt
wichtigere Dinge im Leben, als Geld zu verdienen.«
»Was redest du, Jim? Was hat das damit zu tun, daß…«
»Außerdem hat er uns gelinkt. Wir haben die Wyatt-Ölfelder jahrelang bestens bedient. Als der alte Wyatt
noch lebte, hatte er jede Woche einen Tankzug von uns.«
»Die Zeiten des alten Wyatt sind vorbei, Jim. Phoenix-Durango fährt zweimal täglich da runter – und
pünktlich.«
»Wenn er uns Zeit gegeben hätte, uns langsam umzustellen…«
»Soll er auf uns warten?«
»Was stellt er sich vor? Daß wir alle unsere anderen Kunden seinetwegen fallen lassen? Daß wir für ihn das
ganze Land sich selbst überlassen und ihm alle unsere verfügbaren Züge schicken?«
»Wieso? Er stellt sich gar nichts vor. Er arbeitet einfach mit der Phoenix-Durango zusammen.«
»Ich halte ihn für einen gefährlichen, skrupellosen Abzocker; einen verantwortungslosen Parvenü, der weit
überschätzt wird.« Es war überraschend, die sonst so leblose Stimme von James Taggart plötzlich mit soviel
Nachdruck zu hören. »Ich bezweifle sehr, daß seine Ölfelder das Land wirklich voranbringen. Ich glaube eher,
daß er unsere Wirtschaft völlig durcheinander bringt. Niemand hätte je damit gerechnet, daß Colorado ein
Industriestaat wird. Wie sollen wir uns auf irgend etwas verlassen oder auch nur planen können, wenn alles sich
ständig ändert?«
»Mein Gott, Jim. Er…«
»Ja, ich weiß, ich weiß, er macht Profit. Aber mißt man daran den Wert eines Menschen für die Gesellschaft?
Und was sein Öl angeht, der würde doch angekrochen kommen und wie alle anderen Kunden warten, bis er an
der Reihe ist – wenn er nicht Phoenix-Durango hätte. Gegen eine derartig ruinöse Konkurrenz sind wir machtlos.
Wir können nichts dafür.«
Eddie Willers führte den Druck, den er in der Brust und in den Schläfen spürte, auf die Anstrengung zurück,
die es ihn kostete, das Problem klar zu machen, um das es ging. Und das Problem war so klar, daß James Taggart
es verstehen mußte. Aber er verstand es nicht. Eddie Willers hatte sich alle Mühe gegeben. Ohne Erfolg. Er fand
einfach nicht die richtigen Worte. So wie er sie in Diskussionen mit James Taggart nie gefunden hatte. Er konnte
sagen, was er wollte. Es war immer, als würden sie über verschiedene Dinge sprechen.
»Jim, was redest du? Es spielt doch keine Rolle, ob wir etwas dafür können, wenn die Strecke
zusammenbricht.«
James Taggart lächelte. Es war ein dünnes Lächeln. Spöttisch und kalt. »Es ist rührend, Eddie«, sagte er,
»rührend, wie du dich um Taggart Transcontinental sorgst. Wenn du nicht aufpaßt, machst du dich noch zum
Leibeigenen.«
»Bin ich es nicht schon?«
»Aber deshalb mußt du dich doch nicht auf solche Diskussionen mit mir einlassen.«
»Ich muß nicht.«
»Warum nimmst du dann nicht zur Kenntnis, daß wir Abteilungen haben, die sich um diese Dinge kümmern?
Warum gehst du nicht zu den Leuten, die dafür zuständig sind? Warum weinst du dich nicht bei meiner
Schwester aus?«
»Entschuldige, Jim, ich weiß, daß ich dir keine Vorschriften zu machen habe. Aber ich begreife einfach nicht,
was los ist. Ich weiß nicht, was die zuständigen Leute dir sagen oder warum sie dich nicht überzeugen können.
Darum dachte ich, ich versuche es selbst mal.«
»Ich weiß die Erinnerung an unsere gemeinsamen Kinderjahre zu schätzen, Eddie. Aber das gibt dir doch
nicht das Recht, hier unangekündigt reinzumarschieren, wann immer es dir in den Sinn kommt. Ich bin immerhin
der Vorstandsvorsitzende von Taggart Transcontinental. Und was bist du?«
Eddie Willers blieb unbeeindruckt. Er war nicht einmal verletzt. Höchstens überrascht. Ohne eine Miene zu
verziehen, fragte er: »Du hast also nicht vor, wegen der Rio-Norte-Linie etwas zu unternehmen?«
»Das habe ich nicht gesagt. Das habe ich mit keinem Wort gesagt.« Taggarts Augen wanderten zu der Karte,
zu der roten Streckenmarkierung südlich von El Paso. »Sobald die San-Sebastián-Gruben in Betrieb genommen
werden und unsere Strecke nach Mexiko Gewinn macht…«
»Fang nicht davon an, Jim.«
Taggart drehte sich konsterniert um. Noch nie hatte er Eddie so aufgebracht reden hören. »Was ist los?«
»Du weißt was los ist. Deine Schwester hat gesagt…«
»Es interessiert mich einen Scheißdreck, was meine Schwester gesagt hat«, fluchte James Taggart.
Eddie Willers rührte sich nicht. Er stand aufrecht vor James Taggart, mit geöffneten Augen, ohne ihn, ohne
das Büro, ohne irgend etwas zu sehen. Er antwortete nicht.
Nach einer Weile verbeugte er sich und ging hinaus.
Im Vorzimmer machte der persönliche Stab von James Taggart gerade Feierabend und löschte das Licht. Nur
Pop Harper, der Büroleiter, saß noch an seinem Schreibtisch und hackte auf den Tasten einer halb
auseinandergenommenen Schreibmaschine herum. Auf alle in der Firma wirkte Pop Harper so, als sei er genau
an dieser Stelle geboren und genau an diesem Schreibtisch und als würde er ihn für nichts in der Welt verlassen
wollen. Er war schon der Büroleiter von James Taggarts Vater gewesen.
Pop Harper sah auf, als Eddie Willers aus dem Büro des Vorstandsvorsitzenden kam. Mit einer wissenden,
langsamen Kopfbewegung. Ihm war klar, was Eddies Erscheinen bedeutete. Und daß nichts bei dem Gespräch
mit James Taggart herausgekommen war. Man sah es ihm an und – daß es ihm absolut gleichgültig war. Es war
die gleiche zynische Gleichgültigkeit, die Eddie Willers in den Augen des Penners an der Straßenecke bemerkt
hatte.
»Hast du ‘ne Ahnung Eddie, wo ich ‘n Unterhemd aus Wolle kriege?« fragte er. »Ich hab’ mir die Hacken
wund gelaufen. Aber es gibt nirgendwo welche.«
»Keine Ahnung«, sagte Eddie und blieb stehen. »Warum fragst du ausgerechnet mich?«
»Ich frage einfach jeden. Vielleicht hat irgendeiner ‘ne Idee.«
Eddie blickte mit Unbehagen auf das bleiche, ausgezehrte Gesicht und das weiße Haar.
»Was machst du da?« fragte Eddie und zeigte auf die demontierte Schreibmaschine.
»Das Mistding ist schon wieder kaputt. Und die Werkstatt kannst du vergessen. Letztes Mal haben sie drei
Monate für die Reparatur gebraucht. Ich dachte, ich versuch’s selbst mal. Aber ich hab’ die Schnauze voll.« Er
ließ seine Faust auf die Tasten fallen. »Du bist reif für die Entsorgung, Alte. Deine Tage sind gezählt.«
Eddie wandte sich zum Gehen. Es war dieser Satz, auf den er sich nicht hatte besinnen können: Deine Tage
sind gezählt. Aber er hatte vergessen, in welchem Zusammenhang.
»Es bringt nichts, Eddie«, sagte Pop Harper.
»Was bringt nichts?«
»Alles. Nichts.«
»Was ist los, Pop?«
»Ich fordere keine neue Schreibmaschine an. Die neuen sind so billige Blechdinger. Wenn es die alten nicht
mehr gibt, ist es mit dem Maschineschreiben vorbei. Heute morgen hatten wir ein U-Bahn-Unglück. Die
Bremsen hatten versagt. Du solltest nach Hause gehen, Eddie. Mach das Radio an und hör ein bißchen Musik.
Vergiß es, Junge. Dein Problem ist, daß du nie ein Hobby hattest. Irgendeiner hat bei mir im Treppenhaus wieder
die Glühbirnen geklaut. Ich habe Brustschmerzen. Ich konnte heute morgen keine Hustentropfen kriegen. Die
Apotheke bei mir an der Ecke ist letzte Woche Pleite gegangen. Die Texas Western-Eisenbahn ist letzten Monat
Pleite gegangen. Gestern haben sie die Queensborough-Brücke wegen Reparaturarbeiten gesperrt. Was soll’s?
Wer ist John Galt?«

Sie saß mit zurückgeworfenem Kopf am Zugfenster. Ein Bein hatte sie auf den leeren Sitzplatz gegenüber
gelegt. Der Fensterrahmen zitterte unter dem Tempo des Zuges. Hinter der Fensterscheibe gähnte leere
Dunkelheit. Ab und zu flackerten einzelne Lichter als leuchtende Streifen durch das Glas.
Die von dem schimmernden Strumpf unterstrichenen langen, schlanken Linien ihres Beins liefen über einen
leicht gewölbten Spann zu der Spitze eines hochhackigen Pumps. Die feminine Eleganz wirkte fehlplaziert in
dem staubigen Eisenbahnwagen und schien auch irgendwie nicht zu ihr zu passen. Sie trug einen zerbeulten
Kamelhaarmantel, der einmal viel Geld gekostet hatte, jetzt aber ihren zarten, zerbrechlichen Körper wie ein
Sack umhüllte. Der Mantelkragen war zu der heruntergezogenen Krempe ihres Huts aufgeschlagen. Dazwischen
schob sich eine Welle ihres braunen Haars bis fast auf die Schultern. Ihr Gesicht war streng. Ihren sinnlichen
Mund mit seinen scharfen Konturen hielt sie fest geschlossen. Ihre Hände steckten in den Manteltaschen. In ihrer
Haltung drückte sich eine Untätigkeit hassende Spannung aus und etwas Unweibliches, als wäre sie sich ihres
Körpers und der Tatsache, daß es der Körper einer Frau war, nicht bewußt.
Sie saß und lauschte der Musik. Es war eine Symphonie. Eine triumphale Symphonie. Die Klänge sprudelten
in die Höhe. Sie erzählten vom Aufstieg, und sie waren der Aufstieg selbst. Sie waren Wesen und Form der
aufwärts gerichteten Bewegung. Sie schienen alles menschliche Denken und Handeln zu verkörpern, das nach
Höherem strebt. Die Musik war wie die Sonne, die ein Wolkentor durchbricht. Sie vermittelte ein Gefühl von
Freiheit und von zielstrebiger Anspannung. Sie machte die Luft rein und ließ nichts zurück als die Freude an
ungehinderter Kraftentfaltung. Nur ein kaum wahrnehmbares Echo deutete an, welchem Schicksal die Musik
entronnen war. Sie erzählte mit überraschter Heiterkeit von der Entdeckung, daß es weder Häßlichkeit noch
Schmerzen gab und daß es beides nie hätte zu geben brauchen. Sie war das Lied einer durch nichts
aufzuhaltenden Erlösung.
Sie dachte: Für einen Augenblick darf man sich seinen Gefühlen ganz hingeben und alles andere vergessen.
Jetzt, dachte sie. Los! Laß’ dich mitreißen.
Irgendwo ganz weit weg hörte sie durch die Musik hindurch den Klang der Räder des Zuges. Sie klopften
einen gleichmäßigen Rhythmus. Jedes vierte Klopfen war betont, als stünde eine Absicht dahinter. Sie spürte,
wie sie sich entspannte, weil sie die Räder hörte. Sie konzentrierte sich wieder auf die Symphonie und dachte:
Das ist der Grund, warum die Räder rollen müssen. Und das ist das Ziel, auf das sie zurollen.
Sie hatte die Symphonie niemals zuvor gehört. Aber sie wußte, daß Richard Halley sie geschrieben hatte. Sie
erkannte die Dynamik und die überwältigende Intensität. Sie erkannte die stilistische Anlage des Themas. Es war
eine klare, komplexe Melodie – zu einer Zeit, wo niemand mehr Melodien schrieb… Sie sah auf zum Dach des
Waggons. Aber sie sah es nicht. Sie hatte vergessen, wo sie war. Sie wußte nicht, ob sie ein vollständiges
Symphonieorchester hörte oder ob die Orchestrierung nur aus ihrem Kopf kam.
Sie hatte das unbestimmte Gefühl, als habe sich das Thema schon in allen früheren Arbeiten Halleys
angedeutet. Durch all die Jahre seines langen Ringens hindurch bis zu dem Tag, als er – in mittlerem Alter –
plötzlich zu Ruhm gelangte und von dem Ruhm erschlagen wurde. Dies, dachte sie, während sie der Symphonie
lauschte, war das Ziel seines Ringens gewesen. Sie entsann sich unvollständiger Ansätze dazu in seiner Musik,
kürzerer und längerer Passagen, die es angekündigt hatten, einzelner Bruchstücke von Melodien, die einen
Anlauf genommen, aber nie über Annäherungen hinaus gekommen waren. Als Richard Halley diese Symphonie
schrieb, war er… Sie richtete sich abrupt auf. Wann hatte Richard Halley diese Symphonie geschrieben?
Im selben Moment wurde ihr klar, wo sie war, und zum ersten Mal fragte sie sich, woher die Musik kam.
Ein paar Schritte entfernt, am Ende des Waggons, justierte ein Techniker den Schalter der Klimaanlage. Er
war blond und jung. Er pfiff das Thema der Symphonie. Ihr wurde klar, daß er es schon eine ganze Zeit lang
gepfiffen hatte und daß das alles war, was sie gehört hatte.
Für eine Weile betrachtete sie ihn ungläubig. Dann sprach sie ihn an: »Sagen Sie bitte, was pfeifen Sie da?«
Der junge Mann drehte sich zu ihr um. Er sah ihr direkt ins Gesicht. Mit einem offenen, bewegten Lächeln,
als ob ihn eine Freundin auf etwas Vertrauliches angesprochen hätte. Sie mochte sein Gesicht. Es war straff und
fest. Es hatte nicht diesen Ausdruck schlaffen Gewebes, das sich der Verantwortung einer Form verweigert und
dessen Anblick sie in den Gesichtern der Menschen zu erwarten gelernt hatte.

»Es ist das Halley-Konzert«, antwortete er lächelnd.


»Welches?«
»Das Fünfte.«
Sie ließ einen Moment verstreichen. Dann sagte sie langsam und sehr vorsichtig: »Richard Halley hat nur vier
Konzerte geschrieben.«
Das Lächeln verschwand vom Gesicht des jungen Mannes. Es war, als wäre er wachgerüttelt worden. So wie
sie selbst wenige Augenblicke zuvor. Es war, als würde eine Jalousie nach unten knallen. Was blieb, war ein
ausdrucksloses Gesicht, unpersönlich, gleichgültig und leer.
»Ja, natürlich«, sagte er. »Sie haben recht. Ich habe mich geirrt.«
»Aber was war es dann?«
»Irgend etwas, was ich irgendwo gehört habe.«
»Was?«
»Ich weiß nicht.«
»Wo haben Sie es gehört?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Sie wußte nicht weiter. Er wandte sich, ohne weiteres Interesse zu zeigen, von ihr ab.
»Es klang wie ein Halley-Thema«, sagte sie. »Aber ich kenne alles, was er komponiert hat. Und das hat er
nicht komponiert.«
Das Gesicht des jungen Mannes war immer noch ausdruckslos, als er sich wieder umdrehte. Aber sie
entdeckte einen Hauch von Neugier. Er fragte: »Sie mögen die Musik von Richard Halley?«
»Ja«, sagte sie, »ich mag sie sehr.«
Er betrachtete sie einen Moment, so als würde er zögern. Dann wandte er sich ab. Sie verfolgte die
kompetente Sicherheit der Handgriffe, mit denen er seine Arbeit wortlos fortsetzte.
Sie hatte zwei Nächte nicht geschlafen. Aber sie konnte es sich nicht erlauben zu schlafen. Es war zu viel zu
überlegen. Und sie hatte nicht viel Zeit. Der Zug würde frühmorgens in New York eintreffen. Sie brauchte die
Zeit. Trotzdem wünschte sie, er wäre schneller. Aber es war der Taggart Comet, der schnellste Zug im ganzen
Land.
Sie versuchte, sich zu sammeln. Aber die Musik haftete in ihrem Kopf, klang in vollen Akkorden fort – wie
die unerbittlichen Schritte von etwas, das sich nicht aufhalten läßt… Sie schüttelte ärgerlich den Kopf, riß ihren
Hut herunter und zündete sich eine Zigarette an.
Sie würde nicht einschlafen, dachte sie. Sie würde bis morgen abend durchhalten. Die Zugräder klackten in
gleichmäßigem Rhythmus. Sie war so daran gewöhnt, daß sie sie bewußt gar nicht wahrnahm. Aber der Klang
gab ihr ein Gefühl von Ruhe. Als sie ihre Zigarette ausdrückte, spürte sie, daß sie noch eine brauchte. Aber sie
wollte einen Moment warten, ein paar Minuten, bis sie die nächste anzündete…
Sie war eingeschlafen und wachte ruckartig auf. Sie wußte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, bevor sie
begriff: Die Räder waren verstummt. Ihr Waggon stand geräuschlos da, schwach erhellt vom blauen Schimmer
der Nachtbeleuchtung. Sie sah auf die Uhr: Es gab keinen Grund anzuhalten. Sie sah aus dem Fenster: Der Zug
stand unbeweglich inmitten öder Felder.
Sie hörte eine Bewegung auf der anderen Seite des Ganges und fragte: »Wie lange stehen wir schon?«
Eine Männerstimme antwortete gleichgültig: »Ungefähr eine Stunde.«
Der Mann sah ihr mit schläfrigem Erstaunen hinterher, als sie plötzlich aufsprang und zur Tür eilte.
Draußen war es kalt und windig. Ein öder Landstrich unter einem öden Himmel. Sie hörte Blätter in der
Dunkelheit rascheln. Weit vorn sah sie die Konturen von Menschen, die bei der Lokomotive standen. Und über
ihnen, wie in der Luft schwebend, das rote Licht eines Signals.
Sie ging rasch auf die Gruppe zu, vorbei an der bewegungslosen Reihe von Rädern. Niemand beachtete sie,
als sie näherkam. Die Zugbesatzung und ein paar Passagiere standen zusammengedrängt unter dem roten Licht.
Ihr Gespräch war verstummt. Sie schienen mit gelassener Gleichgültigkeit zu warten.
»Was ist los?« fragte sie.
Der Lokomotivführer sah sich erstaunt um. Ihre Frage hatte etwas Forderndes. Sie klang nicht wie die
neugierige Besorgnis einer Passagierin. Sie stand vor ihm mit ihren Händen in den Taschen und
hochgeschlagenem Mantelkragen. Der Wind peitschte ihr Haarsträhnen durchs Gesicht.
»Rotes Licht«, sagte er und deutete mit dem Daumen nach oben.
»Seit wann?«
»Seit einer Stunde.«
»Sind wir auf einem Nebengleis?«
»Ja.«
»Warum?«
»Keine Ahnung.«
Der Zugführer schaltete sich ein: »Ich glaube, die Weiche war falsch gestellt. Es gab keinen Grund, uns
umzuleiten. Und das Ding hier funktioniert überhaupt nicht.« Er deutete mit dem Kopf nach oben auf das rote
Licht. »Ich glaube nicht, daß das Signal irgendwann umspringt. Das ist bestimmt kaputt.«
»Was wollen Sie jetzt machen?«
»Darauf warten, daß es umspringt.«
Während sie versuchte, ihren perplexen Ärger zu überwinden, fing der Heizer an zu kichern:
»Letzte Woche hing die Sonderverbindung zu Atlantic Southern für zwei Stunden auf einem Nebengleis.
Hatte sich einfach nur einer vertan.«
»Dies ist der Taggart Comet«, sagte sie. »Der Comet hat sich noch nie verspätet.«
»Als einziger«, sagte der Zugführer.
»Es gibt immer ein erstes Mal«, sagte der Heizer.
»Sie kennen unsere Eisenbahnen nicht, Lady«, sagte eine Passagier. »Es gibt im ganzen Land weder eine
Signalanlage noch eine Einsatzplanung, die auch nur einen Heller wert wären.«
Sie reagierte nicht. Sie fragte den Zugführer: »Da Sie wissen, daß das Signal defekt ist, was wollen Sie jetzt
machen?«
Ihn störte der Tonfall, in dem sie sprach. Mit welchem Recht beanspruchte sie ihm gegenüber so
selbstverständlich diesen Kommandoton? Sie sah wie ein Teenager aus. Nur ihr Mund und ihre Augen verrieten,
daß sie eine Frau in den Dreißigern war. Der Blick ihrer dunklen grauen Augen war von beunruhigender Schärfe.
So als würde er die Dinge zerlegen und alles Belanglose beiseite werfen. Das Gesicht kam ihm irgendwie
bekannt vor. Aber er konnte sich nicht erinnern, wo er es gesehen hatte.
»Ich möchte mich nicht aus dem Fenster lehnen«, sagte er.
»Er meint«, sagte der Heizer, »daß wir zu warten haben, bis wir Anweisungen kriegen.«
»Sie haben dafür zu sorgen, daß der Zug weiterfährt.«
»Nicht bei rotem Licht. Wenn das Licht halt sagt, dann halten wir.«
»Rotes Licht bedeutet Gefahr«, sagte ein Passagier.
»Wir gehen kein Risiko ein«, sagte der Zugführer.
»Wenn wir weiterfahren, schieben uns die Verantwortlichen nachher die Schuld in die Schuhe. Deshalb bleibt
der Zug stehen, bis wir Anweisungen kriegen.«
»Und wenn keine Anweisungen kommen?«
»Über kurz oder lang wird hier schon irgend jemand auftauchen.«
»Wie lange wollen sie darauf warten?«
Der Zugführer zuckte mit den Schultern: »Wer ist John Galt?«
»Er meint«, sagte der Heizer, »Sie sollten keine Fragen stellen, die niemand beantworten kann.«
Sie sah auf das rote Licht und das Gleis, das in die schwarze, unberührte Ferne lief.
Sie sagte: »Fahren Sie vorsichtig bis zum nächsten Signal. Wenn es in Ordnung ist, kehren Sie auf das
Hauptgleis zurück. Dann halten Sie an der ersten besetzten Station.«
»So? Wer sagt das?«
»Ich.«
»Wer sind Sie?«
Sie stutzte für einen winzigen Augenblick. Diese Frage hatte sie nicht erwartet. Der Zugführer sah sich ihr
Gesicht genauer an. Und im selben Moment, in dem sie antwortete, stöhnte er: »Oh Gott!«
Sie antwortete ohne Verärgerung, einfach wie jemand, der diese Frage nicht oft hört: »Dagny Taggart.«
»Also, ich will…«, sagte der Heizer, und dann sagte keiner mehr ein Wort.
Sie fuhr in dem gleichen Ton selbstsicherer Autorität fort: »Fahren Sie auf die Hauptlinie zurück. Und halten
Sie an der ersten besetzten Station.«
»Jawohl, Miss Taggart.«
»Sie haben einiges aufzuholen. Sehen Sie zu, daß der Comet fahrplanmäßig ankommt. Sie haben noch den
Rest der Nacht, um es zu schaffen.«
»Jawohl, Miss Taggart.«
Als sie gehen wollte, fragte der Zugführer: »Falls es Probleme gibt, übernehmen Sie die Verantwortung, Miss
Taggart?«
»Ja.«
Der Zugführer folgte ihr zu ihrem Waggon. »Sie sitzen einfach in irgendeinem Abteil?« fragte er verstört.
»Warum? Warum haben Sie uns nicht informiert?«
Sie lächelte: »Keine Zeit für Umstände. Hatte meinen Waggon in Chicago an die 22 ankoppeln lassen. Bin
aber in Cleveland ausgestiegen. Und die 22 war verspätet. Da habe ich den Waggon eben sausen lassen. Der
Comet kam als erster. Also habe ich den genommen. Es war kein Schlafwagenabteil frei.«
Der Zugführer schüttelte den Kopf: »Ihr Bruder… der hätte das nicht gemacht.«
Sie lachte: »Nein, der nicht.«
Die Männer, die neben der Lokomotive standen, sahen ihr hinterher. Einer von ihnen war der junge
Techniker. Er fragte mit einer Handbewegung in ihre Richtung: »Wer ist das?«
»Das«, sagte der Zugführer ehrfürchtig, »ist unser Boß. Sie ist die Stellvertretende Vorstandsvorsitzende und
Betriebsleiterin von Taggart Transcontinental.«
Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Das Startsignal verhallte über den Feldern. Sie saß am
Fenster und zündete sich noch eine Zigarette an. Sie dachte: Wir gehen den Bach runter. Was hier passiert ist,
kann jederzeit und überall passieren. Aber sie fühlte weder Empörung noch Besorgnis. Sie hatte keine Zeit für
Gefühle.
Dies war einfach ein weiterer Punkt, der geklärt werden mußte. Sie wußte, daß der Bezirksleiter von Ohio
eine Niete war – und ein Freund von James Taggart. Sie hatte nur deshalb nicht schon längst gefordert, ihn
rauszuschmeißen, weil sie keinen besseren hatte, mit dem sie seine Stelle besetzen konnte. Es war so unfaßlich
schwierig, gute Leute zu finden. Aber sie mußte ihn los werden, dachte sie, und sie würde Owen Kellogg den
Posten geben, dem jungen Ingenieur, der als Assistent des Leiters des Taggart Terminals in New York
hervorragende Arbeit leistete. Es war Owen Kellogg, der den Terminal schmiß. Sie verfolgte seine
Leistungsbilanz schon seit längerem. Wie ein Prospektor, der in einer wenig verheißungsvollen Gegend nach
Diamanten sucht, war sie stets auf der Suche nach jedem Auffunkeln von Befähigung. Kellogg war noch zu
jung, um ihm die Leitung eines ganzen Bezirks zu übertragen. Sie hatte ihm noch ein Jahr Zeit geben wollen.
Aber sie durfte nicht mehr warten. Sie mußte ihn sprechen, sobald sie zurück war.
Die durch das Fenster nur erahnbare Landschaft flog jetzt schneller vorbei und zerfloß zu einem grauen
Streifen. Die trockenen Überlegungen, die sie anstellte, ließen etwas Raum für ein Gefühl: Es war die
anstrengende, belebende Erwartung der zu bewältigenden Aufgaben.

Der Comet fuhr in die Tunnel des Taggart Terminals unter den Straßen von New York ein. Dagny Taggart
richtete sich spontan auf, als die Luft zu zischen begann. Sie spürte es jedes Mal, wenn der Zug in die Tiefe fuhr
– dieses Gefühl von Tätigkeitsdrang, von Hoffnung und von heimlicher Erregung. Das normale Dasein erschien
wie der verschwommene Abzug eines mißratenen Fotos konturloser Dinge. Aber dies war eine mit wenigen,
klaren Strichen ausgeführte Skizze, die die Dinge scharf umriß, ihnen Bedeutung verlieh und – sie zur
Herausforderung machte.
Sie betrachtete den vorüberfliegenden Tunnel: nackte Betonwände, ein Geflecht aus Rohren und Kabeln, ein
Netz von Gleisen, die in schwarzen Löchern verschwanden, in denen rote und grüne Lichter wie ferne
Farbkleckse leuchteten; nichts sonst, nichts, was den Eindruck verfälschen konnte. Es war die pure
Zweckmäßigkeit. Diese Zweckmäßigkeit und das geistige Potential, aus dem sie hervorgegangen war, standen
hier zur Bewunderung. Sie dachte an den Taggart-Wolkenkratzer, der sich jetzt über ihr steil in den Himmel
erhob, und sie dachte: Dies sind seine Wurzeln, hohle Wurzeln, die sich durch den Boden winden und die Stadt
mit allem Notwendigen versorgen.
Als der Zug hielt und sie ausstieg, hörte sie den Beton des Bahnsteigs unter ihren Absätzen. Sie fühlte sich
leicht, beschwingt, voller Energie. Sie machte sich mit raschen Schritten auf den Weg. So als könnte sie durch
das Tempo ihre r Schritte dem, was sie fühlte, Gestalt geben. Es dauerte einen Augenblick, bis sie merkte, daß sie
ein Musikstück pfiff – und daß es das Thema von Halleys Fünftem Konzert war.
Sie spürte, daß jemand sie anstarrte. Sie drehte sich um. Es war der junge Techniker.
Sie saß auf der Lehne des großen Sessels vor James Taggarts Schreibtisch. Ihr Mantel hing offen über ihrem
zerknitterten Reisekostüm. Eddie Willers saß auf der anderen Seite des Raums. Er machte sich Notizen. Er trug
den Titel eines Assistenten zur besonderen Verfügung des für die Betriebsleitung zuständigen Stellvertretenden
Vorstandsvorsitzenden, und es war seine Hauptaufgabe, ihr Zeitverschwendung zu ersparen. Sie rief ihn zu
Gesprächen dieser Art hinzu, um ihm hinterher nichts erklären zu müssen. James Taggart saß mit eingezogenem
Kopf hinter seinem Schreibtisch.
»Die Rio-Norte-Linie ist von einem Ende zum anderen nur noch Schrott«, sagte sie. »Es ist schlimmer, als ich
dachte. Aber wir kriegen sie wieder hin.«
»Keine Frage«, sagte James Taggart.
»Einen Teil der Strecke können wir wieder in Schuß bringen. Nicht viel und nicht für länger. Wir legen neue
Gleise in den Bergabschnitten. Wir fangen in Colorado an. Die Lieferung kommt in zwei Monaten.«
»Oh, hat Orren Boyle gesagt, daß er…«
»Ich habe die Schienen bei Rearden Steel bestellt.«
Das kaum hörbare, verschluckte Würgen war Eddie Willers unterdrückter Jubel.
James Taggart antwortete nicht sofort. »Dagny, warum setzt du dich nicht so hin, wie es sich gehört?« fragte
er schließlich gereizt. »Niemand führt so geschäftliche Besprechungen.«
»Ich ja.«
Sie wartete. Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen: »Hast du gesagt, daß du die Schienen bei Rearden
bestellt hast?«
»Gestern abend. Ich habe ihn von Cleveland aus angerufen.«
»Aber der Aufsichtsrat hat die Bestellung nicht genehmigt. Ich habe sie nicht genehmigt. Du hast mich nicht
einmal konsultiert.«
Sie griff nach einem Telefon auf seinem Schreibtisch und hielt ihm den Hörer hin: »Ruf Rearden an und
nimm die Bestellung zurück.«
James Taggart setzte sich zurück: »Das habe ich nicht gesagt«, antwortete er ärgerlich. »Das habe ich
überhaupt nicht gesagt.«
»Dann sind wir uns einig?«
»Das habe ich genauso wenig gesagt.«
Sie wandte sich um: »Eddie, laß den Vertrag mit Rearden Steel fertig machen. Jim unterschreibt ihn.« Sie zog
einen zerknitterten Zettel aus der Tasche und warf ihn Eddie zu: »Das sind die Zahlen und die Konditionen.«
Taggart sagte: »Aber der Aufsichtsrat…«
»Den Aufsichtsrat geht das überhaupt nichts an. Er hat dich vor dreizehn Monaten autorisiert, die Schienen zu
kaufen. Wo du sie kaufst, ist deine Sache.«
»Ich halte es nicht für richtig so eine Entscheidung zu treffen, ohne vorher den Aufsichtsrat zu hören. Und ich
sehe nicht ein, warum ich die Verantwortung übernehmen soll.«
»Ich übernehme sie.«
»Und die Kosten, die…«
»Rearden ist billiger als Orren Boyles Associated Steel.«
»Und was sagen wir Orren Boyle?«
»Ich habe den Vertrag gekündigt. Wir hätten ihn schon vor sechs Monaten kündigen können.«
»Wann hast du das gemacht?«
»Gestern.«
»Aber er hat mich nicht angerufen, damit ich die Kündigung bestätige.«
»Das wird er auch nicht tun.«

Taggart saß über seinen Schreibtisch gebeugt. Sie verstand nicht, was er gegen Rearden hatte und warum er so
merkwürdig ausweichend reagierte. Rearden Steel war zehn Jahre der Hauptlieferant von Taggart
Transcontinental gewesen. Von dem Tag an, an dem der erste Rearden-Hochofen in Betrieb genommen worden
war. Ihr Vater war damals noch Vorstandsvorsitzender. Zehn Jahre hatte Rearden Steel den Löwenanteil der
Schienen geliefert. Es gab nicht viele Firmen, die pünktlich und in der vereinbarten Qualität das lieferten, was
man bestellt hatte. Rearden Steel war eine von ihnen. Wenn ich verrückt wäre, dachte Dagny, müßte ich glauben,
daß mein Bruder etwas gegen Rearden hat, weil Rearden seinen Job absolut erstklassig macht. Aber sie konnte
es nicht glauben. Das lag einfach außerhalb alles menschlich Vorstellbaren.
»Das ist nicht fair«, sagte James Taggart.
»Was ist nicht fair?«
»Daß wir alle unsere Aufträge immer Rearden geben. Ich finde, daß wir auch anderen eine Chance geben
müssen. Rearden braucht uns nicht. Sein Werk ist groß genug. Wir sollten kleinen Betrieben helfen, sich zu
entwickeln. Sonst hat er bald eine Monopolstellung.«
»Rede keinen Quatsch, Jim.«
»Warum beziehen wir immer alles von Rearden?«
»Weil wir es von ihm kriegen.«
»Ich mag Henry Rearden nicht.«
»Aber ich. Im übrigen spielt das keine Rolle. Wir brauchen Schienen. Und er ist der einzige, der sie uns
liefert.«
»Wir müssen auch die menschliche Seite sehen. Aber dafür hast du keinen Sinn.«
»Es geht darum, eine Eisenbahn zu retten, Jim.«
»Ja, sicher, sicher. Trotzdem. Du hast keinen Sinn für die menschliche Seite.«
»Nein. Hab’ ich wirklich nicht.«
»Wenn wir bei Rearden soviel Stahl bestellen…«
»Keinen Stahl. Rearden Metal.«
Für gewöhnlich unterdrückte sie Gefühlsäußerungen. Doch sie konnte sich nicht beherrschen, als sie Taggarts
Gesichtsausdruck sah. Sie mußte lauthals lachen.
Rearden Metal war eine neue Legierung. Rearden hatte zehn Jahre experimentiert und sie jetzt auf den Markt
gebracht. Doch niemand wollte Rearden Metal haben. Er fand nirgendwo Kunden dafür.
Taggart hatte keine Erklärung für den Wechsel von Dagnys Gelächter zu dem kalten, harschen Ton, in dem
sie plötzlich sprach: »Laß es, Jim. Ich weiß, was du sagen willst. Noch niemand hat Rearden Metal ausprobiert.
Niemand befürwortet es. Niemand interessiert sich dafür. Niemand bestellt es. Unsere Schienen werden trotzdem
aus Rearden Metal sein.«
»Aber…«, sagte Taggart, »aber… aber noch niemand hat es ausprobiert.«
Befriedigt sah er, daß sie vor Wut verstummte. Er sah gern Gefühlsreaktionen. Sie waren wie rote Laternen,
die in dem unbekannten Dunkel der Persönlichkeit anderer die Schwachpunkte markierten. Aber wie eine
Metallegierung jemand persönlich berühren konnte, was diese Betroffenheit bedeutete, konnte er nicht
nachvollziehen. Seine Entdeckung war nutzlos für ihn.
»Unsere besten Metallurgen«, sagte er, »scheinen einvernehmlich äußerst skeptisch gegenüber Rearden Metal
zu sein. Sie sagen…«
»Laß es, Jim.«
»Gut. Wessen Meinung hast du eingeholt?«
»Ich hole keine Meinungen ein.«
»Sondern?«
»Urteile.«
»Gut. Wessen Urteil hast du eingeholt?«
»Mein eigenes.«
»Aber von wem hast du dich beraten lassen?«
»Von niemand.«
»Aber, mein Gott, was weißt du denn dann über Rearden Metal?«
»Daß es das beste ist, was es je auf dem Markt gegeben hat.«
»Warum?«
»Weil es härter und billiger ist als Stahl und weil es haltbarer ist als jedes andere Metall, das es gibt.«
»Wer sagt das?«
»Jim, ich habe das Fach studiert. Wenn ich etwas sehe, dann weiß ich, was ich sehe.«
»Und was hast du gesehen?«
»Reardens Formel und seine Testergebnisse.«
»Aber wenn Rearden Metal tatsächlich so gut wäre, dann hätte es doch irgend jemand ausprobiert. Das hat
aber niemand getan.« Er bemerkte ihren aufkommenden Ärger und sprach nervös weiter: »Wie kannst du
wissen, daß es so gut ist? Wie kannst du dir sicher sein? Wie willst du das entscheiden?«
»Irgend jemand muß es entscheiden, Jim.«
»Okay. Aber warum ausgerechnet wir? Das sehe ich nicht ein.«
»Willst du die Rio-Norte-Linie erhalten oder nicht?«
Er gab keine Antwort.
»Wenn unser Netz genug abwerfen würde, dann würde ich alle Schienen komplett durch Rearden Metal
ersetzen. Und sie müssen ersetzt werden. Sie halten alle nicht mehr lange. Aber wir können uns das nicht leisten.
Erstmal müssen wir aus diesem Schlamassel raus. Ziehen wir das jetzt durch oder nicht?«
»Wir sind immer noch die beste Eisenbahn im Land. Die anderen hinken weit hinter uns her.«
»Also machen wir gar nichts?«
»Das habe ich nicht gesagt. Warum mußt du alles immer so extrem vereinfachen? Und wenn es dir um’s Geld
geht: Warum sollten wir es für die Rio-Norte-Linie vergeuden? Phoenix-Durango hat uns da unten unser
gesamtes Geschäft kaputt gemacht. Warum, Geld ausgeben, solange wir keinen Schutz vor einem Konkurrenten
haben, der uns in die roten Zahlen treibt?«
»Weil Phoenix-Durango eine hervorragende Eisenbahn ist. Aber ich will die Rio-Norte-Linie noch besser
machen. Weil ich, wenn nötig, Phoenix-Durango fertig mache. Aber das ist nicht nötig. Colorado hat genug Platz
für zwei oder sogar drei profitable Eisenbahnen. Weil ich unser ganzes Netz verpfänden würde, um eine
Verbindung zu Ellis Wyatt zu bauen. Egal wo.«
»Ich kann den Namen Ellis Wyatt nicht mehr hören.« Es war ihm unangenehm, wie sie ihn ansah. Fest und
unbewegt.
»Ich sehe keine Veranlassung, sofort etwas zu unternehmen«, sagte er. Seine Stimme klang beleidigt. »Was
findest du bloß bei Taggart Transcontinental im Moment so alarmierend?«
»Die Konsequenzen deiner Politik, Jim.«
»Welcher Politik?«
»Das dreizehnmonatige Experiment mit Associated Steel zum Beispiel. Oder deine Pleite in Mexiko.«
»Der Aufsichtsrat hat den Vertrag mit Associated Steel gebilligt«, sagte er hastig. »Der Aufsichtsrat war
dafür, die San-Sebastián-Linie zu bauen; außerdem weiß ich nicht, warum das eine Pleite sein soll.«
»Weil die mexikanische Regierung deine Linie kurzfristig verstaatlichen wird.«
»Das ist eine Lüge.« Seine Stimme klang verzweifelt. »Das sind nur gemeine Gerüchte. Ich habe beste
Insider-Informationen, daß…«
»Zeig nicht, daß du Angst hast, Jim«, sagte sie verächtlich.
Er antwortete nicht.
»Es hat keinen Zweck, jetzt panisch zu werden«, sagte sie.
»Wir können nur versuchen, die Verluste zu begrenzen. Die Verluste werden erheblich sein. Vierzig
Millionen Dollar sind ein Schlag, von dem wir uns nicht leicht erholen werden. Aber Taggart Transcontinental
hat schon viele schwere Schläge verdaut. Ich sorge dafür, daß wir auch den verdauen.«
»Ich weigere mich, ich weigere mich absolut, auch nur an die Möglichkeit einer Verstaatlichung der San-
Sebastián-Linie zu denken.«
»Dann laß es.«
Sie schwieg. Um sich zu verteidigen, sagte er: »Ich kann nicht verstehen, warum du durchaus Ellis Wyatt eine
Chance geben willst, während du es falsch findest, einem unterentwickelten Land, das nie eine Chance gehabt
hat, zu seinem Fortschritt zu verhelfen.«
»Ellis Wyatt verlangt von niemand, daß er eine Chance bekommt. Und ich arbeite nicht, um anderen Chancen
zu geben. Ich leite eine Eisenbahngesellschaft.«
»Das scheint mir ein äußerst engherziger Standpunkt zu sein. Ich sehe nicht ein, waru m wir lieber einem
Mann als einem ganzen Land helfen wollen.«
»Ich bin nicht darauf aus, jemand zu helfen. Ich will Geld verdienen.«
»Das ist eine ganz altmodische Einstellung. Eigennützige Profitgier gehört der Vergangenheit an. Es ist
allgemein anerkannt, daß die Interessen der Gesellschaft als ganzer in jedem Geschäft den Vorrang haben
müssen, daß…«
»Wie lange willst du noch reden, Jim, um der Entscheidung auszuweichen?«
»Welcher Entscheidung?«
»Der für oder gegen Rearden Metal.«
Er antwortete nicht. Er beobachtete sie stumm. Ihr schlanker Körper, der vor Erschöpfung fast zusammenfiel,
wurde von der straffen Linie ihrer Schultern aufrecht gehalten, und ihre Schultern straffte eine bewußte
Willensanstrengung. Nur wenige Menschen mochten ihr Gesicht; das Gesicht war zu kalt, die Augen waren zu
durchdringend; nichts konnte ihrem Blick je den Charme eines weichen Ausdrucks geben. Die schönen, von der
Sessellehne herunterbaumelnden Beine, auf die sein Blick fiel, ärgerten ihn. Sie erhöhten nur seine Abneigung
gegen seine Schwester.
Da sie weiter schwieg, fragte er schließlich: »Hast du dich so mir nichts dir nichts entschlossen, die Schienen
telefonisch zu bestellen?«
»Ich habe das schon vor sechs Monaten beschlossen. Ich wartete nur darauf, daß Hank Rearden mit der
Produktion beginnen konnte.«
»Nenn ihn nicht Hank Rearden, das ist gewöhnlich.«
»Alle nennen ihn so. Schweif nicht vom Thema ab.«
»Warum mußtest du ihn gestern abend anrufen?«
»Ich konnte ihn nicht früher erreichen.«
»Warum hast du nicht bis nach deiner Rückkehr hierher gewartet und…«
»Weil ich die Rio-Norte-Linie gesehen habe.«
»Nun, ich muß mir das erst gründlich überlegen, muß die Sache dem Aufsichtsrat unterbreiten, muß mich mit
den besten Leuten besprechen…«
»Dazu ist keine Zeit mehr.«
»Du hast mir nicht die Möglichkeit gegeben, mir eine Meinung zu bilden.«
»Ich pfeife auf deine Meinung. Ich streite nicht mit dir, mit deinem Aufsichtsrat oder deinen Professoren. Du
mußt dich entscheiden, und zwar sofort. Sag ja oder nein.«
»Was für eine ungeheuerliche, anmaßende, eigenmächtige…«
»Ja oder nein?«
»Das ist eben das Schlimme bei dir. Für dich ist immer alles nur Ja oder Nein. Aber die Dinge sind nie so
absolut. Nichts ist absolut.«
»Schienen sind es. Ob wir sie nun nehmen oder nicht.« Sie wartete. Er antwortete nicht.
»Nun?« fragte sie.
»Übernimmst du die Verantwortung dafür?«
»Ja.«
»Na gut«, sagte er und fügte hinzu: »Aber auf dein eigenes Risiko. Ich werde den Auftrag nicht rückgängig
machen, aber ich kann mich nicht dafür verbürgen, was ich dem Aufsichtsrat sagen werde.«
»Sag ihm, was du willst.«
Sie erhob sich. Er beugte sich über den Schreibtisch vor. Es war ihm nicht recht, daß das Gespräch schon
enden sollte, und noch dazu mit einer solchen Entscheidung.
»Du bist dir natürlich im klaren darüber, daß es eine langwierige Geschichte wird, die Sache
durchzubringen«, sagte er in fast hoffnungsvollem Ton. »Der Aufsichtsrat wird dagegen sein.«
»Gewiß«, sagte sie. »Ich schicke dir einen genauen Bericht, den Eddie machen wird und den du dann doch
nicht liest. Eddie wird dir helfen, die Sache durchzubringen. Ich fahre heute abend nach Philadelphia, um
Rearden zu sehen. Wir haben beide viel zu tun. So einfach ist das, Jim«, fügte sie hinzu.
Sie hatte sich schon zum Gehen gewandt, als er sagte: »Ja, für dich ist das alles ganz einfach, weil du
glücklich dran bist. Andere können das nicht.«
»Was nicht?«
»Andere sind Menschen. Sie haben Gefühle. Sie opfern nicht ihr ganzes Leben Metallen und Maschinen. Du
bist glücklich dran. Du hast nie ein Gefühl gekannt, du hast nie etwas empfunden.«
Ihre dunkelgrauen Augen musterten ihn mit Befremden. Langsam ging ihr Gesichtsausdruck in
Gleichgültigkeit über. Sie wirkte schließlich nur noch gelangweilt. Aber auf eine seltsame Art, in der sich viel
mehr spiegelte als der Überdruß des Augenblicks.
»Nein, Jim«, sagte sie ruhig. »Ich glaube, ich habe nie etwas gefühlt.«
Eddie Willers folgte ihr in ihr Büro. Jedes Mal wenn sie von einer Reise zurückkam, war es ihm, als würde
die Welt wieder klar und einfach und man könnte leicht mit ihr fertig werden, und er vergaß all seine
Beklemmungen. Er war der einzige, der es ganz natürlich fand, daß sie als Frau Stellvertretende
Vorstandsvorsitzende einer großen Eisenbahn war. Mit zwölf Jahren hatte sie ihm gesagt, eines Tages würde sie
die Eisenbahn leiten. Das verwundert ihn heute ebensowenig, wie es ihn an jenem Tag in der Waldlichtung
verwundert hatte.
Als sie in ihr Büro eintraten, als er sie an ihrem Schreibtisch Platz nehmen sah und sie den Bericht überflog,
den er für sie dort hingelegt hatte, hatte er das gleiche Gefühl wie in seinem Auto, wenn der Motor ansprang und
die Räder sich zu drehen begannen.
Er wollte gerade ihr Büro wieder verlassen, als ihm etwas einfiel, was er in seinem Bericht nicht erwähnt
hatte. »Owen Kellogg hat mich gebeten, einen Termin für eine Besprechung mit dir zu verabreden.«
Sie blickte überrascht auf. »Wie komisch! Ich wollte ihn gerade kommen lassen. Laß ihn gleich rufen. Ich
möchte mit ihm sprechen. – Eddie«, fügte sie plötzlich hinzu, »ehe ich mit der Arbeit beginne, soll man mich mit
Ayers vor Ayers -Musikverlag verbinden.«
»Musikverlag?« wiederholte er ungläubig.
»Ja, ich möchte ihn nach etwas fragen.«
Als sich Mr. Ayers beflissen meldete und fragte, womit er dienen könnte, sagte sie: »Können Sie mir sagen,
ob Richard Halley ein neues Konzert, das Fünfte, komponiert hat?«
»Ein Fünftes Konzert, Miss Taggart? Nein, natürlich nicht.«
»Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher, Miss Taggart. Seit acht Jahren hat er nichts Neues mehr komponiert.«
»Lebt er noch?«
»Ja, das heißt, ganz genau weiß ich es nicht. Er hat sich aus dem öffentlichen Leben völlig zurückgezogen,
aber wir hätten gewiß davon gehört, wenn er gestorben wäre.«
»Wenn er etwas Neues komponiert hätte, würden Sie es wissen?«
»Selbstverständlich. Wir wären die ersten, die es wüßten. Wir verlegen all seine Werke, aber er hat das
Komponieren ganz aufgegeben.«
»Ach so. Ich danke Ihnen für die Auskunft.«
Als Owen Kellogg ihr Büro betrat, blickte sie ihn befriedigt an. Sie war froh, zu sehen, daß ihre flüchtige
Erinnerung an seine Erscheinung sie nicht getrogen hatte: Sein Gesicht war genauso sympathisch wie das des
jungen Technikers im Zug, es war das Gesicht eines Mannes, mit dem sie zusammenarbeiten konnte.
»Setzen Sie sich, Mr. Kellogg«, sagte sie. Aber er blieb vor ihrem Schreibtisch stehen.
»Sie hatten mich seinerzeit gebeten, es Sie wissen zu lassen, wenn ich vorhätte, meine Stellung zu wechseln.
Miss Taggart«, sagte er, »und deshalb möchte ich Ihnen nun sagen, daß ich gehe.«
Alles hatte sie erwartet, nur das nicht. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie ihn ruhig fragen konnte:
»Warum?«
»Aus einem persönlichen Grund.«
»Waren Sie hier unzufrieden?«
»Nein.«
»Haben Sie ein besseres Angebot bekommen?«
»Nein.«
»Zu welcher Eisenbahn gehen Sie?«
»Ich gehe zu keiner Bahn, Miss Taggart.«
»Wohin gehen Sie dann?«
»Darüber bin ich mir noch nicht klar.«
Sie musterte ihn mit einem leicht unbehaglichen Gefühl. Es war nichts Feindseliges in seinem Gesicht. Er sah
sie geradeheraus an und antwortete einfach und ohne Umschweife. Er sprach wie jemand, der nichts zu
verbergen und nichts zu erklären hat. Das Gesicht war höflich und leer.
»Warum wollen Sie dann gehen?«
»Es ist rein persönlich.«
»Sind Sie krank? Hat es mit Ihrer Gesundheit zu tun?«
»Nein.«
»Verlassen Sie die Stadt?«
»Nein.«
»Haben Sie Geld geerbt, das es Ihnen erlaubt, Ihren Beruf aufzugeben?«
»Nein.«
»Wollen Sie weiter arbeiten?«
»Ja.«
»Aber Sie wollen nicht länger bei Taggart Transcontinental arbeiten?«
»Nein.«
»Dann muß doch etwas vorgefallen sein, was Sie zu diesem Entschluß gebracht hat!«
»Nichts, Miss Taggart.«
»Sagen Sie’s mir bitte. Ich habe einen Grund, warum ich es wissen möchte.«
»Würden Sie mir glauben, wenn ich es Ihnen sagen würde, Miss Taggart?«
»Ja.«
»Niemand, auch nicht irgendwelche Umstände oder Vorkommnisse, haben irgendeinen Einfluß auf meine
Entscheidung gehabt.«
»Es gibt nichts Bestimmtes, was Sie bei Taggart Transcontinental stört?«
»Nichts.«
»Dann müssen Sie sich mein Angebot durch den Kopf gehen lassen.«
»Es tut mir leid, Miss Taggart, ich kann es nicht.«
»Darf ich Ihnen trotzdem sagen, woran ich gedacht habe?«
»Ja, bitte.«
»Ich wollte Ihnen eine Beförderung vorschlagen. Und das nicht erst, nachdem Sie um dieses Gespräch
gebeten haben. Es ist wichtig, daß Sie das wissen. Glauben Sie mir?«
»Ich werde Ihnen immer glauben, Miss Taggart.«
»Es geht um den Posten des Bezirksleiters von Ohio. Wenn Sie wollen, können Sie ihn haben.«
Sein Gesicht zeigte keine Reaktion, als ob die Worte für ihn genausowenig Bedeutung hätten wie für einen
Wilden, der noch nie etwas von Eisenbahnen gehört hatte.
»Ich möchte ihn nicht, Miss Taggart«, antwortete er.
Nach kurzem Schweigen sagte sie mit fester Stimme: »Sagen Sie mir, was Sie wollen, Kellogg. Nennen Sie
mir Ihren Preis. Ich möchte, daß Sie bei uns bleiben. Ich kann es mit dem Angebot jeder anderen Eisenbahn
aufnehmen.«
»Ich werde nicht bei einer anderen Eisenbahn arbeiten.«
»Ich dachte, Sie lieben Ihren Beruf.«
Es war das erste Zeichen einer inneren Bewegung in ihm: Seine Augen wurden ein wenig größer, und seine
Stimme klang seltsam ruhig und leidenschaftlich zugleich, als er antwortete: »Ich liebe ihn.«
»Dann sagen Sie mir, was ich tun soll, um Sie zu halten.«
Sie hatte das so spontan und offen gesagt, daß er sie anblickte, als ob ihn die Worte erreicht hätten.
»Vielleicht ist es unfair von mir, Miss Taggart, hierher zu kommen und Ihnen zu sagen, daß ich gehe. Ich
weiß, Sie haben mich gebeten, Ihnen meine Forderungen zu nennen, weil Sie die Möglichkeit haben wollten, mir
ein Gegenangebot zu machen. Und es sieht nun so aus, als ob ich mit Ihnen hätte handeln wollen. Aber ich bin
nur gekommen, weil ich… weil ich Ihnen gegenüber Wort halten wollte.«
Dieses kurze Stocken sagte ihr wie in einer plötzlichen Erleuchtung, wieviel ihr Interesse und ihre Bitte für
ihn bedeuteten und daß seine Entscheidung ihm nicht leichtgefallen war.
»Kellogg, gibt es nichts, was ich Ihnen anbieten kann?« fragte sie.
»Nichts, Miss Taggart, nichts auf der Welt.«
Er wandte sich zum Gehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich hilflos und geschlagen.
»Warum?« fragte sie, aber die Frage galt nicht ihm.
Er blieb stehen. Er zuckte die Achseln und lächelte. Er wurde für einen Augenblick lebendig, und es war das
seltsamste Lächeln, das sie je gesehen hatte: Es enthielt geheime Freude und Qual und unendliche Bitterkeit.
Er sagte: »Wer ist John Galt?«

II. Die Kette

Es begann mit ein paar Lichtern. Als der Taggart-Zug Philadelphia entgegenfuhr, tauchten hier und dort ein
paar helle Lichter im Dunkeln auf. Sie wirkten in der leeren Ebene zwecklos und waren doch zu stark, um keinen
Zweck zu haben. Die Reisenden beobachteten sie schläfrig, ohne jedes Interesse.
Dann erschien die schwarze Silhouette eines Baus, der sich kaum sichtbar vom Himmel abhob, und kurz
darauf ein großes Gebäude dicht an den Schienen. Das Gebäude war dunkel, und die Lichter des Zuges glitten
über die imposante Glasfront.
Ein entgegenkommender Güterzug versperrte die Aussicht, als er mit lautem Getöse vorüberfuhr. Aber dann
sahen die Reisenden über ein paar Niederbordwagen hinweg dunkle Häuser unter dem rötlichen Schein am
Himmel. Der rötliche Schein bewegte sich in unregelmäßigen Zuckungen, als würden die Häuser atmen.
Nachdem der Güterzug verschwunden war, sahen sie eckige, in spiralförmige Dampfschwaden gehüllte
Bauten. Ein paar starke Lichtstrahlen durchschnitten die Dampfspiralen. Der Dampf war so rot wie der Himmel.
Was dann kam, sah nicht wie ein Gebäude aus, sondern wie eine glühende Glasmuschel, deren rotgoldenes,
grell leuchtendes, gewaltiges Feuer ein Gitterwerk aus Stahlstreben, Kränen und Gerüsten umschloß.
Die Reisenden konnten sich kein deutliches Bild von dem Ganzen machen, das sich, ohne das ein Mensch zu
sehen war, meilenweit wie eine pulsierende Großstadt zu erstrecken schien. Sie sahen Türme, die wie verdrehte
Wolkenkratzer wirkten, Brücken, die gleichsam in der Luft schwebten, und feuerspeiende Risse in festen
Mauern. Sie sahen eine Reihe glühender Zylinder, die sich durch die Nacht bewegten. Die Zylinder waren
rotglühendes Metall.
Dicht neben den Gleisen wurde ein Bürogebäude sichtbar. Das Licht der riesigen Neonbuchstaben
REARDEN STEEL auf dem Dach fiel in die Wagen des vorüberfahrenden Zuges.
Ein Reisender, ein Professor der Volkswirtschaft, sagte zu seiner Begleitung: »Was bedeutet schon der
einzelne im Vergleich zu den gewaltigen kollektiven Leistungen unseres Industriezeitalters?« Ein anderer, ein
Journalist, notierte sich für einen Artikel, den er schreiben wollte: »Hank Rearden gehört zu den Männern, die
ihren Namen allem aufprägen, was sie berühren. Daran allein kann man erkennen, wes Geistes Kind er ist.«
Als der Zug wieder ins Dunkel hineinfuhr, schoß hinter einem langen Gebäude ein roter Feuerschein zum
Himmel auf. Die Reisenden achteten nicht darauf. Stahlproduktion gehörte nicht zu den Dingen, für die man je
ihr Interesse geweckt hätte.
Es war der erste Abstich für den ersten Auftrag auf Rearden Metal.
Für die Männer im Stahlwerk, die rings um das Stichloch des Hochofens standen, war es ein zutiefst
bewegendes Erlebnis, als das erste flüssige Metall herausquoll. Der schmale Strom, der sich durch den Raum
ergoß, war weiß wie das Sonnenlicht. Schwarzer, rotviolett gestreifter Rauch stieg hoch. Immer wieder sprühten
Funkenregen hoch – wie Blut aus einer verletzten Arterie. Die Luft war zerfetzt, spiegelte eine rasende Flamme,
die gar nicht vorhanden war, rote Flecke wirbelten durch den Raum, als hielten sie es in einem von Menschen
errichteten Bau nicht aus, als wollten sie die Säulen, die Eisenträger, die Brücke des Krans darüber verbrennen.
Aber der lange weiße Strom des flüssigen Metalls wirkte nicht reißend. Er schien weich wie Seide, strahlte
freundlich wie ein Lächeln. Er floß gehorsam durch die Tonrinne, deren erhöhte Ränder ihn in Schach hielten,
und fiel dann sechs Meter tief in eine Gießpfanne, die zweihundert Tonnen faßte. Sterne sprangen aus dem
stillen, glatten Strom auf, schwebten über ihm, zart wie Spitze und unschuldig wie brennende Wunderkerzen.
Nur wenn man genau hinblickte, erkannte man, daß die weiße Seide brodelte. Hin und wieder schwappte etwas
über den Rand und fiel auf den Boden darunter: Es war Metall, das beim Aufprall abkühlte und in Flammen
zerbarst.
Zweihundert Tonnen dieses Metalls, dessen Härte die von Stahl übertraf, waren jetzt bei einer Temperatur von
mehr als zweitausend Grad in einen glänzenden Strom verwandelt, der die Mauern des Baus und alle Männer,
die dort arbeiteten, vernichten konnte. Aber jeder Zentimeter dieses Stroms, jeder Impuls seines Drucks und
jedes seiner Moleküle wurden nach einem in zehnjähriger Arbeit vorausberechneten Plan gelenkt.
Der durch den dunklen Raum gleitende rote Schein fiel immer wieder auf das Gesicht eines Mannes, der
abseits in einer Ecke an einer Säule lehnte. Einen Augenblick lang traf der Schein seine Augen, die hellblau und
kalt wie Eis waren, dann die schwarze Metallsäule und die aschblonden Strähnen seines Haars, dann den Gürtel
seines Trenchcoats und die Taschen, in die er seine Hände vergraben hatte. Der Mann war hochgewachsen und
hager; er hatte von jeher alle rings um ihn überragt. Seine Backenknochen sprangen hervor, und er hatte ein paar
tiefe Falten; aber es waren keine Altersfalten; er hatte sie immer gehabt; durch sie hatte er schon mit zwanzig alt
ausgesehen; jetzt, mit fünfundvierzig, ließen sie ihn jünger erscheinen. Solange er sich erinnern konnte, hatte
man ihm gesagt, er habe ein häßliches Gesicht, es sei unnachgiebig, grausam und ausdruckslos. Auch jetzt, als er
das flüssige Metall beobachtete, blieb es ausdruckslos. Der Mann war Hank Rearden.
Das Metall erreichte den Rand der Gießpfanne und begann in hochmütiger Fülle überzulaufen. Dann wurden
die grellweißen Tropfen leuchtend braun, und gleich darauf erstarrten sie zu schwarzen Metallzapfen, die sofort
abbröckelten. Die Schlacke bildete dicke, braune, krustige Ränder, die der Erdrinde glichen. Als diese Kruste
dicker wurde, brachen ein paar Krater auf, in denen die weiße Flüssigkeit immer noch brodelte.
Ein Mann fuhr in der Kabine einer Laufkatze durch die Luft. Lässig zog er an einem Hebel; Stahlhaken
kamen an einer Kette herunter, erfaßten die Griffe der Gießpfanne, hoben sie hoch, als wäre sie ein Eimer voll
Milch; und die zweihundert Tonnen flüssigen Metalls schwebten durch den Raum auf eine Reihe von Formen
zu, die darauf warteten, gefüllt zu werden.
Hank Rearden lehnte sich zurück und schloß die Augen. Er spürte, wie die Säule vom Poltern der Laufkatze
erzitterte. Das Werk ist vollbracht, dachte er.
Ein Arbeiter blickte ihn an und lächelte ihm verständnisvoll zu wie ein Mitverschworener, der wußte, warum
dieser große blonde Mann heute abend hier anwesend sein mußte. Rearden erwiderte das Lächeln. Es war der
einzige Gruß, der ihm heute zuteil geworden war. Dann ging er, wieder der Mann mit dem ausdruckslosen
Gesicht, in sein Büro zurück.
Es war schon spät, als er sich an diesem Abend auf den Heimweg machte. Sein Haus lag mehrere Meilen vom
Stahlwerk entfernt auf dem Land. Ohne zu wissen, warum, hatte er das Bedürfnis, den Weg zu Fuß
zurückzulegen.
Während er ging, steckte er eine Hand in die Manteltasche, und seine Finger umschlossen ein Armband. Es
hatte die Form einer Kette und war aus Rearden Metal. Die Finger bewegten sich leise und betasteten das Metall.
Es hatte zehn Jahre gedauert, dieses Armband herzustellen. Zehn Jahre, dachte er, sind eine lange Zeit.
Die dunkle Straße war von Bäumen umsäumt. Wenn er aufblickte, konnte er im Sternenlicht ein paar Blätter
sehen; die Blätter waren welk und trocken und würden bald herunterfallen. Aus der Ferne blickten die
erleuchteten Fenster der wenigen, weit verstreuten Häuser herüber. Aber sie ließen die Straße nur noch einsamer
erscheinen.
Er kannte das Gefühl der Einsamkeit nicht, außer wenn er glücklich war. Hin und wieder drehte er sich um
und betrachtete den roten Schein am Himmel über dem Stahlwerk.
Er dachte nicht an die zehn Jahre. Was an diesem Abend von ihnen noch blieb, war nur ein namenloses,
friedliches Gefühl. Dieses Gefühl war eine Summe, und er brauchte die einzelnen Posten, die sie bildeten, nicht
noch einmal zu addieren. Dennoch waren die Posten, auch wenn er sie sich nicht ins Gedächtnis rief, in diesem
Gefühl enthalten. Es waren die Nächte, die er an glühenden Öfen im Versuchslaboratorium verbracht hatte; die
Nächte, die er in seinem Arbeitszimmer zu Hause über Papieren gesessen hatte, Zetteln, die er mit Formeln
bekritzelte, aber dann zerriß, weil die Formeln nichts taugten; die Tage, an denen die jungen Wissenschaftler des
kleinen Stabes, den er sich zur Mitarbeit ausgewählt hatte, auf Anweisungen warteten wie. Soldaten, die für eine
hoffnungslose Schlacht bereit sind, Männer, deren Erfindungskraft erschöpft war, die immer noch guten Willens
waren, aber stumm blieben, während unausgesprochen der Satz: »Mr. Rearden, es ist unmöglich…« in der Luft
schwebte; die unterbrochenen Mahlzeiten, wenn er vom Tisch aufstand, weil ihm plötzlich eine Idee kam, eine
Idee, der er nachgehen, die er ausprobieren, die er prüfen mußte und an der er monatelang arbeitete, bis er sie
schließlich als neuen Fehlschlag beiseite schob; die Augenblicke, wenn er sich, so schuldbewußt fast wie für
eine heimliche Geliebte, von Konferenzen stahl, von Vertragsabschlüssen, von den Pflichten, die ihm aus der
Leitung des besten Stahlwerks im ganzen Land erwuchsen – der eine Gedanke hatte ihn in der Spanne von zehn
Jahren nie verlassen, bei allem, was er tat, und bei allem, was er sah, der Gedanke, den er dachte, wenn er die
Gebäude einer Stadt betrachtete, die Schienen einer Eisenbahnlinie, wenn er ein erleuchtetes Fenster in einem
fernen Bauernhaus sah oder das Messer in der Hand einer schönen Frau, die bei einem Bankett eine Frucht
zerteilte, der Gedanke an eine Metallegierung, die besser sein würde als Stahl, ein Metall, das für den Stahl das
bedeuten würde, was der Stahl für das Eisen bedeutet hatte; die Selbstpeinigung, wenn er eine Hoffnung oder
eine Probe verwarf und sich nicht eingestehen wollte, daß er müde war, sich nicht die Zeit für Gefühle nahm,
sich von dem qualvollen »nicht gut genug… noch nicht gut genug…« fast erdrücken ließ, und wenn der einzige
Motor, der ihn antrieb, die Überzeugung war, daß es möglich sein mußte; dann der Tag, als es geschafft war und
das Ergebnis Rearden Metal hieß – all dies war in ihm zu Weißglut geworden, war geschmolzen und hatte sich
vermischt, und seine Legierung war ein seltsames, stilles Gefühl, das ihn fragen ließ, warum Glück weh tun
konnte.
Nach einer Weile wurde ih m bewußt, daß er an seine Vergangenheit dachte, als ob manche Tage vor ihn
hintreten und fordern würden, daß er sie sich noch einmal vor Augen führte. Aber er wollte nicht; er
verabscheute Erinnerungen. Er sah darin nur sinnlose Zeitverschwendung. Doch dann wurde ihm bewußt, daß er
an diesem Abend zu Ehren des kleinen Metallgegenstands in seiner Tasche an sie dachte. Und da gewährte er
sich einen Blick zurück.
Er erinnerte sich an den Tag, als er auf dem Felsvorsprung stand und spürte, wie der Schweiß von seiner
Schläfe zum Hals hinunterrann. Er war vierzehn Jahre alt, und es war sein erster Arbeitstag in dem
Eisenbergwerk in Minnesota. Er versuchte, trotz der stechenden Schmerzen in seiner Brust wieder atmen zu
lernen. Er stand dort und verfluchte sich, weil er es sich in den Kopf gesetzt hatte, nicht müde zu werden. Nach
einer kleinen Weile ging er an seine Arbeit zurück. Er fand, daß der Schmerz kein ausreichender Grund war
aufzugeben.
Er erinnerte sich an den Tag, als er am Fenster seines Büros stand und auf das Bergwerk hinunter sah. Es
gehörte ihm erst seit jenem Morgen. Er war dreißig Jahre alt. Auf das, was in den Jahren dazwischen geschehen
war, kam es ebensowenig an wie einst auf den Schmerz. Er hatte in Bergwerken, Eisengießereien, Stahlwerken
im Norden des Landes gearbeitet und war unbeirrt auf sein Ziel zugegangen. Das einzige, was ihm aus all diesen
Jahren im Gedächtnis haftete, war, daß die Männer, die mit ihm gearbeitet hatten, nie zu wissen schienen, was
sie eigentlich wollten, während er es stets gewußt hatte. Während er daran dachte, fragte er sich, warum so viele
Bergwerke stillgelegt wurden. Auch dieses war, ehe er es übernahm, nahe daran gewesen, seine Tore zu
schließen. Er blickte zu den Felsen in der Ferne. Arbeiter brachten über dem Tor am Ende der Straße ein neues
Firmenschild an: Rearden Ore.
Er erinnerte sich an einen Abend, als er über seinem Schreibtisch im Büro zusammengesackt war. Es war
spät. Seine Mitarbeiter waren schon gegangen. So konnte er dort unbeobachtet in dieser Stellung verharren. Er
war müde. Es war, als wäre er mit seinem eigenen Körper um die Wette gelaufen; und die Erschöpfung vieler
Jahre, die er nicht hatte wahrhaben wollen, hatte ihn plötzlich gepackt und auf den Schreibtisch geschleudert. Er
spürte nichts, er hatte nur den einen Wunsch, still liegen zu bleiben. Er hatte gar nicht die Kraft, etwas zu fühlen.
Er konnte nicht einmal leiden. Er war innerlich ausgebrannt. Er hatte so viele Funken vergeudet, um so vieles zu
beginnen – und er fragte sich, ob ihm jetzt je mand anderes den Funken geben konnte, den er brauchte, jetzt, da er
das Gefühl hatte, sich nicht mehr erheben zu können. Er fragte sich, wer ihn in Gang gesetzt und in Gang
gehalten hatte. Dann hob er den Kopf, und mit der größten Anstrengung seines Lebens zwang er seinen Körper,
sich ebenfalls so weit aufzurichten, daß er wieder gerade sitzen konnte, wobei er sich mit einer Hand an den
Schreibtisch klammerte und sein Arm zitterte. Nie wieder stellte er sich diese Frage.
Er erinnerte sich an den Tag, als er auf einem Hügel stand und auf die halbzerfallenen Gebäude blickte, die
einst ein Stahlwerk gewesen waren. Er hatte sie am Abend zuvor gekauft. Es wehte ein starker Wind, und ein
graues Licht zwängte sich zwischen den Wolken hindurch. In diesem Licht sah er den braunroten Rost, der wie
geronnenes Blut an dem Stahl der gewaltigen Kräne klebte, und das leuchtend grüne Unkraut, das alles
verschlingenden Kannibalen glich und die Berge von Glasscherben vor den einstigen Mauern überwucherte, die
jetzt nur noch leere Stahlgerippe waren. Am Tor in der Ferne sah er die Silhouetten von Männern. Es waren
Arbeitslose, die in den Elendshütten einer einst blühenden Stadt hausten. Sie blickten stumm auf den funkelnden
Wagen, den er am Eingangstor hatte stehenlassen. Sie fragten sich, ob der Mann auf dem Hügel jener Hank
Rearden war, von dem soviel geredet wurde, und ob es stimmte, daß das Werk wieder geöffnet werden sollte.
»Der historische Zyklus der Stahlproduktion in Pennsylvania nähert sich offensichtlich seinem Ende«, hatte eine
Zeitung geschrieben, »und die Fachleute sind übereinstimmend der Meinung, daß Hank Reardens neues
Stahlunternehmen von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Man wird sehr bald das sensationelle Ende des
sensationellen Hank Rearden erleben.«
Das lag jetzt zehn Jahre zurück. Der kalte Wind, den er heute abend auf seinem Gesicht spürte, war wie der
Wind an jenem Tag. Er sah sich noch einmal um. Der rote Schein über dem Stahlwerk atmete am Himmel. Es
war ein ebenso belebender Anblick wie ein Sonnenaufgang.
Dies waren die Fixpunkte seines Lebens. Er hatte sie durchflogen wie ein Schnellzug, der, kaum
angekommen, weiterfährt. Aus den dazwischen liegenden Jahren konnte er sich an nichts Bestimmtes erinnern.
Sein Tempo hatte alle Einzelheiten verwischen lassen.
Wie groß auch Mühe und Qual gewesen sein mochten, dachte er, sie hatten sich gelohnt, weil sie ihn zu
diesem Tag geführt hatten – diesem Tag, an dem zum ersten Mal und für seinen ersten Auftrag Rearden Metal
floß: Schienen für Taggart Transcontinental.
Er berührte das Armband in seiner Tasche. Er hatte es aus dem ersten Anstich von Rearden Metal anfertigen
lassen. Es war ein Geschenk für seine Frau. Als er es berührte, wurde ihm bewußt, daß er an ein abstraktes
Wesen gedacht hatte – nicht an die Frau, mit der er verheiratet war. Er fühlte einen Stich des Bedauerns. Aber
gleich darauf schämte er sich dieses Bedauerns. Er schüttelte den Kopf. Dies war nicht die Zeit für seine alten
Zweifel. Er hatte das Gefühl, er könnte jedem alles vergeben, weil Glück eine Kraft war, die einem die Unschuld
zurückgab. Er war sicher, daß jedes Lebewesen ihm heute abend wohlgesinnt war. Er wäre gern einem Fremden
begegnet, vor dem er frei und offen stehengeblieben wäre und zu dem er gesagt hätte: »Sehen Sie mich an!« Alle
Menschen, dachte er, hungerten nach dem Anblick von Freude – so wie er selbst –, um einen Augenblick lang
die graue Last des Leids abzuschütteln, das so unerklärlich und so unnötig schien. Er hatte nie begreifen können,
warum die Menschen unglücklich sein mußten.
Die dunkle Straße hatte ihn auf eine Anhöhe geführt. Er blieb stehen, um sich umzudrehen. Der rote Schein
war jetzt ein schmaler Streifen am westlichen Himmel. Darüber ragten die aus dieser Entfernung klein
wirkenden Buchstaben »Rearden Steel« in den schwarzen Himmel.
Er stand kerzengerade wie vor einem Richterstuhl. Er dachte an die anderen Schilder, die im Dunkel der
Nacht überall leuchteten: »Rearden Ore« – »Rearden Coal« – »Rearden Limestone«. Er dachte an die Tage, die
hinter ihm lagen, und er wünschte sich, darüber in Neon »Rearden Life« schreiben zu können.
Er wandte sich jäh um und ging weiter. Er merkte, daß er seine Schritte desto mehr verlangsamte, je näher er
seinem Hause kam, und daß seine gute Stimmung ihn verließ. Er empfand eine unbestimmte Abneigung
dagegen, sein Haus zu betreten, aber er wollte sie nicht spüren. Nein, dachte er, nicht heute abend; heute abend
werden sie es verstehen. Aber er wußte nicht – er hatte es sich selbst nie richtig klargemacht –, was sie verstehen
sollten.
Die Fenster im Wohnzimmer waren erleuchtet. Das Haus stand auf einem Hügel und erhob sich vor ihm wie
ein großer weißer Block. Es sah nackt aus. Der einzige Schmuck waren vier davorgestellte Säulen in einer Art
Kolonialstil. Das Haus wirkte so trostlos wie ein entblößter Körper, dem jeder Reiz abgeht.
Er war nicht sicher, ob seine Frau ihn bemerkte, als er das Wohnzimmer betrat. Sie saß in ein Gespräch
verwickelt am Kamin. Was sie sagte, unterstrich sie mit schwungvollen Gesten. Er nahm ein leichtes Schwanken
in ihrer Stimme wahr und glaubte, sie habe ihn gesehen. Aber er war sich nicht sicher. Sie blickte nicht zu ihm
herüber und sprach ruhig weiter.
»…aber, das ist es ja gerade, daß die angeblichen Wunder der Technik einen Mann von Kultur langweilen; er
will sich von Abflußrohren einfach nicht begeistern lassen.«
Dann wandte sie sich Rearden zu. Er stand am anderen Ende des Zimmers. Sie sah ihn an und breitete ihre
Arme wie zwei Schwanenhälse aus.
»Ach, Liebling«, rief sie ausgelassen, »kommst du nicht zu früh nach Haus? Gab es nicht noch Asche, die du
wegfegen, oder Röhren, die du polieren mußtest?«
Sie blickten alle zu ihm hinüber – seine Mutter, sein Bruder Philip und Paul Larkin, ihr alter Freund.
»Es tut mir leid«, sagte er, »ich weiß, ich komme sehr spät.«
»Behaupte nicht, daß es dir leid tut«, sagte seine Mutter. »Du hättest wenigstens anrufen können.« Er sah sie
an und versuchte, sich zu erinnern.
»Du hattest versprochen, heute zum Abendessen hier zu sein.«
»Ach, ja, das hatte ich. Es tut mir leid. Aber heute haben wir im Stahlwerk…«
Er verstummte. Er wußte nicht, warum er das nicht aussprechen konnte, was zu sagen er nach Hause
gekommen war, und fügte nur hinzu: »Ich… ich habe es einfach vergessen.«
»Das meint Mutter ja«, sagte Philip.
»Ach, laß ihn erst mal zu sich kommen. Er ist noch gar nicht ganz hier; er ist immer noch im Stahlwerk«,
sagte seine Frau vergnügt. »Leg deinen Mantel ab, Henry.«
Paul Larkin blickte ihn mit unterwürfigen Hundeaugen an. »Tag, Paul«, sagte Rearden. »Seit wann bist du
denn hier?«
»Ich bin mit dem Fünf-Uhr-Fünfunddreißig von New York gekommen.« Larkin lächelte dankbar, weil
Rearden ihn bemerkt hatte.
»Ärger?«
»Wer hat heutzutage keinen Ärger?« antwortete er mit resigniertem Lächeln, um anzudeuten, daß das nur eine
Floskel war. »Nein, es ist nichts. Ich dachte, ich schau einfach mal vorbei.«
Seine Frau lachte. »Du hast ihn enttäuscht, Paul.« Sie wandte sich an Rearden: »Ist das jetzt ein
Minderwertigkeits- oder ein Überlegenheitskomplex, Henry? Glaubst du, daß niemand dich nur um deiner selbst
willen sehen möchte? Oder glaubst du, daß niemand ohne deine Hilfe auskommt?«
Er wollte eine ärgerliche Antwort geben, aber weil er sah, daß seine Frau lächelte, als hätte sie nur einen
Scherz gemacht, sagte er nichts: Er hatte keinen Sinn für diese Art von Scherzen. Er blickte sie an und dachte:
Was soll das nur?
Lillian Rearden galt allgemein als schöne Frau. Sie war hochgewachsen und hatte eine elegante Figur, deren
Reiz durch die hohe Taille der von ihr vorzugsweise getragenen Kleider im Stil des Empire unterstrichen wurde.
Ihr feines Profil war das einer Kamee derselben Epoche. Die reinen, stolzen Linien und die glänzenden
hellbraunen Wellen ihres Haars, das sie klassisch-schlicht trug, vermittelten den Eindruck vornehmer Strenge.
Aber sobald sie jemand ihr Gesicht voll zuwandte, war es eine einzige Enttäuschung. Das Gesicht war nicht
schön. Es lag an den Augen. Sie waren blaß und wässerig, weder grau noch braun, leer und ausdruckslos.
Rearden hatte sich oft gefragt, warum ihr Gesicht nichts Fröhliches hatte, obwohl sie doch so gerne scherzte.
»Wir sind uns schon einmal begegnet«, sagte sie als Antwort auf seinen forschenden Blick, »aber du scheinst
dir im Zweifel zu sein.«
»Hast du zu Abend gegessen, Henry?« fragte seine Mutter. Ein vorwurfsvoll ungeduldiger Ton schwang in
ihrer Stimme mit, als ob sein Hunger eine persönliche Beleidigung für sie wäre.
»Ja… nein… ich hatte keinen Hunger.«
»Dann werde ich klingeln, damit man dir…«
»Nein, Mutter, bitte, nicht jetzt. Es spielt wirklich keine Rolle.«
»Das ist der Ärger, den ich von jeher mit dir gehabt habe.« Sie sah ihn nicht an; sie sprach gleichsam ins
Leere. »Es hat gar keinen Zweck zu versuchen, etwas für dich zu tun. Du erkennst es doch nicht an. Ich habe
dich nie dazu bringen können, daß du richtig ißt.«
»Henry, du arbeitest zuviel«, sagte Philip. »Das ist nicht gut für dich.«
Rearden lachte. »Mir macht es Spaß.«
»Das redest du dir nur ein. Es ist eine Art Neurose, weißt du. Wenn ein Mann sich so in die Arbeit stürzt,
dann versucht er, vor irgend etwas zu fliehen. Du brauchst ein Hobby.«
»Mein Gott, Phil«, sagte er und bereute im selben Augenblick den ärgerlichen Ton in seiner Stimme.
Philip war immer kränklich gewesen, ohne daß die Ärzte je eine konkrete Ursache seiner schwachen
Konstitution hatten finden können. Er war jetzt achtunddreißig, aber seine chronische Energielosigkeit ließ ihn
älter erscheinen als seinen Bruder.
»Du mußt lernen, Spaß zu haben«, sagte Philip. »Sonst wirst du langweilig und engstirnig. Eingleisig. Du
mußt mal raus aus deinem Schneckenhaus und dir die Welt ansehen. Du kannst doch nicht ewig so
weitermachen wie jetzt. Du mußt doch auch mal leben.«
Gegen seinen Ärger ankämpfend sagte sich Rearden, daß dies Philips Art war, Anteil zu nehmen. Er dachte,
es sei unrecht, sich darüber zu entrüsten. Sie alle bemühten sich, ihm ihre Fürsorge zu zeigen – nur hätte er
gewünscht, sie täten es auf andere Weise.
»Ich hatte heute einen phantastischen Tag, Phil«, antwortete er und wunderte sich, daß Philip nicht fragte:
»Was hast du gemacht?«
Er hoffte, einer von ihnen würde ihn danach fragen. Es wurde ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er sah
immer noch den Strom des flüssigen Metalls vor sich, er konnte an nichts anderes denken.
»Du hättest dich wenigstens entschuldigen können. Aber ich müßte langsam wissen, daß man das nicht von
dir erwarten darf«, sagte seine Mutter. Er wandte sich ihr zu. Sie sah ihn mit jenem verletzten Blick an, aus dem
die hart geprüfte Geduld des Wehrlosen spricht.
»Mrs. Beecham war zum Essen hier«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Wer?«
»Mrs. Beecham. Meine Freundin Mrs. Beecham.«
»Und?«
»Ich habe dir von ihr erzählt, ich habe dir oft von ihr erzählt, aber du behältst nie etwas von dem, was ich dir
sage. Mrs . Beecham lag sehr viel daran, dich kennenzulernen, aber sie mußte nach dem Essen gehen. Sie konnte
nicht warten. Sie ist eine sehr beschäftigte Frau. Sie wollte dir von unserer wundervollen Arbeit in der
Gemeindeschule berichten, von unserem Schmiedekurs und den schönen schmiedeeisernen Türklinken, die die
kleinen Kinder aus den Slums ganz allein anfertigen.«
Er mußte all seine Kraft zusammennehmen, um ruhig zu antworten: »Es tut mir leid, Mutter, daß ich dich
enttäuscht habe.«
»Es tut dir gar nicht leid. Du hättest hier sein können, wenn du es gewollt hättest. Aber wann hast du dich je
bemüht, für irgend jemand etwas zu tun außer für dich selbst? Du interessierst dich weder für einen von uns noch
für das, was wir tun. Du denkst, es genügt, wenn du unsere Rechnungen bezahlst. Geld! Etwas anderes kennst du
nicht. Und das einzige, was du uns gibst, ist Geld. Hast du uns je etwas von deiner Zeit geopfert?«
Wenn das bedeutete, daß sie ihn vermißte, dachte er, dann bedeutete es Liebe, und wenn es Liebe bedeutete,
dann war das finstere Gefühl ungerecht, das ihn zwang zu schweigen, damit seine Stimme nicht verriet, daß
dieses Gefühl Ekel war.
»Dir ist das alles gleich«, fuhr seine Mutter in einem halb giftigen, halb bittenden Ton fort. »Lillian brauchte
dich heute so dringend, weil sie ein wichtiges Problem hat. Aber ich habe ihr gleich gesagt, es hätte keinen Sinn,
auf dich zu warten und es mit dir zu besprechen.«
»Ach, Mutter, so wichtig ist es ja gar nicht«, sagte Lillian, »wenigstens nicht für Henry.«
Er wandte sich zu ihr um. Er stand in der Mitte des Zimmers, immer noch in seinem Regenmantel, als wäre er
in einer Unwirklichkeit gefangen, die für ihn nicht zur Wirklichkeit werden wollte.
»Es ist überhaupt nicht wichtig«, sagte Lillian fröhlich.
Er konnte nicht entscheiden, ob ihre Stimme verständnisheischend oder herausfordernd klang. »Nichts
Geschäftliches. Etwas durch und durch Nicht-Kommerzielles.«
»Was ist es denn?«
»Es ist eine Party, die ich geben möchte.«
»Eine Party?«
»Ach, mach nicht so ein erschrecktes Gesicht. Sie soll nicht schon morgen stattfinden – ich weiß, daß du sehr
beschäftigt bist –, sondern in drei Monaten, und sie soll etwas ganz Besonderes werden. Darum möchte ich, daß
du mir versprichst, an dem Abend hier zu sein. Und nicht in Minnesota oder in Colorado oder in Kalifornien.«
Sie sah ihn seltsam an. Der Tonfall, in dem sie sprach, war gleichzeitig übertrieben locker und übertrieben
nachdrücklich. Und sie lächelte so betont unschuldig, daß man annehmen mußte, sie halte noch einen
verborgenen Trumpf in der Hand.
»In drei Monaten?« sagte er. »Aber du weißt doch, daß ich nicht schon heute sagen kann, ob ich nicht gerade
an dem Tag dringend geschäftlich verreisen muß.«
»Ja, ich weiß. Aber könnte ich nicht eine förmliche Verabredung mit dir treffen – so wie jeder
Eisenbahndirektor oder Automobilfabrikant oder Schrotthändler? Es heißt, du hältst deine Verabredungen stets
ein. Natürlich kannst du das Datum bestimmen, das dir am besten paßt.« Sie sah mit leicht gesenktem Kopf zu
ihm auf. Ihr Blick gewann dadurch einen besonders femininen Charme. Sie fragte, ein wenig zu vorsichtig, ein
wenig zu beiläufig: »Ich hatte an den zehnten Dezember gedacht, oder würde dir der neunte oder elfte lieber
sein?«
»Das ist mir ganz gleich.«
Leise sagte sie: »Der zehnte Dezember ist unser Hochzeitstag, Henry.« Sie beobachteten alle sein Gesicht.
Vielleicht hatten sie erwartet, daß es Schuldbewußtsein verriet. Aber statt dessen sahen sie ein amüsiertes
Lächeln. Das konnte keine Falle sein, dachte er. Sie war allzu leicht zu umgehen. Es genügte, daß er seine Frau
einfach stehen ließ und sich weigerte, sich Vorwürfe für seine Vergeßlichkeit anzuhören. Sie wußte, daß seine
Gefühle für sie ihre einzige Waffe waren. Ihr Motiv, dachte er, war der indirekte Versuch, sich seiner Gefühle zu
vergewissern und sich zu ihren eigenen zu bekennen. Für ihn war eine Party nicht die Form, wie man einen
Hochzeitstag feierte, aber für sie. Für ihn bedeutete eine Party nichts, für sie war sie der schönste Tribut, den sie
ihm und ihrer Ehe zollen konnte. Er mußte ihre Absicht respektieren, selbst wenn er andere Maßstäbe hatte,
selbst wenn er nicht einmal wußte, ob ihm noch an einem Tribut von ihr lag. Er mußte sie gewinnen lassen,
dachte er, da sie sich ihm auf Gnade und Ungnade ausgeliefert hatte.
Er lächelte. Es war ein offenes, freundliches Lächeln, mit dem er sich geschlagen gab. »Schön, Lillian«, sagte
er leise, »ich verspreche dir, am Abend des zehnten Dezember hier zu sein.«
»Ich danke dir.« Ihr Lächeln hatte etwas Verschlossenes und Geheimnisvolles, und er fragte sich, warum er
einen Augenblick lang den Eindruck hatte, seine Haltung habe sie enttäuscht.
Wenn sie ihm vertraute, dachte er, wenn ihre Gefühle für ihn noch lebendig waren, dann mußte er ihr das
gleiche Vertrauen entgegenbringen. Er mußte es jetzt sagen. Worte sind dazu da, das, was einen bewegt,
auszudrücken. Er konnte sie an diesem Abend für nichts anderes gebrauchen. »Es tut mir leid, Lillian, daß ich so
spät nach Hause gekommen bin, aber wir haben im Stahlwerk heute das erste Rearden Metal gegossen.«
Einen Augenblick schwiegen alle, dann sagte Philip: »Das ist aber schön.«
Die anderen blieben stumm.
Er griff mit der Hand in die Tasche. Als er das Armband berührte, versank alles andere um ihn herum. Ihm
war jetzt genauso zumute wie in jenem Augenblick, in dem sich das flüssige Metall vor ihm durch den Raum
ergossen hatte.
»Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht, Lillian.«
Er bemerkte nicht, daß er sich reckte und daß seine Gebärde die eines heimkehrenden Kreuzfahrers war, der
seiner Geliebten seine Siegestrophäe überreicht, als er die kleine Metallkette in ihren Schoß fallen ließ.
Lillian Rearden nahm sie in die Hand, wand sie um die Spitzen zweier Finger und hob sie ins Licht. Die
Glieder waren schwer und grob, und das glänzende Metall hatte eine seltsame Farbe. Es war grünlich-blau.
»Was ist das?« fragte sie.
»Das ist das erste, was aus dem ersten Abstich für den ersten Auftrag auf Rearden Metal angefertigt worden
ist.«
»Willst du damit sagen«, fragte sie, »daß es den gleichen Wert hat wie ein Stück Eisenbahnschiene?«
Er sah sie verständnislos an.
Sie drehte die Kette im Kreis, so daß sie im Licht funkelte. »Henry, das ist ja wundervoll! Wie originell! Ich
werde die Sensation von New York sein, wenn ich Schmuckstücke trage, die aus dem gleichen Metall sind wie
Brückenträger, Lastwagenmotoren, Küchenöfen, Schreibmaschinen und – was war es noch, was du neulich
sagtest? – Suppentöpfe.«
»Lieber Himmel, Henry, wie eitel du doch bist!« sagte Philip.
Lillian lachte. »Er ist sentimental. Alle Männer sind sentimental. Aber, Liebling, ich danke dir. Es ist nicht
das Geschenk, es ist die Absicht, die ich zu schätzen weiß.«
»Die Absicht ist purer Eigennutz, wenn du mich fragst«, sagte die Mutter. »Jeder andere Mann würde ein
Brillantarmband mitbringen, wenn er seiner Frau ein Geschenk machen will, weil er ihr und nicht sich selbst eine
Freude machen möchte. Aber Henry denkt, weil er eine neue Art Blech herstellt, muß es für jeden kostbarer als
Brillanten sein, eben weil es seine Erfindung ist. So war er schon, als er fünf Jahre alt war – das eitelste Kind,
das ich je gesehen habe –, und ich wußte damals bereits, daß er das eigennützigste Wesen auf Gottes Erde
werden würde…«
»Nein, es ist reizend«, sagte Lillian. »Es ist entzückend.«
Sie ließ das Armband auf den Tisch fallen. Dann stand sie auf, legte ihre Hände auf Reardens Schultern,
stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf die Wange, wobei sie sagte: »Ich danke dir.«
Er rührte sich nicht, er beugte den Kopf nicht zu ihr hinunter.
Nach einer Weile zog er seinen Mantel aus, drehte sich um und setzte sich allein an den Kamin. Er spürte
nichts außer einer großen Erschöpfung.
Er achtete nicht auf das, was sie sprachen. Aber er bekam mit, daß Lillian mit seiner Mutter stritt und ihn
verteidigte.
»Ich kenne ihn besser als du«, sagte die Mutter. »Hank Rearden interessiert sich weder für Menschen noch
Tiere noch Pflanzen, es sei denn, sie sind auf irgendeine Weise mit ihm und seiner Arbeit verbunden! Nur aus ihr
macht er sich etwas. Ich habe alles versucht, um ihn ein wenig Demut zu lehren. Ich habe es mein Leben lang
versucht, aber es ist mir nicht gelungen.«
Er hatte seiner Mutter unbegrenzte Geldmittel angeboten, damit sie leben konnte, wo sie wollte und wie es ihr
gefiel. Er wunderte sich, daß sie darauf bestanden hatte, bei ihm zu leben. Sein Erfolg, dachte er, bedeutete etwas
für sie, und wenn er ihr etwas bedeutete, dann war es ein Band zwischen ihnen, das einzige Band, das er
anerkannte; wenn sie im Haus ihres erfolgreichen Sohnes leben wollte, dann würde er es ihr nicht verwehren.
»Es hat keinen Zweck zu hoffen, daß man einen Heiligen aus Henry machen kann, Mutter«, sagte Philip. »Er
hat es nun einmal nicht werden sollen.«
»Ach, Philip, da irrst du«, sagte Lillian, »da irrst du dich sehr. Henry hat alle Voraussetzungen für einen
Heiligen. Das ist gerade das Schlimme.«
Was wollten sie von ihm? dachte Rearden. Worauf waren sie aus? Er hatte nie etwas von ihnen erbeten; sie
wollten ihn festhalten; sie behaupteten, einen Anspruch auf ihn zu haben – und dieser Anspruch schien eine Art
von Liebe zu sein, aber es war eine Art, die er schwerer ertragen konnte als jede Art von Haß. Er verachtete
grundlose Liebe genauso, wie er nicht selbstverdienten Reichtum verachtete. Sie behaupteten, ihn aus einem
nicht benennbaren Grund zu lieben, und ignorierten absolut alles, wofür er Liebe hätte erwarten können! Er
fragte sich, welche Reaktion darauf sie von ihm erhofften – falls sie überhaupt wollten, daß er reagierte. Aber
wie sollte es anders sein? dachte er; was sollten sonst die ewigen Klagen, die unaufhörlichen Beschuldigungen,
er sei so gleichgültig? Warum setzten sie sonst stets diese argwöhnische Miene auf, als warteten sie darauf,
gekränkt zu werden? Er hatte nie das Verlangen verspürt, sie zu kränken, und doch fühlte er immer ihre
vorwurfsvolle, abwehrende Erwartung; alles, was er sagte, schien sie zu verletzen; es kam dabei nicht darauf an,
was er sagte oder tat; es war fast… fast, als verletzte sie allein die Tatsache, daß er existierte.
»Fang nicht an, dir Verrücktheiten einzubilden«, sagte er sich streng, bemüht, dem Rätsel mit der striktesten
Auslegung seines konsequenten Gerechtigkeitssinns zu begegnen. Er konnte sie nicht verurteilen, ohne sie zu
verstehen. Und er verstand sie nicht.
Liebte er sie? Nein, dachte er; er hatte sie lieben wollen, aber das war nicht das gleiche. Er hatte sie im Namen
eines vage erahnten Potentials lieben wollen, das er einmal in jedem menschlichen Wesen zu entdecken erwartet
hatte. Er empfand jetzt nichts mehr für sie außer einer gnadenlosen Gleichgültigkeit, er empfand nicht einmal
Bedauern. Brauchte er jemand als Teil seines Lebens? Vermißte er das Gefühl, das er hatte empfinden wollen?
Nein, dachte er. Hatte er es je vermißt? Ja, dachte er, in seiner Jugend; aber dann nicht mehr.
Seine Erschöpfung wurde immer größer; er bemerkte, daß der Grund Langeweile war. Er mußte sie vor ihnen
verbergen, diese Höflichkeit war er ihnen schuldig – und er saß reglos da und kämpfte gegen sein
Schlafbedürfnis an, das sich allmählich in einen körperlichen Schmerz verwandelte.
Er schloß die Augen, als er spürte, wie zwei weiche, feuchte Finger seine Hand berührten: Paul Larkin hatte
sich neben ihn gesetzt und beugte sich vor, um sich mit ihm zu unterhalten.
»Es ist mir gleich, was die Industriellen darüber sagen, Hank, Rearden Metal ist ein großartiges Produkt,
wirklich großartig, du wirst ein Vermögen damit verdienen wie mit allem, was du anfängst.«
»Ja«, sagte Rearden, »das werde ich.«
»Ich hoffe nur… ich hoffe, du bekommst keine Schwierigkeiten.«
»Was für Schwierigkeiten?«
»Ach, ich weiß nicht… so wie die Dinge heute liegen… es gibt Menschen, die… wie soll ich es sagen… es
kann so vieles geschehen…«
»Was für Schwierigkeiten?«
Larkin saß da, als hätte er einen Buckel, und blickte Hank mit seinen sanften, bittenden Augen an. Seine
gedrungene, plumpe Gestalt wirkte stets unbeschützt und unvollkommen, als ob er eine Art Schneckenhaus
brauchte, in das er sich bei der leisesten Berührung verkriechen konnte. Seine schmachtenden Augen und sein
verlorenes, hilfloses, bittendes Lächeln waren entwaffnend wie das eines Knaben, der sich auf Gnade und
Ungnade einer unbegreiflichen Welt ausgeliefert hat. Er war jetzt dreiundfünfzig Jahre alt.
»Deine PR ist schwach, Hank«, sagte er. »Du hast immer eine schlechte Presse.«
»Na und?«
»Du bist nicht beliebt.«
»Ich habe noch keine Klagen von meinen Kunden gehört.«
»Das meine ich nicht. Du müßtest einen guten Pressechef anstellen, der dich der Öffentlichkeit verkauft.«
»Wozu? Ich verkaufe Stahl.«
»Aber du willst doch nicht, daß die Öffentlichkeit gegen dich ist? Die öffentliche Meinung kann ein wichtiger
Faktor sein.«
»Ich glaube nicht, daß die Öffentlichkeit gegen mich ist. Aber ich glaube, daß das, so oder so, nicht die
geringste Bedeutung hat.«
»Die Zeitungen sind gegen dich.«
»Sie können ihre Zeit verschwenden. Ich kann es nicht.«
»Ich mag das gar nicht, Hank. Es ist nicht gut.«
»Was?«
»Das, was sie von dir schreiben.«
»Was schreiben sie denn?«
»Das weißt du doch genau. Daß man mit dir nicht reden kann, daß du rücksichtslos bist, daß du dein
Stahlwerk autokratisch führst und nicht die geringste Mitbestimmung zuläßt, daß es dein einziges Ziel ist, Stahl
und Geld zu machen.«
»Aber das ist mein einziges Ziel.«
»Das brauchst du deshalb noch lange nicht an die große Glocke zu hängen.«
»Warum nicht? Was soll ich denn sagen?«
»Das weiß ich auch nicht… aber dein Stahlwerk…«
»Es ist immer noch mein Stahlwerk, oder nicht?«
»Ja, aber du solltest die Leute nicht so laut daran erinnern. Du weißt doch, wie das heute ist… Sie finden
deine Einstellung unsozial…«
»Es ist mir völlig schnuppe was sie finden.«
Paul Larkin seufzte.
»Was ist los, Paul? Worauf willst du hinaus?«
»Auf nichts… auf nichts Besonderes. Man weiß nur nie, was in Zeiten wie diesen geschehen kann… Man
muß vorsichtig sein…«
Rearden lachte. »Du willst dir doch wohl nicht etwa meinetwegen Sorgen machen?«
»Ich bin schließlich dein Freund, Hank. Ich bin dein Freund. Und du weißt, wie sehr ich dich bewundere.«
Paul Larkin hatte immer Pech gehabt. Nichts, was er anfing, brachte ihm wirklich Erfolg; es mißlang zwar
nicht, aber es glückte auch nie. Er war Geschäftsmann, doch hielt er es meist nicht lange in einer Branche aus.
Zur Zeit mühte er sich mit einer bescheidenen Fabrik ab, die Grubengerät herstellte.
Seit Jahren schon hing er in ehrfürchtiger Bewunderung an Rearden. Er holte sich bei ihm Rat, er bat ihn um
Anleihen, doch nicht oft; die Anleihen waren nicht groß, und er zahlte sie stets zurück, wenn auch nicht immer
zum vereinbarten Termin. Der Grund für seine Anhänglichkeit schien dem Bedürfnis eines blutarmen Menschen
vergleichbar, der vom bloßen Anblick überströmender Vitalität eine Art Lebenstransfusion empfängt.
Wenn Rearden Larkin bei seinen Bemühungen beobachtete, kam es ihm vor, als würde er einer Ameise
zusehen, die sich mit der Last eines Streichholzes abplagt. Es ist so schwer für ihn, dachte Rearden, und so leicht
für mich. Darum gab er ihm Ratschläge, schenkte ihm Beachtung und schenkte ihm taktvolles, geduldiges
Interesse, sobald sich die Gelegenheit bot.
»Ich bin dein Freund, Hank.«
Rearden sah ihn forschend an.
Larkin blickte weg, als würde er in seinem Inneren einen Kampf ausfechten. Nach einer Weile fragte er
behutsam: »Wie ist dein Mann in Washington?«
»Okay, nehme ich an.«
»Du mußt dessen sicher sein. Es ist wichtig.« Er sah zu Rearden auf und wiederholte mit mühsamer
Beharrlichkeit, als entledigte er sich einer peinvollen moralischen Pflicht: » Hank, es ist sehr wichtig.«
»Wahrscheinlich.«
»Vor allem, um dir das zu sagen, bin ich heute hergekommen.«
»Gibt es einen besonderen Grund?«
Larkin überlegte einen Augenblick lang, fand dann, daß er seiner Pflicht Genüge getan hatte und sagte:
»Nein.«
Rearden schätzte das Thema nicht. Er wußte, daß es nötig war, einen Mann in Washington zu haben, der
einen vor der Regierung schützte. Alle Industriellen mußten solche Lobbyisten anstellen. Aber diesem Aspekt
seiner Arbeit hatte er nie viel Aufmerksamkeit geschenkt; er konnte sich einfach nicht davon überzeugen, daß er
wichtig war. Eine unerklärliche Abscheu, die teils seinem Anspruch, teils seinem Desinteresse entsprang, machte
es ihm unmöglich, sich ernsthaft damit auseinander zu setzen.
»Das Schlimme ist,«, sagte er laut denkend, »daß die Männer, die man für diese Aufgabe bekommt, so wenig
taugen.«
Larkin blickte weg. »So ist das Leben«, sagte er.
»Verdammt noch mal, warum? Kannst du es mir sagen? Was ist los mit dieser Welt?«
Larkin zuckte traurig die Schultern. »Warum nutzlose Fragen stellen? Wie tief ist der Ozean? Wie hoch ist der
Himmel? Wer ist John Galt?«
Rearden setzte sich aufrecht. »Nein«, sagte er scharf. »Nein, es gibt keinen Grund für so eine Einstellung.«
Er stand auf. Während er über seine Arbeit gesprochen hatte, war seine Erschöpfung verflogen. Er fühlte eine
plötzliche Auflehnung, das Verlangen, seine eigene Lebensanschauung zurückzugewinnen und trotzig zu
verteidigen, das Gefühl, das er heute abend auf seinem Heimweg empfunden hatte und das jetzt auf eine
seltsame Art bedroht zu sein schien.
Er ging im Zimmer auf und ab, und seine Energie kehrte zurück. Er betrachtete seine Familie. Es waren
verängstigte, unglückliche Kinder, dachte er, sie alle, selbst seine Mutter, und es war töricht von ihm, sich über
ihre albernen Bemerkungen zu ärgern; in ihnen spiegelte sich ihre Hilflosigkeit, aber keine Bosheit. Er war es,
der lernen mußte, sie zu verstehen, da er so vieles zu geben hatte, während sie niemals sein freudiges Gefühl
unbegrenzter Energie teilen konnten.
Er blickte von neuem zu ihnen hinüber. Seine Mutter und Philip unterhielten sich eifrig. Aber dann bemerkte
er, daß sie nicht wirklich eifrig, sondern nervös waren. Philip saß in einem niedrigen Sessel, er hatte den Bauch
vorgestreckt, die ganze Last seines Körpers ruhte auf seinen Schulterblättern, als wollte er mit dieser
unbequemen Haltung jeden bestrafen, dessen Blick auf ihn fiel.
»Was hast du, Phil?« fragte Rearden. »Du siehst so müde aus.«
»Ich habe einen schweren Tag hinter mir«, antwortete Philip mürrisch.
»Hank, du bist nicht der einzige, der schwer arbeitet«, sagte seine Mutter. »Auch andere haben ihre Probleme
– selbst wenn es nicht um Milliarden Dollar geht oder um transsuperkontinentale Probleme wie bei dir.«
»Das hör’ ich gern. Ich habe immer gehofft, Phil würde eine interessante Tätigkeit finden.«
»Gern? Willst du damit sagen, daß es dich freut zu sehen, wie dein Bruder sich abrackern muß? Das macht dir
wohl Spaß? Ich habe ja immer gedacht, daß es dir Spaß macht.«
»Natürlich nicht, Mutter. Ich würde ihm gern helfen.«
»Du brauchst ihm nicht zu helfen. Du brauchst dich überhaupt nicht für uns zu interessieren.«
Rearden hatte nie gewußt, was sein Bruder tat oder tun wollte. Er hatte ihn ins College geschickt, aber Philip
hatte sich nie für einen Beruf entscheiden können. Nach Reardens Meinung stimmte etwas nicht bei einem
Mann, der nicht eine einträgliche Stellung suchte. Aber er bemühte sich nicht, Philip diese Meinung
aufzuzwingen. Er konnte es sich leisten, seinen Bruder zu ernähren, ohne je die Kosten zu spüren. Soll er es
ruhig leicht haben, hatte Rearden jahrelang gedacht, soll er die Chance haben, sich in Ruhe einen Beruf zu
wählen, ohne dabei um seinen Lebensunterhalt kämpfen zu müssen. »Was hast du denn heute gemacht, Phil?«
fragte er geduldig. »Das interessiert dich ja doch nicht.«
»Es interessiert mich. Darum frage ich.«
»Ich mußte zwanzig verschiedene Leute aufsuchen, die zwischen hier und Reading und Wilmington wohnen.«
»Weshalb?«
»Ich wollte Spenden für die Freunde des Globalen Fortschritts sammeln.« Rearden hatte sich nie die vielen
Organisationen, denen Philip angehörte, merken oder sich eine klare Vorstellung von ihren Aktivitäten machen
können. Über die Freunde des Globalen Fortschritts hatte er Philip in den letzten sechs Monaten oft, wenn auch
wenig konkret, sprechen hören. Sie schienen irgendwelche kostenlosen Vorträge über Psychologie, Volksmusik
und genossenschaftliche Landwirtschaft zu veranstalten. Rearden verabscheute solche Gruppen und hielt es für
überflüssig, sich näher nach ihnen zu erkundigen.
Da er schwieg, fügte Philip hinzu: »Wir brauchen zehntausend Dollar für ein lebenswichtiges Programm, aber
der Versuch, dieses Geld aufzutreiben, ist ein einziges Martyrium. Heutzutage haben die Menschen keine Spur
von sozialem Gewissen. Wenn ich an diese aufgeblasenen Geldsäcke denke, die ich heute gesehen habe! Sie
geben viel mehr für irgendeinen Spleen aus, aber ich konnte ihnen nicht einmal hundert Dollar pro Nase
entlocken. Mehr wollte ich gar nicht. Sie haben kein moralisches Pflichtgefühl, nein… Warum lachst du?« fragte
er gereizt. Rearden stand grinsend vor ihm.
Wie kindisch dreist und hilflos grob waren dieser Wink mit dem Zaunpfahl und die fast im gleichen Atemzug
geäußerte Kränkung. Es war ein leichtes, Philip den Mund zu stopfen, indem er die Kränkung erwiderte, dachte
er, aber diese Kränkung wäre furchtbar, denn es wäre die Wahrheit. Er konnte es nicht über sich bringen, sie
auszusprechen. Natürlich, dachte er, weiß der bedauerliche Dummkopf, daß er von meinem Wohlwollen
abhängig ist, daß er sich bloßgestellt hat und dadurch verletzbar ist. Darum brauche ich ihn nicht zu verletzen.
Ihn nicht zu verletzen, ist meine beste Antwort. Die kann er nicht mißverstehen. Wie erbärmlich muß doch sein
Leben sein, daß er sich in eine so peinliche Lage bringt.
Und dann dachte Rearden plötzlich, daß er dieses eine Mal Philips chronisches Elend mildern, ihm eine große
Freude bereiten, ihm einen hoffnungslosen Wunsch erfüllen könnte. Was liegt mir schon daran, was für ein
Wunsch das ist? Es ist sein Wunsch, so wie Rearden Metal meiner war. Er muß ihm so viel bedeuten wie mir
Rearden Metal. Soll er auch einmal glücklich sein. Vielleicht kann er daraus etwas lernen. Habe ich nicht gesagt,
daß Glück einem die Unschuld zurückgibt? Ich feiere heute abend, soll er daran teilhaben. Für ihn geht es um so
viel, für mich um so wenig.
»Phil«, sagte er lächelnd, »geh morgen früh zu Miss Ives in mein Büro. Sie wird dir einen Scheck über
zehntausend Dollar geben.«
Philip starrte ihn an; ohne Überraschung, ohne Freude; es war ein leeres Starren aus glasigen Augen.
»Ach«, sagte Philip und fügte dann hinzu: »Wir werden es zu würdigen wissen.« Keine Emotion schwang in
seiner Stimme mit, nicht einmal simple Geldgier.
Rearden konnte seine eigenen Gefühle nicht begreifen. Es war, als würde etwas Bleiernes und Leeres in ihm
zusammenbrechen. Er fühlte beides, das Gewicht und die Leere. Er wußte, es war das Gefühl der Enttäuschung,
aber er wunderte sich darüber, daß es so grau und häßlich war.
»Das ist sehr nett von dir, Henry«, sagte Philip trocken. »Ich bin überrascht. Ich hatte das nicht von dir
erwartet.«
»Verstehst du denn nicht, Phil«, sagte Lillian mit seltsam heller und fröhlicher Stimme. »Henry hat heute sein
Metall gegossen.«
Sie wandte sich an Rearden. »Sollen wir diesen Tag zum nationalen Feiertag erklären, Liebling?«
»Du bist ein guter Mensch, Henry«, sagte seine Mutter. »Nur müßtest du es öfter sein.«
Rearden sah Philip an, als wartete er auf etwas. Philip wandte die Augen ab. Dann blickte er auf und hielt
Reardens Blick stand, als forschte er selbst nach etwas.
»Im Grunde liegt dir nichts daran, den Armen zu helfen, nicht wahr?« fragte Philip – und Rearden hörte, ohne
es glauben zu können, den vorwurfsvollen Ton heraus.
»Nein, Philip, mir liegt gar nichts daran. Ich wollte dich nur glücklich machen.«
»Aber das Geld ist nicht für mich. Ich sammle es nicht aus irgendeinem persönlichen Grund. Ich habe
keinerlei eigennütziges Interesse an der Sache«, sagte er kalt und mit einem Anflug moralischen Anspruchs.
Rearden wandte sich ab. Er empfand einen jähen Ekel. Nicht weil sein Bruder schwindelte, sondern weil er
ehrlich war. Philip meinte es ernst.
»Übrigens, Henry«, fügte Philip hinzu, »hast du etwas dagegen, wenn ich dich bitte, Miss Ives anzuweisen,
mir das Geld in bar auszuzahlen?« Rearden drehte sich wieder zu ihm um. »Weißt du, die Freunde des Globalen
Fortschritts sind eine äußerst fortschrittliche Gruppe, und sie haben immer behauptet, du seist das schwärzeste
Element sozialen Rückschritts im ganzen Land. Darum würde es uns ein wenig in Verlegenheit bringen, wenn
wir deinen Namen auf die Liste der Spender setzen müßten, weil man uns dann vorwerfen könnte, von Hank
Rearden Geld genommen zu haben.«
Er hätte Philip am liebsten ins Gesicht geschlagen. Statt dessen schloß er, aufs tiefste angewidert, die Augen.
»Gut«, sagte er ruhig, »du kannst es in bar haben.« Er ließ Philip stehen, ging zum am weitesten entfernten
Fenster des Zimmers. Sein Blick richtete sich auf den roten Schein über dem Stahlwerk in der Ferne.
Er hörte, wie Larkin hinter ihm rief: »Verdammt, Hank, du hättest es ihm nicht geben sollen.«
Dann erklang Lillians kalte, heitere Stimme: »Das ist ganz falsch, Paul, ganz falsch. Was sollte aus Henrys
Eitelkeit werden, wenn er uns nicht hätte, denen er seine Almosen zuwerfen kann? Was würde aus seiner Stärke,
wenn er nicht Schwächere um sich hätte, die er beherrschen kann? Was würde er mit sich anfangen, wenn er uns
nicht in Abhängigkeit halten könnte? Es is t wirklich ganz in Ordnung. Ich kritisiere ihn nicht. Es ist einfach ein
Gesetz der menschlichen Natur.«
Sie ergriff das Metallarmband und hielt es hoch, so daß es im Licht der Lampe glitzerte.
»Eine Kette«, sagte sie. »Sehr passend, nicht wahr? Es ist die Kette, mit der er uns zu Leibeigenen macht.«

III. Oben und unten

Die Decke glich der eines Kellers, sie war so schwer und niedrig, daß jeder, der den Raum durchquerte, sich
bückte, als ruhte die ganze Last des Gewölbes auf seinen Schultern. Die mit dunkelrotem Leder ausgeschlagenen
runden Kojen waren in grobe Steinwände eingelassen, die aussahen wie von Alter und Feuchtigkeit angefressen.
Der Raum hatte keine Fenster. Als einzige Beleuchtung flackerten blaue Lichtflecke aus Nischen im Mauerwerk;
es war das matte blaue Licht für Verdunklungen. Man betrat den Raum über schmale Stufen, die tief unter die
Erde zu führen schienen. Es war die teuerste Bar in New York, und sie befand sich auf dem Dach eines
Wolkenkratzers.
Vier Männer saßen an einem Tisch, sechzig Stockwerke hoch über der Stadt. Sie sprachen nicht laut, wie man
in luftiger Höhe spricht, wo nichts einen einengt. Sie hielten ihre Stimmen gesenkt – wie es für einen Keller
paßt.
»Bedingungen und Umstände, Jim«, sagte Orren Boyle. »Bedingungen und Umstände außerhalb aller
menschlichen Einwirkungsmöglichkeiten. Wir hatten alles für die Herstellung der Schienen geplant, aber dann
kam es zu unvorhergesehenen Entwicklungen, die niemand verhindern konnte. Wenn Sie uns nur eine Chance
gegeben hätten, Jim.«
»Uneinigkeit«, sagte James Taggart, »scheint die Grundursache aller sozialen Probleme zu sein. Meine
Schwester hat einen gewissen Einfluß auf eine bestimmte Gruppe unter unseren Aktionären. Der Erfolg ihrer auf
Spaltung zielenden Taktik läßt sich nicht immer vereiteln.«
»Ganz richtig, Jim, Uneinigkeit. Das ist das Grundübel. Es ist meine felsenfeste Überzeugung, daß in unserer
komplexen Industriegesellschaft kein Unternehmen gedeihen kann, ohne die Last der Probleme anderer
Unternehmen mitzutragen.«
Taggart nippte an seinem Drink und stellte das Glas wieder auf den Tisch. »Der Barmann gehört gefeuert«,
sagte er.
»Nehmen Sie Associated Steel. Wir haben die modernste Fabrikanlage im ganzen Land und die
bestorganisierte. Das scheint mir eine unbestreitbare Tatsache zu sein. Wir sind im vorigen Jahr von der
Zeitschrift Globe mit der Medaille für industrielle Effizienz ausgezeichnet worden. Wir können also behaupten,
unser Bestes getan zu haben, und niemand kann uns einen Vorwurf machen. Wir können nichts dafür, daß die
Lage auf dem Eisenerzmarkt ein nationales Problem ist. Wir konnten nirgends Erz bekommen, Jim.«
Taggart sagte nichts. Er hatte die Arme breit auf den Tisch gelegt. Der an sich schon sehr kleine Tisch wurde
dadurch noch kleiner, aber die drei anderen Männer schienen Taggart das Privileg nicht streitig zu machen.
»Niemand bekommt noch Erz«, sagte Boyle. »Die Gruben sind erschöpft, die Geräte abgenutzt, es fehlt an
Material, dazu kommen noch Transportengpässe und andere unüberwindliche Schwierigkeiten.«
»Der Eisenbergbau steht vor dem Zusammenbruch. Das ist der Tod der Hersteller von Grubengerät«, sagte
Paul Larkin.
»Es ist eine bewiesene Tatsache, daß wir alle wechselseitig voneinander abhängig sind«, sagte Orren Boyle.
»Darum sollte jeder die Lasten der anderen mittragen.«
»Das ist, glaube ich, richtig«, sagte Wesley Mouch. Aber was Wesley Mouch sagte, wurde nie beachtet.
»Mein Ziel«, sagte Orren Boyle, »ist die Erhaltung der freien Wirtschaft. Wir wissen alle, daß die freie
Wirtschaft auf der Anklagebank sitzt. Wenn sie nicht ihren sozialen Wert beweist und soziale Verantwortung
übernimmt, wird niemand für sie einstehen. Wenn sie nicht Gemeinsinn entwickelt, dann ist es aus mit ihr, daran
gibt es keinen Zweifel.«
Orren Boyle war vor fünf Jahren aus dem Nichts aufgetaucht, und sein Bild war seitdem auf dem Titelblatt
jedes amerikanischen Nachrichtenmagazins erschienen. Er hatte mit einem Eigenkapital von hunderttausend
Dollar und einem Regierungsdarlehen von zweihundert Millionen Dollar angefangen. Jetzt war er der Leiter
eines riesigen Konzerns, der viele kleinere Firmen geschluckt hatte. Das bewies, sagte er gern, daß individuelle
Leistung immer noch die Treppe zum Erfolg war. »Das einzige, was den Privatbesitz rechtfertigt, ist sein Dienst
an der Öffentlichkeit«, sagte Orren Boyle.
»Das kann man, meine ich, nicht bezweifeln«, sagte Wesley Mouch, aber niemand hörte, was er sagte.
Orren Boyle leerte mit einem schmatzenden Geräusch sein Glas. Er war ein breitschultriger Mann mit
energischen Bewegungen. Alles an ihm war kraftvoll, er strotzte vor Leben, nur die schmalen schwarzen Schlitze
seiner Augen hatten kein Feuer.
»Jim«, sagte er, »Rearden Metal scheint ein großer Schwindel zu sein.«
»Hm«, brummte Taggart.
»Nicht ein einziger Sachverständiger soll ein günstiges Gutachten darüber abgegeben haben.«
»Nein, nicht einer.«
»Seit Generationen haben wir die Eisenbahnschienen verbessert, haben ihr Gewicht gesteigert. Stimmt es, daß
die Schienen aus Rearden Metal leichter sind als die Stahlschienen schlechtester Qualität?«
»Das stimmt«, sagte Taggart. »Sie sind leichter.«
»Aber das ist ja lächerlich, Jim. Es ist physikalisch unmöglich. Solche Schienen auf einer stark belasteten
Hauptstrecke, auf der Hochgeschwindigkeitszüge fahren?«
»Allerdings.«
»Aber damit fordern Sie die Katastrophe ja geradezu heraus.«
»Meine Schwester tut es.«
Taggart drehte den Stiel des Glases langsam zwischen zwei Fingern. Einen Augenblick lang herrschte
Schweigen.
»Das National Council of Metal Industries«, sagte Orren Boyle, »hat beschlossen, einen Ausschuß zu bilden,
der feststellen soll, ob die Verwendung von Rearden Metal nicht eine ernste Gefahr für die Öffentlichkeit
bedeutet.«
»Das ist meiner Meinung nach sehr klug«, sagte Wesley Mouch.
»Wenn alle zustimmen«, sagte Taggart plötzlich mit schriller Stimme, »wenn alle einer Meinung sind, wie
kann es ein Mann dann wagen, aus der Reihe zu tanzen? Mit welchem Recht? Das möchte ich wirklich wissen:
mit welchem Recht?«
Boyle versuchte, Taggarts Gesicht zu sehen, aber in dem trüben Licht war das unmöglich; er sah nur einen
blassen bläulichen Fleck.
»Wenn wir an die Ressourcen denken, in einer Zeit, in der ein so bedenklicher Mangel herrscht«, sagte Boyle
leise, »wenn wir an den kostbaren Rohstoff denken, der für ein unverantwortliches privates Experiment
vergeudet wird, wenn wir an das Eisenerz denken…«
Er vollendete den Satz nicht. Wieder blickte er zu Taggart hinüber. Aber Taggart schien zu wissen, daß Boyle
darauf wartete, daß er etwas sagte, und es schien ihm Freude zu bereiten, nichts zu sagen.
»Die Ressourcen, zum Beispiel Eisenerz, sind von vitaler Bedeutung für die Gesellschaft, Jim. Die
Öffentlichkeit wird es nicht gleichgültig hinnehmen, daß ein leichtsinniger, eigennütziger, unsozialer Mann sie
vergeudet. Schließlich ist Privateigentum nur ein Treuhandbesitz, der dem Wohl der Gesellschaft als ganzer
dienen soll.«
Taggart blickte Boyle an und lächelte. Das Lächeln hatte eine besondere Bedeutung; es schien anzudeuten,
daß er mit dem, was er jetzt sagte, eine Antwort auf das gab, was Boyle gesagt hatte. »Die Drinks, die sie hier
servieren, sind das reinste Spülwasser. Das ist wahrscheinlich der Preis dafür, daß wir hier nicht mit allem
möglichen Pöbel zusammensitzen müssen. Aber ich wünschte, sie würden begreifen, daß sie es mit Kennern zu
tun haben. Ich zahle schließlich anständig und erwarte, daß ich für mein Geld auch etwas Anständiges im Glas
habe, und zwar genau so, wie ich es haben will.«
Boyle antwortete nicht; er machte ein mürrisches Gesicht.
»Hören Sie mal, Jim«, begann er schwerfällig.
»Ja? Was ist?« fragte Taggart lächelnd.
»Jim, Sie geben doch gewiß zu, daß es nichts Destruktiveres gibt als ein Monopol.«
»Ja«, sagte Taggart, »einerseits. Andererseits dürfen wir die Augen nicht vor den bedenklichen Folgen
zügelloser Konkurrenz verschließen.«
»Das stimmt. Der richtige Weg liegt meiner Meinung nach in der Mitte. Darum ist es die Pflicht der
Gesellschaft, die Extreme auszuschalten. Oder nicht?«
»Doch«, sagte Taggart, »unbedingt.«
»Nehmen wir mal die Eisenerzgruben. Die nationale Produktion scheint in rasantem Tempo zurückzugehen.
Dadurch ist die Existenz der gesamten Stahlindustrie bedroht. Überall im Land werden Stahlwerke stillgelegt. Es
gibt nur ein einziges Bergwerk, das von der allgemeinen Entwicklung nicht berührt wird. Es scheint reichlich zu
fördern und immer genügend Vorräte zu haben, um die Lieferfristen einhalten zu können. Aber wer hat den
Nutzen davon? Niemand außer seinem Besitzer. Finden Sie das fair?«
»Nein«, sagte Taggart, »auf keinen Fall.«
»Die meisten von uns haben keine Eisenerzgruben. Wie können wir mit einem Mann konkurrieren, der ein
Stück von Gottes Mineralvorkommen besitzt? Ist es da ein Wunder, daß er stets Stahl liefern kann, während wir
uns abplagen und warten und unsere Kunden verlieren und ganz aus dem Geschäft verdrängt werden?«
»Nein«, sagte Taggart, »im Gegenteil.«
»Ich finde, die nationale Politik sollte es sich zum Ziel machen, jedem im Hinblick auf die Erhaltung der
gesamten Industrie seinen gerechten Anteil an Eisenerz zukommen zu lassen. Finden Sie nicht?«
»Doch, ganz meine Meinung.«
Boyle seufzte. Dann sagte er vorsichtig: »Aber ich glaube, es gibt in Washington nicht viele, die etwas von
fortschrittlicher Sozialpolitik verstehen.«
Leise sagte Taggart: »Doch, es gibt sie. Nicht viele, und man kommt nicht leicht an sie heran. Aber es gibt
sie; vielleicht könnte ich mal mit ihnen sprechen.«
Boyle ergriff sein Glas und leerte es in einem Zuge, als hätte er alles gehört, was er hatte hören wollen.
»Da wir gerade von fortschrittlicher Politik sprechen, Orren«, sagte Taggart, »finden Sie, daß es in einer Zeit,
wo es an Transportmöglichkeiten mangelt, wo so viele Eisenbahnen Konkurs anmelden und ganze Regionen
keine Eisenbahn mehr haben, daß es in so einer Zeit im öffentlichen Interesse liegen kann, wenn in einer anderen
Region, in der alteingesessene Eisenbahnen historischen Vorrang haben, neue Eisenbahnen einen
Verdrängungswettbewerb beginnen?«
»Das ist eine interessante Frage, über die nachzudenken sich lohnt«, antwortete Boyle freundlich. »Vielleicht
könnte ich mit ein paar Freunden in der National Alliance of Railroads mal darüber sprechen.«
»Freundschaften«, sagte Taggart beiläufig, »sind wertvoller als Gold.« Unvermittelt wandte er sich Larkin zu:
»Finden Sie nicht auch, Paul?«
»Wie?… Ja«, sagte Larkin erstaunt. »Ja, natürlich.«
»Ich rechne auf Sie.«
»Wie?«
»Ich rechne auf Ihre vielen Freunde.«
Sie alle wußten anscheinend, warum Larkin nicht gleich antwortete; seine Schultern schienen herabzufallen,
sich dem Tisch zu nähern. »Wenn alle für ein gemeinsames Ziel arbeiten, braucht man niemand weh zu tun!«
rief er plötzlich in einem unpassend verzweifelten Ton. Er sah, daß Taggart ihn beobachtete, und fügte fast
flehend hinzu: »Ich wünschte, wir brauchten niemand weh zu tun.«
»Das ist eine unsoziale Einstellung«, sagte Taggart. »Menschen, die sich davor fürchten, jemand zu opfern,
sollten nicht von einem gemeinsamen Ziel sprechen.«
»Ich habe Geschichte studiert«, beeilte sich Larkin zu sagen. »Ich erkenne die historische Notwendigkeit an.«
»Gut«, sagte Taggart.
»Niemand kann von mir erwarten, daß ich gegen den Trend der ganzen Welt bin!« Larkin schien sich zu
verteidigen, aber er sprach ins Leere.
»Das kann niemand, Mr. Larkin«, sagte Wesley Mouch. »Weder Ihnen noch mir kann man einen Vorwurf
machen, wenn…«
Larkin wandte den Kopf ab; es schauderte ihn fast; er brachte es nicht über sich, Mouch anzusehen.
»War es schön in Mexiko, Orren?« fragte Taggart unvermittelt laut und lässig. Sie schienen alle zu wissen,
daß der Zweck ihres Treffens erfüllt war und daß sie geklärt hatten, was zu klären war.
»Mexiko ist wundervoll«, antwortete Boyle heiter. »Sehr anregend. Gibt einem manches zu denken. Nur das
Essen ist entsetzlich. Das hat mich krank gemacht.
Trotzdem, sie strengen sich da unten wirklich sehr an, um ihr Land auf die Beine zu bringen.«
»Wie sind denn die Verhältnisse da unten?«
»Recht gut, scheint es mir, recht gut. Im Augenblick jedoch haben sie… Aber sie denken natürlich vor allem
an die Zukunft. Der Volksstaat Mexiko hat eine große Zukunft. In ein paar Jahren werden sie uns alle schlagen.«
»Haben Sie auch die San-Sebastián-Gruben besichtigt?« Die vier Männer setzten sich aufrechter und straffer.
Sie alle hatten in die San-Sebastián-Gruben viel Geld investiert.
Boyle antwortete nicht sofort, und seine Stimme klang unnatürlich laut, als er plötzlich sagte: »Ja, natürlich.
Deshalb war ich in erster Linie da.«
»Und?«
»Und was?«
»Wie sieht es da aus?«
»Phantastisch. Einfach phantastisch. Es müssen die größten Kupfervorkommen der Welt sein, die sie da in
dem Berg haben.«
»Und geht es voran?«
»Ich habe sowas in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.«
»Wie weit sind sie denn jetzt?«
»Ach, wissen Sie, die hatten da so einen merkwürdigen Aufseher. Ich habe kaum die Hälfte von dem
verstanden, was er sagte. Aber es läuft.«
»Irgend… irgendwelche Schwierigkeiten?«
»Schwierigkeiten? Nicht in San Sebastián. Es ist Privatbesitz, der letzte, den es in Mexiko gibt, und das
scheint sehr entscheidend zu sein.«
»Orren«, fragte Taggart vorsichtig, »was ist an den Gerüchten dran, daß die Absicht besteht, die San-
Sebastián-Gruben zu verstaatlichen?«
»Das ist Gerede«, sagte Boyle ärgerlich, »niederträchtiges Gerede. Ich weiß es genau. Ich habe mit dem
Kultusminister zu Abend gegessen und mit seinen Kollegen zu Mittag.«
»Es müßte ein Gesetz gegen solche unverantwortlichen Ge rüchte geben«, sagte Taggart verstimmt. »Wollen
wir noch ein Glas trinken?«
Er winkte nervös den Kellner herbei. In einer dunklen Ecke des Raums befand sich eine kleine Bar, hinter der
ein alter, runzliger Barmann meist reglos stand. Wenn er einen Drink bereiten mußte, bewegte er sich mit
aufreizender Langsamkeit. Es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß seine Gäste sich unbeschwert entspannen
konnten. Aber er wirkte wie ein verbitterter Quacksalber, der eine sündige Krankheit behandelt.
Die vier Männer schwiegen, bis der Kellner mit ihren Drinks kam. Die Gläser, die er auf den Tisch stellte,
schimmerten im Halbdunkel als kleine blaue Lichter, die wie dünne Gasflammen aussahen. Taggart ergriff sein
Glas und lächelte plötzlich. »Trinken wir auf die Opfer der historischen Notwendigkeit!« sagte er und blickte
Larkin an.
Ein Schweigen folgte. In einem hellen Raum hätten die beiden einander in die Augen gesehen, um zu
erproben, wer dem Blick des anderen länger standhält. Hier sahen sie einander nur in dunkle Höhlen. Dann
ergriff auch Larkin sein Glas.
»Das ist meine Runde«, sagte Taggart, als sie tranken.
Niemand wußte, was er noch sagen sollte, bis Boyle in neugierig gleichgültigem Ton sagte: »Hören Sie mal,
Jim, ich wollte Sie längst fragen, was zum Teufel ist auf der San-Sebastián-Strecke los?«
»Was meinen Sie? Was soll denn los sein?«
»Ich weiß ja nicht, aber ein Personenzug täglich ist doch…«
»Ein Zug?«
»…ein bißchen bescheiden, meine ich. Und was für ein Zug dazu! Sie müssen die Wagen von Ihrem
Urgroßvater geerbt haben, der sie höllisch strapaziert zu haben scheint. Und wo in aller Welt haben Sie die
Lokomotive mit Holzfeuerung aufgetrieben?«
»Holzfeuerung?«
»Ja, Holzfeuerung. Ich hatte vorher noch nie so eine gesehen, nur auf Fotos. In welchem Museum haben Sie
die aufgetrieben? Tun Sie nicht so, als ob Sie nichts davon wüßten. Sagen Sie mir lieber, was der Witz dabei
ist.«
»Ja, natürlich, ich wußte es«, beeilte sich Taggart zu antworten. »Es war… Sie sind gerade in den Wochen
gefahren, als wir mit unserer anderen Lokomotive Ärger hatten. Die neuen Lokomotiven sind bestellt, doch die
Lieferung hat sich ein bißchen verzögert. Sie wissen ja, wie schwer wir es mit den Lokomotivfabrikanten haben.
Ich hoffe jedoch, daß wir sie bald bekommen.« Taggart hatte dabei den Kopf nicht gehoben; er starrte auf den
Fußboden.
»Natürlich«, sagte Boyle. »Gegen solche Verzögerungen ist man machtlos. Aber es ist der seltsamste Zug, mit
dem ich je gefahren bin. Und noch nie bin ich so durchgerüttelt worden.«
Nach ein paar Minuten merkten sie, daß Taggart plötzlich verstummt war. Er schien sich mit einem
persönlichen Problem zu beschäftigen. Als er sich jäh, ohne ein Wort der Entschuldigung, erhob, erhoben auch
sie sich wie auf Befehl.
Larkin murmelte, etwas gezwungen lächelnd: »Es war ein Vergnügen, Jim. Ein Vergnügen. So werden große
Projekte geboren – bei einem Gläschen mit Freunden.«
»Soziale Reformen brauchen viel Zeit«, sagte Taggart kühl. »Es ist ratsam, geduldig und vorsichtig zu sein.«
Zum ersten Mal wandte er sich an Wesley Mouch: »Das mag ich an Ihnen, Mouch, daß Sie nicht soviel reden.«
Wesley Mouch war Reardens Mann in Washington.
Am Himmel leuchtete noch der Schein der untergehenden Sonne, als Taggart und Boyle zusammen unten auf
die Straße traten. Sie erlebten beide einen leichten Schock. Nach der dunklen Bar erwartete man draußen
nächtliche Finsternis. Ein hohes Gebäude hob sich vom Himmel ab, scharf und gerade wie ein erhobenes
Schwert. Dahinter hing in der Ferne der Kalender. Taggart fingerte nervös an seinem Mantelkragen, den er der
Kälte wegen zuknöpfte. Er hatte heute abend nicht wieder ins Büro gehen wollen, aber er mußte es nun doch. Er
mußte mit seiner Schwester sprechen.
»…eine schwere Aufgabe liegt vor uns, Jim«, sagte Boyle, »eine schwere Aufgabe, die von so vielen
Gefahren und Komplikationen umgeben ist, und so viel steht auf dem Spiel…«
»Es kommt darauf an«, erwiderte Taggart leise: »Wenn man die richtigen Leute kennt… Man muß die
richtigen Leute ansprechen.«
Dagny Taggart war neun Jahre alt, als sie beschloß, eines Tages Taggart Transcontinental zu leiten. Sie sagte
das zu sich selbst, als sie zwischen den Schienen stand und den beiden Stahllinien nachblickte, die sich in der
Ferne in einem Punkt trafen. Es erfüllte sie mit stolzer Freude, daß diese Schienen sich ihren Weg durch den
Wald bahnten: Sie gehörten zwar nicht zwischen diese alten Bäume, deren herunterhängende Äste die grünen
Sträucher und die hier und dort blühenden Waldblumen berührten – aber nun waren sie eben da. Die beiden
Stahllinien glänzten in der Sonne, und die schwarzen Schwellen glichen den Stufen einer Leiter, die sie
hinaufklettern mußte.
Sie hatte sich nicht plötzlich dazu entschlossen. Sie besiegelte nur mit Worten, was sie längst wußte. In
stillem Einvernehmen, als wären sie durch ein unausgesprochenes Gelübde gebunden, hatten sie und Eddie
Willers sich schon als kleine Kinder der Eisenbahn verschrieben.
Die Welt um sie herum langweilte sie, und sie war ihr gleichgültig, genau wie die anderen Kinder und die
Erwachsenen. Daß sie zwischen so stumpfsinnigen Menschen gefangen war, nahm sie als etwas Bedauerliches
hin, das eine Zeitlang geduldig ertragen werden mußte. Sie hatte einen Blick in eine andere Welt getan und
wußte, daß es sie irgendwo gab, die Welt, die Züge geschaffen hatte, Brücken, Telegraphendrähte, Signale, die
in der Dunkelheit leuchteten. Sie mußte warten, dachte sie, bis sie in diese Welt hineingewachsen war.
Sie versuchte nie zu erklären, warum sie die Eisenbahn so liebte. Was die anderen auch fühlen mochten, sie
wußte, daß diese Liebe etwas war, dem die anderen nichts entgegenzusetzen hatten und für das ihnen jedes
Verständnis abging. Das gleiche empfand sie in der Schule, im Mathematikunterricht, dem einzigen Fach, das sie
mochte. Mit wahrer Leidenschaft löste sie die Aufgaben. Es erfüllte sie mit ungeheurer Freude, den Kampf
aufzunehmen und ihn ohne Mühe zu bestehen, und voll Eifer stellte sie sich immer wieder einer neuen, einer
schwereren Prüfung. Gleichzeitig wuchs ihre Achtung vor dem Gegner, vor der Wissenschaft, die so klar, so
streng, so wunderbar rational war. Wenn sie sich mit Mathematikaufgaben befaßte, empfand sie zweierlei
zugleich: »Wie herrlich, daß Menschen dies erdacht haben« und »Wie wundervoll, daß ich es so gut kann.« Es
war die Freude, bewundern zu können, und die Freude über die eigene Begabung, die eines wurden. Und das
gleiche empfand sie der Eisenbahn gegenüber: Ehrfurcht vor dem Wissen, dessen es bedurft hatte, sie zu
schaffen, vor der Erfindungsgabe der klaren, klugen Köpfe von Menschen; es war eine Ehrfurcht, der sich ein
heimliches Lächeln zugesellte, das sagte, sie würde es eines Tages noch besser machen. Sie trieb sich – ganz
bescheidene Neugier – an den Gleisen und in den Lokomotivschuppen herum. Aber ihre Bescheidenheit trug
bereits den Keim eines künftigen Stolzes in sich, eines Stolzes, zu dem sie einst berechtigt sein würde.
»Du bist unerträglich eingebildet«, war eine der beiden Bemerkungen, die sie in ihrer Kindheit immer wieder
hören mußte, obwohl sie nie von dem sprach, was sie konnte. Die andere lautete: »Du bist egoistisch.« Wenn sie
fragte, was das bedeutete, gab man ihr niemals eine Antwort. Sie sah die Erwachsenen an und wunderte sich, daß
sie glauben konnten, sie würde sich einer nicht erklärten Bezichtigung wegen schuldig fühlen.
Sie war zwölf Jahre alt, als sie zu Eddie Willers sagte, sie würde die Eisenbahn leiten, wenn sie beide
erwachsen wären. Sie war fünfzehn Jahre alt, als ihr zum ersten Mal bewußt wurde, daß Frauen keine
Eisenbahnen leiteten, und daß die Leute etwas dagegen haben könnten. Egal, dachte sie – und machte sich nie
wieder Gedanken darüber.
Mit sechzehn begann sie bei Taggart Transcontinental zu arbeiten. Ihr Vater erlaubte es ihr: Es amüsierte ihn,
und er war ein wenig neugierig. Sie begann damit, auf einer kleinen ländlichen Station den Nachtdienst zu
versehen. Sie mußte in den ersten Jahren nachts arbeiten, weil sie tagsüber ein College besuchte. Sie studierte
Ingenieurwissenschaften. Die doppelte Beanspruchung ihrer Kräfte spürte sie nicht; sie war im Gegenteil in
dieser Zeit besonders glücklich.
Zur gleichen Zeit begann James Taggart seine Karriere bei der Eisenbahn. Er war einundzwanzig Jahre alt. Er
begann in der PR-Abteilung.
Dagnys Aufstieg unter den Männern, die bei Taggart Transcontinental arbeiteten, ging schnell und
unbestritten vor sich. Sie übernahm verantwortliche Stellungen, weil niemand anderes da war, der sie hätte
übernehmen können. Um sie herum gab es nur sehr wenige begabte Männer, und mit jedem Jahr wurden es
weniger. Ihre Vorgesetzten, die Befugnisse hatten, schienen sich davor zu fürchten, sie auszuüben, und
verbrachten ihre Zeit damit, Entscheidungen aus dem Weg zu gehen. Darum sagte sie den Leuten, was sie tun
sollten, und sie taten es. Wenn sie eine neue Sprosse auf der Karriereleiter erklomm, bekleidete sie den neuen
Posten immer schon lange, bevor man ihr den Titel zubilligte. Es war, als würde sie durch leere Zimmer gehen.
Niemand stellte sich ihr in den Weg. Doch es war auch niemand da, der ihrem Vorwärtskommen Beifall zollte.
Ihr Vater schien sich über sie zu wundern und gleichzeitig stolz auf sie zu sein, aber in seinen Augen spiegelte
sich Trauer, wenn er sie im Büro sah. Sie war neunundzwanzig Jahre alt, als er starb. »Es hat immer einen
Taggart gegeben, der die Eisenbahn in Gang gehalten hat«, war das letzte, was er zu ihr sagte. Er hatte sie mit
einem seltsamen Blick angesehen: Es war ein anerkennender und mitleidiger Blick zugleich.
James Taggart hatte die Majorität des Kapitals von Taggart Transcontinental geerbt. Er war vierunddreißig,
als er Vorstandsvorsitzender wurde. Dagny hatte erwartet, daß der Aufsichtsrat ihn wählen würde, aber sie hatte
nie ganz verstehen können, daß sie es so eilig damit hatten. Sie redeten von Tradition und davon, daß stets der
älteste Sohn der Taggarts Vorstandsvorsitzender gewesen war. Sie wählten James Taggart aus dem gleichen
Grund, aus dem sie sich weigerten, unter einer Leiter hindurchzugehen: Sie wollten das Schicksal günstig
stimmen. Sie sprachen von seiner Gabe »Eisenbahnfahren populär zu machen«, seiner »guten Presse«, seiner
»Begabung für Washington.« Er schien besonders geschickt darin zu sein, von der Regierung Vergünstigungen
zu erhalten, und das war anscheinend ein sehr wichtiges Talent.
Dagny wußte nicht, worin diese »Begabung für Washington« bestand und wodurch sie sich auszeichnete.
Aber man schien sie zu benötigen. Sie dachte nicht weiter darüber nach und sagte sich: Es gibt viele Arbeiten,
die unschön und doch notwendig sind, zum Beispiel das Reinigen der Abwasserkanäle; aber irgend jemand muß
die Arbeit tun, und Jim scheint sie gern zu tun.
Sie hatte nie danach gestrebt, selbst Vorstandsvorsitzende zu werden; die Betriebsleitung war das einzige, was
sie interessierte. Wenn sie eine Inspektionsreise machte, sagten die alten Eisenbahner, die Jim haßten: »Es wird
immer einen Taggart geben, der die Eisenbahn in Gang hält«, und sie sahen sie dabei an, wie ihr Vater sie
angesehen hatte. Ihre Waffe gegen Jim war ihre Überzeugung, daß er nicht intelligent genug war, der Eisenbahn
allzuviel zu schaden, und daß sie immer in der Lage sein würde, den von ihm angerichteten Schaden wieder
gutzumachen.
Als sie mit sechzehn Jahren nachts auf der kleinen Station die erleuchteten Züge von Taggart Transcontinental
hatte vorbeifahren sehen, hatte sie geglaubt, sie sei jetzt in ihrer Welt. Doch die darauffolgenden Jahre hatten sie
gelehrt, daß das nicht stimmte. Der Gegner, mit dem sie zu tun hatte, war es nicht wert, sich mit ihm zu messen
oder ihn zu schlagen. Es hätte sie geehrt, in Wettstreit mit Menschen zu treten, deren Fähigkeiten eine echte
Herausforderung darstellten. Aber ihr Gegner war das Unvermögen – ein Klumpen grauer Baumwolle, formlos
und so weich, daß er nichts und niemand Widerstand entgegensetzte, und der es dennoch fertigbrachte, sich ihr
wie eine Barriere in den Weg zu stellen. Sie stand hilflos vor diesem Rätsel, für das sie keine Lösung fand.
Nur in den ersten Jahren kam es noch vor, daß sie in ihrem Inneren danach schrie, einmal ein Zeichen
menschlicher Befähigung zu entdecken, ein einziges Mal ein Zeichen unbestreitbarer, herausragender
Kompetenz. Immer wieder empfand sie quälende Sehnsucht nach einem intellektuell überlegenen Freund oder
Gegner. Aber die Sehnsucht verging. Der erste Schritt der neuen Politik, mit der James Taggart antrat, war der
Bau der San-Sebastián-Linie. Viele waren mitverantwortlich; aber für Dagny stand nur ein Name über diesem
Abenteuer, ein Name, der alle anderen auslöschte, wo immer sie ihn sah. Er stand über fünf Jahren Mühsal, über
Meilen vergeudeter Gleisanlagen, über den langen Listen der Verluste von Taggart Transcontinental, die ohne
Unterbrechung wie Blut aus einer offenen Wunde sickerten; so wie er auf den Telexen jeder Börse stand, die es
auf der Welt noch gab; so wie er auf den Schornsteinen von Kupferhütten im roten Schimmer der Hochöfen
stand; so wie er in den Schlagzeilen der Skandalblätter stand; so wie er auf Pergamenten stand, die einen
jahrhundertealten Adel beurkundeten; so wie er auf den Karten stand, die Blumengrüße an Frauen auf drei
Kontinenten begleiteten. Der Name lautete Francisco d’Anconia.
Als er mit dreiundzwanzig Jahren sein Vermögen geerbt hatte, galt er als Kupferkönig der Welt. Jetzt, mit
sechsunddreißig, galt er als reichster Mann und spektakulärster Playboy der Welt. Er war der letzte Nachkomme
einer der vornehmsten Adelsfamilien Argentiniens. Ihm gehörten Rinderfarmen, Kaffeeplantagen und die
meisten Kupferbergwerke Chiles. Halb Südamerika gehörte ihm und eine Handvoll Bergwerke in den
Vereinigten Staaten als Klimpergeld.
Als Francisco d’Anconia plötzlich Meilen von kahlem Bergland in Mexiko kaufte, sickerte das Gerücht
durch, er habe riesige Kupfervorkommen entdeckt. Er kostete ihn nicht die geringste Anstrengung, die Aktien
seines neuen Unternehmens am Markt unterzubringen. Man riß sie ihm förmlich aus der Hand. Er brauchte nur
zu entscheiden, welchen Interessenten er gefällig sein wollte. Es hieß, sein Finanzgenie sei phänomenal. Nie
hatte ihn jemand bei einer Transaktion übers Ohr hauen können. Mit jedem Geschäft, das er abschloß, und mit
jedem Schritt, den er unternahm, wenn er sich die Mühe machte, ihn zu unternehmen, wuchs sein märchenhaftes
Vermögen. Die ihn am meisten kritisierten, waren die ersten, die Chance zu nutzen, als Trittbrettfahrer seines
Talents an seinem neuen Reichtum teilzuhaben. James Taggart, Orren Boyle und ihre Freunde gehörten zu den
größten Aktionären des Unternehmens, das Francisco d’Anconia San-Sebastián-Gruben getauft hatte.
Dagny hatte nie herausfinden können, auf welchen Einfluß hin James die Eisenbahnlinie von Texas hinunter
in die Wüste von San Sebastián gebaut hatte. Wahrscheinlich wußte er es selbst nicht. Wie ein Feld, das durch
nichts vor dem Wind geschützt ist, war er jeder Strömung zugänglich, und das Ergebnis entstand aus reinem
Zufall. Einige Vorstandsmitglieder widersetzten sich dem Plan. Taggart Transcontinental brauchte alle
Geldmittel zum Wiederaufbau der Rio-Norte-Linie. Man konnte nicht beides zugleich tun. Aber James Taggart
war der neue Vorstandsvorsitzende. Es war das erste Jahr seiner Geschäftsführung. Er setzte sich durch.
Der Volksstaat Mexiko war auf eine Zusammenarbeit sehr erpicht, und er unterzeichnete einen Vertrag, der
das Eigentumsrecht von Taggart Transcontinental an der Eisenbahnlinie auf zweihundert Jahre garantierte – in
einem Land, in dem es kein Eigentumsrecht gab. Francisco d’Anconia hatte für seine Gruben die gleiche
Garantie erhalten.
Dagny kämpfte gegen den Bau der San-Sebastián-Linie. Sie rang um die Unterstützung aller, die auf sie hören
wollten; aber sie war nicht einmal Betriebsleiterin, sie war zu jung, sie hatte keinerlei Befugnisse, und niemand
hörte auf sie.
Weder damals noch später konnte sie die Motive verstehen, die zu dem Beschluß führten, die Linie zu bauen.
Als sie an einer der Vorstandssitzungen teilnahm, spürte sie in der ganzen Atmosphäre etwas seltsam
Ausweichendes, als ob der wirkliche Grund der Entscheidung, der außer ihr allen klar war, nicht genannt werden
sollte. Dagny saß als hilflose Zuschauerin dabei. Die Mehrheitsverhältnisse waren klar.
Sie sprachen von der zukünftigen Bedeutung des Handels mit Mexiko, von dem Strom der Frachtgüter, von
den großen Einkünften, die der Gesellschaft als alleinigem Transportunternehmen der unerschöpflichen
Kupfervorkommen sicher waren. Sie bewiesen es, indem sie die früheren Leistungen Francisco d’Anconias
aufzählten. Sie erwähnten keine mineralogischen Fakten über die San-Sebastián-Gruben. Es waren nur wenige
Fakten erhältlich. Die von d’Anconia stammenden Informationen waren nicht allzu genau; aber sie schienen
keine Fakten zu brauchen.
Sie sprachen lang und breit über die Armut der Mexikaner und daß sie unbedingt Eisenbahnen brauchten. »Sie
haben nie eine Chance gehabt.«
»Es ist unsere Pflicht, unterentwickelten Ländern zu helfen. Jedes Land, meine ich, ist der Hüter seines
Nachbarn.«
Sie saß dabei, hörte zu und dachte an die vielen Linien, die Taggart Transcontinental hatte aufgeben müssen;
die Einkünfte der Hauptstrecke gingen seit Jahren langsam, aber stetig zurück. Sie dachte an die vielen
Reparaturen, die zum Schaden des ganzen Netzes nicht vorgenommen wurden. Die Art, wie sie das Problem der
Instandhaltung anpackten, glich einem Spiel: Es war, als spielten sie mit einem Stück Gummiband, das sie in die
Länge zogen und dann immer noch ein Stück länger.
»Die Mexikaner sind, glaube ich, ein sehr fleißiges Volk, das sich seiner primitiven Wirtschaft wegen nicht
entwickeln kann. Wie sollen sie ihr Land industrialisieren, wenn ihnen niemand hilft?« – »Wenn wir daran
denken, Kapital zu investieren, sollten wir meiner Meinung nach das Wagnis um der Menschen willen und nicht
der materiellen Faktoren wegen auf uns nehmen.«
Sie dachte an eine Lokomotive, die in einem Graben neben der Rio-Norte-Linie lag, weil eine Kolbenstange
gebrochen war. Sie dachte an die fünf Tage, als auf der Rio-Norte-Linie der ganze Verkehr lahm lag, weil eine
Stützmauer eingestürzt war und sich Tonnen von Steinen auf die Gleise gewälzt hatten.
»Da der Mensch zuerst an das Wohl seines Bruders und erst dann an sein eigenes denken soll, sollte auch eine
Nation erst an ihren Nachbarn und dann an sich selbst denken.«
Sie dachte an einen Jungunternehmer namens Ellis Wyatt, der zunehmend Aufmerksamkeit fand, weil seine
Aktivitäten die Vorboten eines mächtigen Stroms von Gütern gewesen waren, der jetzt aus der einstigen Öde
Colorados hervorbrach. Man überließ die Rio-Norte-Linie ihrem endgültigen Zusammenbruch in einem
Augenblick, wo sie zur Bewältigung des steigenden Frachtaufkommens ihre voll Leistungsfähigkeit brauchte.
»Materieller Erfolg ist nicht alles; man muß auch Ideale haben.«
»Ich gestehe, daß mich ein Gefühl der Scham erfüllt, wenn ich an unser riesiges Eisenbahnnetz denke und
weiß, daß die Mexikaner nur eine oder zwei unbedeutende Linien besitzen.«
»Die alte Theorie wirtschaftlicher Unabhängigkeit ist längst überholt. Es ist unmöglich, daß ein Land inmitten
einer hungernden Welt blühen und gedeihen kann.«
Sie dachte, daß man jede verfügbare Schiene, jeden Nagel und jeden Dollar brauchte, um Taggart
Transcontinental wieder zu der Eisenbahn zu machen, die sie einst – lange vor ihrer Zeit – gewesen war.
In der gleichen Sitzung, in den gleichen Reden wurde von der Effizienz der mexikanischen Regierung
gesprochen, die alles unter Kontrolle hatte. »Mexiko hat eine große Zukunft«, sagten sie, »und es wird in
wenigen Jahren ein gefährlicher Konkurrent sein.« Immer wieder hieß es: »In Mexiko herrscht Disziplin«, und
der Ton ihrer Stimmen verriet leisen Neid.
James Taggart ließ durchblicken – in unvollendeten Sätzen und unbestimmten Andeutungen –, daß seine
Freunde in Washington, die er nie mit Namen nannte, an dem Bau einer Eisenbahn in Mexiko stark interessiert
waren; daß so eine Linie für die internationalen Beziehungen eine große Hilfe wäre; und daß das Wohlwollen
der öffentlichen Meinung der ganzen Welt Taggart Transcontinental die Investitionen mehr als zurückzahlen
würde.
Sie stimmten dafür, die San-Sebastián-Linie für dreißig Millionen Dollar zu bauen.
Als Dagny den Sitzungssaal verlassen hatte und durch die frische, kalte Luft der Straßen ging, hörte sie – wie
betäubt – von tief innen die beharrlich wiederholte Aufforderung: »Hör auf… Hör auf… Hör auf…« Sie war
entsetzt. Der Gedanke, Taggart Transcontinental aufzugeben, war für sie unvorstellbar. Ihr Entsetzen bezog sich
nicht auf den Gedanken selbst, sondern auf die Tatsache, daß sie ihn überhaupt hatte denken können. Ärgerlich
schüttelte sie den Kopf; sie sagte sich, daß Taggart Transcontinental sie jetzt mehr brauchte als je zuvor.
Zwei Vorstandsmitglieder traten zurück, ebenso der Betriebsleiter. Er wurde durch einen Freund von James
Taggart ersetzt.
Schienen wurden quer durch die mexikanische Wüste gelegt – während gleichzeitig Anweisungen ergingen,
die Geschwindigkeit der Züge auf der Rio-Norte-Linie zu verringern, weil die Strecke in einem so erbärmlichen
Zustand war. Ein Bahnhofsgebäude aus Stahlbeton mit Marmorsäulen und Spiegeln wurde im Staub eines
ungepflasterten Platzes in einem mexikanischen Dorf erbaut – während ein Tankzug mit Öl eine Böschung
hinunterstürzte und zu einem brennenden Schutthaufen wurde, weil eine Schiene auf der Rio-Norte-Linie
gesprungen war. Ellis Wyatt wartete nicht die Gerichtsentscheidung ab, ob der Unfall, wie James Taggart
behauptete, auf höhere Gewalt zurückzuführen war. Er betraute Phoenix-Durango, eine bis dahin völlig
unbedeutende Eisenbahn, mit der Beförderung seines Öls. Sie war zwar klein, aber engagiert und kompetent.
Ellis Wyatts Entscheidung war der Treibsatz, der Phoenix-Durango angeschoben hatte. Von da an wuchs die
kleine Bahn, wie die Wyatt-Ölfelder wuchsen, wie Fabriken in den nahen Tälern wuchsen, während Schienen
und Schwellen sich schleppend ihren Weg durch die dürren mexikanischen Maisfelder bahnten – mit einem
Tempo von zwei Meilen im Monat.
Dagny war zweiunddreißig Jahre alt, als sie James Taggart erklärte, sie werde ihren Posten niederlegen. Seit
drei Jahren leitete sie den Betrieb ohne Titel, Anerkennung oder Befugnisse. Sie gab sich ges chlagen, weil sie es
satt hatte, Stunden, Tage und Nächte zu vergeuden, die Fehler von Jims Freund auszubügeln, der den Titel eines
Stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden und Betriebsleiters trug. Der Mann war unfähig, und jede
Entscheidung, die er traf, war ihre, aber er traf sie erst, nachdem er alles getan hatte, um sie zu verhindern. Sie
stellte ihrem Bruder ein Ultimatum. Er stöhnte: »Aber Dagny, du bist doch eine Frau! Eine Frau als
Betriebsleiter? Das hat es noch nie gegeben. Der Vorstand wird dem nie zustimmen.«
»Dann gehe ich eben«, antwortete sie.
Sie machte sich keine Gedanken darüber, was sie künftig im Leben tun würde. Taggart Transcontinental zu
verlassen, war für sie ungefähr so, als würden ihr beide Beine amputiert. Dennoch war sie bereit, d ie Last dessen,
was sie dann erwartete, auf sich zu nehmen.
Sie begriff nie, warum der Vorstand sie einstimmig zur Stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden und
Betriebsleiterin ernannte.
Sie war es, die ihnen dann schließlich ihre San-Sebastián-Linie gab. Als sie den Posten übernahm, baute man
schon seit drei Jahren an ihr; ein Drittel der Strecke war fertig; die Kosten überschritten bereits die für den
Gesamtbau bewilligte Summe. Sie kündigte den Vertrag mit Jims Freund und fand einen Unternehmer, der die
Linie in einem Jahr fertigstellte.
Die San-Sebastián-Linie war jetzt in Betrieb. Aber das Frachtgutaufkommen war schwach. Und nicht ein
einziger mit Kupfer voll beladener Zug hatte bislang je die Grenze überquert. Die wenigen Waggons, die in
langen Abständen von San Sebastián durch die Berge heruntergerumpelt kamen, konnte man an einer Hand
abzählen. Die Bergwerke, erklärte Francisco d’Anconia, befänden sich noch im Stadium der Entwicklung.
Taggart Transcontinental setzte nur zu. Dagny saß an ihrem Schreibtisch im Büro, wie sie so viele Abende dort
gesessen hatte, und grübelte darüber nach, welche Strecken das ganze Netz in wie vielen Jahren retten könnten.
Wenn die Rio-Norte-Linie wiederhergestellt wäre, würde alles andere gerettet sein. Beim Durchsehen der
Zahlenkolonnen, die Verluste und immer mehr Verluste bedeuteten, dachte sie nicht an das sich hinquälende,
sinnlose mexikanische Abenteuer. Sie dachte an ein Telefongespräch. »Hank, können Sie uns retten? Können Sie
uns Schienen in kürzester Frist und mit möglichst langem Kredit liefern?« Eine ruhige, feste Stimme hatte
geantwortet: »Kein Problem.«
Der Gedanke daran machte ihr ein wenig Mut. Sie beugte sich über die Blätter auf ihrem Schreibtisch und
konnte sich plötzlich besser konzentrieren. Da war wenigstens etwas, das nicht in Schall und Rauch aufging,
wenn man es brauchte.
James Taggart kam durch das Vorzimmer von Dagnys Büro, noch ganz von der Zuversicht erfüllt, die er vor
einer halben Stunde in der Bar unter seinen Freunden gefühlt hatte. Als er die Tür öffnete, war die Zuversicht
dahin. Er trat an ihren Schreibtisch wie ein Kind, das auf seine Strafe wartet und in dem sich die Erinnerung
daran für viele Jahre festfressen wird.
Er sah den über Papiere gebeugten Kopf, das Licht der Schreibtischlampe, in dem die Strähnen ihrer
zerzausten Haare glänzten, die locker über ihre Schultern fließende weiße Hemdbluse, die sie besonders
zerbrechlich wirken ließ.
»Was ist los, Jim?«
»Was stellst du mit der San-Sebastián-Linie an?«
Sie hob den Kopf. »Was meinst du?«
»Nach welchem Fahrplan verkehren die Züge dort, und was sind es für Züge?«
Sie lachte. Es klang amüsiert und ein bißchen müde. »Du solltest wirklich hin und wieder mal die Berichte
lesen, die an das Büro des Vorstandsvorsitzenden geschickt werden.«
»Was soll das heißen?«
»Der Fahrplan, nach dem die Züge verkehren, ist schon vor drei Monaten aufgestellt worden.«
»Ein Personenzug täglich?«
»Morgens – und jeden zweiten Abend ein Güterzug.«
»Du lieber Himmel! Auf einer so wichtigen Strecke?«
»Die wichtige Strecke kann sich nicht einmal diese beiden Züge leisten.«
»Aber die Mexikaner erwarten von uns eine regelmäßige Bahnverbindung.«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Sie brauchen Züge.«
»Wofür?«
»Für… damit sie ihre Industrie entwickeln können. Wie sollen sie sie entwickeln können, wenn wir ihnen
keine Transportmittel zur Verfügung stellen?«
»Am besten gar nicht.«
»Das ist nur deine persönliche Ansicht. Ich weiß nicht, mit welchem Recht du von dir aus unseren Zugverkehr
so eingeschränkt hast. Der Kupfertransport allein wird die Strecke rentabel machen.«
»Wann?«
Er sah sie an; sein Gesicht verriet die Befriedigung eines Menschen, der etwas sagt, womit er den anderen
kränken kann.
»Du zweifelst doch wohl nicht an dem Erfolg der Kupfergruben – da ja Francisco d’Anconia sie leitet.« Er
betonte den Namen und beobachtete sie dabei. »Er ist vielleicht dein Freund, aber…«, sagte sie.
»Mein Freund? Ich dachte, er sei deiner.«
»Seit zehn Jahren nicht mehr«, sagte sie kühl.
»Schade. Trotzdem ist er immer noch einer der tüchtigsten Unternehmer der Welt. Ihm ist noch nie etwas
schief gegangen. Jedenfalls nichts Geschäftliches. Und da er Millionen von seinem eigenen Geld in diese
Bergwerke gesteckt hat, können wir uns auf sein Urteil verlassen.«
»Wann wirst du endlich begreifen, daß Francisco d’Anconia sich zu einem verantwortungslosen Partylöwen
entwickelt hat?«
Er lachte. »Das war ja schon immer meine Meinung – soweit es seinen Charakter betrifft. Aber du hast sie nie
geteilt. Du warst der genau entgegengesetzten Ansicht. Und wie entgegengesetzt! Sicherlich erinnerst du dich
noch an unsere Auseinandersetzungen über dieses Thema. Soll ich einiges von dem zitieren, was du über ihn
gesagt hast? Was du mit ihm getrieben hast, kann ich ja nur vermuten.«
»Willst du mit mir über Francisco d’Anconia sprechen? Bist du deswegen hergekommen?«
Man sah seinem Gesicht den Ärger an, daß es ihm nicht geglückt war, sie zu kränken – denn ihr Gesicht blieb
völlig ausdruckslos. »Du weißt genau, warum ich hergekommen bin«, sagte er bissig. »Ich habe unglaubliche
Dinge über unsere Züge in Mexiko gehört.«
»Was für Dinge?«
»Was für Züge setzt du dort ein?«
»Die schlechtesten, die ich auftreiben kann.«
»Das gibst du so ohne weiteres zu?«
»Es steht in den Berichten, die ich dir geschickt habe.«
»Stimmt es, daß du da Lokomotiven, die mit Holz geheizt werden, fahren läßt?«
»Eddie hat sie in irgendeinem verlassenen Schuppen in Louisiana entdeckt. Er hat nicht einmal erfahren
können, wie die Eisenbahn hieß, der sie gehört hatten.«
»Und sowas läßt du als Taggart-Züge verkehren?«
»Ja.«
»Was soll das? Was geht hier vor? Ich möchte wissen, was hier vorgeht!«
Sie antwortete ruhig und sah ihm offen ins Gesicht: »Wenn du es wissen willst, ich habe der San-Sebastián-
Linie nur altes Gerümpel gelassen, und auch davon so wenig wie möglich. Ich habe alles, was sich wegschaffen
ließ, aus Mexiko wegschaffen lassen – Elektromotoren, Werkzeug, sogar Schreibmaschinen und Spiegel.«
»Warum in aller Welt?«
»Damit die Plünderer nicht viel zum Plündern haben, wenn sie die Linie verstaatlichen.«
Er sprang auf. »Damit wirst du nicht durchkommen. Diesmal wirst du damit nicht durchkommen. Die
Unverschämtheit zu haben, etwas so Schändliches zu tun… nur auf einige gemeine Gerüchte hin, wo wir einen
Vertrag auf zweihundert Jahre haben und…«
»Jim«, sagte sie leise, »wir haben nicht einen Waggon, eine Lokomotive oder eine Tonne Kohle, die wir
irgendwo anders in unserem Netz entbehren können.«
»Ich lasse das nicht zu. Ich werde auf keinen Fall ein so ungeheuerliches Vorgehen gegen eine befreundete
Nation dulden, die unsere Hilfe braucht. Es geht nicht nur um den materiellen Gewinn. Es gibt auch
nichtmaterielle Überlegungen, selbst wenn du das nicht verstehst.«
Sie ergriff einen Bleistift. »Gut, Jim. Wie viele Züge sollen in Zukunft auf der San-Sebastián-Linie
verkehren?«
»Wie?«
»Auf welchen Linien soll ich den Verkehr einschränken – um die nötigen Diesellokomotiven und
Stahlwaggons dafür zur Verfügung zu haben?«
»Ich will keine Einschränkung des Verkehrs.«
»Woher soll ich dann das für Mexiko notwendige Material nehmen?«
»Das mußt du selbst wissen. Das ist deine Aufgabe.«
»Ich bin dazu nicht in der Lage. Du mußt es entscheiden.«
»Das ist dein üblicher verfluchter Trick – die Verantwortung auf mich abzuwälzen.«
»Ich warte auf deine Anweisungen, Jim.«
»In die Falle gehe ich nicht.«
Sie legte den Bleistift hin. »Dann bleibt auf der San-Sebastián-Linie alles beim alten.«
»Warte die Aufsichtsratssitzung im nächsten Monat ab. Ich werde fordern, daß man ein für allemal
entscheidet, wie weit die Betriebsleitung ihre Befugnisse überschreiten darf. Du wirst dich dafür rechtfertigen
müssen.«
»Ich werde mich dafür rechtfertigen.«
Noch ehe sich die Tür hinter James Taggart geschlossen hatte, war Dagny schon wieder in ihre Arbeit vertieft.
Als sie fertig war, schob sie die Papiere beiseite und blickte auf. Der Himmel hinter dem Fenster war schwarz,
und von der Stadt sah man keine Mauern, nur weite Flächen von erleuchtetem Glas. Sie erhob sich widerwillig.
Sie ärgerte sich darüber, daß sie ein wenig erschöpft war – aber sie war es heute abend.
Der Vorraum war dunkel und leer; ihre Mitarbeiter waren schon nach Hause gegangen. Nur Eddie Willers saß
noch am Schreibtisch seines durch Glasfenster abgetrennten Büros, das sich in einer Ecke des großen Raums
befand und wie ein Lichtwürfel aussah. Sie winkte ihm zu.
Sie fuhr im Fahrstuhl nicht ins Erdgeschoß, sondern in die Halle des Taggart Terminals hinunter. Sie liebte es,
auf dem Heimweg durch diese Halle zu gehen.
Die Halle war ihr immer wie eine Kirche erschienen. Zu der hohen Decke aufblickend, sah sie das von
gewaltigen Säulen getragene dunkle Gewölbe und den oberen Rand der großen, im Dunkeln glänzenden Fenster.
Das Gewölbe spannte sich wie das eines Domes in erhabenem Frieden schützend über die sich unten drängenden
Menschen.
In der Halle stand eine Statue Nathaniel Taggarts, des Gründers der Eisenbahn. Aber keiner der Reisenden
beachtete sie, weil man an ihren Anblick gewöhnt war. Dagny war die einzige, die nie gleichgültig an ihr
vorüberging. Zu dieser Statue aufzublicken, wann immer sie durch die Halle kam, war die einzige Art von
Gebet, die sie kannte.
Nathaniel Taggart war ein mittelloser Abenteurer gewesen, der irgendwo aus Neuengland gekommen war und
in der Zeit der ersten Schienen eine Eisenbahnlinie quer durch den Kontinent gebaut hatte. Diese Linie bestand
noch; der Kampf, den es ihn gekostet hatte, sie zu bauen, war zu einer Legende geworden, weil die Menschen
nicht glauben wollten, daß es wirklich ein Kampf gewesen war.
Er war ein Mann, der sich immer gegen die Meinung gewehrt hatte, andere hätten das Recht, sich ihm in den
Weg zu stellen. Er setzte sich ein Ziel und ging auf dieses Ziel zu, und sein Weg verlief so gerade wie der seiner
Schienen. Er bemühte sich nie um Anleihen, Obligationen, Subsidien, Landübereignungen oder staatliche
Beihilfen. Er erhielt Geld von den Männern, die es besaßen, indem er von Tür zu Tür ging, von den
Mahagonitüren der Banken zu den Schindeltüren einsamer Farmhäuser. Er redete nie vom öffentlichen Wohl. Er
sagte den Leuten nur, seine Eisenbahn werde ihnen große Profite einbringen, er erklärte ihnen, warum er diese
Gewinne erwartete. Er nannte ihnen die Gründe; seine Gründe waren gut. Durch all die folgenden Generationen
hindurch war die Taggart-Eisenbahngesellschaft eine der wenigen, die nie in Konkurs ging, und die einzige,
deren Aktienmajorität im Besitz der Nachkommen des Gründers blieben.
Zu seinen Lebzeiten war der Name »Nat Taggart« nicht berühmt, sondern berüchtigt; man sprach ihn nicht
voll Hochachtung aus, sondern voll grollender Neugier. Und wenn ihn jemand bewunderte, dann so, wie man
einen erfolgreichen Räuber bewundert. Dennoch war kein Cent seines Vermögens durch Gewalt oder Betrug
verdient. Sein einziges Vergehen bestand darin, daß er sein Vermögen selber verdient hatte.
Viele Geschichten waren über ihn in Umlauf. Es hieß, er habe in der Wildnis des Mittleren Westens einen
Regierungsbeamten ermordet, der versucht hatte, eine ihm erteilte Baubewilligung zu widerrufen, und zwar, als
seine quer durch den Staat führende Eisenbahnlinie schon zur Hälfte fertig war. Einige Regierungsbeamte
spekulierten mit Taggart-Aktien. Sie erwarteten schnelle Kursgewinne. Nat Taggart wurde angeklagt, aber der
Mord konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Von da an hatte er nie wieder Schwierigkeiten mit
Regierungsbeamten.
Es hieß, Nat Taggart habe sein Leben viele Male für seine Eisenbahn aufs Spiel gesetzt; aber einmal ging es
um mehr als sein Leben. Obwohl er für den Weiterbau einer seiner Eisenbahnlinien dringend Geld brauchte,
warf er einen distinguierten Herrn, der ihm ein Staatsdarlehen anbot, drei Treppen hinunter. Dann verpfändete er
seine Frau als Sicherheit für ein Darlehen an einen Millionär, der ihn haßte und sie anhimmelte. Er zahlte das
Darlehen fristgemäß zurück und brauchte darum sein Pfand nicht herauszugeben. Den Handel hatte er mit
Einwilligung seiner Frau abgeschlossen. Sie war eine große Schönheit aus einer der vornehmsten Familien der
Südstaaten. Ihre Familie hatte sie enterbt, weil sie mit einem mittellosen Abenteurer durchgebrannt war: Nat
Taggart.
Dagny bedauerte manchmal, daß Nat Taggart ihr Vorfahr war. Was sie für ihn empfand, hatte nichts mit jener
geschuldeten Zuneigung zu tun, die man einem Onkel oder Großvater entgegenbringt. Daß dieser Unterschied
durch ihre Abstammung verwischt wurde, störte sie. Wen und was sie liebte, wollte sie selbst entscheiden. Und
sie ärgerte sich über jeden, der von ihr Liebe verlangte. Aber wenn sie einen Vorfahren hätte wählen können,
hätte sie Nat Taggart in freiwilliger Verehrung und mit all ihrer Dankbarkeit gewählt.
Nat Taggarts Statue war nach der Skizze eines jungen Künstlers entstanden, dem einzigen Bild, das je von
ihm gemacht worden war. Er war sehr alt geworden, aber man konnte ihn sich nur so vorstellen, wie er auf jener
Skizze aussah – als jungen Mann. In Dagnys Kindheit war diese Statue für sie das gewesen, was sie sich unter
Erhabenheit vorstellte. Wenn sie in der Kirche oder der Schule jemand dieses Wort sagen hörte, glaubte sie zu
wissen, was die Menschen damit meinten: die Statue.
Die Statue stellte einen jungen Mann mit einem hochgewachsenen, schlanken Körper und einem eckigen
Gesicht dar. Er hielt den Kopf so, als sähe er sich einer Herausforderung gegenüber und freute sich, ihr
gewachsen zu sein. Alles, was Dagny vom Leben begehrte, war in dem Wunsch eingeschlossen, den Kopf so zu
halten, wie er es tat.
Auch als sie heute abend durch die Halle ging, blickte sie die Statue an. Es war ein Augenblick der Ruhe; es
war, als ob eine Last, die sie nicht mit Namen nennen konnte, leichter würde und als ob ein Hauch frischer Luft
ihre Stirn berührte.
In einer Ecke der Halle, dicht neben dem Haupteingang, befand sich ein kleiner Zeitungsstand. Der Besitzer,
ein stiller, höflicher alter Mann, der so wirkte, als ob er eine gute Erziehung genossen hätte, stand schon seit
zwanzig Jahren dort hinter seinem Ladentisch. Ihm hatte einst eine Zigarettenfabrik gehört, aber sie hatte
Konkurs gemacht, und er hatte sich klaglos darein geschickt, fortan einsam inmitten des Strudels der Reisenden
in diesem bescheidenen Zeitungsstand zu stehen. All seine Angehörigen und Freunde waren schon tot. Er hatte
ein Steckenpferd, das seine einzige Freude war: Er sammelte Zigaretten aus der ganzen Welt für seine
Privatsammlung; er kannte jede Marke, die es gab oder einmal gegeben hatte.
Dagny blieb immer gern einen Augenblick lang bei ihm stehen. Er schien zum Taggart Terminal zu gehören
wie ein alter Wachhund, der zwar zu schwach ist, jemand zu beschützen, dessen unwandelbare Treue aber etwas
Beruhigendes hat. Er freute sich, wenn er sie kommen sah, weil ihn der Gedanke belustigte, er allein wisse, was
für eine bedeutende Persönlichkeit die junge Frau im Sportmantel mit dem heruntergebogenen Hut war, die sich
unerkannt in der Menge bewegte.
Wie üblich blieb sie heute abend stehen, um ein Päckchen Zigaretten zu kaufen. »Was macht Ihre
Sammlung?« fragte sie. »Haben Sie wieder neue Marken aufgetrieben?«
Er schüttelte den Kopf und lächelte traurig. »Nein, Miss Taggart. Es gibt nirgends in der Welt neue Marken.
Sogar die alten verschwinden eine nach der anderen. Es werden nur noch fünf oder sechs zum Kauf angeboten,
während es früher Dutzende waren. Die Menschen machen gar nichts Neues mehr.«
»Das kommt wieder. Das ist nur augenblicklich so.«
Er blickte sie an, ohne etwas darauf zu erwidern. Dann sagte er: »Ich liebe Zigaretten, ich habe es gern, Feuer
in der Hand eines Menschen zu sehen. Feuer, eine gefährliche Kraft, die er mit seinen Fingerspitzen zähmt. Ich
male mir oft aus, wie jemand stundenlang allein in seinem Zimmer sitzt, den Rauch einer Zigarette beobachtet
und denkt. Wie viele große Ideen mögen in solchen Stunden geboren worden sein? Wenn ein Mensch denkt, ist
ein Feuertunke in seinem Geist lebendig – und das Glimmen seiner Zigarette ist sozusagen das Symbol seines
Denkens.«
»Denken die Menschen überhaupt?« fragte sie unwillkürlich und hielt erschrocken inne. Dies war eine Frage,
die sie quälte, und sie wollte nicht darüber reden.
Der alte Mann schien ihr abruptes Schweigen bemerkt und verstanden zu haben; aber er sagte es nicht. Er
sagte statt dessen: »Es gefällt mir nicht, wie die Menschen heute sind, Miss Taggart.«
»Was gefällt Ihnen nicht?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich habe sie zwanzig Jahre lang beobachtet und habe die Veränderung bemerkt.
Früher eilten sie durch die Halle, und es tat einem wohl, das zu sehen; es war die Eile von Menschen, die wissen,
wohin sie gehen, und die schnell dorthin gelangen wollen. Heute eilen sie, weil sie Angst haben. Sie haben kein
Ziel, sie sind auf der Flucht. Und ich glaube, sie wissen gar nicht, wovor sie flüchten möchten. Sie sehen sich
nicht an. Sie zucken zusammen, wenn sie sich versehentlich anrempeln. Sie lächeln unentwegt, aber es ist ein
häßliches Lächeln: Es ist keine Freude, es ist ein Flehen. Ich weiß nicht, was mit der Welt los ist.« Er zuckte die
Achseln. »Wer ist John Galt?«
»Er ist eine Phrase!«
Sie war erschrocken über die Schärfe ihrer Stimme, und sie fügte entschuldigend hinzu: »Ich schätze diese
leere Redensart nicht. Was soll sie bedeuten? Woher kommt sie?«
»Niemand weiß es«, antwortete er leise.
»Warum benutzen die Menschen sie immer wieder? Niemand scheint erklären zu können, was sie bedeutet,
aber alle benutzen sie, als ob sie die Bedeutung wüßten.«
»Warum stört Sie das?« fragte er.
»Ich mag nicht, was sie zu meinen scheinen, wenn sie den Satz aussprechen.«
»Ich auch nicht, Miss Taggart.«

Eddie Willers aß immer in der Kantine des Taggart Terminals zu Abend. Im Verwaltungsgebäude gab es ein
Restaurant, in dem die leitenden Angestellten verkehrten, aber er schätzte es nicht. Die Kantine war wie ein Teil
der Eisenbahn, und er fühlte sich hier mehr zu Hause.
Die Kantine lag unter der Erde. Sie war groß mit weiß gekachelten Wänden, in denen sich das elektrische
Licht spiegelte und die wie Silberbrokat aussahen. Sie hatte eine hohe Decke, glitzernde Theken aus Glas und
Chrom, war weit und hell.
Manchmal traf Eddie Willers in der Kantine einen Bahnarbeiter. Er mochte sein Gesicht. Sie waren einmal
zufällig ins Gespräch gekommen, und von da an aßen sie immer zusammen, wenn sie sich zufällig trafen.
Eddie hatte vergessen, ob er je den Mann nach seinem Namen oder der Art seiner Arbeit gefragt hatte; er
nahm an, daß er nur eine untergeordnete Tätigkeit hatte, denn er trug einen mit Öl beschmierten Arbeitsanzug.
Der Mann war für ihn keine Person, sondern nur eine stumme Gestalt, die sich leidenschaftlich für das
interessierte, was der Sinn seines Lebens war: Taggart Transcontinental.
Als Eddie an diesem späten Abend in die Kantine kam, sah er den Arbeiter in einer Ecke des halbleeren
Raumes sitzen. Eddie lächelte erfreut, winkte ihm zu und ging dann mit seinem Tablett an den Tisch des
Mannes.
In diesem ungestörten Winkel fühlte sich Eddie nach dem langen, anstrengenden Tag wohl und entspannt. Er
konnte sprechen, wie er nirgendwo anders sprechen konnte, durfte Dinge gestehen, die er niemand sonst
gestanden hätte, konnte laut denken und dabei in die aufmerksamen Augen des Arbeiters ihm gegenüber blicken.
»Die Rio-Norte-Linie ist unsere letzte Hoffnung«, sagte Eddie Willers. »Aber sie wird uns retten. Wir haben
dann wenigstens die Strecke in gutem Zustand, die am nötigsten gebraucht wird, und das wird uns helfen, die
übrigen zu retten… Es ist komisch, nicht wahr, von einer letzten Hoffnung für Taggart Transcontinental zu
sprechen? Nehmen Sie es ernst, wenn Ihnen jemand erzählt, ein Meteor werde bald die Erde zerstören? – Ich
auch nicht… ‘Von Ozean zu Ozean, bis in alle Ewigkeit’ – so haben Sie und ich es unsere ganze Kindheit
hindurch gehört. Nein, es hieß nicht ‘bis in alle Ewigkeit’, aber das war gemeint… Wissen Sie, ich bin kein
großer Mann. Ich hätte diese Eisenbahn nicht schaffen können. Wenn sie zusammenbricht, kann ich sie nicht
wieder aufbauen. Dann gehe ich mit ihr unter… Hören Sie gar nicht auf das, was ich sage. Ich weiß selbst nicht,
warum es mich drängt, das zu sagen. Ich bin wohl ein bißchen müde heute abend. – Ja, ich habe lange gearbeitet.
Sie hat mich nicht gebeten zu bleiben, aber noch lange, nachdem die anderen gegangen waren, sah ich unter ihrer
Tür einen Lichtschein. – Ja, sie ist jetzt auch nach Hause gegangen. – Ärger? Ach, im Büro ist immer Ärger.
Aber sie macht sich keine Sorgen. Sie weiß, sie kann uns durchbringen. – Natürlich, die Lage ist schlimm. Wir
haben viel mehr Unfälle gehabt, als Sie wissen. Wir haben in der letzten Woche wieder zwei Diesellokomotiven
verloren. Eine, weil sie altersschwach war, die andere bei einem Zusammenstoß. – Ja, wir haben bei United
Locomotive Works Dieselloks bestellt, warten aber schon zwei Jahre lang auf sie. Ich weiß nicht, ob wir sie
überhaupt je bekommen werden… und dabei brauchen wir sie so nötig! Triebkraft, Sie können sich nicht
vorstellen, wie wichtig sie ist. Sie ist das Herz von allem. – Warum lächeln Sie darüber? Wie ich schon gesagt
habe, es ist eine schlimme Situation. Aber die Rio-Norte-Linie wird wenigstens erneuert. In ein paar Wochen
wird die erste Schienenlieferung an Ort und Stelle sein. In einem Jahr wird der erste Zug auf neuen Gleisen
fahren. Diesmal wird uns nichts davon abbringen. – Gewiß, ich weiß, wer die Schienen legt. McNamara aus
Cleveland. Er ist der Unternehmer, der die San-Sebastián-Linie für uns fertiggebaut hat. Das ist wenigstens ein
Mann, der seine Sache versteht. Da können wir ganz ohne Sorgen sein. Wir können auf ihn zählen. Es gibt nicht
mehr viele gute Unternehmer… Wir haben Hochbetrieb, aber das habe ich gerade gern. Ich bin eine Stunde
früher als sonst ins Büro gekommen, aber sie war noch früher da. Sie ist immer die erste. – Was? – Ich weiß
nicht, was sie abends tut. Nicht viel, nehme ich an. – Nein, sie geht nie mit jemand aus. Sie sitzt meistens zu
Hause und hört Musik. Sie spielt Platten. – Welche Platten? Wieso interessiert Sie das? Richard Halley. Sie liebt
die Musik von Richard Halley. Außer der Eisenbahn ist sie das einzige, was sie liebt.«
IV. Die unbewegten Beweger

Triebkraft, dachte Dagny, als sie im Zwielicht zu dem Taggart-Gebäude aufblickte, war das, was man am
nötigsten brauchte. Triebkraft, die dieses Gebäude aufrechterhielt. Bewegung, die es unbeweglich machte. Es
ruhte nicht auf in Granit getriebenen Eisenträgern; es ruhte auf den Lokomotiven, die durch den Kontinent
rollten.
Sie spürte eine leise Anwandlung von Angst. Sie kam von einer Fahrt zur Fabrik von United Locomotive
Works in New Jersey zurück, wo sie den Vorstandsvorsitzenden persönlich hatte sprechen wollen. Nichts hatte
sie erfahren; weder den Grund für die immer neuen Verzögerungen noch das ungefähre Datum, wann die
Diesellokomotiven hergestellt würden. Zwei Stunden lang hatte der Vorstandsvorsitzende sich mit ihr
unterhalten. Aber keine ihrer Fragen war von ihm beantwortet worden. Sein Verhalten hatte etwas seltsam
Vorwurfsvolles und Herablassendes gehabt, sobald sie versuchte, das Gespräch auf das ihr am Herzen liegende
Thema zu bringen, als ob sie damit eine jedem wohlerzogenen Menschen bekannte ungeschriebene Regel brach.
Auf ihrem Gang durch das Werk hatte sie in einer Ecke des Geländes eine verlassen dastehende riesige
Maschine gesehen. Es war eine Präzisionsmaschine, wie man sie jetzt nirgends mehr kaufen konnte. Aber sie
war schon lange unbrauchbar. Nicht durch Abnutzung, sondern durch Vernachlässigung. Der Rostfraß und die
schmutzigen Ölspuren sprachen eine deutliche Sprache. Dagny hatte die Augen davon abgewandt. Ein solcher
Anblick machte sie vor wilder Wut immer blind. Sie wußte nicht, warum; sie konnte sich ihr Gefühl nicht
erklären; sie wußte nur, in diesem Gefühl war ein Aufschrei gegen das Unrecht, und es war die Reaktion auf
etwas, das viel mehr war als eine alte Maschine.
Als sie das Vorzimmer ihres Büros betrat, waren ihre Mitarbeiter bereits gegangen. Aber Eddie Willers
erwartete sie noch. An der Art, wie er sie ansah und ihr stumm in ihr Büro folgte, merkte sie sofort, daß etwas
passiert war.
»Was ist los, Eddie?«
»McNamara ist weg.«
Sie sah ihn verständnislos an. »Was meinst du mit ‘weg’?«
»Er ist weg, er hat sich aus dem Geschäft zurückgezogen.«
»McNamara, unser Unternehmer?«
»Ja.«
»Aber das ist doch unmöglich.«
»Ich weiß, daß er weg ist.«
»Was ist geschehen? Warum?«
»Niemand weiß es.«
Sie ließ sich absichtlich Zeit, knöpfte ihren Mantel auf, setzte sich an ihren Schreibtisch und begann ihre
Handschuhe abzustreifen. Dann sagte sie: »Setz dich, Eddie, und erzähl mir alles der Reihe nach.«
Er sprach ruhig, blieb aber stehen. »Ich habe ein Ferngespräch mit dem Chefingenieur geführt. Der
Chefingenieur hat uns aus Cleveland angerufen, um uns zu informieren. Weiter hat er nichts gesagt. Er weiß
auch nichts Näheres.«
»Was hat er gesagt?«
»McNamara habe seine Firma geschlossen und sei weg.«
»Wohin?«
»Er weiß es nicht. Niemand weiß es.«
Sie sah, daß sie mit einer Hand zwei leere Finger des Handschuhs der anderen Hand hielt. Sie hatte den
Handschuh halb abgestreift und dann vergessen. Sie zog ihn aus und warf ihn auf den Schreibtisch.
Eddie sagte: »Und dabei hatte er einen ganzen Stapel von Verträgen, die ein Vermögen wert sind. Er hatte
eine Liste von Kunden, die für die nächsten drei Jahre vorgemerkt waren…«
Sie blieb stumm. Mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Es würde mich nicht erschrecken, wenn ich es verstehen
könnte… Aber etwas, das keinen plausiblen Grund haben kann…« Sie schwieg immer noch.
»Er war der beste Unternehmer im Land.«
Sie blickten einander an. »Ach Gott, Eddie«, hätte sie am liebsten gesagt, aber statt dessen sagte sie ruhig:
»Mach dir keine Sorgen. Wir werden einen anderen Bau-Unternehmer für die Rio -Norte-Linie finden.«
Es war schon spät, als sie ihr Büro verließ. Draußen auf dem Gehsteig vor dem Gebäude blieb sie stehen und
blickte die Straße hinunter. Sie kam sich plötzlich wie ausgepumpt vor, bar jeder Energie, jeden Ziels, als ob ein
überhitzter Motor stehengeblieben wäre.
Ein schwacher Schein stieg hinter den Häusern zum Himmel auf, der Reflex Tausender unbekannter Lichter,
der elektrische Atem der Stadt. Sie sehnte sich nur nach einem: Ruhe. Sie brauchte Ruhe, dachte sie, sie mußte
sich irgendwo zerstreuen.
Ihre Arbeit war alles, was sie hatte oder begehrte. Aber manchmal, wie an diesem Abend, fühlte sie diese jähe
seltsame Leere, die nicht Leere war, sondern Stille, nicht Verzweiflung, sondern Unbeweglichkeit, als wäre
nichts in ihr zerstört, aber alles plötzlich zum Halten gebracht worden. Dann verspürte sie den Wunsch, etwas zu
erleben, etwas was Freude macht, sich für einen Augenblick fesseln zu lassen vom rein passiven Erlebnis einer
großen Leistung, nicht zu geben, dachte sie, sondern zu nehmen, nicht etwas zu initiieren, sondern nur zu
reagieren, nicht zu schaffen, sondern zu bewundern. Ich brauche das, dachte sie, um weiter in Gang zu bleiben.
Die Freude ist mein Treibstoff.
Immer war sie selbst – sie schloß die Augen mit einem leisen Lächeln der Belustigung und des Schmerzes –
die einzige treibende Kraft ihres Glücks gewesen. Aber dieses eine Mal wollte sie sich von der Kraft der
Leistung eines anderen tragen lassen. So wie Menschen in einer dunklen Prärie sich an dem Anblick der
erleuchteten Fenster eines vorüberfahrenden Zuges freuten – ihrer Leistung –, dem Anblick von zielbewußter
Kraft, der ihnen inmitten der meilenweiten Einöde und des Dunkels ein Gefühl der Sicherheit gab, so wollte sie
es für einen Augenblick fühlen. Ein kurzer Gruß, ein rascher Blick, ein Winken – und denken zu können: »Da
hat jemand ein Ziel…«
Sie ging langsam weiter, die Hände in den Manteltaschen, und der Schatten des heruntergeklappten Hutrandes
fiel dabei über ihr Gesicht. Die Häuser ringsum waren so hoch, daß sie den Himmel nicht sehen konnte. Es hat
soviel dazu gehört, diese Stadt zu erbauen, dachte sie, und sie müßte einem soviel geben können.
Aus dem schwarzen Loch eines Lautsprechers über der Tür eines Ladens hallte laute Musik auf die Straße. Es
war die Übertragung eines Symphoniekonzerts irgendwo in der Stadt. Es war ein regelloses Geheul, das
unwillkürlich an blindwütig zerrissene Kleider und zerfetzte Leiber denken ließ. Es fehlte jede Melodie, jede
Harmonie, jeder Rhythmus. Wenn Musik Gefühl war und Gefühl vom Denken kam, dann war dies der Schrei
des Chaos, des Irrationalen, der Hilflosigkeit, der menschlichen Selbstaufgabe.
Sie ging weiter. Vor dem Schaufenster einer Buchhandlung blieb sie stehen. In dem Fenster war eine
Pyramide aus Büchern in bräunlich-roten Einbänden aufgestellt, die den Titel trugen: Der Hunger des Geiers.
»Der Roman unseres Jahrhunderts«, verkündete ein Plakat. »Ein mutiges Psychogramm der Wirtschaft. Die
entlarvende Analyse ihres einzigen Motivs: Habgier.«
Sie kam an einem Kino vorüber. Seine Lichter drängten die Häuser ringsum in den Schatten. Man sah nur ein
riesiges Foto, über dem ein grell leuchtendes Schriftband in der Luft schwebte. Das Foto zeigte eine lächelnde
junge Frau; wenn man ihr Gesicht betrachtete, dachte man gelangweilt, man kenne es seit Jahren, selbst wenn
man es zum ersten Mal sah. Auf dem Schriftband stand: »…in einem gewaltigen Drama, das die Antwort auf die
große Frage gibt: Wie ehrlich darf eine Frau sein?«
Sie ging an der Tür eines Nachtlokals vorbei. Ein Paar kam heraus und ging schwankend auf ein Taxi zu. Das
Mädchen hatte trübe Augen und ein schweißglänzendes Gesicht. Es trug einen Hermelinumhang und ein
elegantes Abendkleid, das von der einen Schulter heruntergerutscht war wie der Bademantel einer schlampigen
Hausfrau, so daß ihre Brust halb entblößt war. Aber es wirkte nicht mehr gewagt, sondern einfach nur noch
nachlässig. Ihr Begleiter hielt sie an ihrem nackten Arm fest, damit sie nicht hinfiel. Sein Gesicht zeigte nicht
den Ausdruck eines Mannes, der ein romantisches Abenteuer sucht, sondern das schäbige Grinsen eines Bengels,
der obszöne Wörter an Toilettenwände schmiert.
Was habe ich erwartet? dachte sie, als sie weiterging. So waren die Menschen, das war ihr Lebensinhalt, ihre
Kultur, ihr Vergnügen. Schon seit vielen Jahren hatte sie nirgendwo etwas anderes gesehen.
An der Ecke der Straße, in der sie wohnte, kaufte sie eine Zeitung und ging nach Hause.
Ihre Zweizimmerwohnung befand sich im obersten Stock eines Wolkenkratzers. Die Glasscheiben am
Eckfenster ihres Wohnzimmers ließen es wie den Bug eines fahrenden Schiffes erscheinen, und die Lichter der
Stadt waren phosphoreszierende Funken auf dunklen Wogen aus Stahl und Stein. Als sie eine Lampe anknipste,
fielen lange dreieckige Schatten auf die kahlen Wände. Sie bildeten ein geometrisches Muster mit den durch die
wenigen eckigen Möbelstücke gebrochenen Lichtstrahlen.
Sie stand in der Mitte des Zimmers, allein zwischen Himmel und Stadt. Nur eines konnte ihr das Gefühl
geben, das sie an diesem Abend empfinden wollte; es war die einzige Art Freude, die sie kannte. Sie ging an den
Plattenspieler und legte eine Halley-Platte auf.
Es war sein Viertes Konzert, das letzte Werk, das er komponiert hatte. Die lauten Anfangsakkorde
verscheuchten aus ihrem Innern alles, was sie auf den Straßen gesehen hatte. Das Konzert war ein
leidenschaftlicher Schrei der Rebellion. Es war ein »Nein«, das einem gewaltigen Folterprozeß
entgegengeschleudert wurde, eine Leugnung des Leidens, eine Leugnung, die zugleich der qualvolle Kampf der
Selbstbefreiung war. Die Klänge waren wie eine Stimme, die sagte: Es gibt keine Notwendigkeit für den
Schmerz. Warum ist dann der schlimmste Schmerz denen vorbehalten, die seine Notwendigkeit leugnen? Wir,
die wir die Liebe und das Geheimnis der Freude besitzen, zu welcher Strafe sind wir dafür verurteilt worden und
durch wen? – Die Klänge der Qual verwandelten sich in eine Herausforderung, die Darstellung des Leidens
wurde zu einer Hymne an eine ferne Vision, um derentwillen es sich lohnte, jedes Leiden, selbst dieses, zu
ertragen. Es war ein Lied der Auflehnung – und einer verzweifelten Frage.
Sie saß mit geschlossenen Augen still da und lauschte. Niemand wußte, was mit Richard Halley geschehen
war oder warum. Die Geschichte seines Lebens war gleichsam ein zusammengefaßter Bericht, der geschrieben
worden war, um die Größe dadurch zu verdammen, daß man zeigte, welchen Preis jemand dafür zahlen muß.
Dieses Leben war eine Reihe von in Bodenkammern und Kellerräumen verbrachten Jahren, von Jahren, welche
die graue Farbe der Wände angenommen hatten, zwischen denen ein Mensch gefangen saß, dessen Musik von
leuchtender Farbe überströmte. Es war das Grau eines Kampfes gegen lange Treppenfluchten in unbeleuchteten
Mietskasernen, gegen eingefrorene Wasserleitungen, gegen den Preis eines Sandwiches in einem übelriechenden
Delikatessen, gegen die Gesichter von Menschen, die der Musik mit leeren Augen lauschten. Es war ein Kampf
gewesen ohne die Befreiung durch Gewalt, ohne zu wissen, wer der Feind war, ein Kampf, bei dem man nur
gegen eine tote Wand hämmern konnte, eine Wand, die die schallsicherste aller Wände war: Gleichgültigkeit, die
Schläge, Akkorde und Schreie verschluckte – der stumme Kampf eines Mannes, der den Tönen eine größere
Beredsamkeit zu geben vermochte, als sie je besessen hatten –, das Schweigen des Dunkels, der Einsamkeit, der
wenigen Abende, wenn irgendein Orchester eines seiner Werke spielte und er in die Finsternis blickte und
wußte, daß seine Seele in zitternden, immer größer werdenden Kreisen von einem Funkturm durch die Luft der
Stadt schwebte. Aber kein Empfänger war angestellt, um sie zu hören. »Richard Halleys Musik ist zu heroisch.
Unsere Zeit ist über so etwas hinausgewachsen«, stand in einer Kritik. »Richard Halleys Musik paßt nicht in
unsere Zeit. Sie ist zu ekstatisch. Wer will heute noch Ekstase?« hieß es in einer anderen.
Sein Leben faßte das Leben all der Menschen zusammen, denen man hundert Jahre zu spät ein Denkmal in
einem öffentlichen Park setzt – nur, daß er nicht früh genug starb. Er erlebte den Abend, den er nach den
Gesetzen der Geschichte eigentlich nicht hätte erleben dürfen. Er war dreiundvierzig Jahre alt, und es war die
Premiere von »Phaethon«, einer Oper, die er mit vierundzwanzig Jahren geschrieben hatte. Er hatte die alte
griechische Sage nach seinem eigenen Ermessen verändert: Phaethon, der junge Sohn von Helios, der den
Wagen seines Vaters stahl und in kühnem Ehrgeiz versuchte, die Sonne über den Himmel zu fahren, ging nicht
zugrunde wie in der Sage. In Halleys Oper triumphierte Phaethon. Die Oper war dann vor neunzehn Jahren zum
ersten Mal aufgeführt worden, aber nach dieser einen Aufführung hatte man sie auf das Pfeifen und Lärmen hin
wieder abgesetzt. An jenem Abend war Richard Halley bis zur Morgendämmerung durch die Straßen der Stadt
gelaufen und hatte versucht, eine Antwort auf eine Frage zu finden. Aber er hatte sie nicht gefunden.
An dem Abend, neunzehn Jahre später, als die Oper wieder aufgeführt wurde, gingen die letzten Klänge der
Musik im lautesten Beifallsjubel unter, den man in dem Opernhaus je vernommen hatte. Die alten Mauern
konnten ihn nicht halten; er drang durch die Wandelgänge über die Treppen auf die Straßen, durch die Richard
Halley vor neunzehn Jahren gelaufen war.
Dagny erlebte den Triumph an jenem Abend mit. Sie war eine der wenigen, die Richard Halleys Musik schon
seit langem kannten. Aber sie war ihm nie begegnet. Sie sah, wie man ihn auf die Bühne zerrte, sah ihn der
jubelnden Menge gegenüberstehen, die ihn mit stürmischem Beifall begrüßte. Reglos stand er dort, ein großer,
abgezehrter Mann mit ergrauendem Haar. Er verbeugte sich nicht, er lächelte nicht, er stand dort reglos und
blickte in die Menge. Sein Gesicht zeigte den stillen, ernsten Ausdruck eines Menschen, der über eine Frage
nachgrübelt.
»Richard Halleys Musik«, schrieb ein Kritiker am nächsten Morgen, »gehört der Menschheit. Sie ist das
Produkt und der Ausdruck der Größe des Menschen.«
»Richard Halleys Leben«, sagte ein Pfarrer, »vermittelt uns eine inspirierende Einsicht. Er hat einen schweren
Kampf gekämpft, aber was bedeutet das? Es ist ein leuchtendes Beispiel, daß er Leiden, Ungerechtigkeit und die
Verachtung durch seine Brüder auf sich nahm – um ihr Leben zu bereichern und sie die Schönheit großer Musik
schätzen zu lehren.«
Am Tage nach dieser Aufführung zog Richard Halley sich aus der Öffentlichkeit zurück.
Er gab keine Erklärung dafür ab. Er sagte seinem Verleger nur, seine Laufbahn sei beendet. Er trat ihm die
Rechte an seinem Werk für eine bescheidene Summe ab, obwohl er wußte, daß seine Tantiemen ihm ein
Vermögen einbringen würden. Er verschwand, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Das war jetzt acht Jahre her;
seitdem hatte ihn niemand mehr gesehen.
Dagny lauschte dem Vierten Konzert mit geschlossenen Augen und zurückgeworfenem Kopf.
Sie lag halbausgestreckt auf einer Couch, entspannt und still, nur der Mund in ihrem reglosen Gesicht verriet
Spannung, ein sehnsüchtiges sinnliches Verlangen.
Nach einer Weile öffnete sie die Augen. Ihr Blick fiel auf die Zeitung, die sie auf die Couch geworfen hatte.
Wie im Traum griff sie nach ihr, um sie aufzuschlagen und die geschmacklosen Schlagzeilen auf der ersten Seite
nicht sehen zu müssen. Da sah sie das Foto eines Gesichts, das sie kannte, und die Überschrift eines Berichts. Sie
klappte die Zeitung zu und warf sie auf den Boden.
Es war das Gesicht Francisco d’Anconias. Darunter stand, er sei in New York angekommen. Nun, wenn
schon, dachte sie. Sie brauchte ihn nicht zu sehen. Sie hatte ihn schon seit Jahren nicht gesehen.
Sie blickte auf die Zeitung am Boden. Lies es nicht, dachte sie. Sieh es dir nicht an. Aber das Gesicht, dachte
sie, hat sich nicht verändert. Wie konnte ein Gesicht das gleiche bleiben, wenn alles andere dahin war? Sie hätte
gewünscht, man hätte ihn nicht lächelnd fotografiert. Diese Art des Lächelns gehörte nicht in eine Zeitung. Es
war das Lächeln eines Mannes, der die Herrlichkeit des Lebens zu sehen, zu erkennen und zu erschaffen vermag.
Es war das spöttische, herausfordernde Lächeln eines Hochbegabten. Lies es nicht, dachte sie. Nicht jetzt – nicht
bei dieser Musik – ach nein, nicht bei dieser Musik.
Sie griff nach der Zeitung und schlug sie auf. In dem Bericht hieß es, Señor Francisco d’Anconia habe der
Presse in seiner Suite im Wayne-Falkland-Hotel ein Interview gewährt. Er habe erklärt, er sei aus zwei wichtigen
Gründen nach New York gekommen: der eine sei ein Garderobenmädchen im Cub Club und der andere die
Leberwurst in Moe’s Delicatessen in der Third Avenue. Über den bevorstehenden Scheidungsprozeß von Mr.
und Mrs. Gilbert Vail hatte er nichts zu sagen. Mrs. Vail, eine Dame aus guter Familie und von
außergewöhnlichem Charme, hatte auf ihren distinguierten jungen Ehemann vor einigen Monaten geschossen
und öffentlich erklärt, sie habe ihn ihres Liebhabers, Francisco d’Anconias, wegen loswerden wollen. Sie hatte
der Presse ihre heimliche Liebesgeschichte in allen Einzelheiten geschildert und dabei auch den letzten
Silvesterabend erwähnt, den sie in d’Anconias Villa in den Anden verbracht hatte. Ihr Ehemann war mit dem
Leben davongekommen und hatte die Scheidungsklage eingereicht. Sie hatte in einer Gegenklage die Hälfte
seiner Millionen gefordert und recht ausführlich von seinem Privatleben berichtet, dem gegenüber das ihre, wie
sie sagte, sehr harmlos war. Über all dies hatten sich die Zeitungen wochenlang verbreitet. Aber Señor
d’Anconia hatte nichts dazu zu sagen, als die Reporter ihn fragten. Ob er Mrs. Vails Bericht bestreite, fragten sie.
»Ich bestreite nie etwas«, antwortete er. Die Reporter waren über sein plötzliches Eintreffen in der Stadt sehr
erstaunt gewesen; sie hatten geglaubt, es würde ihm unangenehm sein, sich gerade in dem Augenblick hier zu
befinden, in dem diese Skandalbombe ohnegleichen im Begriff war, auf den Titelseiten der Zeitungen zu
explodieren. Aber sie hatten sich getäuscht. Francisco d’Anconia fügte zu den Gründen für seine Ankunft noch
einen weiteren hinzu. »Ich wollte der Farce beiwohnen«, sagte er.
Dagny ließ die Zeitung auf den Boden gleiten. Sie saß vornübergebeugt, den Kopf in den Armen. Sie bewegte
sich nicht, aber die Strähnen ihres Haares, die ihr bis zu den Knien hingen, zitterten immer wieder.
Die großen Akkorde von Halleys Musik klangen fort, füllten den Raum, drangen durch die Fensterscheiben
und hallten über die Stadt. Sie lauschte der Musik. Sie war ihre Frage, ihr Schrei.

James Taggart ließ seine Blicke durch das Wohnzimmer seines Apartments schweifen und überlegte, wie spät
es wohl war; er hatte keine Lust aufzustehen und seine Uhr zu suchen. Er saß barfuß in einem zerknitterten
Schlafanzug in einem Sessel. Es war ihm zu mühselig, seine Pantoffeln zu holen. Das Licht des grauen Himmels
in den Fenstern tat seinen Augen weh, in denen noch der Schlaf klebte. Er spürte in seinem Schädel die
unangenehme Schwere, die sich jeden Augenblick in Kopfschmerzen verwandeln kann. Er fragte sich ärgerlich,
warum er überhaupt in das Wohnzimmer gekommen war. Ach ja, fiel ihm ein, weil er sehen wollte, wie spät es
war. Er beugte sich über die Armlehne des Sessels und sah an einem fernen Gebäude eine Uhr: es war zwanzig
Minuten nach zwölf.
Durch die offene Tür des Schlafzimmers hörte er, wie sich Betty Pope im Badezimmer dahinter die Zähne
putzte. Ihr Strumpfhaltergürtel lag auf dem Fußboden neben einem Stuhl, auf den sie ihre übrigen
Kleidungsstücke gelegt hatte; der Gürtel hatte eine verblichene rosa Farbe, und der Gummi war an einigen
Stellen durchgescheuert.
»Beeil dich bitte ein bißchen«, rief er gereizt. »Ich muß mich anziehen. Es ist schon spät!«
Sie antwortete nicht. Sie hatte die Tür des Badezimmers offengelassen; er konnte ihr Gurgeln hören.
Warum tu ich das? dachte er in Erinnerung an die letzte Nacht. Aber es war zu mühselig, nach einer Antwort
zu suchen.
Betty Pope kam ins Wohnzimmer. Sie trug ein Satin-Negligé mit orangerotem Harlekinmuster. Im Negligé
wirkte sie entsetzlich, dachte Taggart; auf den Fotos in der Gesellschaftsspalte der Zeitungen, auf denen sie ein
Reitkostüm trug, sah sie viel besser aus. Sie war ein hoch aufgeschossener, hagerer Typ mit ungeschickten
Bewegungen. Sie hatte ein biederes Gesicht, einen häßlichen Teint und etwas impertinent Herablassendes in
ihrem Blick, was wohl signalisieren sollte, daß sie einer der ersten Familien angehörte.
»Mist«, sagte sie vor sich hin und reckte sich, um ihre Glieder zu lockern.
»Jim, wo hast du deine Nagelschere?«
»Ich weiß nicht. Ich habe Kopfschmerzen. Mach es zu Hause.«
»Morgens siehst du unappetitlich aus«, sagte sie gleichgültig. »Du siehst wie ein Faultier aus.«
»Halt endlich den Mund.«
Sie ging ziellos im Zimmer auf und ab. »Ich habe keine Lust, nach Hause zu gehen«, sagte sie verdrießlich.
»Der Morgen ist mir zuwider. Wieder ein neuer Tag und nichts zu tun. Heute nachmittag gehe ich zu einem Tee,
den Liz Blane gibt. Vielle icht wird es ganz lustig, weil Liz eine Hure ist.« Sie ergriff ein Glas und trank den
abgestandenen Rest des Drinks. »Warum läßt du deine Klimaanlage nicht reparieren? Es stinkt hier.«
»Bist du im Badezimmer fertig?« fragte er. »Ich muß mich anziehen. Ich habe heute etwas Wichtiges vor.«
»Geh nur hinein. Mir macht es nichts. Ich werde das Badezimmer mit dir teilen. Ich hasse es, zur Eile
angetrieben zu werden.«
Während er sich rasierte, sah er ihr zu, wie sie sich vor der offenen Badezimmertür anzog. Sie brauchte eine
lange Zeit, um sich in den Strumpfhaltergürtel zu zwängen, die Strümpfe an den Haltern zu befestigen und ein
häßliches, teures Tweedkostüm anzuziehen. Das Harlekin-Negligé aus einer Anzeige in der angesagtesten
Modezeitschrift war wie eine Uniform, die man zu bestimmten Anlässen trug; sie hatte sie pflichtgemäß zu
einem klar umrissenen Zweck angezogen und dann abgelegt.
Die Qualität der Beziehung zwischen ihr und James Taggart war genauso. Die beiden fühlten keine
Leidenschaft, kein Verlangen, kein wirkliches Vergnügen, nicht einmal Schamgefühl. Für sie war Sex weder
Lust noch Sünde. Sex bedeutete ihnen nichts. Sie hatten gehört, daß Männer und Frauen zusammen schliefen,
also schliefen sie zusammen.
»Jim, warum gehst du heute abend nicht mit mir in das armenische Restaurant?« fragte sie. »Ich esse Shish-
Kebab so gern.«
»Ich kann nicht«, antwortete er ärgerlich durch den Rasierschaum vorm Mund. »Ich habe einen anstrengenden
Tag vor mir.«
»Warum sagst du es nicht ab?«
»Was?«
»Was imme r es ist.«
»Es ist sehr wichtig. Es ist eine Aufsichtsratssitzung.«
»Ach, hab’s nicht so wichtig mit deiner verdammten Eisenbahn. Sie ödet mich an. Ich hasse Geschäftsleute.
Sie sind langweilig.«
Er antwortete nicht.
Ihre Augen glitzerten und ihre Stimme wurde lebhafter, als sie sagte: »Jock Benson meint, daß du bei der
Eisenbahn eine ruhige Kugel schiebst, weil deine Schwester die eigentliche Arbeit macht.«
»Ach, das meint er?«
»Ich finde deine Schwester gräßlich. Ich finde es widerlich, daß sie so eine Show abzieht und die große
Managerin spielt. Es ist so unweiblich. Für wen hält sie sich eigentlich?«
Taggart trat auf die Schwelle. Er lehnte sich an den Türrahmen und musterte Betty Pope. In seinem Gesicht
war ein leises sarkastisches und einvernehmliches Lächeln. Wir haben doch etwas, das uns verbindet, dachte er.
»Vielleicht interessiert es dich, zu erfahren«, sagte er, »daß ich heute nachmittag mit meiner Schwester kurzen
Prozeß machen werde.«
»Nein, wirklich?« sagte sie interessiert.
»Und darum ist diese Aufsichtsratssitzung so wichtig.«
»Wirst du sie wirklich hinauswerfen?«
»Nein. Das ist nicht notwendig oder empfehlenswert. Ich werde sie nur in ihre Schranken weisen. Es ist die
Gelegenheit, auf die ich schon lange gewartet habe.«
»Weißt du irgend etwas von ihr, irgendeinen Skandal?«
»Nein, nein. Du würdest das doch nicht verstehen. Dieses Mal ist sie nur zu weit gegangen, und sie wird dafür
büßen müssen. Sie hat sich etwas Unentschuldbares geleistet, ohne sich vorher mit jemand darüber zu
besprechen. Sie hat damit unsere mexikanischen Nachbarn schwer beleidigt. Wenn der Aufsichtsrat davon
erfährt, wird er ein paar neue Vorschriften für die Betriebsleitung erlassen. Dann ist Schluß mit den
Eigenmächtigkeiten meiner kleinen Schwester.«
»Du bist clever, Jim«, sagte sie.
»Aber ich muß mich jetzt endlich anziehen«, sagte er geschmeichelt. Er ging wieder an das Waschbecken und
fügte aufgeräumt hinzu: »Vielleicht gehe ich heute abend mit dir aus, damit du deinen Shish-Kebab essen
kannst.«
Das Telefon klingelte.
Er nahm den Hörer ab. Die Vermittlung sagte, er werde aus Mexico City verlangt.
Die hysterische Stimme, die am anderen Ende der Leitung sprach, war die seines Beauftragten in Mexiko.
»Ich kann nichts dafür, Jim«, keuchte er. »Ich kann nichts dafür… Niemand hat uns gewarnt. Ich schwöre es
bei Gott, niemand hat es geahnt, niemand hat es kommen sehen. Ich habe mein Bestes getan. Sie können mir
keine Vorwürfe machen, Jim. Es war ein Schlag aus heiterem Himmel. Das Dekret ist eben vor fünf Minuten
herausgekommen. Man hat uns damit überrumpelt. Die Regierung des Volksstaats Mexiko hat die San-
Sebastián-Gruben und die San-Sebastián-Eisenbahn verstaatlicht.«
»…und darum kann ich den Herren vom Aufsichtsrat versichern, daß kein Grund zur Panik vorliegt. Das
Ereignis von heute morgen ist bedauerlich, aber ich habe – auf Grand vertraulicher Informationen aus
Washington über die geplanten außenpolitischen Schritte – die volle Zuversicht, daß unsere Regierung mit der
Regierung des Volksstaats Mexiko eine gerechte Vereinbarung aushandeln wird und daß wir für unser Eigentum
voll und ganz entschädigt werden.«
James Taggart stand an dem langen Tisch und sprach zu dem Aufsichtsrat. Seine Stimme klang bestimmt und
eintönig. Sie verriet Sicherheit.
»Ich freue mich aber, Ihnen mitteilen zu können, daß ich die Möglichkeit einer solchen Wendung der Dinge
vorausgesehen und jede Vorsichtsmaßnahme getroffen habe, um die Interessen von Taggart Transcontinental zu
wahren. Vor einigen Monaten habe ich unsere Betriebsleitung angewiesen, den Verkehr auf der San-Sebastián-
Linie bis auf einen Zug täglich einzuschränken und unsere besten Lokomotiven und das rollende Material ebenso
wie alles andere bewegliche Inventar wegzuschaffen. Die mexikanische Regierung hat sich nur in den Besitz von
ein paar Waggons aus Holz und einer überalterten Lokomotive setzen können. Meine Entscheidung hat der
Gesellschaft viele Millionen Dollar gerettet – die genauen Zahlen werden noch ausgerechnet, und ich werde sie
Ihnen dann vorlegen. Ich glaube aber, unsere Aktionäre dürfen mit Recht erwarten, daß die
Hauptverantwortlichen für das Desaster jetzt die Konsequenzen ihres Versagens auf sich nehmen. Ich möchte
daher vorschlagen, daß wir Mr. Clarence Eddington, unseren Wirtschaftsberater, der den Bau der San-Sebastián-
Linie empfohlen hat, und Mr. Jules Mott, unseren Beauftragten in Mexiko, zum Rücktritt auffordern.«
Die Männer saßen um den langen Tisch und hörten zu. Sie überlegten nicht, was zu tun war, sondern was sie
denen, die sie vertraten, sagen sollten. Taggarts Rede gab ihnen das, was sie brauchten.
Als Taggart in sein Büro zurückkehrte, erwartete ihn Orren Boyle. Sobald sie allein waren, veränderte sich
Taggarts Haltung. Er lehnte sich an den Schreibtisch. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Sein
Gesicht war kreidebleich.
»Nun?« fragte er.
Boyle breitete in einer hoffnungslosen Gebärde die Arme aus. »Ich habe es gecheckt, Jim«, sagte er. »Es
stimmt genau, d’Anconia hat tatsächlich fünfzehn Millionen Dollar von seinem eigenen Geld in den Bergwerken
verloren. Es war nicht nur leeres Gerede. Er hat uns nichts vorgemacht. Er hat sein Geld hineingesteckt, und jetzt
hat er es verloren.«
»Und was will er nun machen?«
»Keine Ahnung. Niemand weiß es.«
»Er wird sich bestimmt nicht ausplündern lassen. Dafür ist er zu gerissen. Er muß irgend etwas auf der Pfanne
haben.«
»Hoffentlich.«
»Er hat schon die raffiniertesten Geschäftemacher der Welt ausgetrickst. Soll er sich von einer Horde
schmieriger Politiker mit einem Dekret übers Ohr hauen lassen? Er wird sie schon mit irgend etwas kriegen, er
wird das letzte Wort behalten, und wir müssen dafür sorgen, daß wir mit von der Partie sind.«
»Dafür müssen Sie sorgen, Jim. Sie sind sein Freund.«
»Scheißfreundschaft. Ich hasse ihn.«
James drückte auf einen Knopf, um seinen Sekretär zu rufen. Der Sekretär kam unsicher herein und machte
ein unglückliches Gesicht; er war ein junger Mann, ein nicht mehr allzu junger, mit einem mutlosen Gesicht und
den guten Manieren eines verarmten Adligen.
»Haben Sie für mich eine Verabredung mit Francisco d’Anconia getroffen?« fragte Taggart.
»Nein, Mr. Taggart.«
»Aber verdammt, ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten ihn…«
»Ich konnte es nicht. Ich habe es versucht.«
»Nun, dann versuchen Sie es noch mal!«
»Ich wollte sagen, es ging nicht, Mr. Taggart.«
»Warum nicht?«
»Er lehnte ab.«
»Sie meinen, er lehnte es ab, mich zu sprechen?«
»Ja, das war es, was ich sagen wollte, Mr. Taggart.«
»Er wollte mich nicht empfangen?«
»Nein, er wollte es nicht.«
»Haben Sie mit ihm persönlich gesprochen?«
»Nein, ich habe mit seinem Sekretär gesprochen.«
»Was hat er gesagt? Was hat er gesagt?« Der junge Mann zögerte und machte ein noch unglücklicheres
Gesicht. »Er hat gesagt, Señor d’Anconia habe erklärt, Sie könnten ihm den Buckel runterrutschen, Mr.
Taggart.«

Der Antrag, der ihnen vorlag, betraf das Abkommen gegen Verdrängungswettbewerb. Als sie darüber
abstimmten, saßen die Mitglieder der National Alliance of Railroads in der zunehmenden Dämmerung eines
Spätherbstnachmittags in einem großen Saal und sahen einander nicht an.
Die National Alliance of Railroads war eine Organisation, die, wie es hieß, zur Wahrung der Belange der
schienengebundenen Verkehrswirtschaft gegründet worden war. Dies sollte durch Entwicklung von Methoden
der Zusammenarbeit für ein gemeinsames Ziel erreicht werden; es sollte dadurch erreicht werden, daß jedes
Mitglied sich verpflichtete, seine eigenen Interessen denen der gesamten Industrie unterzuordnen. Was die
Interessen der gesamten Industrie waren, darüber entschied ein Mehrheitsbeschluß, und jedes Mitglied mußte
sich jeder Entscheidung der Mehrheit fügen.
»Angehörige des gleichen Berufs oder der gleichen Industrie sollten zusammenhalten«, hatten die
Organisatoren der Vereinigung gesagt. »Wir haben alle die gleichen Probleme, die gleichen Interessen, die
gleichen Feinde. Wir vergeuden unsere Energie im Kampf gegeneinander, statt der Welt eine geschlossene Front
zu zeigen. Wir können alle wachsen und gedeihen, wenn wir unsere Anstrengungen vereinen.«
»Gegen wen richtet sich diese Vereinigung?« hatte ein Skeptiker gefragt. Die Antwort hatte gelautet: »Sie
richtet sich gegen niemand. Aber wenn Sie es so auffassen wollen, gegen Frachtkunden, gegen Produzenten und
gegen jeden anderen, der versuchen könnte, uns auszunutzen. Gegen wen soll sich eine Vereinigung richten?«
»Das möchte ich eben wissen«, hatte der Skeptiker gesagt.
Als das Abkommen gegen den Verdrängungswettbewerb sämtlichen Mitgliedern der National Alliance of
Railroads auf ihrer Jahrestagung zur Abstimmung vorgelegt wurde, hörte man in der Öffentlichkeit zum ersten
Mal davon. Aber alle Mitglieder waren bereits im Bild; man hatte lange privat darüber diskutiert, und in den
letzten Monaten besonders häufig. Die Männer in dem großen Saal, in dem die Tagung stattfand, waren die
Vorstandsvorsitzenden der Eisenbahnen. Sie hatten starke Vorbehalte gegenüber dem Abkommen. Sie hatten
gehofft, es würde nie eingebracht werden. Aber da es nun einmal eingebracht war, stimmten sie dafür.
In den Reden, die der Abstimmung vorausgingen, wurde keine Eisenbahn namentlich erwähnt. Die Redner
sprachen nur vom Gemeinwohl. Man sagte, das Gemeinwohl sei durch den Mangel an Transportmöglichkeiten
gefährdet, die Eisenbahnen vernichteten sich gegenseitig durch schmutzige Konkurrenz. Während es verarmte
Gebiete gab, wo der Eisenbahnverkehr eingestellt worden war, gab es zugleich andere große Gebiete, wo zwei
oder mehr Eisenbahnen sich Konkurrenz machten, obwohl das Verkehrsaufkommen kaum für eine Eisenbahn
ausreichte. Man sagte, neuen Eisenbahnen böten sich in den verarmten Gebieten große Möglichkeiten. Wenn
solche Gebiete im Augenblick auch einen geringen wirtschaftlichen Anreiz boten, mußte eine vom Gedanken an
das Gemeinwohl geleitete Eisenbahn der ums wirtschaftliche Überleben kämpfenden Bevölkerung erst recht die
dringend benötigten Transportmittel zur Verfügung stellen. Der Hauptzweck einer Eisenbahn sei der Dienst an
der Öffentlichkeit und nicht der Profit.
Dann wurde gesagt, daß große Eisenbahnen für das Gemeinwohl entscheidend waren, daß der
Zusammenbruch einer von ihnen eine nationale Katastrophe wäre und daß einer dem Gemeinwohl verpflichteten
Eisenbahn, die im Bemühen um internationale Verständigung katastrophale Verluste erlitten hatte, staatliche
Hilfe bei der Bewältigung ihrer Schwierigkeiten zustand.
Keine Eisenbahn wurde namentlich erwähnt. Aber als der Tagungsleiter die Hand hob als ein feierliches
Zeichen, daß man jetzt zur Abstimmung schritt, richteten sich alle Blicke auf Dan Conway, den
Vorstandsvorsitzenden von Phoenix-Durango.
Nur fünf Stimmberechtigte votierten gegen das Abkommen. Aber als der Tagungsleiter verkündete, das
Abkommen sei angenommen, gab es kein Beifallklatschen, keine freudige Bewegung, sondern alle schwiegen
betroffen. Bis zum letzten Augenblick hatte jeder von ihnen gehofft, daß jemand sie vor dieser Entscheidung
bewahren würde. Das Abkommen gegen den Vernichtungswettbewerb wurde als Maßnahme »freiwilliger
Selbstkontrolle« bezeichnet, welche die seit langem bestehenden staatlichen Gesetze »wirksamer« machen sollte.
Es sah vor, daß den Mitgliedern der National Alliance of Railroads alle als »destruktiver Wettbewerb«
bezeichneten Aktivitäten untersagt waren, daß in sogenannten Schutzzonen nur eine Eisenbahn verkehren durfte;
daß in diesen Zonen die Gesellschaft, die dort als erste den Verkehr aufgenommen hatte, einen
Prioritätsanspruch geltend machen konnte und daß die neuen Gesellschaften, die unfair in diese Zone
eingedrungen waren, binnen neun Monaten nach Annahme des Abkommens ihre Tätigkeit dort einstellen
mußten. Und der Vorstand der National Alliance of Railroads war ermächtigt, die Schutzzonen nach eigenem
Ermessen festzulegen.
Als die Tagung geschlossen wurde, hatten es die Teilnehmer eilig wegzukommen. Es gab keine privaten
Diskussionen, kein geselliges Verweilen. In ungewöhnlich kurzer Zeit war der große Saal leer. Niemand sprach
mit Dan Conway oder warf ihm auch nur einen Blick zu.
In der Eingangshalle des Gebäudes traf James Taggart Orren Boyle. Sie hatten sich nicht verabredet, aber
Taggart sah eine große Gestalt vor einer Marmorwand und wußte, noch ehe er das Gesicht gesehen hatte, wer es
war.
Sie gingen aufeinander zu, und Boyle sagte mit einem weniger angenehmen Lächeln als sonst: »Ich habe
meinen Teil getan. Jetzt sind Sie an der Reihe, Jimmy.«
»Sie hatten keinen Anlaß herzukommen. Was wollten Sie hier?« fragte Taggart verstimmt. »Meinen Spaß
haben«, sagte Boyle.
Dan Conway saß allein in den leeren Stuhlreihen. Er saß noch da, als die Putzfrau kam, um den Saal zu
säubern. Als sie ihn ansprach, erhob er sich gehorsam und schlurfte zur Tür. Im Vorbeigehen griff er in seine
Tasche und gab ihr stumm, ohne sie dabei anzusehen, einen Fünfdollarschein. Er schien nicht zu wissen, was er
tat. Er tat es, als ob er glaubte, er sei hier an einem Ort, wo man großzügig zu sein hatte und wo es sich gehörte,
daß man ein Trinkgeld gab.
Dagny saß noch an ihrem Schreibtisch, als die Tür ihres Büros aufgerissen wurde und James Taggart
hereinstürzte. Es war das erstemal, daß er so hereinkam. Sein Gesicht glühte.
Seit der Verstaatlichung der San-Sebastián-Linie hatte sie ihn nicht gesehen. Er hatte keine Aussprache mit
ihr darüber gesucht, und sie hatte nichts darüber gesagt. Ihre Voraussicht hatte sich als richtig erwiesen. Jeder
Kommentar war überflüssig. Aus einem Gefühl der Höflichkeit und des Mitleids heraus hatte sie es unterlassen,
ihn darauf hinzuweisen, welcher Schluß aus diesem Ereignis gezogen werden mußte. Vernunft und Billigkeit
geboten nur einen Schluß. Sie hatte von seiner Rede vor dem Aufsichtsrat gehört; voll Verachtung und belustigt
zugleich hatte sie die Achseln gezuckt; wenn es seinen Zwecken diente, welche auch immer das sein mochten,
sich ihre Leistungen zu eigen zu machen, dann würde er sie in seinem ureigensten Interesse von nun an
gewähren lassen.
»Du glaubst also die einzige zu sein, die etwas für die Eisenbahn tut?«
Sie blickte ihn erstaunt an. Seine Stimme klang schrill. Vor Erregung fiebernd, stand er vor ihrem
Schreibtisch.
»Du glaubst also, ich hätte die Eisenbahn ruiniert«, brüllte er, »und du seist die einzige, die uns jetzt retten
kann? Bildest dir ein, ich hätte keine Möglichkeit, den mexikanischen Verlust wieder auszugleichen?«
»Was willst du?« fragte sie leise.
»Ich will dir etwas Neues berichten. Erinnerst du dich an das geplante Abkommen gegen
Verdrängungswettbewerb der National Alliance of Railroads, von dem ich dir vor Monaten erzählt habe? Du
warst dagegen, du warst völlig dagegen.«
»Ich erinnere mich. Was ist damit?«
»Es ist angenommen worden.«
»Was ist angenommen worden?«
»Das Abkommen. Gerade vor ein paar Minuten. Auf der Tagung. In neun Monaten wird keine Phoenix-
Durango-Eisenbahn mehr in Colorado verkehren.«
Ein Glasaschenbecher fiel klirrend von ihrem Schreibtisch auf den Boden, als sie aufsprang. »Ihr gemeinen
Schufte!«
Er zuckte nicht mit der Wimper, sondern lächelte nur.
Sie bemerkte, daß sie wehrlos vor ihm zitterte und daß er sich an diesem Anblick weidete. Aber das war ihr
gleichgültig. Dann sah sie sein Lächeln und plötzlich verging ihre blinde Wut. Sie fühlte nichts. Sie betrachtete
dieses Lächeln mit einer kalten, unpersönlichen Neugier. Sie standen einander gegenüber. Zum ersten Mal
schien er sich nicht vor ihr zu fürchten. Er frohlockte innerlich. Die Annahme des Abkommens bedeutete für ihn
viel mehr als die Vernichtung eines Konkurrenten. Es war kein Sieg über Dan Conway, sondern über sie.
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, daß hier, vor ihr, in James Taggart und in dem, was ihn lächeln
ließ, ein Geheimnis lag, das sie nie vermutet hatte, und es war ungeheuer wichtig, daß sie dahinterkam. Aber so
schnell wie der Gedanke aufgeblitzt war, war er wieder verschwunden.
Sie drehte sich um, öffnete einen Schrank und nahm ihren Mantel heraus. »Wohin gehst du?« Taggarts
Stimme klang nicht mehr schrill, sondern enttäuscht und leicht besorgt.
Sie antwortete nicht und verließ eilig das Büro.

»Dan, Sie müssen kämpfen. Ich werde Ihnen helfen. Ich werde mit meiner ganzen Kraft für Sie kämpfen.«
Dan Conway schüttelte den Kopf.
Er saß an seinem leeren Schreibtisch über der verblichenen Löschunterlage, und in einer Ecke des Zimmers
brannte eine schwache Lampe. Dagny war geradewegs in das Stadtbüro von Phoenix-Durango geeilt. Conway
war da, und er saß jetzt noch genau so, wie sie ihn vorgefunden hatte. Bei ihrem Eintritt hatte er gelächelt und
gesagt: »Komisch, ich hatte Sie schon erwartet.« Seine Stimme klang freundlich und müde. Sie kannten einander
nicht sehr gut, aber sie waren sich ein paarmal in Colorado begegnet.
»Nein«, sagte er, »es hat keinen Sinn.«
»Weil Sie das Abkommen mitunterzeichnet haben? Es läßt sich nicht durchsetzen. Es ist die reinste
Enteignung. Kein Gericht wird das Abkommen anerkennen. Und wenn Jim versucht, sich hinter der üblichen
Plündererphrase vom Gemeinwohl zu verschanzen, werde ich in den Zeugenstand treten und schwören, daß
Taggart Transcontinental nicht den ganzen Verkehr Colorados bewältigen kann. Und wenn irgendein Gericht
gegen Sie entscheidet, dann können Sie Berufung einlegen und das in den nächsten zehn Jahren immer wieder.«
»Ja«, sagte er, »ich könnte es… Ich bin zwar nicht sicher, daß ich gewinnen würde, aber ich könnte es
versuchen, und ich könnte die Gesellschaft noch ein paar Jahre lang halten. Aber… Ich denke dabei nicht an die
Gesetze, seien sie nun so oder so. Das ist es nicht.«
»Was denn?«
»Ich will nicht kämpfen, Dagny.«
Sie sah ihn ungläubig an. Diesen Satz, dessen war sie sicher, hatte er noch nie zuvor gesagt; ein Mann konnte
so spät im Leben das Steuer nicht ganz herumwerfen.
Dan Conway näherte sich den Fünfzig. Er hatte eher das eckige, harte, eigensinnige Gesicht eines robusten
Lokomotivführers als das des Vorstandsvorsitzenden einer Eisenbahn. Das Gesicht eines Kämpfers mit einem
jugendlichen, gebräunten Teint und ergrauendem Haar. Er hatte eine kleine jämmerliche Eisenbahn in Arizona
übernommen, an der er weniger verdiente, als er an einem gutgehenden Lebensmittelladen verdient hätte, und er
hatte sie zu einer der besten Eisenbahnen des Südwestens ausgebaut. Er sprach wenig, las selten ein Buch und
hatte nie studiert. Die ganze Sphäre menschlichen Strebens ließ ihn bis auf eine Ausnahme völlig gleichgültig; er
hatte keinen Schimmer von dem, was die Leute Kultur nannten. Aber er kannte sich mit Eisenbahnen aus.
»Warum wollen Sie nicht kämpfen?«
»Weil sie zu dieser Entscheidung berechtigt waren.«
»Dan«, fragte sie, »haben Sie den Verstand verloren?«
»Ich habe in meinem Leben nie ein Wort gebrochen«, sagte er tonlos. »Es ist mir gleich, wie das Gericht
entscheidet. Ich habe versprochen, mich der Mehrheit zu unterwerfen – und fertig.«
»Hatten Sie erwartet, daß die Mehrheit Ihnen dies antun würde?«
»Nein.« In seinem harten Gesicht war ein nervöses Zucken. Er sprach leise, ohne sie anzusehen. Er hatte sich
von seiner hilflosen Überraschung noch nicht erholt. »Nein, das habe ich nicht erwartet. Und ich habe sie schon
seit einem Jahr davon reden hören, aber ich konnte es nicht glauben.«
»Was haben Sie erwartet?«
»Ich dachte… Sie sagten, alle von uns müßten für das Gemeinwohl einstehen. Ich dachte, was ich da unten in
Colorado aufgebaut hatte, diene dem Gemeinwohl.«
»Sie armer Irrer. Sehen Sie denn nicht, daß man Sie dafür bestraft hat, weil genau das der Fall war?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht«, sagte er, »aber ich sehe keinen Ausweg.«
»Haben Sie ihnen versprochen, in Ihren eigenen Ruin einzuwilligen?«
»Es bleibt keinem von uns eine andere Wahl.«
»Was meinen Sie damit?«
»Dagny, die ganze Welt ist augenblicklich in einem furchtbaren Zustand. Ich weiß nicht, was es ist, aber
irgend etwas stimmt da nicht. Die Menschen müssen sich einig werden und einen Ausweg finden. Aber wer soll
entscheiden, welchen Weg man einschlagen muß, wenn nicht die Mehrheit? Ich halte das für die einzig faire
Methode der Entscheidung. Ich sehe keine andere. Wahrscheinlich muß einer geopfert werden. Nur weil zufällig
ich es bin, habe ich noch lange kein Recht, mich zu beklagen. Das Recht ist auf ihrer Seite. Die Menschen
müssen sich einig werden.«
Sie bemühte sich, ruhig zu sprechen; sie zitterte vor Wut. »Wenn das der Preis der Einigkeit ist, dann will ich
verdammt sein, wenn ich es mit Menschen auf dieser Erde weiter aushalte. Wenn die anderen nur dadurch
überleben können, daß sie uns vernichten, warum sollen wir dann wünschen, daß sie überleben? Nichts kann ein
Selbstopfer rechtfertigen. Nichts kann diesen Leuten das Recht geben, aus Menschen Opfertiere zu machen. Die
Besten zu vernichten, ist einfach unmoralisch. Man kann nicht für eine gute Tat bestraft werden. Man kann nicht
für seine Tüchtigkeit bestraft werden. Wenn das Recht ist, dann sollten wir uns lieber gegenseitig abschlachten,
weil es dann in der Welt überhaupt kein Recht mehr gibt.«
Er blickte sie hilflos an und antwortete nicht. »Wie können wir in so einer Welt leben?« fragte sie. »Ich weiß
es nicht…«, flüsterte er.
»Halten Sie das wirklich für Recht? Ganz ehrlich, in Ihrem tiefsten Innern, halten Sie das für Recht?«
Er schloß die Augen. »Nein«, sagte er. Dann sah er sie an, und zum ersten Mal sah sie die Qual in seinem
Blick. »Die ganze Zeit, die ich hier sitze, habe ich versucht, es zu verstehen. Ich weiß, ich müßte es für Recht
halten. Aber ich kann es nicht. Es ist, als ob meine Zunge sich weigerte, es zu sagen. Ich sehe jede Schwelle dort
unten vor mir, jedes Signallicht, jede Brücke, jede Nacht, die ich dort verbracht habe…« Sein Kopf fiel auf seine
Arme. »Mein Gott, es ist so verdammt ungerecht!«
»Dann«, sagte sie, »kämpfen Sie.«
Er hob den Kopf, seine Augen waren leer. »Nein«, sagte er. »Es wäre unrecht. Ich bin einfach nur
eigennützig.«
»Ach, reden Sie nicht solchen Unsinn. Sie wissen genau, daß das nicht stimmt.«
»Ich weiß es nicht…« Seine Stimme klang sehr müde. »Ich habe hier gesessen und versucht, darüber
nachzudenken. Ich weiß nicht mehr, was gerecht und was ungerecht ist…« Dann fügte er hinzu: »Ich glaube, es
ist mir auch gleichgültig.« Sie erkannte plötzlich, daß jedes weitere Wort sinnlos war und daß Dan Conway nie
wieder ein Mann der Tat sein würde. Sie wußte nicht, warum sie dessen gewiß war. Während sie noch darüber
nachdachte, sagte sie: »Sie sind noch nie vor einem Kampf zurückgeschreckt.«
»Nein, ich glaube, nie…«, sagte er ruhig, gleichgültig, verwundert. »Ich habe gegen Stürme und
Überschwemmungen und Felsstürze und Gleisbrüche gekämpft… Davon verstand ich etwas, und ich habe es
gern getan… Aber diese Art von Kampf kann ich nicht kämpfen.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß es nicht. Wer weiß, warum die Welt so ist, wie sie ist? Wer ist John Galt?«
Sie fuhr zusammen. »Was wollen Sie machen?«
»Ich weiß es nicht…«
»Ich meine…« Sie hielt inne.
Er wußte, was sie meinte. »Ach, es gibt immer etwas zu tun…«, sagte er ohne Überzeugung. »Ich vermute,
daß sie nur in Colorado und New Mexiko den Verkehr einschränken wollen. Mir bleibt dann immer noch die
Linie in Arizona. So wie es vor zwanzig Jahren war«, fügte er hinzu… »Nun, da bleibt mir immerhin noch
genug zu tun. Ich bin allmählich müde geworden, Dagny. Ich habe keine Zeit gehabt, darauf zu achten, aber ich
glaube, ich bin es.«
Sie konnte nichts dazu sagen.
»Ich werde keine neue Strecke in einem ihrer verarmten Gebiete bauen«, sagte er in demselben gleichgültigen
Ton. »Sie wollten mir das als Trostpille geben, aber ich glaube, es war nur Gerede. Man kann nicht eine
Eisenbahnlinie in einem Gebiet bauen, wo es auf Hunderte von Meilen nur ein paar Farmer gibt, die nicht einmal
genug für ihren eigenen Bedarf ernten. Da kann man keine Eisenbahnlinie bauen, die sich bezahlt macht. Aber
wenn sie sich nicht bezahlt macht, wozu baut man sie dann? Das ist doch Unsinn. Sie wußten selber nicht, was
sie sagten.«
»Ach, zur Hölle mit ihren verarmten Gebieten! Ich denke nur an Sie.« Sie mußte es aussprechen. »Was soll
aus Ihnen werden?«
»Ich weiß es nicht… Es gibt so vieles, das zu tun ich bisher keine Zeit hatte.
Angeln zum Beispiel. Ich habe immer gern geangelt. Vielleicht werde ich auch anfangen, Bücher zu lesen,
wie ich es schon immer wollte. Ich werde es mir jetzt wohl leicht machen. Ich werde wohl angeln gehen. Es gibt
da unten in Arizona einige schöne Stellen, wo es still und friedlich ist und wo man meilenweit keine
Menschenseele sieht…« Er blickte sie an und fügte hinzu: »Lassen Sie das doch! Warum sollen Sie sich
meinetwegen Sorgen machen?«
»Es geht nicht um Sie, es geht… Dan«, sagte sie plötzlich, »ich hoffe, Sie wissen, daß ich Ihnen bei Ihrem
Kampf nicht um Ihretwillen helfen wollte.« Er lächelte; es war ein schwaches, freundliches Lächeln. »Ich weiß«,
sagte er.
»Nicht aus Mitleid oder Barmherzigkeit oder einem ähnlich häßlichen Motiv. Sehen Sie, ich wollte Ihnen dort
unten in Colorado den Kampf Ihres Lebens liefern. Ich wollte Ihnen zeigen, was eine Harke ist, und Sie an die
Wand drücken und Sie notfalls aus dem Markt drängen.«
Er lachte leise. Sein Lachen war ein Ausdruck von Respekt. »Sie hätten dabei bestimmt keine schlechte Figur
gemacht«, sagte er.
»Ich dachte aber, daß es gar nicht nötig sein würde. Ich dachte, es sei dort genug Platz für uns beide.«
»Ja«, sagte er, »das denke ich noch.«
»Wenn aber nicht für uns beide Platz gewesen wäre, dann hätte ich Sie bekämpft, und wenn es mir gelungen
wäre, Sie zu überflügeln, hätte ich Sie vernichtet und mich nicht darum geschert, was aus Ihnen wird. Aber so
wie es jetzt ist… Dan, ich möchte mich am liebsten gar nicht mehr um unsere Rio-Norte-Linie kümmern. Ich…
ach Gott, Dan, ich kann mich mit der Rolle des Plünderers nicht abfinden.«
Er blickte sie einen Augenblick lang stumm an. Es war ein seltsamer Blick, als käme er aus weiter Ferne.
Leise sagte er: »Sie hätten hundert Jahre früher geboren werden müssen, mein Kind. Dann hätten Sie eine
Chance gehabt.«
»Ach, Unsinn. Ich will mir selber meine Chance geben.«
»Das habe ich in Ihrem Alter auch gewollt.«
»Und Sie haben Erfolg gehabt.«
»Ach, wirklich?«
Sie saß still, sie fühlte sich plötzlich unfähig, sich zu bewegen.
Er setzte sich aufrecht und sagte scharf, fast als erteile er einen Befehl: »Sie sollten sich lieber um Ihre Rio-
Norte-Linie kümmern, und zwar möglichst schnell. Machen Sie sie betriebsfähig, bevor ich mich zurückziehe.
Denn wenn Sie es nicht tun, wird es das Ende von Ellis Wyatt und allen anderen dort sein, und das sind die
Besten, die es im Land noch gibt. Sie dürfen das nicht zulassen. Jetzt liegt alles auf Ihren Schultern. Es würde
keinen Sinn haben, zu versuchen, Ihrem Bruder zu erklären, daß es für Sie dort unten jetzt viel schwerer werden
wird, wenn ich als Konkurrent ausfalle. Aber Sie und ich wissen es. Machen Sie sich also an die Arbeit. Was Sie
auch tun, Sie werden kein Plünderer sein. Kein Plünderer kann da unten eine Eisenbahnlinie betreiben. Was Sie
dort auch machen, es wird Ihr eigenes Verdienst sein. Eine Ratte wie Ihr Bruder zählt sowieso nicht. Es liegt
jetzt an Ihnen.«
Sie sah ihn an und überlegte, was einen solchen Mann hatte vernichten können. Sie wußte, daß es nicht James
Taggart war.
Sie sah, wie er sie anblickte, als kämpfe er mit einem ganz persönlichen Problem. Dann lächelte er, und sie
bemerkte zu ihrer Verwunderung, daß sein Lächeln trauriges Mitleid war. »Meinetwegen sollten Sie sich keine
Gedanken machen«, sagte er. »Ich glaube, von uns beiden haben Sie die härtere Zeit vor sich, und ich glaube, am
Ende stehen sie schlechter da als ich jetzt.«
Sie hatte das Stahlwerk angerufen und eine Verabredung mit Hank Rearden für den Nachmittag getroffen.
Kaum hatte sie den Hörer aufgelegt und sich über die auf ihrem Schreibtisch ausgebreiteten Karten der Rio-
Norte-Linie gebeugt, da öffnete sich die Tür. Sie sah verärgert auf. Sie war es nicht gewohnt, daß man
unaufgefordert in ihr Büro platzte.
Den Mann, der eintrat, kannte sie nicht. Er war jung, groß, und irgend etwas an ihm signalisierte Gewalt,
obwohl sie nicht sagen konnte, was. Ihr fiel nur seine fast arrogant wirkende Selbstbeherrschung auf. Er hatte
dunkle Augen und wirres Haar. Sein Anzug war teuer, aber abgetragen, als ob es ihm gleichgültig wäre oder er
gar nicht merkte, was er trug.
»Ellis Wyatt«, stellte er sich vor.
Unwillkürlich sprang sie auf. Sie verstand jetzt, warum niemand im Vorzimmer ihn angehalten hatte oder
hätte anhalten können.
»Nehmen Sie Platz, Mr. Wyatt«, sagte sie lächelnd.
»Das ist nicht notwendig«, erwiderte er, ohne zu lächeln. »Ich werde mich nicht lange aufhalten.«
Sie nahm sich absichtlich Zeit, um sich wieder hinzusetzen, lehnte sich dann zurück und sah ihn an.
»Nun?« fragte sie.
»Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich weiß, Sie sind die einzige, die in dieser verdammten Firma etwas
Verstand hat.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Sie können sich ein Ultimatum anhören.« Er sprach deutlich, jede Silbe genau betonend. »Ich erwarte von
Taggart Transcontinental, daß binnen neun Monaten in Colorado Züge fahren, wie mein Geschäft sie erfordert.
Wenn Sie Phoenix-Durango so übel mitgespielt haben, um sich selber nicht anstrengen zu müssen, dann lassen
Sie sich sagen, daß Sie damit nicht durchkommen werden. Ich habe Sie nicht mit Bitten belästigt, als Sie mich
nicht so bedienen konnten, wie ich es brauchte. Ich habe jemand gefunden, der es konnte. Jetzt wollen Sie mich
zwingen, mit Ihnen zu arbeiten. Sie wollen mir Bedingungen diktieren, indem Sie mir keine andere Wahl lassen.
Sie wollen, daß sich mein Geschäft Ihrer Unfähigkeit anpaßt. Aber ich möchte Ihnen sagen, daß Sie sich
verrechnet haben.«
Leise und mühsam sagte sie: »Soll ich Ihnen sagen, was ich mit unserer Linie in Colorado vorhabe?«
»Nein. Diskussionen und Absichten interessieren mich nicht. Ich will Transportmittel haben. Wie Sie das
schaffen, ist Ihre Sache und nicht meine. Ich möchte Sie nur warnen. Wer mit mir zusammenarbeiten will, muß
es zu meinen Bedingungen tun oder darauf verzichten. Mit Unfähigen gebe ich mich erst gar nicht ab. Wenn Sie
an der Beförderung meines Öls verdienen wollen, müssen Sie Ihr Geschäft so gut verstehen wie ich das meine.
Ich möchte, daß das von vornherein klar ist.«
Ruhig sagte sie: »Ich verstehe.«
»Ich will keine Zeit vergeuden, um Ihnen zu beweisen, warum es für Sie besser ist, mein Ultimatum ernst zu
nehmen. Wenn Sie die Intelligenz haben, diese korrupte Eisenbahn überhaupt funktionsfähig zu halten, dann
haben Sie auch genug Grips, mich zu verstehen. Wir wissen beide, daß es für mich den Ruin bedeutet, wenn
Taggart Transcontinental die Züge in Colorado weiter so unregelmäßig verkehren läßt wie die letzten fünf Jahre.
Ich weiß, daß das Ihre Absicht ist. Sie wollen sich auf meine Kosten gesund machen, und wenn nichts mehr aus
mir herauszuholen ist, werden Sie sich ein anderes Opfer suchen, das Sie aussaugen können. Das ist heutzutage
offenbar so üblich. Und hier ist mein Ultimatum: Es steht jetzt in Ihrer Macht, mich zu vernichten; ich werde
vielleicht zugrunde gehen; aber wenn ich zugrunde gehe, dann werde ich dafür sorgen, daß Sie alle mit mir
zugrunde gehen.«
Irgendwo in sich, unter der Erstarrung, mit der sie die Peitschenhiebe hinnahm, fühlte sie einen kleinen
brennenden Schmerz. Sie hätte ihm gern gesagt, wie viele Jahre lang sie auf der Suche nach Männern seiner Art
gewesen war, um mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sie hätte ihm gern gesagt, daß seine Feinde ihre Feinde waren,
daß sie den gleichen Kampf kämpfte. Sie hätte ihm gern ins Gesicht geschrien: »Ich bin nicht so wie die
anderen.« Aber sie wußte, daß sie es nicht konnte. Sie trug die Verantwortung für Taggart Transcontinental und
für alles, was in diesem Namen geschah; sie hatte jetzt nicht das Recht, Erklärungen abzugeben.
Sie saß aufrecht. Sie sah ihn ebenso fest und offen an wie er sie. Ruhig antwortete sie: »Sie werden alles
bekommen, was Sie brauchen, Mr. Wyatt.«
Sie bemerkte ein leises Erstaunen in seinem Gesicht; dies war nicht die Antwort, die er erwartet hatte.
Vielleicht hatte das, was sie nicht gesagt hatte, ihn am meisten erstaunt: daß sie sich vor ihm nicht verteidigte
und entschuldigte.
Einen Augenblick musterte er sie stumm. Dann sagte er mit weniger scharfer Stimme: »Gut. Ich danke Ihnen.
Auf Wiedersehen.« Sie nickte. Er verbeugte sich und ging.

»So ist es, Hank. Ich hatte einen fast unerfüllbaren Plan ausgearbeitet, um die Rio-Norte-Linie binnen zwölf
Monaten fertig zu haben. Aber nun muß sie in neun Monaten fertig sein. Sie wollten uns die letzten Schienen
spätestens innerhalb eines Jahres liefern. Können Sie es drei Monate eher schaffen? Wenn es menschenmöglich
ist, tun Sie es. Wenn nicht, muß ich andere Mittel und Wege finden.« Rearden saß hinter seinem Schreibtisch.
Seine kalten blauen Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen, die sein hageres Gesicht noch härter
erscheinen ließen. Er sah sie durch die schmalen Schlitze an und antwortete ohne Regung: »Abgemacht.«
Dagny lehnte sich in ihren Stuhl zurück. Dieses eine Wort war wie ein Schock. Sie fühlte sich nicht nur erlöst,
sie erkannte plötzlich, daß nichts weiter nötig war. Sie brauchte keine Beweise, keine Auskünfte, keine
Erklärungen. Ein Wort von einem Menschen, der wußte was er sagte, und das Problem war gelöst.
»Zeigen Sie nicht so deutlich, wie erleichtert Sie sind«, sagte er in spöttischem Ton. Seine
zusammengekniffenen Augen beobachteten sie mit einem undurchdringlichen Lächeln. »Ich könnte mir sonst
einbilden, Taggart Transcontinental hänge allein von mir ab.«
»Das wissen Sie ja sowieso.«
»Ja, ich weiß es. Und Sie werden es mir entsprechend bezahlen müssen.«
»Davon bin ich ausgegangen. Wieviel?«
»Für jede ab morgen gelieferte Tonne zwanzig Dollar extra.«
»Das ist heftig, Hank. Ist das der beste Preis, den Sie mir machen können?«
»Nein. Aber Sie haben keine Alternative. Ich könnte das Doppelte verlangen.«
»Aber das werden Sie nicht tun.«
»Warum nicht?«
»Weil Sie die Rio-Norte-Linie brauchen. Das ist Ihre erste und beste Chance für die Markteinführung von
Rearden Metal.«
Er lachte. »Das stimmt. Ich arbeite gern mit Leuten zusammen, die sich keine Illusionen machen.«
»Wissen Sie, warum ich erleichtert bin, daß Sie meine Lage ausnutzen?«
»Warum?«
»Weil ich endlich mal mit jemand zusammenarbeite, der nicht so tut, als würde er mir einen Gefallen tun.«
Sein Lächeln verriet deutlich, daß er sich über ihre Bemerkung freute. »Sie spielen immer mit offenen Karten,
was?« fragte er.
»Sie doch auch.«
»Ich dachte, ich sei der einzige, der es sich leisten könnte.«
»Noch haben Sie mich nicht gezähmt, Hank.«
»Warten Sie’s ab.«
»Trauen Sie sich das zu?«
»Ich hab’s mir immer gewünscht.«
»Haben Sie nicht genug Feiglinge um sich?«
»Gerade darum reizt es mich – weil Sie die einzige Ausnahme sind. Sie wollen also, daß ich mir Ihre Notlage
zunutze mache und auch noch den letzten Cent aus Ihnen herauspresse?«
»Gewiß. Ich bin nicht so naiv zu glauben, daß Sie Ihr Stahlwerk mir zuliebe betreiben.«
»Würden Sie sich das wünschen?«
»Ich bin kein Schnorrer, Hank.«
»Fällt es Ihnen nicht schwer, den Preis zu bezahlen?«
»Das ist meine Sache, nicht Ihre. Ich brauche die Schienen.«
»Also zwanzig Dollar extra für die Tonne.«
»Abgemacht, Hank.«
»Gut, Sie bekommen die Schienen. Und ich mache einen exorbitanten Profit – falls Taggart Transcontinental
nicht vorher Pleite macht.«
Ohne zu lächeln sagte sie: »Wenn die Linie in neun Monaten nicht fertig ist, macht Taggart Transcontinental
Pleite.«
»Solange Sie da sind, garantiert nicht.«
Wenn er nicht lächelte, blieb sein Gesicht regungslos, nur seine Augen waren lebendig, und in ihnen spiegelte
sich die kalte, leuchtende Klarheit seines Intellekts. Aber was er fühlte, ließ er niemand ahnen, vielleicht nicht
einmal sich selbst.
»Sie haben alles getan, was sie konnten, um es Ihnen schwer zu machen, nicht wahr?« sagte er.
»Ja. Ich habe auf Colorado gerechnet, um Taggart Transcontinental zu retten; jetzt hängt es an mir, Colorado
zu retten. In neun Monaten legt Dan Conway seine Eisenbahn still. Wenn meine dann nicht betriebsbereit ist,
brauchen wir nicht weiterzubauen. Man kann die Menschen dort nicht auch nur einen Tag lang ohne
Transportmittel lassen, geschweige denn eine Woche oder einen Monat. Bei dem Wachstum da unten kann man
nicht plötzlich eine Auszeit fordern und erwarten, daß danach alles weiterläuft wie zuvor. Das wäre, als würde
man bei einem Zug, der zweihundert Meilen in der Stunde fährt, plötzlich die Notbremse ziehen.«
»Ich weiß.«
»Ich kann überall eine zuverlässige Eisenbahnverbindung schaffen. Aber nicht für Hobbyfarmer, die nicht
einmal wissen, wie man Rüben anbaut. Ich brauche Männer wie Ellis Wyatt, die etwas produzieren, was meine
Züge auslastet. Darum muß er in neun Monaten eine Strecke haben und Züge, selbst wenn alles andere dafür den
Bach runtergeht.«
Er lächelte amüsiert. »Ihnen liegt anscheinend sehr viel daran?«
»Ihnen nicht?«
Er antwortete nicht. Er lächelte nur.
»Ist es Ihnen egal?« fragte sie fast ärgerlich.
»Ja.«
»Ist Ihnen denn gar nicht klar, was das bedeutet?«
»Mir ist klar, daß meine Schienen termingerecht ausgeliefert werden und daß Sie sie termingerecht legen
lassen.«
Sie lächelte, erleichtert, müde und ein wenig schuldbewußt. »Ja. Ich weiß, wir werden es schaffen. Ich weiß,
es ist sinnlos, sich über Menschen wie Jim und seine Freunde zu ärgern. Wir haben keine Zeit dafür. Meine erste
Aufgabe ist, das wieder aufzubauen, was sie kaputt gemacht haben. Danach« – sie hielt inne, überlegte,
schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln –, »danach spielen sie gar keine Rolle mehr.«
»Das stimmt. Danach spielen sie keine Rolle mehr. Es hat mich ganz krank gemacht, als ich von dem
Abkommen gegen Verdrängungswettbewerb hörte. Aber es lohnt sich gar nicht, sich dieser hinterhältigen
Schweine wegen Sorgen zu machen.« Seine Worte klangen besonders brutal, weil sein Gesicht und seine
Stimme dabei ganz ruhig blieben. »Sie und ich werden immer da sein, um das Land vor den schlimmsten Folgen
zu bewahren.« Er stand auf. Während er durch das Büro ging, sagte er: »Colorado wird weiter bestehen. Sie
bringen es durch. Und dann kommen Conway und die anderen zurück. Diese Spinnereien laufen sich
irgendwann tot. Es kann nicht dabei bleiben. Es ist der hellste Wahnsinn. Das Resultat steht fest. Sie und ich
werden eine Zeitlang mehr arbeiten müssen. Das ist alles.«
Sie beobachtete ihn, wie er im Büro auf und ab ging. Das Büro paßte zu ihm. Es enthielt nur das, was er
wirklich brauchte. Alles war streng funktional, aber sündhaft teuer. Entworfen von den besten Designern und
hergestellt aus den edelsten Materialien. Der Raum wirkte wie ein Motor – ein Motor, den die großen Fenster
umschlossen, als wäre er das kostbarste Stück einer wertvollen Sammlung. Aber sie bemerkte ein
überraschendes Detail: eine Jadevase auf einem Aktenschrank. Sie war aus einem einzigen dunkelgrünen Stein
geschnitten. Die sanft geschwungenen Formen ihrer glatten Oberfläche erweckten den unwiderstehlichen
Wunsch, sie zu berühren. Sie nahm sich hier seltsam aus, stimmte so gar nicht mit der Strenge alles übrigen
zusammen: Sie hatte einen Hauch von Sinnlichkeit.
»Colorado ist ein hervorragender Standort«, sagte Hank. »Er wird bald der erste im Land sein. Sie bezweifeln,
daß ich mir Gedanken mache? Colorado entwickelt sich zu einem meiner besten Kunden. Sie müßten das
wissen, sofern Sie gelegentlich die Berichte über Ihr Frachtaufkommen lesen.«
»Ich weiß. Ich lese sie.«
»Ich denke daran, dort in einigen Jahren ein Werk zu bauen, um die Frachtkosten einzusparen, die Sie mir
belasten.« Er sah sie an. »Wenn ich das tue, verlieren Sie Unmengen an Stahlfracht.«
»Tun Sie’s nur. Ich halte mich an dem schadlos, was Sie für Ihr Werk heranschaffen müssen und an den
Lebensmitteln für Ihre Arbeiter und an den Frachten der anderen Fabriken, die dort um sie herum entstehen
werden – und vielleicht habe ich dann gar keine Zeit mehr, dem Verlust Ihrer Stahlfracht nachzuweinen…
Warum lachen Sie darüber?«

»Es ist wunderbar.«


»Was?«
»Daß Sie so ganz anders reagieren als jeder andere heutzutage.«
»Trotzdem muß ich zugeben, daß Sie im Augenblick der wichtigste Kunde von Taggart Transcontinental
sind.«
»Dachten Sie, ich wüßte das nicht?«
»Darum kann ich gar nicht verstehen, warum Jim…« Sie unterbrach sich.
»…alles tut, um mein Geschäft zu schädigen? Ihr Bruder Jim ist eben ein Schwachkopf.«
»Ja, das ist er. Aber das ist es nicht allein. Es ist noch etwas Schlimmeres als Dummheit dabei im Spiel.«
»Verschwenden Sie nicht Ihre Zeit darauf, ihn verstehen zu wollen. Lassen Sie ihn geifern. Er ist für niemand
eine Gefahr. Menschen wie Jim Taggart sind nur bedauerliche Lückenbüßer.«
»Wahrscheinlich.«
»Übrigens, was hätten Sie getan, wenn ich gesagt hätte, daß ich die Schienen nicht früher liefern kann?«
»Ich hätte Rangiergleise auseinander reißen lassen oder den Verkehr auf einer Nebenstrecke eingestellt, auf
irgendeiner, und die Schienen benutzt, um die Rio-Norte-Linie rechtzeitig fertigzustellen.«
Er lachte. »Das ist es gerade, weshalb ich mir um Taggart Transcontinental keine Sorgen mache. Aber Sie
werden keine Schienen von alten Gleisen benötigen, jedenfalls nicht, solange ich noch da bin.«
Sie dachte plötzlich: Er war gar nicht so gefühllos, wie sie gedacht hatte. Sein Verhalten verriet eine
heimliche Freude. Es wurde ihr bewußt, daß sie in seiner Gegenwart immer gutgelaunt und entspannt war und
daß es ihm umgekehrt genauso ging. Er war der einzige Mann, den sie kannte, mit dem sie sich unverkrampft
und zwanglos unterhalten konnte. Er war jemand, vor dem sie Achtung empfand, ein ebenbürtiger Gegner.
Dennoch bestand zwischen ihnen ein merkwürdiges Gefühl der Distanz. Sie fühlte sich wie vor einer
verschlossenen Tür. Sein Verhalten hatte etwas Unpersönliches; es war da etwas, an das man nicht herankam.
Er war am Fenster stehengeblieben und blickte hinaus. »Wissen Sie, daß Ihnen heute die erste Ladung
Schienen geliefert wird?« fragte er und sah sie an.
»Natürlich.«
»Schauen Sie mal.«
Sie ging zu ihm. Er deutete stumm hinaus. In der Ferne hinter den Fabrikgebäuden sah sie eine Reihe von
Güterwagen auf einem Nebengleis warten. Die Brücke eines Krans durchschnitt den Himmel darüber. Der Kran
bewegte sich. Sein riesiger Magnet hielt eine Schienenlast allein durch die Kraft der Berührung an einer Scheibe
fest. Nicht ein Sonnenstrahl drang durch die grauen Wolken. Dennoch funkelten die Schienen, als würde das
Metall Raum in Licht verwandeln. Das Metall war grünlich-blau. Die große Kette hielt über einem Wagen an,
kam herunter, tat einen kurzen Ruck und entlud die Schienen in den Waggon. In majestätischer Gleichgültigkeit
glitt der Kran zurück; es sah aus, als bewegte sich die riesige Zeichnung eines geometrischen Lehrsatzes über
den Menschen und der Erde.
Sie stand am Fenster und sah stumm und gespannt dem Schauspiel zu. Sie sagte kein Wort, bis eine neue
Ladung grünlich-blauen Metalls am Himmel entlangschwebte. Und als sie dann sprach, redete sie nicht über
Schienen, Gleise oder einen termingerecht erfüllten Auftrag. Sie sagte nur, wie vom Anblick einer
Naturerscheinung überwältigt:
»Rearden Metal…«
Er hörte es, schwieg aber. Er blickte sie an und wandte sich wieder dem Fenster zu.
»Hank, das ist großartig.«
»Ja.«
Er sagte das schlicht und offen, nicht geschmeichelt und nicht bescheiden.
Dies, wußte sie, war ein Tribut an sie, ein Tribut, wie ihn ein Mensch nur ganz selten einem anderen zollt: der
Tribut, sich ungehemmt zur eigenen Größe zu bekennen, in der Gewißheit, daß der andere sie zu würdigen weiß.
»Wenn ich denke«, sagte sie, »was dieses Metall vermag, was es möglich machen wird… Hank, dies ist das
Bedeutendste, was heute in der Welt geschieht. Und niemand weiß es.«
»Wir wissen es.«
Sie blickten einander nicht an. Sie beobachteten weiter den Kran. Vorn an der Lokomotive in der Ferne waren
die Buchstaben TT zu erkennen. Die Lokomotive fuhr auf den Schienen der am stärksten beanspruchten
Industriegleise des Taggart-Netzes.
»Sobald ich eine Fabrik finde, die sie herstellen kann«, sagte sie, »werde ich Diesellokomotiven aus Rearden
Metal bestellen.«
»Sie werden sie brauchen. Wie schnell fahren Ihre Züge jetzt auf der Rio-Norte-Linie?«
»Jetzt? Wir sind froh, wenn sie zwanzig Meilen in der Stunde schaffen.«
Er deutete auf die Waggons. »Wenn diese Schienen gelegt sind, können Sie die Züge mit einer
Geschwindigkeit von zweihundertfünfzig Meilen in der Stunde fahren lassen.«
»Sobald wir Waggons aus Rearden Metal haben, das halb so schwer wie Stahl und doppelt so sicher is t.«
»Besonders spannend wird es im Luftverkehr. Wir arbeiten an einem Flugzeug aus Rearden Metal. Es wird so
gut wie nichts wiegen und jede Last transportieren können. Es ist nicht mehr lange hin, bis schwerste Lasten
über größte Entfernungen mit Flugzeugen befördert werden.«
»Ich überlege, was dieses Metall für Motoren bedeutet, für alle Arten von Motoren, und wie der erste
aussehen wird.«
»Denken Sie an einfachen Maschendraht. Maschendrahtzäune aus Rearden Metal werden nur ein paar Cent
kosten und zweihundert Jahre halten. Und Küchengeräte aus dem Discount-Markt werden sich von einer
Generation auf die nächste vererben. Und es wird Ozeandampfer geben, die kein Torpedo ankratzen kann«.
»Habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich Versuche mit Telephondrähten aus Rearden Metal angestellt habe?«
»Ich habe so viele Versuche angestellt, daß ich den Interessenten gar nicht zeigen kann, für was alles sich
Rearden Metal verwenden läßt.«
Sie sprachen von dem Metall und seinen unerschöpflichen Möglichkeiten. Es war, als stünden sie auf dem
Gipfel eines Berges und sähen unter sich eine endlose Ebene und in alle Richtungen führende Straßen. Aber sie
sprachen nur von Zahlen, Gewichten, Druckverhältnissen, Widerständen, Kosten.
Sie hatte ihren Bruder und seine Alliance of Railroads vergessen. Sie hatte alles hinter sich gelassen:
Probleme, Menschen und Ereignisse. Sie hatte sie immer nur schattenhaft wahrgenommen, war an ihnen
vorübergeeilt, hatte sie beiseite geschoben, weil sie nie endgültig und nie ganz wirklich waren. Dies hier war die
Wirklichkeit, dachte sie. Diese Klarheit, diese Bestimmtheit, diese Leichtigkeit, diese Hoffnung. So hatte sie
immer leben wollen. Ohne auch nur eine Stunde, einen Gedanken zu vergeuden.
Sie sah ihn in genau dem Augenblick an, als er sich zu ihr umdrehte. Sie standen ganz dicht beieinander. Sie
sah in seinen Augen, daß er das gleiche empfand wie sie. Wenn Freude der Zweck und der Sinn des Lebens ist,
dachte sie, und wenn das, was die Kraft hat, einem Freude zu geben, immer als tiefstes Geheimnis gehütet wird,
dann hatten sie einander in diesem Augenblick nackt gesehen.
Er trat einen Schritt zurück und sagte in einem seltsam kühlen Ton: »Wir sind ein wenig erbauliches
Gespann.«
»Warum?«
»Wir haben keine geistigen Ziele oder Werte. Das einzige, hinter dem wir her sind, sind materielle Dinge.
Dafür allein interessieren wir uns.«
Sie blickte ihn verständnislos an. Aber er sah an ihr vorüber, blickte geradeaus zu dem Kran in der Ferne. Sie
hätte gewünscht, er hätte das nicht gesagt. Die Anklage ließ sie kalt, sie hatte nie so von sich gedacht, und sie
war absolut unfähig, deshalb womöglich Schuldgefühle zu entwickeln. Aber sie spürte eine leichte
Beklemmung, die sie sich nicht erklären konnte, die Ahnung, daß sich in dem, was ihn das hatte sagen lassen,
eine ernste Konsequenz, etwas für ihn Gefährliches verbarg. Er hatte es nicht zufällig gesagt. Doch in seiner
Stimme war kein Gefühl gewesen, weder das der Schuld noch das der Scham. Er hatte es gleichgültig gesagt,
hatte gewissermaßen nur eine Tatsache festgestellt.
Als sie ihn dann betrachtete, wich die Beklemmung von ihr. Er blickte auf seine Fabrik hinter dem Fenster;
sein Gesicht verriet weder Schuld noch Zweifel, es spiegelte nur die Ruhe eines unversehrten Selbstvertrauens.
»Dagny«, sagte er, »was wir auch sein mögen, wir sind es, die die Welt bewegen und sie retten werden.«

V. Der Zenit der d’Anconias

Die Zeitung war das erste, was sie bemerkte. Eddie hielt sie fest in der Hand, als er ihr Büro betrat. Sie sah zu
ihm auf. Sein Gesicht hatte einen angespannten und bestürzten Ausdruck.
»Dagny, bist du sehr beschäftigt?«
»Warum?«
»Ich weiß, daß du nicht gern über ihn sprichst, aber hier steht etwas, das du lesen solltest.«
Stumm streckte sie die Hand nach der Zeitung aus.
Auf der Titelseite stand, daß die Regierung des Volksstaates Mexiko bei der Übernahme der San-Sebastián-
Gruben entdeckt hatte, daß sie wertlos waren – ohne jeden Zweifel völlig wertlos. Nichts rechtfertigte die fünf
Jahre lange Arbeit und die ausgegebenen Millionen; man hatte nichts vorgefunden außer sorgfältig angelegten
leeren Stollen. Es lohnte nicht, das wenige vorhandene Kupfer zu fördern. Es gab keine Metallvorkommen, und
es gab auch keinen vernünftigen Grund, welche zu erwarten. Es war unmöglich, daß sich jemand darüber hatte
täuschen können. Die Regierung des Volksstaates Mexiko trat zu Sondersitzungen über diese Entdeckung
zusammen. Sie kochte vor Empörung. Sie fühlte sich betrogen.
Eddie, der Dagny beobachtete, bemerkte, daß sie, nachdem sie den Artikel gelesen hatte, immer noch auf die
Zeitung starrte. Er fand sich bestärkt in seiner Besorgnis, obwohl er nicht sagen konnte, was an diesem Bericht
ihn erschreckte.
Er wartete. Sie hob den Kopf. Sie sah ihn nicht an. Ihre Augen waren angespannt in die Ferne gerichtet, als ob
sie dort etwas suchten.
Mit leiser Stimme sagte er: »Francisco ist kein Spinner. Was immer er sein mag, und wie tief er vielleicht
gesunken ist – ich habe es aufgegeben herauszufinden, warum –, er ist kein Spinner. Er kann sich nicht so geirrt
haben. Das ist nicht möglich. Ich verstehe es nicht.«
»Ich beginne, es zu verstehen.« In einer jähen Bewegung, die wie ein Schauer durch ihren Körper zuckte,
reckte sie sich und sagte: »Ruf ihn im Wayne-Falkland-Hotel an, und sag dem Schweinehund, daß ich ihn
sprechen will.«
»Dagny«, sagte er traurig und vorwurfsvoll, »es ist Frisco d’Anconia.«
»Er war es.«
In der beginnenden Dämmerung ging sie durch die Straßen zum Wayne-Falkland-Hotel. »Ihm ist jede Zeit
recht«, hatte Eddie gesagt. In ein paar Fenstern hoch unter den Wolken gingen die ersten Lichter an. Die
Wolkenkratzer sahen wie verlassene Leuchttürme aus, die schwache, langsam erlöschende Lichtsignale über ein
leeres Meer senden, auf dem kein Schiff mehr fährt. Ein paar Schneeflocken rieselten vor den dunklen Fenstern
der aufgegebenen Geschäfte und schmolzen im Matsch der Gehsteige. Eine Schnur roter Laternen zog sich die
Straße entlang und verschwand in der dunklen Ferne.
Sie fragte sich, warum sie das Verlangen spürte zu laufen, warum sie laufen mußte; nein, nicht diese Straße
hinunter; einen grünen Hügel hinunter, im Sonnenschein, zu der Straße am Ufer des Hudson unterhalb des
Landsitzes der Taggarts. So war sie immer gelaufen, wenn Eddie gerufen hatte: »Frisco d’Anconia ist da« und
sie beide den Hügel hinuntergestürmt waren, zu der Straße, auf der der Wagen angefahren kam.
Er war in ihrer Kindheit der einzige Gast, dessen Ankunft ein Ereignis war. Ihr größtes Ereignis. Ihm
entgegenzulaufen, gehörte zu einem Wettstreit, der zwischen den drei Kindern entbrannt war. Auf dem Hügel,
auf halbem Wege zwischen der Straße und dem Haus, stand eine Birke; Dagny und Eddie versuchten, den Baum
zu erreichen, bevor Francisco den Hügel heraufgeschossen war. Aber in all den vielen Sommern, in denen er sie
besuchte, gelang es ihnen nie, vor ihm bei der Birke zu sein. Francisco gewann immer, wie er stets alles gewann.
Seine Eltern waren alte Freunde der Taggarts. Er war der einzige Sohn und wurde in den verschiedensten
Gegenden der Welt erzogen. Sein Vater, hieß es, wollte, daß er die Welt als sein künftiges Reich betrachtete.
Dagny und Eddie wußten nie, wo er den Winter verbringen würde, aber einmal in jedem Sommer brachte ihn ein
strenger südamerikanischer Erzieher für einen Monat auf den Landsitz der Taggarts.
Francisco fand es ganz natürlich, daß man die Taggart-Kinder als Gefährten für ihn ausgewählt hatte: Sie
waren die Erben von Taggart Transcontinental, wie er der Erbe von d’Anconia Copper war. »Wir sind die
einzige Aristokratie, die es auf der Welt noch gibt – die Geldaristokratie«, sagte er einmal, als er vierzehn war,
zu Dagny. »Es ist die einzige wirkliche Aristokratie. Wenn die Menschen verstehen würden, was das Wort
bedeutet, wüßten sie das.«
Er hatte sein persönliches Kastensystem: Für ihn waren die Taggart-Kinder nicht Jim und Dagny, sondern
Dagny und Eddie. Von Jims Existenz nahm er freiwillig kaum Notiz. Eddie fragte ihn einmal: »Francisco, du
gehörst doch zum höchsten Adel?« Er antwortete: »Noch nicht. Meine Familie hat sich deshalb so lange
behauptet, weil keiner von uns jemals hat glauben dürfen, er sei von Geburt an ein d’Anconia. Jeder muß erst
einer werden.« Er betonte seinen Namen, als sollte bereits dessen Klang ein Schlag ins Gesicht seiner Zuhörer
sein, der sie zu Vasallen machte.
Sebastián d’Anconia, sein Vorfahr, hatte Spanien vor vielen Jahrhunderten verlassen, zu einer Zeit, als es das
mächtigste Land der Welt war und er einer der stolzesten Spanier. Er verließ es, weil der Großinquisitor seine
Denkungsart mißbilligte und ihn bei einem Hofbankett aufforderte, sie zu ändern. Sebastián d’Anconia
schleuderte den Inhalt seines Weinglases dem Großinquisitor ins Gesicht und flüchtete, ehe man ihn ergreifen
konnte. Er ließ sein Vermögen zurück, seine Ländereien, seinen Marmorpalast und die Frau, die er liebte – und
segelte in eine neue Welt.
Sein erster Besitz in Argentinien war eine Holzhütte im Vorgebirge der Anden. Das silberne Wappen der
d’Anconias, das er über die Tür der Hütte genagelt hatte, leuchtete im Schein der Sonne wie Feuer, während
Sebastián d’Anconia in seinem ersten Bergwerk nach Kupfer grub. Jahrelang ging er von Sonnenaufgang bis
zum Einbruch der Dunkelheit mit der Spitzhacke in der Hand den Felsen zu Leibe. Seine einzige, wenig
verläßliche Hilfe waren gelegentlich auftauchende Deserteure der spanischen Armee, geflüchtete Strafgefangene,
hungernde Indianer.
Fünfzehn Jahre nach seiner Flucht aus Spanien ließ er die Frau, die er liebte, nachkommen; sie hatte auf ihn
gewartet. Als sie kam, hing das silberne Wappen über dem Portal eines Marmorpalastes, der von einem großen
Park umgeben war, und in der Ferne sah man die Berge, in die sich die Kupferstollen hineinbohrten. Auf den
Armen trug er sie über die Schwelle seines Hauses. Er sah jünger aus als zu der Zeit, da sie ihn zuletzt gesehen
hatte.
»Mein Ahne und deiner«, sagte Francisco zu Dagny, »hätten sich gemocht.«
Die ganzen Jahre ihrer Kindheit hindurch lebte Dagny in der Zukunft – in der Welt, die sie zu finden hoffte,
wo sie weder Verachtung noch Langeweile würde empfinden müssen. Aber einen Monat in jedem Jahr war sie
frei. Einen Monat konnte sie in der Gegenwart leben. Wenn sie den Hügel hinunter Francisco d’Anconia
entgegenlief, fühlte sie sich wie aus einem Gefängnis befreit.
»Tag, Slug!«
»Tag, Frisco!«
Sie hatten sich anfangs beide über diese Spitznamen geärgert. Sie hatte ihn zornig gefragt: »Was soll der
Name?« Er hatte geantwortet: »Falls du’s nicht weißt, Slug ist die Glut in der Feuerbüchse einer Lokomotive.«
»Woher hast du das?«
»Von den feinen Herrschaften, die bei Taggart Transcontinental heizen.« Er sprach fünf Sprachen, und er
sprach Englisch ohne den leisesten Akzent, ein genaues, gepflegtes Englisch, das er gern mit ein paar
Slangausdrücken spickte. Sie hatte sich gerächt, indem sie ihn Frisco nannte. Er hatte amüsiert, aber ein bißchen
verletzt gelacht. »Wenn ihr Barbaren den Namen einer eurer großen Städte schon so verunstalten mußtet, dann
brauchtest du das mir nicht auch noch anzutun.« Aber allmählich hatten beide an ihren Spitznamen Gefallen
gefunden.
Es hatte in den Tagen ihres zweiten gemeinsamen Sommers begonnen, als er zwölf und sie zehn Jahre alt war.
In jenem Sommer verschwand Francisco jeden Morgen, ohne daß jemand wußte, wohin und zu welchem Zweck.
Noch ehe es dämmerte, fuhr er auf seinem Fahrrad davon, kehrte aber rechtzeitig zum Mittagessen zurück, das
auf der Terrasse an einem mit weißem Damast und Kristall gedeckten Tisch eingenommen wurde; er kam
pünktlich, wie es die Höflichkeit gebot, aber mit ein bißchen verdächtig unschuldiger Miene. Lachend
verweigerte er die Antwort, wenn Dagny und Eddie ihn fragten. Einmal versuchten sie, in der kalten
Morgendämmerung seine Spur zu verfolgen, aber sie gaben es bald auf; niemand vermochte ihn aufzuspüren,
wenn er das nicht wollte.
Nach einer Weile begann Mrs. Taggart sich Sorgen zu machen und beschloß, der Sache auf den Grund zu
gehen. Sie erfuhr nie, wie es ihm gelungen war, die Gesetze, die Kinderarbeit verboten, zu umgehen. Aber sie
fand Francisco auf einem zehn Meilen entfernten Stellwerk, wo er sich heimlich bei dem Weichensteller als
Gehilfe verdingt hatte. Der Weichensteller war über ihren Besuch sehr entsetzt; er hatte keine Ahnung, daß sein
Gehilfe ein Hausgast der Taggarts war. Er war allen Eisenbahnern dort als Frankie bekannt, und Mrs. Taggart
zog es vor, sie nicht über seinen richtigen Namen aufzuklären. Sie sagte nur, er arbeite ohne die Erlaubnis seiner
Eltern und müsse sofort die Arbeit aufgeben. Der Weichensteller bedauerte es sehr, ihn zu verlieren. Frankie,
sagte er, sei der beste Gehilfe, den er je gehabt habe. »Ich würde ihn bestimmt gern behalten. Vielleicht könnten
wir mit seinen Eltern darüber sprechen«, sagte er. »Ich fürchte, nein«, erwiderte Mrs. Taggart zaghaft.
»Francisco«, fragte sie, als sie ihn nach Hause brachte, »was würde dein Vater sagen, wenn er davon
erführe?«
»Mein Vater würde fragen, ob ich meine Sache gut gemacht hätte oder nicht. Das allein interessiert ihn.«
»Aber hör mal, ich meine es ernst.«
Francisco blickte sie ehrerbietig an. Seine guten Manieren bezeugten die ausgezeichnete Erziehung und den
gepflegten Umgang einer jahrhundertealten Familie. Aber etwas in seinen Augen ließ sie daran zweifeln, daß die
Höflichkeit ganz echt war. »Im letzten Winter«, antwortete er, »bin ich als Schiffsjunge auf einem
Frachtdampfer mitgefahren, der d’Anconia-Kupfer geladen hatte. Mein Vater hat drei Monate lang nach mir
gesucht. Aber als ich zurückkam, war dies seine einzige Frage.«
»So verbringst du also deine Winter«, sagte Jim Taggart. Jims Lächeln hatte einen Anflug von Triumph, den
Triumph darüber, daß er einen Grund gefunden hatte, ihn verachten zu können.
»Das war im letzten Winter«, erwiderte Francisco freundlich, ohne daß sich der unschuldige, gleichgültige
Ton seiner Stimme veränderte. »Den Winter davor habe ich ni Madrid im Hause des Herzogs von Alba
verbracht.«
»Warum wolltest du bei der Eisenbahn arbeiten?« fragte Dagny.
Sie sahen sich an: Ihr Blick war bewundernd, seiner spöttisch. Aber es war kein boshafter Spott, es war ein
lachender Salut.
»Um zu erfahren, wie das ist, Slug«, antwortete er, »und um dir sagen zu können, daß ich vor dir eine Stellung
bei Taggart Transcontinental hatte.«
Dagny und Eddie versuchten den ganzen Winter hindurch, sich eine neue Fertigkeit anzueignen, um Francisco
damit in Erstaunen zu versetzen und ihn einmal zu schlagen. Aber es gelang ihnen nie. Als sie ihm zeigten, wie
man Schlagball spielt, ein Spiel, das er noch nie gespielt hatte, sah er ihnen eine Weile zu und sagte dann: »Ich
glaube, ich bin dahintergekommen. Laßt es mich mal versuchen.« Er ergriff das Schlagholz, und der Ball flog
über eine Reihe von Eichen hinweg, die am anderen Ende des Feldes standen.
Als Jim zu seinem Geburtstag ein Motorboot geschenkt bekam, standen sie alle auf dem Landesteg und sahen
zu, wie ein Lehrer ihn im Motorbootfahren unterwies. Keiner von ihnen hatte bis dahin ein Motorboot gesteuert.
Das glänzende weiße Boot, das die Form einer Granate hatte, bewegte sich im Zickzack schwerfällig vorwärts,
sein Kielwasser bildete eine lange, sich krümmende Spur, und der Motor spuckte immer wieder, während der
Lehrer, der neben Jim saß, ihm das Steuer aus den Händen nahm. Aus einem nicht ersichtlichen Grunde hob Jim
plötzlich den Kopf und rief Francisco zu: »Glaubst du, daß du das besser könntest?«
»Klar.«
»Dann versuch es.«
Als das Boot zurückkam und die beiden Insassen ausstiegen, setzte sich Francisco ans Steuer. »Warten Sie
einen Augenblick«, sagte er zu dem Lehrer, der auf dem Landesteg stand. »Ich muß mir das erstmal ansehen.«
Und dann, ehe der Lehrer hinzueilen konnte, schoß das Boot in die Mitte des Flusses, als wäre es von einer
Kanone abgefeuert. Es raste davon, ehe sie begriffen, was sie sahen. Als es im Sonnenlicht in der Ferne immer
winziger wurde, sah Dagny nur noch ein Bild aus drei geraden Linien: dem Kielwasser, dem langgezogenen
Heulen des Motors und dem Ziel des Jungen am Steuer.
Sie bemerkte den seltsamen Ausdruck im Gesicht ihres Vaters, als er dem entschwindenden Rennboot
nachblickte. Er sagte nichts, sondern sah nur starr in die Richtung. Sie erinnerte sich, daß sie diesen Blick an ihm
schon einmal gesehen hatte. Es war damals, als er den Flaschenzug entdeckte, den Francisco mit zwölf Jahren
gebaut hatte, weil er einen Fahrstuhl zum Gipfel des Felsens bauen wollte; er war gerade dabei, Dagny und
Eddie beizubringen, von dem Felsen in den Hudson zu springen. Die Zettel mit Franciscos Berechnungen lagen
noch überall auf dem Boden verstreut. Ihr Vater hob sie auf, sah sie sich an und fragte dann: »Francisco, wie
lange hast du schon Algebra-Unterricht?«
»Zwei Jahre.«
»Wo hast du das hier gelernt?«
»Ach, das habe ich mir nur so ausgeknobelt.« Sie wußte nicht, daß das, was auf den zerknitterten Papieren in
der Hand ihres Vaters stand, der grobe Entwurf einer Differentialgleichung war.
Die Erbfolgelinie von Sebastián d’Anconia bestand aus einer ununterbrochenen Reihe erstgeborener Söhne,
die wußten, was sie ihrem Namen schuldeten. Es war eine Familientradition, daß der, der Schande über die
d’Anconias bringen würde, der wäre, der bei seinem Tod das von ihm ererbte Vermögen nicht vermehrt hätte.
Durch Generationen hindurch war das nie geschehen. Eine argentinische Legende sagte, daß die Hand eines
d’Anconia die Wunderkraft der Heiligen hatte – es sei nur nicht die Kraft zu heilen, sondern die Kraft zu
schaffen.
Die d’Anconia-Erben waren außerordentlich befähigte Männer gewesen. Aber keiner von ihnen hätte sich mit
dem messen können, was Francisco d’Anconia zu werden versprach. Es war, als ob die Jahrhunderte die
Familieneigenschaften gesiebt und das Unbedeutende, das Inkonsequente, das Schwache ausgeschieden und nur
die reine Begabung übriggelassen hätten; als ob das Schicksal dieses eine Mal ein Ganzes geschaffen hätte, dem
alles Zufällige fehlte.
Francisco gelang alles, was er unternahm. Es gelang ihm besser als irgendeinem anderen und ohne jede
Anstrengung. Er war sich dessen selbst gar nicht bewußt, er prahlte nicht damit, dachte nicht daran, sich mit
anderen zu vergleichen. Er sagte nicht: »Ich kann das besser als du«, sondern einfach: »Ich kann es.«
Ganz gleich, welche Disziplin der von seinem Vater aufgestellte Erziehungsplan von ihm forderte, ganz
gleich, in welches Gebiet er sich einarbeiten sollte, Francisco meisterte alles mühelos und mit Freude. Sein Vater
vergötterte ihn, verbarg das aber sorgfältig, wie er den Stolz verbarg zu wissen, daß er dem glänzendsten
Phänomen einer hochbegabten Familie das notwendige Rüstzeug gab. Francisco, hieß es, sollte der Zenit der
d’Anconias werden.
»Ich weiß nicht, welchen Wahlspruch die d’Anconias auf ihrem Familienwappen haben«, sagte Mrs. Taggart
einmal, »aber ich bin sicher, daß Francisco ihn in ‘Wozu?’ umwandeln wird.« Es war die erste Frage, die er stets
stellte, wenn man ihm vorschlug, dies oder jenes zu tun – und nichts konnte ihn zum Handeln bringen, wenn
man es ihm nicht einleuchtend begründete. Er flog wie eine Rakete durch die Tage dieser Sommermonate, aber
wenn ihn jemand mitten in seinem Flug anhielt, wußte er das Ziel, das er sich gerade gesetzt hatte, immer zu
nennen. Zweierlei war ihm unmöglich: stillzustehen oder ziellos herumzuschweifen.
»Das müssen wir rauskriegen«, sagte er zur Begründung jeder Unternehmung zu Dagny und Eddie oder: »Das
machen wir.« Nur so hatte er Spaß.
»Das schaff ich schon«, sagte er, als er seinen Aufzug baute und an einer Felswand hing, in die er Metallkeile
trieb. Seine Arme bewegten sich dabei so geschickt wie die eines Fachmanns, und unter einem Verband an
seinem Handgelenk tropfte Blut hervor, ohne daß er darauf achtete. »Nein, wir können uns dabei nicht
abwechseln, Eddie. Du bist noch nicht groß genug, um mit einem Hammer umgehen zu können. Reiß nur das
Unkraut heraus, und mach die Bahn für mich frei. Das übrige werde ich tun… Was, Blut? Ach, das ist weiter
nichts, ich habe mich gestern ein bißchen geschnitten. Dagny, lauf ins Haus, und hol mir einen sauberen
Verband.«
Jim beobachtete sie. Sie kümmerten sich nicht um ihn, aber sie sahen ihn oft in der Ferne stehen und
Francisco eigenartig gespannt beobachten.
Er sprach selten in Franciscos Gegenwart. Aber er schnappte sich Dagny und sagte mit einem spöttischen
Lächeln: »Du tust zwar immer so, als wärest du aus Eisen und hättest deinen eigenen Kopf, aber du bist nichts
weiter als ein Waschlappen, hast überhaupt kein Rückgrat. Es ist geradezu widerlich, wie du dich von diesem
eingebildeten Schnösel herumkommandieren läßt. Er kann dich um den kleinen Finger wickeln. Du hast
überhaupt keinen Stolz. Er braucht nur zu pfeifen, und schon kommst du gehorsam angerannt. Warum putzt du
ihm nicht auch noch seine Schuhe?«
»Weil er mir das nicht gesagt hat«, antwortete sie.
Francisco hätte in jedem Wettkampf gewonnen, der in der Gegend veranstaltet wurde, aber er beteiligte sich
nie an einem. Er hätte den Landklub der Junioren leiten können. Aber er zeigte sich nie in ihrem Klubhaus und
beachtete ihre eifrigen Versuche überhaupt nicht, den berühmtesten Erben der Welt als Mitglied aufzunehmen.
Dagny und Eddie waren seine einzigen Freunde. Sie konnten nicht sagen, ob sie ihn besaßen oder ob sie von ihm
völlig in Besitz genommen waren. Es war ihnen gleichgültig: Das eine wie das andere machte sie glücklich.
Jeden Morgen zogen die drei auf Abenteuer aus. Einmal sah sie ein älterer Literaturprofessor, ein Freund von
Mrs. Taggart, auf einem Autofriedhof hoch oben auf einem Schrotthaufen hocken, damit beschäftigt, ein altes
Auto auseinanderzunehmen. Er blieb stehen, schüttelte den Kopf und sagte zu Francisco: »Ein junger Mann wie
Sie sollte seine Zeit in Bibliotheken verbringen und sich in die Kultur der Welt versenken.«
»Was glauben Sie denn, was ich tue?« fragte Francisco.
In der Nähe lagen keine Fabriken, aber Francisco brachte Dagny und Eddie bei, als blinde Passagiere in
Taggart-Zügen in weiter entfernte Städte zu fahren, wo sie über Zäune auf Fabrikhöfe kletterten oder auf
Fenstersimsen hockten und Maschinen ansahen, wie andere Kinder Filme betrachteten. »Wenn ich erst Taggart
Transcontinental leite…«, sagte Dagny manchmal. »Wenn ich d’Anconia Copper leite… «, sagte Francisco.
Weiter brauchten sie sich nichts zu sagen; jeder kannte das Ziel und Streben des anderen.
Hin und wieder wurden sie von Schaffnern erwischt. Dann rief ein Stationsvorsteher von einem Hunderte von
Meilen entfernten Bahnhof an: »Wir haben drei junge Tramps geschnappt, die behaupten, sie seien…«
»Ja«, seufzte Mrs. Taggart, »sie sind es. Bitte schicken Sie sie zurück.«
»Francisco«, fragte Eddie ihn einmal, als sie auf dem Bahnsteig des Taggart Terminals standen, »du bist doch
schon fast überall auf der Welt gewesen, was ist das Größte?«
»Das«, antwortete Francisco und deutete auf das Zeichen TT vorn an einer Lokomotive. »Nat Taggart wäre
ich gerne mal begegnet«, fügte er hinzu.
Er bemerkte, daß Dagny ihn anblickte, sagte aber nichts weiter. Minuten später jedoch, als sie auf einem
schmalen, feuchten Pfad zwischen von der Sonne beschienenen Farnkräutern durch den Wald gingen, sagte er:
»Dagny, ich werde mich immer vor einem Wappen verbeugen. Ich werde immer die Adels symbole verehren.
Bin ich nicht schließlich ein Aristokrat? Aber ich gebe keinen Pfifferling für mottenzerfressene Helmbüsche und
Einhörner aus zehnter Hand. Die Wappen unserer Zeit muß man auf den Werbeplakaten und in den Anzeigen der
großen Zeitschriften suchen.«
»Was meinst du?« fragte Eddie. »Markenzeichen«, antwortete er. Francisco war in jenem Sommer fünfzehn
Jahre alt.
»Wenn ich d’Anconia Copper leite…« – »Ich studiere Bergbau und Mineralogie, weil ich für die Zeit gerüstet
sein muß, wenn ich d’Anconia Copper leite…« – »Ich studiere Elektrotechnik, weil Elektrizitätswerke die besten
Kunden von d’Anconia Copper sind…« – »Ich werde Philosophie studieren, denn das brauche ich, um
d’Anconia Copper zu schützen…«
»Denkst du nie an etwas anderes als an d’Anconia Copper?« hatte Jim ihn einmal gefragt.
»Nein.«
»Gibt es nichts anderes auf der Welt.«
»Darüber sollen andere nachdenken.«
»Ist das nicht eine sehr eigennützige Haltung?«
»Unbedingt.«
»Was ist dein Ziel?«
»Geld.«
»Hast du noch nicht genug?«
»Zu seinen Lebzeiten hat jeder meiner Vorfahren die Produktion von d’Anconia Copper um etwa zehn
Prozent gesteigert. Ich will sie um hundert Prozent steigern.«
»Wozu?« fragte Jim in einem Tonfall, der Franciscos Stimme sarkastisch nachahmte.
»Wenn ich sterbe, hoffe ich, in den Himmel zu kommen – was zum Teufel das auch sein mag –, und ich will
dann den Eintrittspreis zahlen können.«
»Tugend ist der Eintrittspreis«, sagte Jim von oben herab.
»Das meine ich ja, James. Darum will ich darauf vorbereitet sein und für mich die größte Tugend anführen
können, die es gibt: Geld gemacht zu haben.«
»Jeder Schwindler kann Geld machen.«
»James, du wirst eines Tages entdecken, daß Worte einen genauen Sinn haben.«
Francisco lächelte; es war ein strahlend spöttisches Lächeln. Als Dagny die beiden beobachtete, wurde ihr
plötzlich der Unterschied zwischen Francisco und ihrem Bruder Jim klar. Beide lächelten zwar spöttisch, aber
Francisco schien über die Dinge zu lachen, weil er etwas viel Größeres sah. Jim lachte, als ob er wollte, daß
nichts Großes blieb.
Eines Abends, als sie mit ihm und Eddie im Wald an einem Feuer saß, das sie sich gemacht hatten, fiel ihr
von neuem die besondere Art von Franciscos Lächeln auf. Der Schein des Feuers umschloß sie mit einem Zaun
aus flackerndem Licht, in dem Baumstümpfe glühten, Äste und ferne Sterne. Sie hatte das Gefühl, als wäre
nichts hinter diesem Zaun, nichts als schwarze Leere, in der sich eine atemberaubende, ängstigende Verheißung
verbarg… die Zukunft. Aber die Zukunft, dachte sie, würde wie Franciscos Lächeln sein. Dort war der Schlüssel
zu ihr, die Ankündigung von dem, was sie sein würde – in seinem Gesicht im Feuerschein unter den
Tannenzweigen –, und plötzlich spürte sie ein unerträgliches Glück, unerträglich, weil es zu gewaltig war und
weil sie ihm keinen Ausdruck geben konnte. Sie blickte Eddie an. Er blickte Francisco an. In seiner stillen Art
fühlte Eddie das gleiche wie sie.
»Warum magst du Francisco?« fragte sie ihn Wochen später, als Francisco abgereist war.
Eddie sah sie überrascht an; er hatte sich nie über dieses Gefühl Gedanken gemacht. »Er gibt mir ein Gefühl
der Geborgenheit«, sagte er.
»Er weckt in mir die Ahnung von etwas Erregendem und Gefährlichem«, sagte sie. Eines Tages im nächsten
Sommer stand sie mit Francisco – der jetzt sechzehn Jahre alt war – auf einer Klippe am Fluß. Beim
Hinaufklettern hatten sie sich Shorts und Hemden zerrissen. Sie blickten den Hudson hinunter, sie hatten gehört,
an klaren Tagen könne man New York in der Ferne sehen. Aber sie sahen nur Dunst, in dem der Fluß, der
Himmel und die Sonne ineinander verschwammen.
Sie kniete auf einem Felsen, beugte sich vor und versuchte, etwas von der Stadt zu erkennen. Der Wind wehte
ihr das Haar über die Augen. Sie sah über die Schulter zurück und bemerkte, daß Francisco nicht in die Ferne
sah: Er sah sie an. Es war ein seltsamer, ernster, eindringlicher Blick. Sie rührte sich einen Augenblick lang
nicht. Ihre Hände lagen flach auf dem Felsen, und ihre Arme waren gespannt, um das Gewicht ihres Körpers zu
stützen; unerklärlicherweise machte sein Blick ihr ihre Haltung bewußt, wie sie dalag, mit dem zerrissenen
Hemd, durch das man ihre Schulter sah, und den langen zerkratzten sonnengebräunten Beinen, die von dem
Felsen zum Boden hinunterhingen. Sie stand ärgerlich auf und ging ein Stück von ihm weg. Und als sie den
Kopf reckte und der Groll in ihren Augen dem Ernst in seinen Augen begegnete, einem Ernst, der, wie sie
deutlich fühlte, mißbilligend, ja feindlich war, hörte sie sich selbst in einem Ton lächelnder Herausforderung
sagen:
»Was magst du eigentlich an mir?«
Er lachte.
Bestürzt überlegte sie, wie sie dazu gekommen war, das zu fragen.
»Das«, antwortete er und deutete auf die glitzernden Schienen des Taggart-Bahnhofs in der Ferne.
»Die gehören mir nicht«, sagte sie enttäuscht.
»Was ich mag, ist, daß sie dir eines Tages gehören werden.«
Sie lächelte und gab damit offen zu, daß sie seinen Sieg anerkannte. Sie wußte nicht, warum er sie so
merkwürdig angesehen hatte; aber sie fühlte, ohne es zu verstehen, daß er etwas in ihr entdeckt hatte, als er sie
dort liegen sah, was ihr die Kraft geben würde, eines Tages die Eisenbahn zu leiten.
Plötzlich sagte er: »Wir wollen nochmal versuchen, ob wir nicht doch New York ausmachen können.« Er
packte sie am Arm und zog sie an den Rand der Klippe. Sie hatte das Gefühl, er spürte gar nicht, daß er ihren
Arm fast verrenkte, als er ihn an seine Seite gepreßt hielt. Sie mußte sich dadurch dicht an ihn lehnen, und sie
spürte die Wärme der Sonne auf der Haut seiner Beine, die ihre berührten. Sie blickten in die Ferne, aber sie
sahen nichts als hellen Dunst.
Als Francisco in diesem Sommer wieder abreiste, war es ihr, als überschritte er eine Grenze, hinter der seine
Kindheit endete: Im Herbst sollte er mit dem Studium beginnen. Bei ihr war es noch nicht so weit. Eine fiebrige
Ungeduld, in die sich leise Angst mischte, ergriff sie, als wäre er in eine unbekannte Gefahr hineingesprungen.
Es war wie in jenem Augenblick vor Jahren, als sie ihn zum ersten Mal von einem Felsen in den Hudson
springen und dann in dem dunklen Wasser hatte verschwinden sehen und doch wußte, daß er gleich wieder
auftauchen würde und daß dann sie an der Reihe war, in den Fluß zu springen, zu verschwinden und wieder
aufzutauchen.
Sie verscheuchte die Angst. Gefahren waren für Francisco nur Gelegenheiten, sich auszuzeichnen. Es gab
keine Schlachten, die er verlieren konnte, keine Feinde, die ihn zu schlagen vermochten. Und dann dachte sie an
eine Bemerkung, die sie ein paar Jahre zuvor gehört hatte. Es war eine seltsame Bemerkung, und es war seltsam,
daß die Worte ihr im Gedächtnis geblieben waren, obwohl sie sie damals lächerlich gefunden hatte. Der Mann,
der jene Bemerkung gemacht hatte, war ein alter Mathematikprofessor gewesen, ein Freund ihres Vaters, der nur
dieses eine Mal in ihr Landhaus zu Besuch gekommen war. Sie mochte sein Gesicht. Und sie sah die
merkwürdige Trauer in seinen Augen noch vor sich, als er eines Abends in der beginnenden Dämmerung von der
Terrasse aus auf Francisco im Garten davor gezeigt und zu ihrem Vater gesagt hatte: »Dieser Junge ist
verletzlich. Er hat die Gabe, sich so herzlich zu freuen. Was wird er anfangen mit dieser Gabe in einer Welt, in
der es so wenig Gelegenheit gibt, sie zu nutzen?«
Francisco ging an eine große amerikanische Universität, die sein Vater schon vor langen Jahren für ihn
ausgesucht hatte. Es war die bedeutendste Universität, die es auf der Welt noch gab, die Patrick-Henry-
Universität in Cleveland. Er besuchte Dagny diesen Winter nicht in New York, obwohl es nur eine Nachtreise
weit entfernt war. Sie schrieben sich auch nicht, sie hatten es nie getan. Aber sie wußte, er würde im Sommer
wieder für einen Monat aufs Land kommen. Ein paarmal in diesem Winter spürte sie eine leise Beklemmung.
Die Worte des Professors fielen ihr immer wieder ein wie eine Warnung, die sie sich nicht erklären konnte. Sie
schüttelte sie von sich ab. Wenn sie an Francisco dachte, fühlte sie die beruhigende Gewißheit, daß sie wieder
einen Sommermonat erleben würde als Vorschuß auf die Zukunft, als Beweis, daß die Welt, die sie vor sich sah,
real war, wenn es auch nicht die Welt der Menschen war, mit denen sie zusammenlebte.
»Tag, Slug!«
»Tag, Frisco.«
In dem ersten Augenblick ihres Wiedersehens auf dem Hügel begriff sie plötzlich, welche Welt das war, die
sie gemeinsam gegen alle anderen verteidigten. Es war nur ein winziger Augenblick, sie spürte, wie ihr
Baumwollrock im Wind gegen ihre Knie schlug, spürte die Sonne auf ihren Augenlidern und eine solche
Erleichterung, daß sie die Füße in das Gras unter ihren Sandalen stemmte, weil sie glaubte, sie würde sonst wie
eine Feder vom Wind in die Lüfte getragen werden.
Es war ein plötzliches Gefühl von Freiheit und Sicherheit, weil ihr klar wurde, daß sie nichts von seinem
Leben wußte, nie gewußt hatte und nie würde wissen müssen. Die Zufallswelt – die Welt der Familien, der
Mahlzeiten, der Schulen, der Menschen, zielloser Menschen, die die Last irgendeiner unbekannten Schuld mit
sich schleppten – war nicht seine Welt, konnte ihn nicht verändern, konnte nichts bedeuten. Er und sie hatten nie
von dem gesprochen, was sie erlebten, sondern nur von dem, was sie dachten, und von dem, was sie tun
würden… Sie blickte ihn stumm an, als ob eine Stimme in ihr sagte: nicht das, was ist, sondern das, was wir tun
werden… Wir werden uns nicht daran hindern lassen, du und ich… Vergib mir die Angst, wenn ich dachte, ich
könnte dich an die anderen verlieren – vergib mir den Zweifel; sie werden nie an dich herankommen – ich werde
mich nie wieder um dich ängstigen…
Auch er sah sie einen Augenblick lang an – und es schien ihr, daß es nicht der Blick war, mit dem man
jemand nach langer Abwesenheit begrüßt, sondern der Blick eines Menschen, der jeden Tag des Jahres an einen
gedacht hat. Sie konnte dessen nicht sicher sein; kaum daß sie den Blick aufgefangen hatte, drehte sich Francisco
um, deutete auf die Birke und sagte in dem Ton, in dem sie als Kinder beim Spiel miteinander geredet hatten:
»Warum lernst du nicht, schneller zu laufen? Ich werde wohl immer auf dich warten müssen.«
»Und wirst du warten?« fragte sie fröhlich.
Ohne zu lächeln, antwortete er: »Immer.«
Als sie den Hügel zum Haus hinaufgingen, sprach er mit Eddie, während sie stumm neben ihm ging. Sie
spürte eine neue Fremdheit zwischen ihnen, die seltsamerweise eine neue Art der Vertrautheit war.
Sie fragte ihn nicht nach der Universität. Erst Tage später erkundigte sie sich beiläufig, ob es ihm dort gefiel.
»Sie labern viel Unsinn«, antwortete er, »aber es gibt auch ein paar Vorlesungen, die mir was bringen.«
»Hast du Freunde gefunden?«
»Zwei.«
Weiter sagte er nichts.
Für Jim begann bald sein letztes Universitätsjahr in New York. Sein Studium hatte ihm etwas Salbadernd-
Streitlustiges gegeben, als ob er eine neue Waffe gefunden hätte. Einmal hielt er Francisco unvermittelt mitten
auf dem Rasen an und sagte in einem Ton aggressiver Selbstgerechtigkeit:
»Ich finde, du bist allmählich alt genug, um Ideale zu entwickeln. Immerhin studierst du schon. Es wird Zeit,
daß du deine eigennützige Habgier vergißt und dich auf deine soziale Verantwortung besinnst. Dein
Millionenerbe ist nicht zu deinem persönlichen Vergnügen da. Es ist ein Treuhandvermögen, in deine Hand
gegeben, damit du den Unterprivilegierten und den Notleidenden hilfst. Wenn du das nicht begreifst, begibst du
dich auf das niedrigste Niveau menschlicher Existenz.«
Francisco antwortete höflich: »Es ist nicht immer ratsam, James, unaufgefordert seine Meinung zum besten zu
geben. Man kann sich dadurch in die peinliche Lage bringen, daß die anderen sie ernst nehmen.« Als sie
weitergingen, fragte Dagny ihn: »Gibt es viele Menschen wie Jim auf der Welt?«
Francisco lachte: »Einen ganzen Haufen.«
»Findest du das nicht furchtbar?«
»Nein. Ich habe nichts mit ihnen zu tun. Warum fragst du mich das?«
»Weil ich glaube, sie sind in mancher Hinsicht gefährlich… Ich weiß nicht, wie…«
»Du lieber Himmel, Dagny. Erwartest du von mir, daß ich mich vor jemand wie James fürchte?«
Ein paar Tage später, als sie allein durch den Wald am Flußufer gingen, fragte sie: »Francisco, was ist das
niedrigste Niveau menschlicher Existenz?«
»Kein Ziel zu haben.«
Sie blickte auf die kerzengeraden Stämme der Bäume, die sich von der plötzlich aufleuchtenden Weite
dahinter abhoben. Der Wald war dunkel und kühl, aber die äußeren Zweige fingen den Glanz der vom Wasser
reflektierten heißen silbernen Sonnenstrahlen auf. Sie fragte sich, warum sie der Anblick freute, obwohl sie nie
auf die Landschaft ringsum geachtet hatte; warum ihre Freude, ihre Bewegungen, ihr beschwingtes Ausschreiten
ihr so bewußt wurden. Sie wollte Francisco nicht ansehen. Sie spürte seine Gegenwart viel intensiver, wenn sie
ihn nicht sah. Es kam ihr fast so vor, als wäre er es, der ihr dieses starke Bewußtsein ihrer selbst gab – wie das
Wasser den Zweigen der Bäume ihren Glanz.
»Du hältst dich für tüchtig, nicht wahr?« fragte er.
»Das habe ich von jeher getan«, antwortete sie herausfordernd, immer noch, ohne ihn anzusehen.
»Dann laß mich den Beweis sehen. Laß mich sehen, wie hoch du bei Taggart Transcontinental aufsteigen
wirst. Wie erfolgreich du auch sein magst, ich erwarte von dir, daß du das Letzte aus dir herausholst, daß du
versuchst, noch mehr zu leisten. Und wenn du mit letzter Kraft ein Ziel erreicht hast, mach’ dich zum nächsten
auf.«
»Wie kommst du darauf, daß mir daran liegt, dir etwas zu beweisen?« fragte sie.
»Willst du eine Antwort darauf?«
»Nein«, flüsterte sie, und ihre Augen starrten dabei auf das jenseitige Ufer des Flusses in der Ferne.
Sie hörte ihn lachen, und nach einer Weile sagte er: »Dagny, nichts ist von Bedeutung im Leben – außer: wie
gut man seine Arbeit macht. Nichts. Nur das. Alles andere beruht allein darauf. Daran allein bemißt sich der
Wert eines Menschen. All die ethischen Grundsätze, die sie einem einzutrichtern versuchen, sind genausoviel
wert wie das Papiergeld, das die Schwindler in Umlauf setzen, um die Menschen zu demoralisieren. Leistung ist
die einzige Moral, die auf einer Goldwährung beruht. Wenn du älter bist, wirst du wissen, was ich meine.«
»Ich weiß es schon jetzt, aber… Francisco, warum sind du und ich die einzigen, die es zu wissen scheinen?«
»Was kümmern dich die anderen?«
»Sie kümmern mich, weil ich sie verstehen möchte. Und es gibt da etwas, was ich nicht verstehen kann.«
»Was?«
»Ich bin in der Schule immer unbeliebt gewesen, und es hat mich nie berührt, aber jetzt habe ich den Grund
entdeckt. Es ist ein völlig unverständlicher Grund. Ich bin unbeliebt, nicht weil ich schlecht, sondern weil ich gut
bin. Ich bin unbeliebt, weil ich immer die besten Noten kriege. Ich muß nicht einmal pauken. Ich kriege trotzdem
immer Einsen. Was meinst du? Sollte ich versuchen, Vieren zu kriegen, damit es anders wird und ich das
beliebteste Mädchen in der Schule werde?«
Francisco blieb stehen, blickte sie an und gab ihr eine Ohrfeige.
Während der Boden unter ihren Füßen schwankte, loderte einen Augenblick lang ein seltsames Gefühl in ihr
auf. Sie wußte, sie hätte jeden anderen umgebracht, der sie schlug. Sie fühlte die heiße Wut, die ihr die Kraft
dazu gegeben hätte – und zugleich eine wilde Lust, weil Francisco es getan hatte. Sie genoß den dumpfen,
heißen Schmerz in ihrer Wange und den Geschmack des Bluts in ihrem Mundwinkel. Sie genoß es, daß sie ihn,
sich selbst und den Grund, aus dem er es getan hatte, plötzlich begriff.
Sie stemmte die Beine in den Boden, um das Schwindelgefühl zu überwinden. Sie hielt den Kopf hoch und
stand Francisco im Bewußtsein einer neu gewonnenen Kraft gegenüber. Zum ersten Mal fühlte sie sich ihm
ebenbürtig. Sie sah ihn mit einem triumphierenden Lächeln an.
»Habe ich dich so verletzt?« fragte sie.
Er sah sie erstaunt an; die Frage und das Lächeln waren nicht die eines Kindes.
»Wenn es dir Freude macht, das zu hören – ja«, antwortete er.
»Es macht mir Freude.«
»Tu das nie wieder. Unterlaß solche Scherze.«
»Sei nicht albern. Wie konntest du glauben, daß mir daran liegt, beliebt zu sein?«
»Wenn du älter bist, wirst du verstehen, wie ungeheuerlich das ist, was du da gesagt hast.«
»Hältst du mich für begriffsstutzig?«
Er drehte sich jäh um, zog ein Taschentuch heraus und tauchte es in das Wasser des Flusses. »Komm her«,
befahl er.
Sie lachte und trat einen Schritt zurück. »Nein. Es soll so bleiben, wie es ist. Ich hoffe sogar, es schwillt
furchtbar an und verschwindet nicht schnell. Ich genieße es.«
Er blickte sie eine Weile an, dann sagte er leise und sehr ernst: »Dagny, du bist wunderbar.«
»Ach, ist dir das neu?« Um ihre glänzenden Augen schimmerte leise Ironie.
Als sie nach Hause kam, sagte sie zu ihrer Mutter, sie sei gegen einen Felsen gefallen und habe sich dabei die
Lippe aufgerissen. Es war die einzige Lüge, die je aus ihrem Munde kam. Sie log nicht, um Francisco zu
schützen. Sie log, weil sie aus einem Grunde, den sie sich selbst nicht erklären konnte, diesen Zwischenfall als
ein Geheimnis empfand, zu kostbar, um es mit anderen zu teilen.
Als Francisco im nächsten Sommer kam, war sie sechzehn. Sie begann den Hügel hinunter – ihm entgegen –
zu laufen, blieb aber plötzlich stehen. Er sah es, blieb ebenfalls stehen, und so standen sie einen Augenblick lang
und sahen sich über den langen, grünen Hang hinweg an. Schließlich ging er auf sie zu. Er ging sehr langsam,
während sie wartend stehenblieb.
Als er zu ihr heraufkam, lächelte sie unschuldig, als wäre ihr gar nicht bewußt, daß sie einen Wettstreit
beabsichtigt und gewonnen hatte.
»Vielleicht interessiert es dich«, sagte sie, »daß ich eine Stellung bei der Eisenbahn habe. Ich bediene nachts
das Telefon auf der kleinen Station in Rockdale.«
Er lachte. »Schön, Taggart Transcontinental, jetzt beginnt der Wettkampf. Wollen mal sehen, wer von uns
beiden seinem Vorfahren mehr Ehre macht, du Nat Taggart, oder ich Sebastián d’Anconia!«
In diesem Winter wurde ihr Leben so einfach und klar wie eine geometrische Zeichnung: ein paar gerade
Linien – tagsüber der Weg zum und vom College in der Stadt, nachts zum und vom Job in Rockdale – und der
geschlossene Kreis ihres mit Diagrammen von Motoren, Blaupausen von Stahlbauten und Eisenbahnfahrpläne
übersäten Zimmers.
Mrs. Taggart beobachtete ihre Tochter unglücklich und bestürzt. Alles konnte sie ihrer Tochter verzeihen, nur
eines nicht: Dagny zeigte keinerlei Interesse an Männern, keine Spur von Verliebtheit. Mrs. Taggart mochte
keine Extreme. Aber sie hätte sich notfalls mit dem entgegengesetzten Extrem abgefunden. Dieses war
schlimmer. Es war ihr peinlich, wenn sie zugeben mußte, daß ihre siebzehnjährige Tochter nicht einen einzigen
Verehrer hatte.
»Dagny und Francisco d’Anconia?« sagte sie traurig lächelnd auf die neugierigen Fragen ihrer Freunde.
»Ach, nein. Das ist keine Liebesgeschichte. Es ist eine Art internationales Industriekartell. Für irgend etwas
anderes scheinen sie sich nicht zu interessieren.«
Eines Abends hörte Mrs. Taggart James vor Gästen seltsam befriedigt sagen: »Dagny, obwohl du nach ihr
benannt bist, ähnelst du mehr Nat Taggart als seiner Frau, der ersten Dagny Taggart, deren Schönheit sie zum
Mittelpunkt jeder Party machte.« Mrs. Taggart wußte nicht, was sie am meisten kränkte: daß James das sagte,
oder daß Dagny es glücklich als Kompliment hinnahm.
Nie würde es ihr gelingen, dachte Mrs. Taggart, sich ein halbwegs klares Bild von ihrer eigenen Tochter zu
machen. Sie sah sie kaum. Dagny kam immer nur, um gleich wieder zu verschwinden. Eine schlanke Gestalt in
einer Lederjacke mit hochgeschlagenem Kragen, einem kurzen Rock und den langen Beinen eines Models. Ihr
energischer Gang, wenn sie ein Zimmer durchquerte, wirkte fast männlich. Und dennoch hatten ihre
Bewegungen etwas Leichtes und Beschwingtes und herausfordernd Feminines.
Manchmal fing Mrs. Taggart einen Ausdruck in Dagnys Gesicht auf, den sie nicht zuordnen konnte: Es war
mehr als Fröhlichkeit, es war eine so reine, ungetrübte Freude, daß sie ihr unnatürlich erschien. Kein junges
Mädchen konnte so gefühllos sein, daß es nicht schon das Traurige im Leben entdeckt hätte. Ihre Tochter, schloß
sie daraus, war keines Gefühls fähig.
»Dagny«, fragte sie einmal, »kannst du dich denn nicht auch mal amüsieren?«
Dagny sah sie verwundert an und antwortete: »Was denkst du denn, was ich tue?«
Der Beschluß, ihre Tochter förmlich in die Gesellschaft einzuführen, kostete Mrs. Taggart viele schlaflose
Nächte. Sie wußte nicht, ob es das Debüt von Miss Dagny Taggart, einer jungen Dame aus den allerersten New
Yorker Kreisen sein würde oder der peinliche Auftritt einer kleinen Nachttelefonistin aus Rockdale. Sie
befürchtete das Schlimmste und ging ohnehin davon aus, daß Dagny sich sperren würde. Um so überraschter war
sie, als Dagny das Vorhaben mit einem geradezu kindlichen Eifer aufnahm.
Sie war noch überraschter, als sie Dagny fertig angezogen für die Party vor sich sah. Im ersten femininen
Outfit, das sie je getragen hatte. Es war ein Kleid aus weißem Chiffon, das sie wie eine zarte Wolke umhüllte.
Mrs. Taggart hatte alles erwartet, irgendeine lächerliche Aufmachung. Aber nicht diese hinreißende Schönheit.
Dagny wirkte älter, aber ihre Unschuld glänzte noch strahlender als sonst. Sie stand vor dem Spiegel und hielt
den Kopf, wie ihn Nat Taggarts Frau gehalten haben würde.
»Siehst du«, sagte Mrs. Taggart mit mildem Vorwurf, »wie schön du sein kannst, wenn du willst?«
»Ja«, sagte Dagny, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.
Der Ballsaal des Wayne-Falkland-Hotels war unter Mrs. Taggarts Anleitung dekoriert worden. Sie hatte
künstlerischen Geschmack. Und die Dekoration für diesen Abend war ihr Meisterwerk. »Dagny«, sagte sie, »es
gibt Dinge, von denen ich mir wünsche, daß du sie lieben lernst: Licht, Farben, Blumen, Musik. Sie sind nicht so
nebensächlich, wie du vie lleicht denkst.«
»Ich habe sie nie für nebensächlich gehalten«, antwortete Dagny glücklich. Dieses eine Mal fühlte Mrs.
Taggart, daß etwas ihre Tochter und sie verband. Dagny sah sie mit dem dankbaren Vertrauen eines Kindes an.
»Es sind die Dinge, die das Leben schön machen«, sagte Mrs. Taggart. »Ich möchte, daß dies ein besonders
schöner Abend für dich wird, Dagny. Der erste Ball ist das romantischste Ereignis im Leben einer Frau.«
Die größte Überraschung war es für Mrs. Taggart, als sie Dagny, im Glanz der Lichter des Ballsaals um sich
blicken sah. Das war kein Kind, kein junges Mädchen, sondern eine selbstsichere Frau von so ungeheurer Kraft,
daß Mrs. Taggart sie mit erschrockener Bewunderung anstarrte. In einem Jahrhundert der Achtlosigkeit, des
Zynismus und der Indifferenz, wo die Menschen keine lebendigen Wesen mehr waren, sondern nur noch blutlose
Attrappen, wirkte Dagnys ganze Erscheinung fast unanständig. Wenn eine Frau ein paar Jahrhunderte früher so
in einem Ballsaal erschienen wäre, um sich halbnackt den Blicken der Männer zu präsentieren, hätte jeder ihre
Kühnheit bewundert und gewußt, was sie bedeutete und daß sich jeder Mann davon herausgefordert fühlen
mußte. Und dies, dachte Mrs. Taggart lächelnd, war das Mädchen, von dem sie geglaubt hatte, es fehle ihm jede
Sinnlichkeit. Sie spürte eine unendliche Erleichterung, und es belustigte sie ein bißchen, daß ausgerechnet so
eine Entdeckung sie erleichterte.
Die Erleichterung währte nur ein paar Stunden. Am Ende des Abends sah sie Dagny in einer Ecke des
Ballsaals auf einer Balustrade sitzen wie auf einem Zaun. Ihre Beine baumelten unter dem Chiffonkleid, als trüge
sie Hosen. Sie sprach mit einer Gruppe schüchterner junger Männer, und ihr Gesicht zeigte eine verächtliche
Gleichgültigkeit.
Auf der Heimfahrt sagten weder Dagny noch Mrs. Taggart ein Wort. Aber ein paar Stunden später ging Mrs.
Taggart in einem jähen Impuls in das Zimmer ihrer Tochter. Dagny stand am Fenster. Sie hatte immer noch das
Abendkleid an. Es sah jetzt wie eine Wolke aus, die einen verloren in ihr schwebenden Körper auffing, einen
schwächlichen Körper mit hängenden Schultern. Hinter dem Fenster zogen graue Wolken durch das erste
Morgenlicht.
Als Dagny sich umdrehte, bemerkte Mrs. Taggart nur verwirrte Hilflosigkeit im Gesicht ihrer Tochter; das
Gesicht war ruhig, aber etwas darin ließ Mrs. Taggart wünschen, sie hätte Dagny nicht gewünscht, das Traurige
im Leben zu entdecken.
»Mutter, denken sie, es sei genau umgekehrt?« fragte sie.
»Was?« fragte Mrs. Taggart bestürzt.
»Das, wovon du gesprochen hast, die Lichter und die Blumen. Erwarten sie, daß es sie romantisch macht, und
nicht umgekehrt?«
»Liebling, was meinst du?«
»Es war niemand da, der sich darüber gefreut hat«, sagte sie mit tonloser Stimme, »oder der überhaupt irgend
etwas dachte oder fühlte. Sie liefen herum und redeten das gleiche dumme Zeug, das sie überall reden. Sie
glaubten wahrscheinlich, der Glanz des Ballsaals würde ausreichen, um es brillant zu machen.«
»Kind, du nimmst immer alles zu ernst. Niemand erwartet, daß man auf einem Ball geistreich ist; man soll nur
fröhlich sein.«
»Indem man stupide ist?«
»Ich meine, zum Beispiel, hat es dir nicht Spaß gemacht, die jungen Männer kennenzulernen?«
»Welche Männer? Es war keiner darunter, von dessen Sorte ich nicht zehn mundtot machen könnte.«
Ein paar Tage später, als Dagny an ihrem Arbeitstisch in der kleinen Station saß, wo sie sich wie zu Hause
fühlte, dachte sie an den Ball und zuckte verächtlich die Achseln über ihre Enttäuschung. Sie blickte auf: Es war
Frühling, an den Ästen der Bäume im Dunkel draußen sprossen schon Blätter, und die Luft war still und warm.
Sie fragte sich, was sie von jenem Ball erwartet hatte. Sie wußte es nicht. Aber sie fühlte es jetzt wieder, als sie
da an dem abgenutzten Tisch hockte und in das Dunkel hinausblickte: das Gefühl einer unbestimmten
Erwartung, das langsam wie ein warmer Strom in ihrem Körper aufstieg. Sie ließ sich träge auf den Tisch sinken,
sie fühlte sich nicht erschöpft, aber sie hatte auch keine Lust zur Arbeit.
Als Francisco in diesem Sommer kam, erzählte sie ihm von dem Ball und ihrer Enttäuschung. Er hörte stumm
zu und sah sie zum ersten Mal mit diesem Blick kühlen Spotts an, den er sich sonst für die anderen aufsparte,
einem Blick, der zuviel zu sehen schien. Es war ihr, als sagten ihre Worte ihm mehr, als sie wußte.
Den gleichen Blick sah sie in seinen Augen an dem Abend, als sie sich vorzeitig von ihm trennte. Sie saßen
allein am Ufer des Flusses. Sie mußte erst in einer Stunde zum Bahnhof gehen. Am Himmel hingen rotglühende
Streifen, und rote Funken schwammen auf dem Wasser. Francisco hatte lange geschwiegen, als sie sich plötzlich
erhob und sagte, sie müsse gehen. Er versuchte nicht, sie aufzuhalten, er lehnte sich zurück, die Ellbogen im
Gras, und blickte sie bewegungslos an; sein Blick schien zu sagen, er wisse ihren Grund. Als sie verstimmt den
Hang zum Haus hinauflief, fragte sie sich, warum sie gegangen war; sie wußte es nicht. Es war eine plötzliche
Ruhelosigkeit, die aus einem Gefühl kam, das sie nicht benennen konnte: einem Gefühl der Erwartung.
Jeden Abend fuhr sie die fünf Meilen von dem Landhaus nach Rockdale. Sie kam in der Morgendämmerung
zurück, schlief ein paar Stunden und stand mit den anderen auf. Sie hatte kein Verlangen zu schlafen. Wenn sie
sich in der Frühe auszog, spürte sie eine gespannte, freudige, grundlose Ungeduld, dem neuen Tag zu begegnen.
Über das Netz auf einem Tennisplatz hinweg sah sie Franciscos spöttischen Blick von neuem. Sie erinnerte
sich nicht an den Beginn des Spiels. Sie hatten oft zusammen Tennis gespielt, und er hatte immer gewonnen. Sie
wußte nicht, in welchem Augenblick sie sich entschlossen hatte, dieses Mal zu gewinnen. Als ihr der Entschluß
bewußt wurde, war es keine Entscheidung mehr oder ein Wunsch, sondern eine in ihr aufsteigende stille Wut.
Sie wußte nicht, warum sie gewinnen mußte; sie wußte nicht, warum es so ungeheuer wichtig, so unbedingt
notwendig war; sie wußte nur, sie mußte gewinnen, und sie würde gewinnen.
Ihr Spiel lief gut. Es war, als wäre ihr Wille ausgelöscht und irgendeine Macht spielte für sie. Sie beobachtete
Franciscos große, dynamische Gestalt, die sonnengebräunten Arme, die durch die kurzen weißen Ärmel seines
Hemds noch brauner wirkten. Mit genüßlichem Hochmut verfolgte sie seine geschickten Bewegungen, weil es
das war, was sie schlagen würde, so daß seine Angriffe und Konter ihren Sieg und die glänzende
Geschmeidigkeit seines Körpers ihren Triumph ankündigten.
Sie spürte den aufsteigenden Schmerz der Erschöpfung. Aber sie nahm ihn nicht als Schmerz wahr, sie spürte
nur plötzliche Stiche, die ihr einen Teil ihres Körpers für einen Augenblick bewußt machten, den sie aber im
nächsten schon wieder vergaß: ihre Achseln, ihre Schulterblätter, ihre Hüften mit den an der Haut klebenden
weißen Shorts, die Beinmuskeln, wenn sie hochsprang, um den Ball zu treffen, aber nicht wußte, ob sie wieder
auf den Boden kam, die Augenlider, wenn der Himmel dunkelrot wurde und der Ball durch das Dunkel wie eine
wirbelnde weiße Flamme auf sie zukam, den dünnen, heißen Draht, der von ihrem Fuß über ihren Rücken und
dann in gerader Linie durch die Luft schoß und den Ball Francisco ins Gesicht schleuderte… Sie jubelte
innerlich, weil er ebenso erschöpft war wie sie. Was sie sich selber antat, tat sie also auch ihm an – das fühlte er,
dazu brachte sie ihn. Es war nicht ihr Schmerz, den sie oder ihr Körper fühlte, sondern seiner.
In den Augenblicken, in denen sie sein Gesicht sah, sah sie, daß er lachte. Er blickte sie an, als ob er
verstünde. Er spielte nicht, um zu gewinnen, sondern um es für sie schwerer zu machen, schlug den Ball kreuz
und quer, damit sie laufen mußte, verlor Punkte, um sich daran zu weiden, wenn sie sich verrenkte und mit ihrer
Rückhand quälte, rührte sich nicht, damit sie dachte, er werde den Ball nicht erreichen, um dann im letzten
Augenblick jäh auszuholen und den Ball mit solcher Kraft zurückzuschlagen, daß sie wußte, sie würde ihn
verfehlen. Es war ihr, als könnte sie sich nicht mehr bewegen, nie wieder, und dann stand sie plötzlich auf der
anderen Seite des Platzes, erreichte den Ball und schlug ihn, als ob sie ihn in Stücke schlagen wollte, als ob sie
wünschte, es wäre Franciscos Gesicht.
Noch einmal, dachte sie, selbst wenn ihr beim nächsten Schlag die Knochen ihres Arms brechen würden…
noch einmal, selbst wenn die Luft, die sie keuchend durch ihre trockene, geschwollene Kehle preßte, ganz
ausbliebe… Dann spülte sie nichts mehr, keinen Schmerz, keine Muskeln, nur das eine, daß sie ihn schlagen
mußte, daß sie ihn erschöpft zusammenbrechen sehen mußte und daß sie dann im nächsten Augenblick sterben
konnte.
Sie gewann. Vielleicht war es sein Lachen, das ihn dieses eine Mal verlieren ließ. Er ging zum Netz, während
sie stehenblieb, und warf seinen Schläger hinüber, ihr zu Füßen, als wüßte er, daß es das war, was sie wollte. Er
verließ das Spielfeld, sank auf den Rasen am Rande und legte den Kopf auf die Arme.
Langsam ging sie zu ihm hin. Sie stand neben ihm, sah auf den ausgestreckt zu ihren Füßen liegenden Körper
hinunter, auf sein vom Schweiß durchnäßtes Hemd und auf die Haarsträhnen, die über seinen Arm fielen. Er hob
den Kopf. Sein Blick glitt langsam von ihren Beinen zu ihren Shorts, ihrer Bluse, ihren Augen. Es war ein
spöttischer Blick, der alles zu sehen schien, was sich in ihren Kleidern und in ihren Gedanken verbarg, und er
schien zu sagen: Ich habe gewonnen.
In jener Nacht saß sie allein in dem alten Bahnhof und blickte durch das Fenster zum Himmel auf. Es war die
Stunde, die sie am meisten liebte. Wenn die oberen Scheiben des Fensters heller wurden und die Schienen
draußen wie verschwommene Silberbänder hinter der unteren Scheibe auftauchten. Sie knipste ihre Lampe aus
und blickte in das langsam über der reglosen Welt still aufsteigende Licht. Nichts rührte sich, nicht ein Blatt
zitterte an den Ästen, während der Himmel allmählich sein Grau verlor und zu einer weiten rotglühenden Fläche
wurde. Auch das Telefon schwieg zu dieser Stunde, als ob längs der ganzen Strecke jede Bewegung erstarrt
wäre. Plötzlich hörte sie Schritte sich der Tür nähern. Francisco trat ein. Er war noch nie hierher gekommen.
Dennoch war sie nicht erstaunt.
»Warum bist du zu dieser Zeit schon auf?« fragte sie.
»Ich mochte nicht länger schlafen.«
»Wie bist du hergekommen? Ich habe deinen Wagen nicht gehört.«
»Ich bin zu Fuß gegangen.«
Ein paar Augenblicke verstrichen, ehe ihr bewußt wurde, daß sie ihn nicht fragte, warum er gekommen war,
und daß sie ihn auch gar nicht danach fragen wollte.
Er ging in dem Raum hin und her. Er betrachtete die Bündel von Frachtbriefen, die an den Wänden hingen
und den Kalender mit einem Bild des Taggart Comet, auf dem der Zug dem Betrachter stolz entgegenschoß. Er
schien sich zu Hause zu fühlen, als gehöre dieser Ort ihnen, so wie überall und immer, wenn sie zusammen
waren. Aber er schien keine Lust auf eine Unterhaltung zu haben. Er stellte ihr nur ein paar Fragen nach ihrer
Arbeit und verstummte dann.
Als es draußen heller wurde, wurde es auf der Strecke wieder lebendig, und die Stille wurde zum ersten Mal
vom Klingeln des Telefons durchbrochen. Sie wandte sich ihrer Arbeit zu. Er saß in einer Ecke mit einem Bein
über der Lehne seines Stuhls und wartete.
Sie arbeitete schnell und hatte einen merkwürdig klaren Kopf. Sie konzentrierte sich auf das schrille, helle
Klingeln des Telefons, auf die Zahlen von Zugnummern, Wagennummern, Auftragsnummern. Sie dachte an
nichts anderes. Aber als ein dünnes Blatt Papier auf den Boden flatterte und sie sich bückte, um es aufzuheben,
wurde sie sich ebenso plötzlich wie intensiv dieses besonderen Augenblicks, ihrer selbst und ihrer eigenen
Bewegung bewußt. Ihr Blick fiel auf ihren grauen Leinenrock, den aufgerollten Ärmel ihrer grauen Bluse und
ihren nackten Arm, der nach dem Papier griff. Sie fühlte, daß ihr das Herz wie in einem Moment unruhiger
Erwartung stehenblieb. Sie hob das Papier auf und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch.
Es war jetzt fast taghell. Ein Zug fuhr ohne Halt an der Station vorbei. In der Klarheit des Morgenlichts
verschmolz die lange Reihe der Wagendächer zu einer Silberschnur, und der Zug schien über dem Boden zu
schweben, ohne ihn zu berühren, als flöge er durch die Luft. Der Boden der Station bebte, und die
Fensterscheiben klirrten. Mit einem seligen Lächeln sah Dagny den Zug vorüberrasen. Sie sah Francisco an; und
er sah sie mit dem gleichen Lächeln an.
Als der Mann vom Tagesdienst kam, übergab sie die Station und sie gingen in die Morgenluft hinaus. Die
Sonne war noch nicht aufgegangen, und statt ihrer schien die Luft zu leuchten. Sie spürte keine Müdigkeit. Es
war ihr, als wäre sie eben aufgestanden.
Sie ging auf ihren Wagen zu. Aber Francisco sagte: »Laß uns zu Fuß nach Hause gehen. Wir holen den
Wagen später.«
»Gut«, sagte sie. Sie war nicht erstaunt über diesen Vorschlag; es machte ihr nichts aus, fünf Meilen weit zu
Fuß zu gehen. Es schien ihr ganz natürlich, natürlich in der besonderen Wirklichkeit des Augenblicks, jener
überklaren, von allem anderen losgelösten, unmittelbaren, einer leuchtenden Insel in einer Nebelwand
gleichenden Wirklichkeit, der erhöhten, absoluten Wirklichkeit, die man fühlt, wenn man berauscht ist.
Die Straße führte durch den Wald. Sie bogen von ihr in einen Pfad ein, der sich zwischen den Bäumen
meilenlang durch die unberührte Natur wand. Rings um sie war keine Spur menschlichen Lebens. Alte, vom
Gras überwachsene Wurzeln ließen den Menschen und seine Welt noch ferner erscheinen, fügten die Entfernung
der Jahre der Entfernung der Meilen hinzu. Über dem Boden lag noch der Nebel der Morgendämmerung, aber
zwischen den Baumstämmen schimmerten hellgrüne Blätter, die den Wald zu erhellen schienen. Die Blätter
bewegten sich nicht. Francisco und Dagny waren die einzigen, die sich in dieser bewegungslosen Welt
bewegten. Sie merkte plötzlich, daß sie seit einer ganzen Weile kein Wort gesprochen hatten.
Sie kamen an eine Lichtung. Es war eine kleine Schlucht, das untere Ende einer Klamm, die von steil
aufragenden Felsen gebildet wurde. Ein Bach floß durch das Gras, und Baumäste neigten sich zum Boden wie
ein wogender grüner Vorhang. Das Plätschern des Baches machte die Stille noch fühlbarer. Das ferne Stück
Himmel darüber ließ die Schlucht noch verborgener erscheinen. Hoch oben auf dem Gipfel eines Berges fing ein
Baum die ersten Sonnenstrahlen ein.
Sie blieben stehen und sahen sich an. Erst als er es tat, begriff sie, daß sie längst gewußt hatte, daß er es tun
würde. Er zog sie an sich, sie spürte seine Lippen auf ihrem Mund, fühlte, wie ihre Arme ihn ebenso
leidenschaftlich umklammerten, und wußte zum ersten Mal, wie sehr sie sich gewünscht hatte, daß er es tat.
Einen Augenblick lang spürte sie eine leise Angst und hatte das Gefühl, sich wehren zu müssen. Er hielt sie fest,
preßte mit entschlossener Beharrlichkeit seinen Körper an ihren, seine Hand strich über ihre Brüste, als ergriffe
er von ihrem Körper Besitz, eine schamlose Besitzergreifung, für die er weder ihre Zustimmung noch Erlaubnis
benötigte. Sie versuchte sich von ihm zu befreien, aber sie lehnte sich nur so weit in seinen Armen zurück, daß
sie sein Gesicht und sein Lächeln sehen konnte, das Lächeln, das ihr sagte, sie habe es ihm schon lange erlaubt.
Sie dachte, sie müßte flüchten, aber statt dessen zog sie seinen Kopf zu sich herunter, um von neuem seinen
Mund zu finden.
Sie wußte, daß jede Furcht sinnlos war, daß er doch tun würde, was er wollte, daß die Entscheidung bei ihm
lag, daß er ihr keine andere Möglichkeit ließ als die, welche sie am meisten begehrte – sich zu unterwerfen. Sie
hatte keine klare Vorstellung von dem, was er wollte; das wenige, das sie davon wußte, war wie ausgelöscht; sie
hatte nicht die Kraft, es in diesem Augenblick wirklich zu glauben, zu glauben, daß es um sie selbst ging, sie
wußte nur, daß sie Angst hatte – und dennoch war es ihr, als ob sie ihm zuriefe: »Bitte mich nicht darum – ach,
bitte mich nicht, tu es!«
Einen Augenblick lang stemmte sie die Füße in den Boden, um ihm Widerstand zu leisten, aber sein Mund
preßte sich wieder auf ihren, und ohne daß sich ihre Lippen voneinander lösten, ließen sie sich zusammen auf
den Boden fallen. Sie lag still – das erst bewegungslose und dann bebende Objekt seiner Begierde. Was er tat, tat
er ganz natürlich und ohne Zögern, im Bewußtsein des Rechts, das ihm die grenzenlose Lust gab, die sie
empfanden.
Was es für sie beide bedeutete, sprach er in den ersten Worten aus, die er danach sagte. Er sagte: »Das durften
wir nur voneinander lernen.« Sie blickte auf die lange Gestalt, die ausgestreckt neben ihr im Gras lag. Er trug
schwarze Hosen und ein schwarzes Hemd, ihre Augen blieben an dem straff um seine schmale Taille gezogenen
Gürtel haften, und sie fühlte den Stich einer Erregung, die wie ein Stöhnen des Stolzes war, des Stolzes darauf,
daß sein Körper ihr gehörte. Sie lag auf dem Rücken, blickte zum Himmel auf, hatte kein Verlangen, sich zu
rühren oder zu denken oder zu wissen, daß es noch etwas anderes außer diesem Augenblick gab.

Als sie nach Hause kam, als sie nackt im Bett lag, weil ihr Körper für sie ein neuer Besitz geworden war, zu
kostbar, um von einem Nachthemd berührt zu werden, weil sie das Gefühl der Nacktheit genoß und es ihr war,
als ob die weißen Laken ihres Betts von Franciscos Körper berührt würden, als sie dachte, daß sie nicht schlafen
würde, weil sie nicht schlafen wollte, weil sie wollte, daß die wunderbarste Erschöpfung, die sie je erlebt hatte,
nicht verging, galt ihr letzter Gedanke der Zeit, die sie vergeblich versucht hatte, einem Gefühl Ausdruck zu
geben, das größer war als Glück, dem Gefühl, die ganze Welt segnen zu müssen, dem Gefühl der Beseligung
darüber, daß man lebt, in einer solchen Welt lebt. Heute hatte sie gelernt, dachte sie, es auszudrücken. Dies
mochte ein Gedanke von ernstester Bedeutung sein. Sie wußte es nicht. Nichts konnte ernst in einer Welt sein, in
der es keinen Schmerz gab. Sie konnte nicht mehr darüber nachdenken, ob diese Schlußfolgerung richtig war.
Sie schlief schon. Mit einem leisen Lächeln auf ihrem Gesicht in einem stillen Zimmer, in das die Morgensonne
flutete.
In diesem Sommer traf sie sich mit ihm im Wald, in versteckten Winkeln am Fluß, in einer verlassenen Hütte,
im Keller des Hauses. Es waren die einzigen Stunden, in denen ihr der Sinn für Schönheit aufging – wenn sie zu
alten Holzbalken hochsah oder auf die Stahlplatte einer Klimaanlage, die über ihren Köpfen in raschem
Rhythmus surrte. Sie trug Hosen oder baumwollene Somme rkleider. Aber sie war nie so feminin, wie wenn sie
neben ihm stand, in seinen Armen lag und sich allem hingab, was er begehrte, in der klaren Erkenntnis seiner
Macht, sie durch die Lust, die er ihr schenkte, zu einem hilflosen Geschöpf zu machen. Er erfand immer neue
Liebesspiele. »Ist es nicht herrlich, daß wir aus unseren Körpern soviel Lust schöpfen?« sagte er einmal zu ihr.
Sie waren glücklich und von strahlender Unschuld. Sie konnten sich beide nicht vorstellen, daß Lust Sünde sein
sollte.
Sie hielten ihr Geheimnis vor den anderen verborgen, nicht weil sie sich schämten oder schuldig fühlten,
sondern weil dies ihnen allein gehörte, weil es etwas war, das sich der Verurteilung oder Billigung durch andere
entzog. Sie wußte, daß Sex im allgemeinen als schmutzig aufgefaßt wurde, als eine durch die niederen Instinkte
des Menschen bedingte Schwäche, die man nur widerwillig entschuldigte. Aber sie selbst hatte eine andere
Auffassung. Für sie waren nicht der Sex und das körperliche Verlangen danach schmutzig, sondern diejenigen,
die Sex für schmutzig hielten. Vor ihnen ließ ihre Keuschheit sie zurückschaudern.
In diesem Winter tauchte Francisco immer wieder überraschend bei ihr in New York auf. Manchmal kam er
zweimal in der Woche von Cleveland angeflogen, ohne sie vorher zu benachrichtigen. Manchmal blieb er
monatelang weg. Sie saß auf dem Boden ihres Zimmers, umgeben von Karten und Blaupausen, hörte dann
plötzlich, wie es an die Tür klopfte, rief: »Ich bin bei der Arbeit«, worauf eine spöttische Stimme fragte:
»Wirklich?« Sie sprang auf, öffnete die Tür, und da war er. Sie gingen dann in eine Wohnung, die er in der Stadt
gemietet hatte, eine kleine Wohnung in ruhiger Lage. »Francisco«, fragte sie ihn einmal in plötzlichem
Erstaunen, »bin ich deine Geliebte?« Er lachte. »Ja, das bist du.« Sie fühlte den Stolz, den man von einer Frau
erwartet, die sich als rechtmäßige Ehefrau bezeichnen darf.
In den vielen Monaten seiner Abwesenheit fragte sie sich nie, ob er ihr treu war oder nicht; sie wußte, er war
es. Sie wußte es, obwohl sie zu jung war, um zu wissen, warum blindes Begehren und wahllose Befriedigung nur
denen möglich waren, die das Sexuelle als etwas Böses und sich selbst als Sünder betrachteten.
Sie wußte wenig von Franciscos Leben. Es war sein letztes Jahr auf der Universität; er sprach selten darüber,
und sie fragte ihn nie danach. Sie vermutete, daß er zu angestrengt arbeitete, denn sie sah manchmal diesen
unnatürlich heiteren Ausdruck in seinem Gesicht, den Ausdruck einer Heiterkeit, die daher kommt, daß man
seine Energie überfordert hat. Sie lachte ihn einmal aus, brüstete sich damit, daß sie schon eine alte Angestellte
bei Taggart Transcontinental war, während er noch nicht begonnen hätte, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Er sagte: »Mein Vater will nicht, daß ich für d’Anconia Copper arbeite, ehe ich mein Examen bestanden habe.«
»Wann hast du gelernt, gehorsam zu sein?«
»Ich muß seine Wünsche respektieren. Er ist der Besitzer von d’Anconia Copper… aber ihm gehören nicht
alle Kupfergruben der Welt.« In seinem Lächeln lag eine leise heimliche Belustigung.
Erst im nächsten Herbst, als er sein Examen bestanden hatte und nach einem Besuch bei seinem Vater in
Buenos Aires nach New York zurückkehrte, erzählte er ihr alles. Er berichtete ihr, er habe in den letzten vier
Jahren eine doppelte Ausbildung absolviert: die eine an der Patrick-Henry-Universität, die andere in einer
Kupfergießerei in den Außenbezirken von Cleveland. »Ich lerne gern ohne fremde Hilfe«, sagte er. Er hatte in
der Kupfergießerei als Hilfsheizer angefangen, als er sechzehn war, und jetzt, mit zwanzig, gehört sie ihm. Um
diesen, seinen ersten Eigentumstitel erwerben zu können, hatte er sein Alter etwas heraufsetzen müssen. Er
erwarb den Titel am selben Tag, an dem er sein Universitätsdiplom erhielt. Er schickte beide Urkunden an seinen
Vater.
Er zeigte ihr ein Foto der Kupfergießerei. Es war ein kleines armseliges Unternehmen, altmodisch und vom
jahrelangen Kampf hart mitgenommen; über dem Eingangstor hing wie eine neue Flagge am Mast eines Wracks
das Schild: »d’Anconia Copper«.
Der PR-Mann im Büro seines Vaters in New York war außer sich gewesen: »Aber, Don Francisco, das
können Sie doch nicht machen! Was soll die Öffentlichkeit denken? Dieser Name an so einer Rumpelbude!« –
»Es ist mein Name!« hatte Francisco geantwortet.
Als er das Büro seines Vaters in Buenos Aires betrat, einen großen Raum, streng und modern wie ein
Laboratorium, mit Fotos der Besitzungen von d’Anconia Copper als einzigem Wandschmuck, Fotos der größten
Kupferminen, Kupferhäfen, Kupfergießereien in der Welt, sah er auf dem Ehrenplatz gegenüber dem
Schreibtisch seines Vaters eine Fotografie der Kupfergießerei in Cleveland mit dem neuen Namensschild über
dem Tor. Die Augen seines Vaters wanderten von dem Bild zu Francisco, der vor dem Schreibtisch stand.
»Ist es nicht ein bißchen zu früh?« fragte der Vater.
»Ich hätte es nicht ausgehalten, vier Jahre lang nur Vorlesungen zu hören.«
»Woher hast du das Geld für die erste Anzahlung auf diesen Besitz genommen?«
»Ich habe an der New Yorker Börse spekuliert.«
»Wie? Wer hat dir das beigebracht?«
»Es ist nicht schwer zu beurteilen, welche Industrieunternehmen Erfolg haben werden und welche nicht.«
»Woher hast du das Geld zum Spekulieren gehabt?«
»Von dem Wechsel, den du mir geschickt hast, und von meinem Lohn.«
»Wann hast du Zeit gehabt, die Börse zu beobachten?«
»Während ich an einer Arbeit über den Einfluß der aristotelischen Lehre vom unbewegten Beweger auf die
darauffolgenden metaphysischen Systeme saß.«
Franciscos New Yorker Aufenthalt war in diesem Herbst nur kurz. Sein Vater schickte ihn als
Direktionsassistenten einer d’Anconia-Kupfergrube nach Montana.
»Weißt du«, sagte Francisco lächelnd zu Dagny, »mein Vater hält es nicht für ratsam, mich zu schnell
aufsteigen zu lassen. Ich würde ihn nicht bitten, mich zu nehmen, ohne mich erprobt zu haben. Wenn er einen
greifbaren Beweis wünscht, bin ich dazu bereit.« Im Frühling kam Francisco zurück – als Leiter des New Yorker
Büros von d’Anconia Copper.
In den nächsten beiden Jahren sah Dagny ihn nur selten. Nach jedem Abschied wußte sie nie, wo er war, in
welcher Stadt oder in welchem Kontinent. Er tauchte immer unerwartet bei ihr auf – und sie liebte das, weil er
auf diese Weise sozusagen beständig in ihrem Leben anwesend war, wie der Strahl eines verborgenen Lichts, der
sie in jedem Augenblick treffen konnte.
Jedesmal wenn sie ihn in seinem Büro sah, dachte sie an seine Hände, als sie auf dem Steuerrad des
Motorboots gelegen hatten. Er führte seine Geschäfte mit dem gleichen behenden, gefährlichen, zuversichtlichen
Tempo. Aber ein kleiner Zwischenfall blieb ihr im Gedächtnis, weil er sie erschreckt hatte und nicht zu ihm
paßte. Eines Abends sah sie ihn am Fenster seines Büros stehen und in die Winterdämmerung hinausblicken.
Eine ganze Zeitlang stand er dort reglos. Sein Gesicht war hart und verschlossen. Ein Gefühl spiegelte sich darin,
das sie nie bei ihm vermutet hätte: bittere, hilflose Wut. »In der Welt stimmt etwas nicht«, sagte er. »Es ist schon
immer so gewesen. Es ist etwas, das man nie mit Namen bezeichnet oder erklärt hat.« Aber er wollte ihr nicht
sagen, was es war.
Als sie ihn wiedersah, war ihm nichts mehr von diesem Gefühl anzumerken.
Es war Frühling, und sie standen zusammen auf der Dachterrasse eines Restaurants. Die leichte Seide ihres
Abendkleids schlug im Wind gegen seinen schwarzen Anzug. Sie blickten auf die Stadt. Im Speisesaal hinter
ihnen spielte ein Orchester eine Konzertetüde von Richard Halley. Halleys Name war nur wenigen bekannt, aber
sie hatten ihn entdeckt und liebten seine Musik. »Wir brauchen nicht in der Ferne nach Wolkenkratzern
auszuschauen, nicht wahr?« sagte Francisco. »Wir haben sie schon erreicht.« Sie lächelte und erwiderte: »Ich
glaube, wir werden sie noch einmal hinter uns lassen… Ich furchte mich fast… Es ist, als säßen wir in einem
nach oben rasenden Fahrstuhl.«
»Gewiß. Aber wovor sollten wir uns fürchten? Soll er nur weiter rasen! Warum sollte es da eine Grenze
geben?« Er war dreiundzwanzig Jahre alt, als sein Vater starb und er nach Buenos Aires ging, um den jetzt ihm
gehörenden d’Anconia-Besitz zu übernehmen. Sie sah ihn drei Jahre lang nicht.
Anfangs schrieb er ihr hin und wieder. Er schrieb über d’Anconia Copper, über den Weltmarkt, über Fragen,
die die Interessen von Taggart Transcontinental berührten. Er schrieb seine Briefe mit der Hand, für gewöhnlich
bei Nacht, und sie waren alle kurz.
Sie war in seiner Abwesenheit nicht unglücklich. Auch sie tat ihren ersten Schritt auf die Herrschaft über ein
künftiges Königreich zu. Sie hörte, daß Industriekapitäne, Freunde ihres Vaters, gesagt hatten, man müsse auf
den jungen d’Anconia-Erben ein Auge haben. Wenn das, was sein Können verhieß, sich verwirklichte, dann
würde die schon jetzt große Kupfergesellschaft die ganze Welt erobern. Sie lächelte, ohne sich darüber zu
wundern. Es gab Augenblicke, wo sie plötzliche, heftige Sehnsucht nach ihm verspürte, aber es war nur
Ungeduld, kein Schmerz. Sie schüttelte sie von sich ab in dem zuversichtlichen Wissen, daß sie beide für eine
Zukunft arbeiteten, die ihnen alles bringen würde, was sie begehrten, auch ihr stetes Zusammensein. Dann kam
kein Brief mehr von ihm.
Sie war vierundzwanzig Jahre alt, als an einem Frühlingstag auf ihrem Schreibtisch in einem Büro des
Taggart-Gebäudes das Telefon klingelte. »Dagny«, sagte eine Stimme, die sie sofort erkannte, »ich bin im
Wayne-Falkland. Komm heute abend zum Essen zu mir. Um sieben.« Er sagte das, ohne zu fragen, wie es ihr
ging, als hätten sie sich erst am Tag zuvor getrennt. Daran, daß es ihr einen Augenblick lang den Atem
verschlug, bemerkte sie zum ersten Mal, wieviel ihr diese Stimme bedeutete. »Gut… Francisco«, antwortete sie.
Sie brauchten sich nichts weiter zu sagen. Als sie den Hörer wieder auflegte, dachte sie, seine Rückkehr sei ganz
natürlich und sie habe sie immer erwartet. Aber sie hatte nicht erwartet, plötzlich das Bedürfnis zu haben, seinen
Namen auszusprechen oder dieses Glücksgefühl zu empfinden, als sie seinen Namen aussprach.
Als sie an diesem Abend sein Hotelzimmer betrat, blieb sie jäh stehen. Er wartete in der Mitte des Raums,
blickte sie an – und sie sah ein schwaches, unwillkürliches Lächeln, als ob er die Fähigkeit zu lächeln verloren
hätte und darüber erstaunt wäre, daß er sie wiedergewann. Er blickte sie ungläubig an. Er schien sich unsicher zu
sein, wie er sie und seine Gefühle für sie einordnen sollte. Sein Blick war wie ein Flehen, wie der Hilferuf eines
Menschen, der nicht weinen kann. Er setzte zu ihrer gewohnten Begrüßung an: »Hallo… «, aber dann
verstummte er und sagte statt dessen nach einer Weile: »Du bist schön, Dagny.« Er sagte es, als ob es ihm weh
täte. »Francisco, ich…«
Er schüttelte den Kopf, damit sie nicht die Worte aussprach, die sie einander nie gesagt hatten – obwohl sie
wußten, daß sie beide sie in diesem Augenblick gesagt und gehört hatten.
Er kam auf sie zu, nahm sie in seine Arme, küßte sie auf den Mund und hielt sie fest. Als sie zu ihm
aufblickte, lächelte er zuversichtlich mit einem Anflug von Spott. Es war ein Lächeln, das ihr sagte, er
beherrsche sich, beherrsche sie, beherrsche alles und befehle ihr zu vergessen, was sie einen Augenblick zuvor
gesehen hatte. »Hallo, Slug«, sagte er.
Da sie sich nur des einen sicher war, daß sie keine Fragen stellen durfte, lächelte sie und sagte: »Hallo,
Frisco.«
Sie hätte jede Veränderung verstehen können, aber nicht das. Es war kein Funke von Leben in seinem
Gesicht, nicht ein Hauch von Freude; es war ein unerbittliches Gesicht. Das Flehen seines ersten Lächelns war
nicht ein Flehen aus Schwäche gewesen. Er war ein Mann von gnadenloser Entschlossenheit geworden. Er
benahm sich wie jemand, der sich unter der Last einer untragbaren Bürde aufrecht hält. Sie sah, was sie nicht für
möglich gehalten hätte: Es waren Züge von Bitterkeit in seinem Gesicht.
»Dagny, wundere dich über nichts«, sagte er, »was ich tue oder je tun werde.« Es war die einzige Erklärung,
die er ihr gab. Danach benahm er sich, als gäbe es nichts zu erklären.
Sie fühlte nur eine leise Beklo mmenheit. Sorgen oder gar Sorgen um ihn konnten in seiner Gegenwart nicht
aufkommen. Als er lachte, war es ihr, als wären sie wieder im Wald am Hudson: Er hatte sich nicht verändert
und würde sich nie verändern.
Das Abendessen wurde in seinem Zimmer serviert. Sie fand es amüsant, ihm wie im Speisesaal eines alten
Schlosses an einem Tisch gegenüber zu sitzen, der so kalt und förmlich eingedeckt war, daß man unwillkürlich
an die exzessiven Kosten denken mußte.
Das Wayne-Falkland war das vornehmste der wenigen guten Hotels, die es auf der Welt noch gab. Sein Stil
eines selbstverständlichen Luxus mit Samtvorhängen, geschnitzter Täfelung und Kerzenlicht schien in
bewußtem Gegensatz zu seiner Funktion zu stehen: Niemand konnte es sich leisten, hier zu wohnen, außer
denen, die geschäftlich nach New York kamen, um weltumspannende Millionengeschäfte abzuwickeln. Sie
merkte, daß die Kellner, die das Abendessen servierten, diesem besonderen Gast des Hotels gegenüber
außerordentlich ehrerbietig waren und daß Francisco das gar nicht beachtete. Er fühlte sich hier ganz zu Hause.
Er hatte sich daran gewöhnt, Señor d’Anconia von d’Anconia Copper zu sein.
Aber sie fand es seltsam, daß er nicht über seine Arbeit sprach. Sie hatte erwartet, daß sie das einzige wäre,
was ihn interessierte, das, was er vor allem anderen mit ihr teilen wollte. Er erwähnte seine Arbeit mit keinem
Wort. Statt dessen ließ er sie von ihrem Beruf, ihrem Fortkommen und dem, was sie für Taggart
Transcontinental empfand, berichten. Sie sprach darüber, wie sie immer mit ihm darüber gesprochen hatte, weil
sie wußte, daß er der einzige war, der ihre leidenschaftliche Hingabe verstehen konnte. Er sagte nichts, hörte
aber aufmerksam zu.
Ein Kellner hatte zur musikalischen Untermalung ihres Abendessens das Radio angestellt. Sie hatten nicht
darauf geachtet. Aber plötzlich ließ ein Klangfeuerwerk den Raum erzittern. Es war, als würde eine unterirdische
Explosion die Wände wanken lassen. Aber es war nicht die Lautstärke der Musik, sondern ihre Schönheit, die
alles zu m Beben brachte. Es war Halleys erst vor kurzem komponiertes neues Konzert, das Vierte.
Sie lauschten stumm dem Ruf der Rebellion – der triumphierenden Hymne der stolzen Opfer, die sich dem
Schmerz nicht beugen. Francisco ließ seinen Blick über die Stadt schweifen.
Ohne Übergang fragte er mit einer seltsam tonlosen Stimme: »Dagny, was würdest du sagen, wenn ich dich
bäte, bei Taggart Transcontinental auszuscheiden und die Firma zum Teufel gehen zu lassen – wie sie es tun
wird, wenn dein Bruder sie übernimmt?«
»Was würde ich erwidern, wenn du mich fragtest, ob ich daran dächte, Selbstmord zu begehen?« erwiderte sie
ärgerlich. Er schwieg.
»Warum sagst du sowas?« fuhr sie fort. »Ich hätte nicht gedacht, daß du über so etwas scherzen könntest. Es
paßt nicht zu dir.«
Kein Lächeln huschte über sein Gesicht. Mit ruhigem Ernst antwortete er: »Nein, natürlich nicht.«
Sie überwand sich, ihn nach seiner Arbeit zu fragen. Er beantwortete die Fragen; sagte aber von sich aus kein
Wort. Sie berichtete ihm, was die Industriellen über die glänzenden Aussichten von d’Anconia Copper unter
seiner Leitung gesagt hatten. »Es stimmt«, sagte er gleichgültig.
Ohne zu wissen, wie sie darauf kam, fragte sie in plötzlicher Angst: »Francisco, warum bist du nach New
York gekommen?«
»Um einen Freund zu sehen, der mich hergebeten hat.«
»Geschäftlich?«
Er sah sie nicht an, und als würde er eine selbstgestellte Frage beantworten, sagte er: »Ja.« Seine Stimme
klang seltsam weich und traurig. Auf seinem Gesicht lag ein bitteres Lächeln.
Es war lange nach Mitternacht, als sie im Bett neben ihm erwachte. Kein Laut drang von der Stadt herauf. Es
war in dem Zimmer so still, als hätte das Leben einen Augenblick lang aufgehört. Glücklich entspannt und völlig
erschöpft drehte sie sich schläfrig um und sah zu ihm hinüber. Er lag auf dem Rücken, den Kopf von einem
Kissen gestützt. Sie sah sein Profil, das sich vom diffusen Schimmer des Nachthimmels im Fenster abhob. Er
war wach und hatte die Augen offen. Den Mund hielt er geschlossen wie jemand, der einen unerträglichen
Schmerz erduldet und nicht mehr versucht, ihn zu verbergen.
Sie war wie von Angst gelähmt. Er fühlte ihren Blick und wandte sich ihr zu. Er zitterte plötzlich, warf die
Decke zurück, blickte ihren nackten Körper an, beugte sich dann über sie und vergrab sein Gesicht zwischen
ihren Brüsten. Er klammerte sich an ihre Schultern, und sie hörte seinen auf ihre Haut gepreßten Mund murmeln:
»Ich kann es nicht aufgeben. Ich kann nicht.«
»Was?« flüsterte sie.
»Dich.«
»Warum solltest du…«
»Und alles.«
»Warum solltest du es aufgeben?«
»Dagny, hilf mir, daß ich bleibe. Daß ich es ablehne. Obwohl er recht hat!«
Ruhig fragte sie: »Was ablehnen, Francisco?«
Er antwortete nicht, sondern preßte sein Gesicht nur stärker an sie.
Sie lag ganz still, fühlte nichts als das eine, daß sie äußerst behutsam sein mußte. Ihre Augen hafteten auf den
sich im Dunkel umrißhaft abzeichnenden Stuckgirlanden an der Decke. Ihre Hände streichelten sanft und
gleichmäßig das Haar des Kopfes auf ihrer Brust. Alles andere an ihr war vor Entsetzen starr.
»Es ist richtig«, stöhnte er, »aber es ist so schwer, es zu tun. Ach Gott, es ist so schwer.«
Nach einer Weile hob er den Kopf und setzte sich auf. Sein Zittern hatte aufgehört.
»Was ist es, Francisco?«
»Ich kann es dir nicht sagen.« Seine unkontrollierte Stimme verriet, wie sehr er litt. Aber sie gehorchte ihm
wieder. »Du bist noch nicht soweit, es zu erfahren.«
»Ich möchte dir helfen.«
»Du kannst es nicht.«
»Du sagtest doch, daß ich dir helfen soll, es abzulehnen.«
»Ich kann es nicht ablehnen.«
»Dann laß es mich mit dir tragen.«
Er schüttelte den Kopf.
Er sah sie an, als würde er über eine Frage nachgrübeln. Dann schüttelte er von neuem den Kopf und gab sich
damit selbst die Antwort. »Wenn ich nicht sicher bin, daß ich es aushalten werde«, sagte er, und seine Stimme
klang plötzlich zärtlich, »wie solltest du es dann aushalten können?«
Leise und mühsam, verzweifelt gegen ihre Tränen ankämpfend, sagte sie: »Ich muß es wissen, Francisco.«
»Wirst du mir vergeben? Ich weiß, ich habe dich erschreckt, und es ist grausam. Aber willst du dies für mich
tun – nicht mehr daran rühren und mir keine Fragen stellen?«
»Ich…«
»Das ist alles, was du für mich tun kannst. Bist du dazu bereit?«
»Ja, Francisco.«
Ȁngstige dich nicht um mich. Es war nur dieses eine Mal. Es wird mir nicht wieder passieren. Es wird viel
leichter werden… später.«
»Wenn ich könnte…«
»Nein, schlaf jetzt, Liebste.«
Es war das erste Mal, daß er dieses Wort gebrauchte.
Am Morgen sah er ihr gerade in die Augen, wich ihrem ängstlichen Blick nicht aus, sagte aber nichts. In
seinem ruhigen Gesicht sah sie Heiterkeit und Leiden zugleich, einen Ausdruck wie ein schmerzliches Lächeln,
obwohl er nicht lächelte. Seltsamerweise machte ihn dieser Ausdruck jünger. Er sah jetzt nicht wie ein Mann
aus, der Qualen leidet, sondern wie jemand, der erkennt, daß seine Qual es wert ist, ertragen zu werden.
Sie stellte ihm keine Frage. Bevor sie ging, sagte sie nur: »Wann sehe ich dich wieder?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Warte nicht auf mich, Dagny. Wenn wir uns das nächste Mal begegnen,
wirst du mich gar nicht sehen wollen. Ich habe einen Grund für das, was ich tun werde. Aber ich kann dir den
Grund nicht sagen, und du wirst mich mit Recht verurteilen. Ich will nicht so niederträchtig sein und dich bitten,
mir zu vertrauen. Du mußt nach deinem eigenen Wissen und Gewissen handeln. Du wirst mich verurteilen. Du
wirst verletzt sein. Aber nimm es dir nicht zu sehr zu Herzen. Erinnere dich daran, daß ich dir dies gesagt habe
und daß es alles war, was ich dir sagen konnte.«
Ein Jahr lang hörte sie nichts von ihm oder über ihn. Als ihr die ersten Klatschgeschichten zu Ohren kamen
und sie sie auch in den Zeitungen las, wollte ihr anfangs nicht in den Kopf, daß es dabei um Francisco d’Anconia
ging. Aber irgendwann mußte sie sich geschlagen geben.
Sie las den Bericht über die Party, die er im Hafen von Valparaiso auf seiner Yacht gab. Die Gäste trugen
Badeanzüge, und ein künstlicher Regen aus Champagner und Blüten ergoß sich die ganze Nacht hindurch auf
das Deck.
Sie las den Bericht über die Party, die er in einem Ferienort in der algerischen Wüste gab. Er ließ einen
Pavillon aus dünnen Eiswänden errichten und schenkte allen weiblichen Partygästen einen Hermelinumhang,
den sie bei dieser Party tragen sollten unter der Bedingung, daß sie ihn, ihr Abendkleid und alles übrige im
gleichen Tempo ablegten, in dem die Wände schmolzen.
Sie las die Berichte von gewagten geschäftlichen Unternehmungen, die er in längeren Abständen aufzog. Die
Unternehmungen waren äußerst erfolgreich und ruinierten seine Konkurrenten. Aber für ihn schienen sie nicht
mehr zu sein, als ein übermütiges Kräftemessen. Er führte einen plötzlichen Beutezug durch, verschwand dann
für ein Jahr oder zwei von der Bildfläche und überließ die Leitung von d’Anconia Copper seinen Angestellten.
Sie las das Interview, in dem er sagte: »Warum sollte ich Geld verdienen wollen? Ich habe genug, daß drei
Generationen meiner Nachkommen davon so gut leben können wie ich.«
Sie traf ihn einmal bei einem Empfang, den ein Botschafter in New York gab. Er verneigte sich höflich vor
ihr, lächelte und sah sie mit einem Blick an, in dem alles Vergangene ausgelöscht war. Sie zog ihn beiseite und
sagte nur: »Francisco, warum?«
»Was warum?« antwortete er.
Sie wandte sich ab.
»Ich habe dich gewarnt«, sagte er. Sie versuchte nicht, ihn wiederzusehen.
Sie überstand es. Sie konnte es überstehen, weil sie nicht an das Leiden glaubte. Sie sah der häßlichen
Tatsache eines Schmerzes mit erstaunter Empörung ins Gesicht und weigerte sich, ihr eine Bedeutung
beizumessen. Leiden war ein sinnloser Zufall; es gehörte nicht zum Leben, wie sie es sah. Sie wollte dem
Schmerz nicht gestatten, eine wichtige Rolle zu spielen. Sie konnte den Widerstand, den sie ihm entgegensetzte,
das Gefühl, aus dem dieser Widerstand kam, nicht benennen. Aber ihr Verstand sagte ihr: Er zählt nicht – man
darf ihn nicht ernst nehmen. Sie wußte, diese Worte waren in ihr, selbst in den Augenblicken, in denen sie
innerlich nur noch weinen konnte. Und sie wünschte, nicht mehr wissen zu müssen, daß wahr war, was nicht
wahr sein konnte. Man durfte es nicht ernst nehmen. Eine stete Gewißheit in ihr ließ sie sich das immer wieder
sagen. Schmerz und alles Häßliche durften nie ernst genommen werden. Sie kämpfte dagegen. Sie überstand es.
Jahre halfen ihr, dahin zu gelangen, daß sie ihren Erinnerungen gleichgültig gegenüberstehen konnte. Und dann
kam der Tag, an dem sie sie überhaupt nicht mehr berührten. Es war vorüber und ging sie nichts mehr an.
Kein anderer Mann hatte in ihrem Leben eine Rolle gespielt. Sie wußte nicht, ob das sie unglücklich gemacht
hatte. Sie hatte keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Sie fand den wahren Sinn des Lebens, so wie sie es sich
wünschte, in ihrer Arbeit. Einst hatte Francisco ihr das gleiche Gefühl gegeben, ein Gefühl, das zu ihrer Arbeit
und zu ihrer Welt gehörte. Die Männer, denen sie seitdem begegnet war, glichen jenen, die sie auf ihrem ersten
Ball kennengelernt hatte. Sie hatte den Kampf gegen ihre Erinnerungen gewonnen. Aber eine Qual blieb, die
Qual des Wortes: Warum?
Welche Tragödie er auch erlebt hatte, warum hatte Francisco den häßlichsten Weg gewählt, um ihr zu
entrinnen, einen Weg, der so erbärmlich war wie der irgendeines Alkoholikers? Der Junge, den sie gekannt hatte,
konnte kein jämmerlicher Feigling geworden sein. Ein unvergleichlicher Geist konnte seine großen Gaben nicht
dazu verwenden, schmelzende Pavillons zu ersinnen. Aber das hatte er getan, und er tat es noch. Und es gab
keine Erklärung, die es begreiflich machte und sie ihn in Frieden vergessen ließ. Sie konnte nicht an dem
zweifeln, was er gewesen war; sie konnte nicht an dem zweifeln, was aus ihm geworden war; dennoch machte
das eine das andere unmöglich. Manchmal zweifelte sie fast an ihrer eigenen Vernunft oder jeder Vernunft
überhaupt; aber dies war ein Zweifel, den sie niemand gestattete. Es gab jedoch keine Erklärung, keinen Grund,
keinen Anhaltspunkt für einen begreiflichen Grund – und in all den zehn Jahren hatte sie keine Antwort darauf
gefunden.
Nein, dachte sie – als sie durch die graue Dämmerung an den Schaufenstern geschlossener Läden vorüber
zum Wayne-Falkland-Hotel ging –, nein, es kann keine Antwort darauf geben. Sie wollte sie auch gar nicht
suchen. Es war jetzt gleichgültig.
Das, was an Zorn in ihr geblieben war, das Gefühl, das als ein leichtes Zittern in ihr aufstieg, galt nicht dem
Mann, zu dem sie auf dem Wege war; es war ein Schrei des Protestes gegen ein Sakrileg – gegen die Zerstörung
dessen, was Größe gewesen war.
In einer Lücke zwischen Gebäuden sah sie die Türme des Wayne-Falkland aufragen. Sie fühlte einen leisen
Stich in der Lunge und in den Beinen, der sie für einen Augenblick zwang, stehen zu bleiben. Dann ging sie
gelassen weiter.
Als sie durch die Marmorhalle zum Fahrstuhl und dann durch die weiten, mit Velours ausgelegten lautlosen
Flure des Hotels ging, fühlte sie nichts als eine kalte Wut, die mit jedem Schritt stärker wurde.
Sie war sich ihrer Wut bewußt, als sie an die Tür klopfte. Sie hörte ihn rufen: »Herein!« Sie riß die Tür auf
und trat ein.
Francisco Domingo Carlos Andres Sebastián d’Anconia hockte auf dem Boden und spielte mit Murmeln.
Niemand fragte sich je, ob Francisco d’Anconia gut aussah oder nicht. Es schien unerheblich. Wenn er einen
Raum betrat, richteten sich alle Blicke auf ihn. Seine hohe, schlanke Gestalt hatte etwas Vornehmes, das zu echt
war, um modern zu sein, und er bewegte sich, als wehte ein Umhang hinter ihm im Wind. Die Menschen sagten
von ihm, er habe die Lebenskraft eines gesunden Tieres, aber sie ahnten dabei, daß das nicht stimmte. Er hatte
die Lebenskraft eines gesunden Menschen, etwas so Seltenes, daß niemand es erkennen konnte. Er hatte die
Kraft der Selbstbewußtseins.
Niemand hätte ihn als Latino bezeichnet, aber von der Etymologie her, wenn man nicht an Lateinamerika,
sondern an das antike Rom dachte, paßte die Bezeichnung. Seine ganze Erscheinung hatte die Anmutung einer
klassischen Stilübung. Er war hager, mit straffen Muskeln, langen Beinen und geschmeidigen Bewegungen.
Seine Züge waren wie gemeißelt. Sein Haar war schwarz und glatt und straff zurückgekämmt. Die Bräune seiner
Haut betonte die auffallende Farbe seiner Augen; sie waren von reinem, hellem Blau. Sein Gesicht war offen.
Die schnellen Veränderungen des Ausdrucks spiegelten alles, was er fühlte, als ob er nichts zu verbergen hätte.
Die blauen Augen veränderten sich nie, ließen nie erkennen, was er dachte.
Er saß auf dem Boden seines Empfangsraums in einem Schlafanzug aus dünner schwarzer Seide. Die auf dem
Teppich rings um ihn verstreuten Murmeln waren aus Halbedelsteinen seines Heimatlandes hergestellt: Karneol
und Bergkristall. Er erhob sich nicht, als Dagny hereinkam. Er blickte zu ihr auf. Eine Kristallmurmel fiel aus
seiner Hand wie eine Träne. Er lächelte. Es war das unveränderte, freche, strahlende Lächeln seiner Kindheit.
»Hallo, Slug.«
Sie hörte sich hilflos glücklich antworten:
»Hallo, Frisco.«
Sie betrachtete sein Gesicht. Es war das Gesicht, das sie kannte. Es zeigte keine Spur des Lebens, das er
geführt hatte, und nichts von der Verzweiflung ihrer letzten gemeinsamen Nacht. Da war nichts Tragisches,
keine Bitterkeit, keine Spannung – nur der gereifte und noch stärker gewordene glänzende Spott, der gefährlich
unberechenbare Ausdruck seiner lachenden Augen und die heitere Ruhe geistiger Überlegenheit. Aber dies,
dachte sie, war unmöglich. Dies war erschreckender als alles übrige.
Er musterte sie: den aufgeknöpften, abgetragenen, ihr fast von den Schultern rutschenden Mantel und den
schlanken Körper in einem grauen Kostüm, das wie ein Dienstanzug aussah.
»Wenn du in diesem Aufzug zu mir gekommen bist, damit ich nicht bemerke, wie reizend du bist, dann hast
du dich verrechnet. Du bist reizend. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, wie wohl es tut, ein intelligentes Gesicht
zu sehen, selbst wenn es das einer Frau ist. Aber deshalb bist du ja nicht hergekommen.«
Die Worte waren in vieler Hinsicht ungehörig, aber er sagte sie so leichthin, daß Dagny wieder in die
Wirklichkeit, in den Zorn und zu dem Zweck ihres Besuchs zurückfand. Sie blieb stehen und blickte mit
ausdruckslosem Gesicht zu ihm hinunter. Sie verweigerte ihm jede persönliche Regung. Er konnte sie nicht
einmal beleidigen. »Ich bin hergekommen, um dir eine Frage zu stellen«, sagte sie.
»Leg los.«
»Als du den Reportern sagtest, du seist nach New York gekommen, um der Farce beizuwohnen, welche Farce
hast du da gemeint?«
Er lachte schallend wie jemand, der selten eine Gelegenheit findet, sich über etwas Unvermutetes zu freuen.
»Das habe ich so gern an dir, Dagny. Es leben jetzt sieben Millionen Menschen in New York. Von diesen
sieben Millionen war nur dir sofort klar, daß ich damit nicht auf den Scheidungsskandal der Vails angespielt
habe.«
»Und worauf hast du angespielt?«
»Welche Alternative kommt denn in Betracht?«
»Die San-Sebastián-Katastrophe.«
»Die ist viel amüsanter als der Scheidungsskandal, nicht wahr?«
Im feierlichen, harten Ton eines Staatsanwaltes sagte sie: »Du hast es bewußt, kaltblütig und mit voller
Absicht getan.«
»Willst du nicht deinen Mantel ausziehen und dich setzen?«
Sie wußte, es war ein Fehler gewesen, daß sie ihren Ärger zu deutlich gezeigt hatte. Sie wandte sich kühl ab,
zog ihren Mantel aus und warf ihn auf einen Stuhl. Er stand nicht auf, um ihr dabei zu helfen. Sie setzte sich in
einen Sessel, während er ein Stück von ihr entfernt auf dem Boden hocken blieb, aber es war, als säße er zu ihren
Füßen.
»Was habe ich mit voller Absicht getan?« fragte er.
»Den ganzen San-Sebastián-Schwindel in Szene gesetzt.«
»Was war meine volle Absicht?«
»Das möchte ich eben gern wissen.«
Er lachte, als hätte sie ihn gebeten, in einem Gespräch eine komplizierte Wissenschaft zu erklären, für deren
Studium man ein ganzes Leben braucht.
»Du wußtest, daß die San-Sebastián-Gruben wertlos waren«, sagte sie. »Du wußtest es, bevor du das ganze
erbärmliche Geschäft begonnen hast.«
»Warum habe ich es dann begonnen?«
»Erzähle mir nicht, daß du nichts dabei verdient hast. Ich weiß es. Ich weiß, du hast fünfzehn Millionen
Dollar von deinem eigenen Geld verloren. Dennoch hattest du eine bestimmte Absicht dabei.«
»Kannst du dir einen Grund denken, der mich dazu veranlaßt hätte, es zu tun?«
»Nein. Man kann sich den Grund einfach nicht vorstellen.«
»Man kann es nicht? Du nimmst an, ich hätte große Intelligenz, großes Wissen und große geschäftliche
Fähigkeiten, so daß alles, was ich unternehme, notwendigerweise erfolgreich sein muß. Und dann behauptest du,
daß ich nicht das Verlangen gehabt hätte, mein Bestes für den Volksstaat Mexiko zu geben. Unvorstellbar, nicht
wahr?«
»Du wußtest von Anfang an, daß Mexiko in den Händen einer Gangsterregierung ist. Für sie brauchtest du
kein Grubenvorhaben zu starten.«
»Nein, ich brauchte es nicht.«
»Diese mexikanische Regierung war dir so oder so völlig gleichgültig, weil… «
»Da irrst du.«
»… weil du wußtest, daß sie früher oder später diese Gruben verstaatlichen würde. Worum es dir dabei ging,
waren deine amerikanischen Aktionäre.«
»Das stimmt.« Er blickte sie fest an, er lächelte nicht, sein Gesicht war ernst. »Das ist aber nur ein Teil der
Wahrheit«, fügte er hinzu.
»Und was ist die übrige?«
»Es war nicht alles, was ich im Sinn hatte.«
»Was sonst noch?«
»Das mußt du selber herausfinden.«
»Ich bin hierher gekommen, weil du wissen sollst, daß ich den von dir verfolgten Zweck zu verstehen
beginne.«
Er lächelte: »Wenn du es verstanden hättest, wärst du nicht hergekommen.«
»Allerdings. Ich verstehe es nicht und werde es wahrscheinlich nie verstehen. Ich fange nur an, einen Teil
davon zu begreifen.«
»Welchen Teil?«
»Du hattest schon alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft, dich zu erniedrigen. Du warst auf der Suche nach
einem neuen Kick, indem du Menschen wie Jim und seine Freunde hinters Licht führtest, um zu sehen, wie sie
sich winden. Ich weiß nicht, wie verderbt ein Mensch sein muß, um an so etwas Freude zu finden. Aber nur
dafür bist du nach New York gekommen – genau im richtigen Moment.«
»Sie haben ja auch ein großartiges Schauspiel der Verzweiflung aufgeführt. Vor allem dein Bruder James.«
»Sie sind gemeingefährliche Irre. Aber in diesem Fall war ihr einziges Verbrechen, daß sie dir vertraut haben.
Sie haben deinem Namen und deinem Ehrgefühl vertraut.«
Wieder sah sie seinen ernsten Blick und wußte, daß er ehrlich war, als er sagte: »Ja, das haben sie, ich weiß
es.«
»Und du findest das amüsant?«
»Nein, ich finde es gar nicht amüsant.«
Wie abwesend hatte er weiter mit seinen Murmeln gespielt und hin und wieder eine Kugel geschossen. Sie
merkte plötzlich, wie zielsicher und geschickt er spielte. Er bewegte nur das Handgelenk und stieß die Kugeln so
an, daß sie über den Teppich rollten und eine andere trafen. Sie dachte an ihre Kindheit und daran, daß man
immer gesagt hatte, er werde in allem unübertrefflich sein.
»Nein«, sagte er, »ich finde es nicht amüsant. Dein Bruder James und seine Freunde verstehen nichts vom
Kupferbergbau. Sie verstehen nichts vom Geldmachen. Sie halten es nicht für notwendig, es zu lernen. In ihren
Augen ist Wissen überflüssig und Urteilsvermögen unwesentlich. Sie sahen, daß ich da war und daß ich
Unwissenheit mit meinem Ehrgefühl nicht vereinbaren konnte; sie glaubten, sie könnten sich auf mein Ehrgefühl
verlassen. Aber, was geht mich das an, was sie glaubten?«
»Du hast sie absichtlich betrogen?«
»Das mußt du entscheiden. Du hast von ihrem Vertrauen und meinem Ehrgefühl gesprochen. Ich denke nicht
mehr in solchen Begriffen…« Er zuckte die Achseln und fügte hinzu: »Ich gebe keinen Pfifferling für deinen
Bruder James und seine Freunde. Ihre Theorie war nicht neu. Sie hat jahrhundertelang funktioniert. Aber so
einfach ist es doch nicht. Sie haben etwas übersehen. Sie glaubten, sie brauchten sich nur an meine Rockschöße
zu hängen, weil sie annahmen, mein einziges Ziel sei Geld. Alle ihre Berechnungen beruhten auf der Prämisse,
daß ich Geld machen wollte. Wenn ich das nun aber nicht wollte?«
»Was wolltest du dann?«
»Sie haben mich nie danach gefragt. Mich nicht nach meinen Zielen, Beweggründen oder Wünschen zu
fragen, bildet einen wesentlichen Teil ihrer Theorie.«
»Wenn du kein Geld machen wolltest, von was für Gründen hast du dich dann leiten lassen?«
»Von vielen. Zum Beispiel von dem, Geld auszugeben.«
»Geld auszugeben – für einen todsicheren, totalen Fehlschlag?«
»Woher sollte ich wissen, daß diese Gruben ein todsicherer, totaler Fehlschlag waren?«
»Wie hättest du es nicht wissen können?«
»Ganz einfach, indem ich mir gar keine Gedanken darüber machte.«
»Du hast dieses Vorhaben in Gang gesetzt, ohne dir einen Gedanken darüber zu machen?«
»Nein, das stimmt nicht ganz. Aber nimm an, ich sei hineingerutscht. Ich bin nur ein Mensch. Ich habe einen
Fehler gemacht. Ich habe einen Fehlschlag erlitten. Das Geschäft ist mir mißglückt.« Er bewegte sein
Handgelenk, eine Kristallmurmel schoß glitzernd über den Boden und stieß heftig gegen eine braune am anderen
Ende des Zimmers.
»Ich glaube das nicht«, sagte sie.
»Nein? Aber habe ich nicht das gleiche Recht, mich zu irren, wie jeder andere auch? Soll ich immer nur für
die Fehler anderer bezahlen und nie selber einen machen dürfen?«
»Das paßt nicht zu dir.«
»Nein?« Er streckte sich bequem und entspannt auf dem Teppich aus. »Willst du damit sagen, daß es dich
beruhigen würde, wenn ich es mit Absicht getan hätte? Benötigst du so sehr einen Beweis, daß ich immer noch
ein Ziel verfolge? Kannst du dich nicht mit dem Gedanken abfinden, daß ich einfach gleichgültig bin?«
Sie schloß die Augen. Sie hörte ihn lachen; es war das fröhlichste Lachen der Welt. Hastig schlug sie die
Augen wieder auf, aber in seinem Gesicht war nichts Grausames, nur das reine Lachen.
»Mein Beweggrund, Dagny? Glaubst du nicht, daß es der allereinfachste ist – die Eingebung des
Augenblicks?«
Nein, dachte sie, nein, das ist nicht wahr; nicht, wenn er so lacht, nicht, wenn er so aussieht. Diese Fähigkeit
zu ungetrübter Freude, dachte sie, haben verantwortungslose Hohlköpfe nicht; ein unversehrter Seelenfriede ist
nicht das, was ein ziellos Dahinlebender erreichen kann; so lachen zu können, ist das Endergebnis des tiefsten,
ernstesten Denkens.
Fast leidenschaftslos überlegte sie beim Anblick der auf dem Teppich zu ihren Füßen liegenden Gestalt,
woran sie das erinnerte: der schwarze Schlafanzug, der die Schlankheit seines Körpers betonte, der offene
Kragen, der eine weiche, junge, sonnenverbrannte Haut entblößte – und sie dachte an den jungen Mann in
schwarzen Hosen und schwarzem Hemd, der bei Sonnenaufgang neben ihr im Gras lag. Sie hatte damals Stolz
empfunden, den Stolz zu wissen, daß ihr dieser Körper gehörte; sie empfand ihn noch. Plötzlich erinnerte sie
sich an ihre exzessiven Liebesspiele. Die Erinnerung daran hätte für sie beleidigend sein müssen, aber sie war es
nicht. Es war immer noch der Stolz, ohne Bedauern, ohne Hoffnung – ein Gefühl, das nicht die Macht hatte, sie
zu verletzen, aber dem sie sich auch nicht entziehen konnte.
Eine Assoziation der Gefühle, die sie selbst verwunderte, ließ sie an das denken, was ihr vor kurzem eine
ebenso vollkommene Freude geschenkt hatte wie die, die er jetzt empfand.
»Francisco«, hörte sie sich leise sagen, »wir haben beide Richard Halleys Musik geliebt…«
»Ich liebe sie noch.«
»Bist du ihm jemals begegnet?«
»Ja. Warum?«
»Weißt du zufällig, ob er ein fünftes Konzert geschrieben hat?«
Er schwieg betroffen. Sie hatte ihn für unerschütterlich gehalten. Aber er war es nicht. Sie vermochte jedoch
nicht zu erraten, warum von allem, was sie gesagt hatte, gerade dies ihn so traf. Es war nur ein Augenblick. Dann
fragte er ruhig: »Wie kommst du darauf?«
»Hat er?«
»Du weißt doch, daß es nur vier Halley-Konzerte gibt.«
»Ja. Aber es hätte doch sein können, daß er noch eines komponiert hat.«
»Er hat das Komponieren aufgegeben.«
»Ich weiß.«
»Warum fragst du dann?«
»Das war nur so ein Gedanke. Was tut er jetzt? Wo lebt er?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn lange nicht gesehen. Wie kommst du darauf, daß es ein fünftes Konzert
gibt?«
»Ich habe das nicht gesagt. Ich habe nur gefragt.«
»Warum hast du gerade jetzt an Richard Halley gedacht?«
»Weil,« sie fühlte, daß sie sich nicht mehr ganz in der Gewalt hatte, »weil ich keine Verbindung zwischen
Richard Halleys Musik und… Mrs. Gilbert Vail zu sehen vermag.«
Er lachte erleichtert. »Ach, das ist es… Übrigens, wenn du die Artikel über mich verfolgt hast, ist dir nicht ein
kleiner komischer Widerspruch in der Geschichte von Mrs. Gilbert Vail aufgefallen?«
»Ich lese das Zeug nicht.«
»Du solltest es aber lesen. Sie hat eine so wunderbare Schilderung des letzten Silvesterabends gegeben, den
wir zusammen in meiner Villa in den Anden verbrachten. Der Mondschein lag auf den Berggipfeln, und Ranken
mit blutroten Blüten hingen in die offenen Fenster herein. Siehst du irgendeinen Fehler in diesem Bild?«
Ruhig sagte sie: »Ich sollte dich das fragen, aber ich tue es nicht.«
»Die Schilderung ist gut und schön. Nur daß ich am letzten Silvesterabend in El Paso in Texas war. Zur
Eröffnung der San-Sebastián-Linie von Taggart Transcontinental. Vielleicht erinnerst du dich? Auch wenn du es
vorgezogen hattest, nicht anwesend zu sein. Es ist von mir eine Aufnahme gemacht worden, auf der ich deinen
Bruder James und Señor Orren Boyle umarme.«
Sie erinnerte sich seufzend, daß das stimmte, erinnerte sich ebenfalls daran, daß sie Mrs. Vails Geschichte in
den Zeitungen gesehen hatte.
»Francisco, was… was bedeutet das?«
Er lachte. »Zieh deine eigenen Schlüsse… Dagny«, sein Gesicht wurde ernst, »warum hast du geglaubt,
Halley habe ein fünftes Konzert komponiert? Warum nicht eine neue Symphonie oder Oper? Warum gerade ein
Konzert?«
»Weshalb beunruhigt dich das?«
»Es beunruhigt mich nicht.« Leise fügte er hinzu: »Ich liebe seine Musik noch immer, Dagny.« Dann sprach
er wieder in einem leichten Ton. »Aber sie gehört in eine andere Zeit. In unserer Zeit kann man damit nichts
anfangen.«
Er legte sich auf den Rücken, verschränkte die Hände unter dem Kopf und blickte zur Decke, als ob er eine
dort abrollende Filmkomödie betrachtete.
»Dagny, hast du dich nicht über das Schauspiel amüsiert, das der Volksstaat Mexiko wegen der San-
Sebastián-Gruben aufgeführt hat? Hast du die Reden der Minister und die Leitartikel in den dortigen Zeitungen
gelesen? Sie sagen, ich sei ein skrupelloser Schwindler, der sie betrogen hat. Sie hatten erwartet, sich in den
Besitz eines blühenden Kupferkonzerns zu setzen. Ich hatte nicht das Recht, sie so zu enttäuschen. Hast du von
dem schäbigen kleinen Bürokraten gelesen, der von ihnen verlangte, mich zu verklagen?«
Flach auf dem Rücken liegend, lachte er. Seine auf dem Teppich weit ausgestreckten Arme bildeten mit
seinem Körper ein Kreuz; er wirkte friedlich, entspannt und jung.
»Soviel es mich auch gekostet hat, das war es wert. Ich konnte den Preis für diese Aufführung bezahlen.
Wenn ich sie absichtlich inszeniert hätte, hätte ich den Rekord des Kaisers Nero geschlagen. Was bedeutet das
Niederbrennen einer Stadt im Vergleich dazu, daß man den Deckel von der Hölle hochhebt und die Menschen
hineinsehen läßt?«
Er richtete sich auf, ergriff ein paar Murmeln und schüttelte sie wie abwesend in der Hand. Der helle, leise
Klang verriet, daß sie aus edlem Material waren. Es wurde ihr plötzlich bewußt, daß er nicht aus innerer Neigung
mit den Murmeln spielte; die Ruhelosigkeit trieb ihn dazu. Er hielt es nicht aus, lange untätig zu sein.
»Die Regierung des Volksstaats Mexiko hat eine Proklamation herausgegeben«, sagte er, »in der sie das Volk
bittet, geduldig zu sein und noch eine kleine Weile lang die Not zu ertragen. Das Kupfer der San-Sebastián-
Gruben scheint in der Planung des zentralen Planungsrats eine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Es sollte
den Lebensstandard aller heben und ej dem Mann und jeder Frau und jedem Kind und selbst noch jeder
Fehlgeburt im Volksstaat Mexiko den Sonntagsschweinebraten liefern. Jetzt bitten die Planer ihr Volk, nicht der
Regierung die Schuld zu geben, sondern der Verworfenheit der Reichen, weil ich mich als verantwortungsloser
Playboy und nicht als der geldgierige Kapitalist erwiesen habe, den man in mir vermutet hatte. Wie konnten sie
wissen, fragen sie, daß ich sie so im Stich lassen würde. Ja, das stimmt schon, wie konnten sie das wissen?«
Sie beobachtete, wie er mit den Murmeln in seiner Hand spielte. Er war sich dessen nicht bewußt. Er blickte
in eine abstoßende Ferne, aber sie war davon überzeugt, daß ihm das Spiel, vielleicht als Kontrast, wohltat. Seine
Finger bewegten sich leise, befühlten das Material, aus dem die Kugeln bestanden, mit sinnlichem Genuß. Statt
es kindisch zu finden, fand sie es seltsam anziehend – als ob, dachte sie plötzlich, Sinnlichkeit gar nichts
Körperliches wäre, sondern der Ausdruck geistiger Verfeinerung.
»Und das ist noch nicht alles, was sie nicht wissen«, sagte er. »Es wird ihnen noch mehr aufgehen. Da ist
diese Siedlung für die Arbeiter von San Sebastián. Sie hat acht Millionen Dollar gekostet. Erdbebensichere
Häuser mit fließendem Wasser, Elektrizität und Klimatisierung. Ferner eine Schule, eine Kirche, ein
Krankenhaus und ein Kino. Eine Siedlung für Menschen, die zuvor in Hütten aus Treibholz und alten
Konservenbüchsen wohnten. Zum Lohn für den Bau dieser Siedlung hatte ich das Privileg, mit heiler Haut zu
entkommen, eine besondere Vergünstigung, die ich dem Zufall verdanke, kein Bürger des Volksstaats Mexiko
zu sein. Diese Arbeitersiedlung bildete ebenfalls einen Teil ihrer Planung. Sie sollte ein Musterbeispiel
staatlichen Wohnungsbaus darstellen. Die erdbebensicheren Häuser bestehen allerdings hauptsächlich aus Pappe,
die mit einer gut imitierten Schicht aus Schellack überzogen ist. Sie werden kein Jahr halten. Die Rohre für die
Wasserleitung haben – ebenso wie fast die gesamte Ausrüstung unserer dortigen Bergwerke – Händler geliefert,
die ihrerseits als Hauptlieferanten die Müllabladeplätze von Buenos Aires und Rio de Janeiro hatten. Ich schätze,
diese Rohre werden fünf Monate halten und die elektrischen Leitungen etwa sechs. Die prächtigen Straßen, die
wir bis zu einer Höhe von zwölfhundert Metern hinauf in die Berge geführt haben, werden nur ein paar Winter
überdauern. Es ist billiger Beton ohne Fundament, und die Absteifungen an den gefährlichen Kurven bestehen
aus bemalten Brettern. Laß den ersten Bergrutsch kommen! Die Kirche wird, denke ich, standhalten. Die
brauchen sie.«
»Francisco«, flüsterte sie, »hast du das absichtlich getan?«
Er hob den Kopf – zu ihrem Erschrecken sah sie, daß sein Gesicht einen Ausdruck von unendlicher Müdigkeit
hatte. »Ob ich es absichtlich oder aus Nachlässigkeit oder aus Dummheit getan habe«, sagte er, »verstehst du
nicht, daß das gleichgültig ist? Es macht keinen Unterschied.«
Sie zitterte. Entgegen allem, was sie sich vorgenommen hatte, schrie sie ihn unbeherrscht an: »Francisco!
Wenn du siehst, was in der Welt geschieht, wenn du alles verstehst, was du gesagt hast, dann kannst du nicht
darüber lachen. Gerade du müßtest gegen sie kämpfen!«
»Gegen wen?«
»Gegen die Plünderer und die, die die Plünderung der Welt möglich machen. Die mexikanischen Planer und
ihresgleichen.«
Sein Lächeln hatte eine gefährliche Schärfe. »Nein, meine Liebe, dich muß ich bekämpfen.«
Sie sah ihn entgeistert an. »Was willst du damit sagen?«
»Ich sage, daß die Arbeitersiedlung von San Sebastián acht Millionen Dollar gekostet hat«, antwortete er mit
harter Stimme, jedes Wort betonend. »Für den Preis, den sie für diese Pappbuden bezahlt haben, hätten sie
erdbebensichere Häuser bauen können. Und so war es mit allem anderen. Dieses Geld bekamen Menschen, die
durch solche Methoden reich werden. Solche Menschen bleiben nicht lange reich. Das Geld wird in Kanäle
fließen, die es nicht zu den Produktivsten, sondern zu den Korruptesten tragen. Nach den Maßstäben unserer Zeit
ist der, der das wenigste zu bieten hat, derjenige, der gewinnt. Dieses Geld wird in solchen Planungen wie den
San-Sebastián-Gruben vertan werden.«
Gequält fragte sie: »War das dein Hintergedanke?«
»Ja.«
»Ist es das, was du amüsant findest?«
»Ja.«
»Ich denke an deinen Namen«, sagte sie, während etwas in ihrem Inneren ihr zurief, daß Vorwürfe sinnlos
waren. »Es war eine Tradition deiner Familie, daß ein d’Anconia immer ein größeres Vermögen hinterließ als
das, das er geerbt hatte.«
»Ja, gewiß. Meine Vorfahren hatten ein bemerkenswertes Geschick, das Richtige zur richtigen Zeit zu tun –
und ihr Geld richtig anzulegen. Freilich, Investition ist ein relativer Begriff. Alles hängt davon ab, was du
erreichen willst. Nimm zum Beispiel San Sebastián. Das Projekt hat mich fünfzehn Millionen Dollar gekostet.
Aber diese fünfzehn Millionen haben Taggart Transcontinental um vierzig Millionen gebracht, Aktionäre wie
James Taggart und Orren Boyle um fünfunddreißig Millionen, und weitere Hunderte von Millionen werden noch
dadurch verlorengehen. Das ist keine schlechte Verzinsung einer Investition. Findest du nicht auch?«
Sie setzte sich aufrecht. »Weißt du eigentlich, was du sagst?«
»Oh, sehr gut. Soll ich dir zuvorkommen und dir die Folgen nennen, die du mir vorwerfen wolltest? Erstens
glaube ich nicht, daß Taggart Transcontinental sich von den Verlusten mit der lächerlichen San-Sebastián-Linie
erholen wird. Du glaubst es zwar, aber ich wüßte nicht wie. Zweitens hat die San-Sebastián-Katastrophe deinem
Bruder James geholfen, Phoenix-Durango zu vernichten, die einzige noch exis tierende gute Eisenbahn.«
»Du weißt das alles?«
»Ja, und noch viel mehr.«
»Kennst du« – sie wußte nicht, warum sie das sagen mußte; der einzige Grund war, daß sie das Gefühl hatte,
das Gesicht mit den dunklen, zornigen Augen blicke sie an –, »kennst du Ellis Wyatt?«
»Gewiß.«
»Weißt du, was ihm damit vielleicht angetan wird?«
»Ja. Er ist derjenige, der als nächster daran glauben muß.«
»Findest du… findest du das… amüsant?«
»Viel amüsanter als die Pleite der mexikanischen Planer.«
Sie stand auf, jahrelang hatte sie ihn verdorben genannt; sie hatte darüber nachgedacht, sie hatte versucht, es
zu vergessen und nie wieder daran zu denken, aber sie hatte nie geahnt, wie verkommen er wirklich war.
Sie sah ihn nicht an; sie bemerkte nicht, daß sie laut die Worte zitierte, die er einst gesagt hatte: »Wer wird
größere Ehre einlegen, du bei Nat Taggart oder ich bei Sebastián d’Anconia…?«
»Aber ist dir nicht aufgefallen, daß ich den Gruben ihren Namen gegeben habe, um damit meinen Vorfahren
zu ehren? Ich glaube, das war ein Tribut, den er geschätzt haben würde.«
Es dauerte einen Augenblick lang, ehe sie wieder zur Besinnung kam; sie hatte nie verstanden, was
Blasphemie sein sollte oder was man empfand, wenn man ihr begegnete – jetzt verstand sie.
Er hatte sich erhoben und blickte lächelnd zu ihr herunter. Es war ein kaltes, unpersönliches, nichtssagendes
Lächeln.
Sie zitterte, aber sie achtete nicht darauf. Es war ihr gleichgültig, was er sagte oder vermutete oder worüber er
lachte.
»Ich bin hergekommen, weil ich wissen wollte, warum du das aus deinem Leben gemacht hast«, sagte sie
tonlos, ohne jeden Zorn.
»Ich habe dir den Grund gesagt«, antwortete er ernst. »Aber du wolltest es nicht glauben.«
»Ich sah dich immer noch so, wie du einmal warst. Ich konnte es nicht vergessen. Und daß du das hast werden
können, was du bist, widerspricht aller Vernunft.«
»Ja? Und die Welt, die du rings um dich siehst, die nicht?«
»Du warst nicht der Mensch, der sich von irgendeiner Welt zerbrechen läßt.«
»Das ist wahr.«
»Und warum jetzt?«
Er zuckte die Achseln. »Wer ist John Galt?«
»Erspar mir diese Gully-Sprüche.«
Er sah sie an. Über seine Lippen huschte ein leises Lächeln, aber sein Blick war ernst und einen Augenblick
lang qualvoll durchdringend.
»Warum?« wiederholte sie.
Er antwortete, wie er in jener Nacht vor zehn Jahren in dem gleichen Hotel geantwortet hatte: »Du bist noch
nicht soweit, es zu erfahren.«
Er geleitete sie nicht zur Tür. Sie hatte schon die Hand auf die Klinke gelegt, da drehte sie sich noch einmal
um – und blieb stehen. Er stand mitten im Zimmer und sah sie an; es war ein Blick, der sie ganz umfing; sie
wußte, was er bedeutete, ihre Bewegung erstarrte, und sie hielt ihm reglos stand.
»Ich möchte immer noch mit dir schlafen«, sagte er, »aber ich bin nicht glücklich genug dafür.«
»Nicht glücklich genug?« wiederholte sie bestürzt.
Er lachte. »Ist das alles, was dir dazu einfällt?« Er wartete, aber sie blieb stumm. »Möchtest du es nicht
auch?«
Sie war nahe daran zu sagen: »Nein«, wurde sich aber bewußt, daß die Wahrheit schlimmer war als dieses
Nein. »Ja«, antwortete sie kalt, »aber es spielt keine Rolle, daß ich es möchte.«
Er lächelte respektvoll. Er wußte, welche Kraftanstrengung es für sie bedeutete, das zu sagen.
Sie öffnete die Tür, um zu gehen. Er lächelte nicht mehr, als er sagte: »Du hast großen Mut, Dagny. Eines
Tages wirst du genug Mut haben.«
»Genug Mut?«
Aber er antwortete nicht.

VI. Das Nicht-Kommerzielle

Rearden preßte die Stirn an den Spiegel und bemühte sich, nicht zu denken.
Das ist die einzige Möglichkeit, es zu ertragen, sagte er sich. Er gab sich ganz der wohltuenden Kühle des
Spiegels hin und überlegte, wie er sein Denken völlig abschalten könnte. Nach einem Leben, in dem er es für
seine vornehmste Pflicht gehalten hatte, seinen Verstand konsequent und erbarmungslos einzusetzen. Er fragte
sich, warum ihm nie eine Anstrengung zuviel geworden war. Und jetzt brachte er nicht einmal die Kraft auf, ein
paar schwarze Perlenknöpfe in seine gestärkte weiße Hemdbrust zu stecken.
Heute war sein Hochzeitstag, und seit drei Monaten wußte er, daß an diesem Abend nach Lillians Wunsch
eine Party stattfinden würde. Er hatte den Termin in dem beruhigenden Gefühl zugesagt, daß die Party noch
lange hin war und daß er, wenn die Zeit ka m, sich auch dieser Pflicht unterziehen würde, wie er sich jeder
unterzog, die ihm sein bis an den Rand gefüllter Terminplan auferlegte. In den dann folgenden drei Monaten mit
ihren achtzehnstündigen Arbeitstagen hatte er sie einfach vergessen – bis vor einer halben Stunde, als lange nach
der Abendessenszeit seine Sekretärin in sein Büro gekommen war und energisch gemahnt hatte: »Die Party, Mr.
Rearden.«
Er war betroffen aufgesprungen, nach Hause geeilt, die Treppe hinaufgestürzt und hatte sich mechanisch
umzuziehen begonnen. Ihm war nur bewußt, daß er sich beeilen mußte, nicht aber, warum. Als ihm der Zweck
plötzlich blitzartig klar wurde, hielt er inne.
»Du interessierst dich für nichts als deine Arbeit.« Sein Leben lang hatte er das gehört wie ein
Verdammungsurteil. Er hatte immer gewußt, daß man die Arbeit als eine Art geheimen sündigen Kult
betrachtete, den man unschuldigen Laien nicht aufzwang; daß die Menschen die Arbeit für eine häßliche
Notwendigkeit hielten, die man auf sich nehmen mußte, die aber nie erwähnt werden durfte, daß von der Arbeit
zu sprechen eine Beleidigung edlerer Gefühle war; daß von einem erwartet wurde, daß man sich innerlich von
allen Gedanken an die Arbeit säuberte, bevor man sich mit Leuten traf, genauso wie man sich das Maschinenöl
von den Händen wusch, ehe man nach Hause ging. Er war nie dieser Meinung gewesen, aber er hatte es als
natürlich hingenommen, daß seine Familie an ihr festhielt. Wie eine in frühester Kindheit kritiklos übernommene
Überzeugung stand es für ihn fest, daß er sich mit der leidenschaftlichen Hingabe an seine Arbeit nicht von den
Märtyrern diskriminierter Sekten unterschied, die für ihre fremdartigen Kulte keinerlei Verständnis erwarten
durften.
Er hielt es für seine Pflicht, seiner Frau ein Leben zu ermöglichen, in dem Arbeit nicht vorkam. Aber er selbst
konnte nicht ohne Arbeit leben. Und er empfand deswegen auch kein Schuldgefühl. Er konnte weder sich
gewaltsam ändern noch ihr Vorwürfe machen, wenn sie ihn deswegen verurteilte.
Er hatte seit Monaten für Lillian keine Zeit gehabt – nein, seit Jahren nicht, dachte er, während der ganzen
acht Jahre nicht, die sie nun schon verheiratet waren. Ihre Interessen teilte er nicht. Er wollte nicht einmal
wissen, wofür sie sich interessierte. Sie hatte einen großen Freundeskreis, und er hatte sagen hören, daß diese
Freunde die Kulturträger des Landes waren, aber er hatte nie Zeit gehabt, sie kennenzulernen oder sich ein Bild
davon zu machen, welchen Leistungen sie ihren Ruhm verdankten. Er wußte nur, daß er ihre Namen oft an
Zeitungsständen auf den Titelseiten der Magazine gesehen hatte. Wenn Lillian ihm sein Verhalten verübelte, war
sie dazu berechtigt, meinte er. Wenn sie ihn schlecht behandelte, so verdiente er es. Wenn seine Familie ihn
herzlos nannte, war das die Wahrheit.
Er hatte sich nie geschont. Wenn in seinem Stahlwerk ein Problem auftauchte, war seine erste Sorge, den
Fehler zu suchen, den er gemacht hatte; er suchte nicht nach fremder Schuld, sondern nach seiner eigenen; von
sich selbst verlangte er Vollkommenheit. Er ging erbarmungslos mit sich ins Gericht; er nahm die Schuld auf
sich. Im Stahlwerk trieb ihn ein starker Impuls, jeden Fehler sofort zu beheben. Hier dagegen regte sich nichts in
ihm… Nur ein paar Minuten noch, dachte er, als er sich mit geschlossenen Augen an den Spiegel lehnte.
Etwas in ihm, das er nicht stoppen konnte, bombardierte ihn mit Wortkaskaden. Es war, als versuchte er,
einen lecken Hydranten mit bloßen Händen zuzuhalten. Wie peitschende Wasserstrahlen schossen ihm Worte
und Bilder durch den Kopf… Stundenlang, dachte er, stundenlang würde er in Augen blicken, die vor
Langeweile fast zufielen, wenn die Gäste nüchtern waren, oder blöde vor sich hin starrten, wenn sie es nicht
waren. Er würde so tun müssen, als ob er weder das eine noch das andere bemerkte. Er würde angestrengt
darüber nachdenken, was er den Gästen sagen könnte, obwohl er ihnen nichts zu sagen hatte. Dabei benötigte er
diese Stunden dringend, um einen Nachfolger für den Leiter seines Walzwerks zu finden, der plötzlich, ohne
jede Erklärung, von seinem Posten zurückgetreten war. Und er hatte keine Zeit zu verlieren. Solche Männer
waren schwer zu finden, und wenn etwas die Arbeit im Walzwerk stocken ließ, dann konnten die Taggart-
Schienen nicht geliefert werden… Er erinnerte sich an den stummen Vorwurf, den anklagenden Blick, das
Stirnrunzeln überstrapazierter Geduld und die Verachtung in den Augen seiner Familie, wenn sie mal wieder
einen Beweis für die Leidenschaft fand, mit der er in seiner Arbeit aufging. Er wußte, daß es sinnlos war,
schweigend zu hoffen, sie wüßten gar nicht, wieviel seine Firma ihm wirklich bedeutete. Er kam sich vor wie ein
Trinker, der sich zum Gespött seiner Umgebung macht, weil er so tut, als würde er sich aus Alkohol nichts
machen, obwohl alle seine unrühmliche Schwäche genau kennen: Wenn seine Mutter ihn beim Abendessen
fragte: »Ich habe dich letzte Nacht um zwei Uhr nach Hause kommen hören. Wo warst du?« und Lillian
antwortete: »Natürlich im Werk«, wie eine andere Frau gesagt hätte: »In der Kneipe an der Ecke…« Oder wenn
Lillian ihn mit einem leisen wissenden Lächeln fragte: »Was hast du gestern in New York gemacht?« – »Ich war
bei einem Bankett.« – »Geschäftlich?« – »Ja.« – »Natürlich.« Und wenn Lillian sich daraufhin abwandte und
weiter nichts geschah, als daß er zu seiner Beschämung bemerkte, wie er beinahe gehofft hatte, sie würde
denken, er hätte an einer wüsten Sauferei teilgenommen… Ein mit Tausenden von Tonnen Rearden-Erz
beladenes Schiff war in einem Sturm auf dem Michigansee gesunken. Diese Schiffe waren in einem so
schlechten Zustand, daß die Besitzer der Linie hätten Konkurs anmelden müssen, wenn er nicht dafür gesorgt
hätte, daß sie die notwendigen neuen Schiffe erhielten. Dabei war es die einzige Linie, die noch auf dem
Michigansee verkehrte… »Diese kleine Ecke?« fragte Lillian und deutete auf ein Arrangement von Sofas und
kleinen Tischen im Salon. »Nein, Henry, das ist nicht neu. Aber ich fühle mich geradezu geschmeichelt, daß es
dir immerhin schon nach drei Wochen auffällt. Ich habe mir dazu das Frühstückszimmer eines berühmten
französischen Schlosses zum Vorbild genommen – aber so etwas kann dich ja wirklich nicht interessieren, mein
Lieber, denn das wird nicht an der Börse notiert.«… Das Kupfer, das er sechs Monate zuvor bestellt hatte, kam
nicht. Der Liefertermin war dreimal verschoben worden. »Wir können nichts dafür, Mr. Rearden!« Er mußte
eine andere Firma finden. Die Kupferlieferungen wurden immer unsicherer… Philip lächelte nicht, als er mitten
in seinem Vortrag aufblickte, den er einer Freundin seiner Mutter über irgendeine Organisation hielt, der er
beigetreten war. Aber sein Gesicht verzog sich zu einem überlegenen Lächeln, als er sagte: »Nein, Henry, das
interessiert dich nicht. Es ist kein Geschäft, es hat überhaupt nichts mit Geschäft zu tun. Es ist etwas ganz und
gar Nicht-Kommerzielles.«… Der Bauunternehmer in Detroit, der eine große Fabrik errichten sollte, zog für das
Stahlgerüst Rearden Metal in Betracht. Ich müßte nach Detroit fliegen und mit dem Unternehmer sprechen. Ich
hätte es schon vor einer Woche tun sollen, hätte es heute abend tun können… »Du hörst gar nicht zu«, sagte
seine Mutter am Frühstückstisch, wenn seine Gedanken zu dem augenblicklichen Kohlenpreisindex
abschweiften, während sie ihm von dem Traum erzählte, den sie in der letzten Nacht gehabt hatte. »Du hast noch
nie einem Menschen zugehört. Dich interessiert nichts anderes als du selbst. Dich schert nicht ein einziges
menschliches Wesen auf Gottes Welt.«… Die maschinengeschriebenen Seiten, die auf dem Schreibtisch in
seinem Büro lagen, waren ein Bericht über die Prüfungsergebnisse eines Flugzeugmotors aus Rearden Metal – er
hätte in diesem Augenblick nichts lieber getan, als diesen Bericht zu lesen, der schon seit drei Tagen unberührt
auf seinem Schreibtisch lag. Er hatte keine Zeit dafür gehabt. Warum las er ihn nicht jetzt und…?
Er schüttelte heftig den Kopf, öffnete die Augen und trat von dem Spiegel zurück.
Er wollte nach den Hemdenknöpfen greifen, aber statt dessen faßte seine Hand nach dem Stoß Post auf seiner
Kommode. Es war dringende Post. Sie mußte heute abend gelesen werden, aber im Büro war er nicht mehr dazu
gekommen. Seine Sekretärin hatte sie ihm, als er ging, in die Tasche gesteckt. Beim Ausziehen hatte er sie
dorthin gelegt.
Ein Zeitungsausschnitt flatterte auf den Boden. Es war ein Artikel, den seine Sekretärin verärgert mit Rotstift
angestrichen hatte. Die Überschrift lautete »Chancenausgleich«. Er mußte das lesen. In den letzten drei Monaten
war darüber zuviel geredet worden, beängstigend zuviel.
Er las den Artikel, während Stimmen und unechtes Lachen von unten heraufhallten und ihn daran erinnerten,
daß die Gäste eintrafen, daß die Gesellschaft begonnen hatte und daß er den bitteren vorwurfsvollen Blicken
seiner Familie begegnen würde, wenn er hinunter kam.
In dem Artikel stand, in einer Zeit zurückgehender Produktion, enger werdender Märkte und schwindender
Verdienstmöglichkeiten sei es unfair, einzelne Unternehmer immer mehr Betriebe übernehmen zu lassen,
während andere nicht mal ihren eigenen retten konnten; es sei selbstzerstörerisch, einige wenige alle Rohstoffe
an sich reißen zu lassen, so daß andere keine Chance mehr hatten; der Wettbewerb sei entscheidend für die
Gesellschaft, und es sei die Pflicht der Gesellschaft, dafür zu sorgen, daß niemand seine potentiellen
Mitbewerber soweit überflügelte, daß sie gegen ihn gar nicht mehr anzutreten brauchten. Der Artikel sagte die
Annahme eines Gesetzes voraus, das bereits eingebracht worden war, eines Gesetzes, das jeder natürlichen oder
juristischen Person verbot, mehr als einen Betrieb zu besitzen.
Wesley Mouch, sein Mann in Washington, hatte Rearden gesagt, er sollte sich deswegen keine Sorgen
machen; es würde zwar ein harter Kampf werden, aber das Gesetz würde nicht durchkommen. Rearden verstand
nichts von dieser Art des Kampfes. Er überließ ihn Mouch und dessen Mitarbeitern. Er hatte kaum die Zeit, ihre
Berichte aus Washington zu überfliegen und die Schecks zu unterzeichnen, die Mouch für den Kampf forderte.
Rearden glaubte nicht, daß die Vorlage angenommen würde. Er konnte einfach nicht daran glauben. Er, der
sein Leben lang mit der sauberen Realität von Metallen, Technologie und Produktion zu tun gehabt hatte, war zu
der Überzeugung gekommen, daß man sich für das Vernünftige, nicht das Unvernünftige einsetzen mußte – daß
man das suchen mußte, was richtig war, denn das Richtige blieb immer Sieger –, daß aus dem Unvernünftigen,
dem Schlechten und Ungerechten nichts werden, daß es keinen Erfolg haben, nur sich selbst zunichte machen
konnte. Ein Ka mpf gegen eine solche Gesetzesvorlage erschien ihm widernatürlich und verwirrend, als ob man
plötzlich von ihm verlangte, mit jemand in Wettbewerb zu treten, der Stahllegierungen mit alchimistischen
Formeln berechnete.
Er hatte sich gesagt, daß die Angelegenheit gefährlich sein könnte. Aber selbst das lauteste Geschrei des
hysterischsten Leitartikels weckte kein Gefühl in ihm, während jede Abweichung um einen Dezimalpunkt in
einem Laboratoriumsbericht über einen Test von Rearden Metal ihn in Ungeduld und Angst aufspringen ließ. Er
hatte für anderes keine Kraft übrig.
Er knüllte den Artikel zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Er fühlte die bleierne Erschöpfung auf sich
zukommen, die er nie bei seiner Arbeit spürte, die Erschöpfung, die auf ihn zu warten schien und ihn sofort
überfiel, wenn er sich etwas anderem zuwandte.
Er sagte sich: Ich muß zu der Party. Die Familie hat das Recht, das von mir zu fordern. Ich muß lernen, ihre
Art von Vergnügen zu lieben. Ihret-, nicht meinetwegen.
Er fragte sich, warum dieser Beweggrund ihn nicht antreiben konnte. Sein ganzes Leben lang hatte er
automatisch alles Nötige tun wollen, wenn er von der Richtigkeit einer bestimmten Handlung überzeugt war. Er
überlegte, was wohl mit ihm los war. Der Widerwille, das zu tun, was richtig war – war das nicht die Wurzel
moralischer Verkommenheit? Seine Schuld zu erkennen, aber dennoch nichts zu fühlen als die kälteste, tiefste
Gleichgültigkeit – war das nicht ein Verrat an dem, was der Motor seines ganzen bisherigen Lebens und seines
Stolzes gewesen war?
Er nahm sich nicht die Zeit, eine Antwort zu suchen. Schnell und ohne weitere Rücksicht auf seine Gefühle
zog er sich fertig an.
Aufrecht und mit der selbstverständlichen Lässigkeit eines autoritätsgewohnten Mannes, ein feines weißes
Tuch in der Brusttasche seines Smokings, ging er langsam die Treppe zum Salon hinunter – eine Augenweide
für die Damen, die ihn unten erwarteten, der Inbegriff des Großindustriellen.
Er sah Lillian am Fuß der Treppe stehen. Die patrizischen Linien eines zitronengelben Empireabendkleids
betonten ihre elegante Figur. Ihre Haltung drückte Stolz auf ihre Herkunft und ihre Stellung aus. Hank lächelte.
Er sah es gern, wenn sie glücklich war. Das gab der Party eine sinnvolle Rechtfertigung.
Er ging auf sie zu – und blieb stehen. Sie hatte ihren Schmuck stets mit gutem Geschmack getragen; nie
überlud sie sich damit. Aber heute abend war sie geradezu protzig behängt: ein Brillantkollier, Brillantohrringe,
Brillantringe und Brillantbroschen. Nur ihre Arme wirkten auffallend bloß. Am rechten Handgelenk trug sie als
einzigen Schmuck das Armband aus Rearden Metal. Die funkelnden Juwelen ließen es wie billigen Tand aus
einem Ramschladen erscheinen.
Als er den Blick von ihrem Handgelenk zu ihrem Gesicht schweifen ließ, bemerkte er, daß sie ihn ansah. Ihre
Augen waren schmale Schlitze, und er konnte nicht erkennen, was sich in ihnen spiegelte. Es war ein Ausdruck,
der indifferent und doch bedeutungsvoll schien, ein herausfordernder Ausdruck, der sein Geheimnis in Sicherheit
wähnte.
Er hätte ihr am liebsten das Armband abgerissen. Statt dessen gehorchte er ihrer fröhlichen Stimme, die ihn
jemand vorstellte, und verbeugte sich mit ausdruckslosem Gesicht vor der Dame, die neben ihr stand.
»Der Mensch? Was ist der Mensch? Er is t nur ein Konglomerat von Chemikalien, das sich einbildet, etwas
Großes darzustellen«, sagte Dr. Pritchett zu einer Gruppe von Gästen, die in der Nähe stand.
Dr. Pritchett nahm von einer Kristallschale ein Canapé, hielt es zwischen zwei Fingern und steckte es dann
ganz in den Mund.
»Die metaphysischen Prätentionen des Menschen«, sagte er, »sind absurd. Ein elendes bißchen Protoplasma,
voll häßlicher kleiner Ideen und jämmerlicher Gefühlchen – und so etwas hält sich selbst für bedeutend!
Wirklich, das ist die Wurzel allen Übels in der Welt.«
»Aber welche Ideen sind nicht häßlich oder niedrig, Professor?« fragte eine ernste ältere Dame, deren Mann
eine Automobilfabrik besaß.
»Keine«, sagte Dr. Pritchett. »Keine im Rahmen des menschlichen Fassungsvermögens.«
Ein junger Mann fragte zögernd: »Aber wenn wir gar keine guten Ideen haben, wie sollen wir dann wissen,
daß die, welche wir haben, schlecht sind? Ich meine, wo ist da der Maßstab?«
»Es gibt überhaupt keine Maßstäbe.«
Diese Antwort ließ seine Zuhörer verstummen.
»Die Philosophen der Vergangenheit waren oberflächlich«, fuhr Dr. Pritchett fort. »Unser Jahrhundert muß
den Zweck der Philosophie neu definieren. Der Zweck der Philosophie ist nicht, den Menschen zu helfen, den
Sinn des Lebens zu finden, sondern ihnen zu beweisen, daß es keinen hat.«
Eine attraktive junge Frau, Tochter eines Kohlengrubenbesitzers, fragte entrüstet: »Wer sagt das?«
»Ich versuche es«, sagte Dr. Pritchett. Er war seit drei Jahren Dekan der Philosophischen Fakultät an der
Patrick-Henry-Universität.
Lillian Rearden trat hinzu. Ihre Juwelen funkelten im Licht, und der Ausdruck in ihrem Gesicht zeigte die
leise Andeutung eines Lächelns, das ebenso künstlich war wie die Wellen ihres Haars.
»Daß der Mensch durchaus auf einem Sinn besteht«, sagte Dr. Pritchett, »macht ihn so schwierig. Hat er erst
einmal erkannt, daß er in dem großen Weltenplan überhaupt nichts bedeutet, daß all seinem Tun keine
Bedeutung beigemessen werden kann, daß es gleich ist, ob er lebt oder stirbt, dann wird er viel leichter… zu
lenken sein.«
Er zuckte die Achseln und griff nach einem neuem Canapé. Ein Unternehmer sagte beklommen: »Was ich Sie
fragen wollte, Professor, was halten Sie von dem Chancenausgleichsgesetz?«
»Ach, das«, sagte Dr. Pritchett. »Ich glaube, ich habe schon klar zu verstehen gegeben, daß ich dafür bin, weil
ich für eine freie Wirtschaft bin. Eine freie Wirtschaft kann nicht ohne Wettbewerb bestehen. Darum müssen die
Menschen zum Wettbewerb gezwungen werden. Darum müssen wir die Menschen beherrschen, um sie zu ihrer
Freiheit zu zwingen.«
»Aber… ist das nicht sozusagen ein Widerspruch?«
»Im höheren philosophischen Sinn nicht. Sie müssen lernen, über die starren Definitionen des veralteten
Denkens hinauszusehen. Nichts ist starr in der Welt. Alles fließt.«
»Aber entspricht es der Vernunft, daß…«
»Vernunft ist der allernaivste Aberglaube. Das zumindest wird mittlerweile von niemand mehr bestritten.«
»Aber ich verstehe nicht ganz, wie wir…«
»Sie leiden unter der so weitverbreiteten Einbildung, daß man etwas verstehen kann. Sie begreifen nicht, daß
die ganze Welt ein Widerspruch ist.«
»Ein Widerspruch gegen was?« fragte die alte Dame.
»Gegen sich selbst.«
»Wie… wieso?«
»Verehrteste, die Denker sollen nichts erklären, sondern beweisen, daß nichts erklä rt werden kann.«
»Ja, natürlich… nur…«
»Der Zweck der Philosophie ist nicht, nach Erkenntnis zu suchen, sondern zu beweisen, daß der Mensch
nichts erkennen kann.«
»Aber wenn wir das beweisen«, fragte die junge Frau, »was bleibt dann?«
»Der Instinkt«, sagte Dr. Pritchett, sich verneigend.
Am anderen Ende des Raums lauschte eine Gruppe Balph Eubank. Er stützte sich auf die Lehne eines Sessels,
um der Tendenz seines Gesichts und seines Körpers entgegenzuwirken, die in die Breite gingen, wenn er sich
entspannte.
»Die Literatur der Vergangenheit«, sagte Balph Eubank, »war ein schaler Trug. Sie wusch das Leben weiß,
um den Geldsäcken zu gefallen, denen sie diente. Moral, freier Wille, Leistung, Happy-End und der Mensch als
eine Art heroisches Wesen – all dieses Zeug finden wir lächerlich. Unsere Zeit gibt der Literatur zum ersten Mal
Tiefe, indem sie das wahre Wesen des Lebens sichtbar macht.«
Ein blutjunges Mädchen in einem weißen Abendkleid fragte schüchtern: »Was ist das wahre Wesen des
Lebens, Mr. Eubank?«
»Leiden«, sagte Balph Eubank. »Niederlage und Leiden.«
»Aber… aber warum? Manchmal sind die Menschen doch glücklich, oder nicht?«
»Das ist die typische Verblendung, der man erliegt, wenn man nur oberflächliche Gefühle hat.«
Das Mädchen wurde dunkelrot. Eine wohlhabende Frau, die eine Ölraffinerie geerbt hatte, fragte
schuldbewußt: »Was müssen wir tun, um den literarischen Geschmack des Volkes zu heben, Mr. Eubank?«
»Das ist ein großes soziales Problem«, sagte Balph Eubank. Er galt als der zur Zeit führende Literat, hatte
aber nie ein Buch geschrieben, von dem mehr als dreitausend Exemplare verkauft worden waren.
»Ich selbst glaube, daß die Anwendung des Chancenausgleichsgesetzes auf die Literatur die Lösung sein
würde.«
»Sie sind dafür, daß es für die Industrie eingeführt wird? Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
»Natürlich bin ich dafür. Unsere Kultur ist in einem Sumpf von Materialismus versunken. Die Menschen
haben in ihrem Streben nach materiellem Erfolg und technologischen Spielereien alle geistigen Werte verloren.
Sie sind zu bequem. Sie werden zu einem edleren Leben zurückkehren, wenn wir sie lehren, Entbehrungen auf
sich zu nehmen. Darum müssen wir ihrer materiellen Gier eine Grenze setzen.«
»Unter diesem Gesichtspunkt habe ich noch gar nicht darüber nachgedacht«, entschuldigte sich die Frau.
»Aber wie soll sich das Chancenausgleichsgesetz auf die Literatur auswirken, Ralph?« fragte Mort Liddy.
»Das ist für mich etwas ganz Neues.«
»Ich heiße Balph«, sagte Eubank verärgert, »und es ist etwas ganz Neues für Sie, weil es meine Idee ist.«
»Okay, okay. Ich will doch nicht streiten. Ich frage ja nur.« Mort Liddy lächelte. Er verbrachte seine meiste
Zeit damit, nervös zu lächeln; er war ein Komponist, der altmodische Melodien für Tonfilme schrieb und
moderne Symphonien für eine kleine Zuhörerschaft.
»Es ließe sich sehr einfach anwenden«, sagte Balph Eubank. »Die Auflage jedes Buches müßte gesetzlich auf
zehntausend Exemplare beschränkt werden. Das würde den Literaturmarkt neuen Begabungen, frischen
Einfällen und nichtkommerziellem Schreiben öffnen. Wenn es den Leuten verboten wäre, eine Million
Exemplare von einem und demselben Schund zu kaufen, wären sie gezwungen, bessere Bücher zu kaufen.«
»Das ist keine schlechte Idee«, sagte Mort Liddy. »Aber wäre das nicht manchmal bitter für die Bankkonten
der Schriftsteller?«
»Das wäre nur gut. Nur denen sollte das Schreiben erlaubt sein, die nicht um des Geldes willen schreiben.«
»Aber, Mr. Eubank«, fragte das junge Mädchen im weißen Kleid, »was ist, wenn mehr als zehntausend Leser
ein bestimmtes Buch kaufen wollen?«
»Zehntausend Leser genügen für ein Buch.«
»Das meine ich nicht. Was ich meine, ist: Wenn sie es kaufen wollen?«
»Das ist unerheblich.«
»Aber wenn ein Buch eine gute Story hat, die…«
»Handlung ist eine primitive Gemeinheit in der Literatur«, sagte Balph Eubank verächtlich.
Dr. Pritchett, der gerade an die Bar gehen wollte, blieb stehen und sagte: »Genauso wie die Logik eine
primitive Gemeinheit in der Philosophie ist.«
»Genauso wie eine Melodie eine primitive Gemeinheit in der Musik ist«, sagte Mort Liddy.
»Worum geht die erregte Debatte?« fragte Lillian Rearden, die im Glanz ihrer Juwelen zu ihnen trat.
»Lillian, mein Engel«, sagte Balph Eubank affektiert, »habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich Ihnen meinen
neuen Roman widmen werde?«
»Oh, wie reizend, vielen Dank.«
»Wie heißt Ihr neuer Roman?« fragte die wohlhabende Frau.
»Das Herz ist ein Milchmann.«
»Wovon handelt er?«
»Von der Enttäuschung.«
»Aber, Mr. Eubank«, fragte das junge Mädchen im weißen Kleid und wurde dabei dunkelrot, »wenn alles
Enttäuschung ist, wofür lebt man dann?«
»Für die Nächstenliebe«, sagte Balph Eubank grimmig.
Bertram Scudder lehnte an der Bar. Sein langes, dünnes Gesicht wirkte wie eingeschrumpft; nur Mund und
Augäpfel ragten wie drei weiche Kugeln heraus. Er war der Herausgeber der Zeitschrift The Future und hatte
einen Artikel unter dem Titel »Der Krake« über Hank Rearden geschrieben.
Bertram Scudder ergriff sein leeres Glas und hielt es dem Barmann wortlos zum Nachschenken hin. Er nahm
einen Schluck von seinem neuen Drink und sah dabei, daß das vor Philip Rearden stehende Glas ebenfalls leer
war. Mit einer Daumenbewegung signalisierte er dem Barmann: hier auch nachschenken. Das leere Glas vor
Betty Pope, die an Philips anderer Seite stand, ignorierte er.
»Tja, Kumpel«, sagte Bertram Scudder, und seine Augäpfel blickten etwa in die Richtung von Philip, »ob es
Ihnen gefällt oder nicht, das Chancenausgleichsgesetz bedeutet einen großen Schritt vorwärts.«
»Wie kommen Sie darauf, daß es mir nicht gefällt, Mr. Scudder?« fragte Philip demütig.
»Es wird zwicken. Der lange Arm der Gesellschaft wird das Spesenkonto hier,« er wedelte mit der Hand in
Richtung der Bar, »ein wenig zurückschneiden.«
»Warum nehmen Sie an, daß ich dagegen bin?«
»Sie sind es nicht?« fragte Bertram Scudder gleichgültig.
»Ich bin es nicht«, sagte Philip leidenschaftlich. »Ich habe immer das Gemeinwohl über jede persönliche
Rücksicht gestellt. Ich habe mit meiner Zeit und meinem Geld die Freunde des Globalen Fortschritts bei ihrem
Feldzug für das Gesetz unterstützt. Ich halte es für äußerst ungerecht, daß einer alles haben soll und die anderen
nichts. Es gibt keinen Grund dafür!«
Bertram Scudder betrachtete ihn nachdenklich, aber ohne besonderes Interesse. »Das ist ganz ungewöhnlich
reizend von Ihnen«, sagte er.
»Einige Menschen nehmen das Moralische noch ernst, Mr. Scudder«, sagte Philip mit leisem Stolz.
»Wovon spricht er, Philip?« fragte Betty Pope. »Wir kennen doch niemand, der mehr als eine Firma besitzt.«
»Ach, halten Sie den Mund«, sagte Bertram Scudder gelangweilt. »Ich verstehe nicht, warum hier von dem
Chancenausgleichsgesetz soviel Aufhebens gemacht wird«, sagte Betty Pope aggressiv im Ton eines
Wirtschaftsexperten. »Ich verstehe nicht, warum Unternehmer dagegen sind. Es ist doch zu ihrem eigenen
Vorteil. Wenn jeder andere arm ist, haben sie keinen Markt für ihre Waren. Aber wenn sie aufhören, eigennützig
zu sein, und die Waren, die sie gehortet haben, mit anderen teilen – dann werden sie eine Chance haben, hart zu
arbeiten und mehr zu produzieren.«
»Ich verstehe nicht, warum man auf Industrielle überhaupt Rücksicht nehmen soll«, sagte Scudder. »Wenn die
Massen Not leiden, obwohl alles, was sie brauchen, da ist, kann man nicht erwarten, daß sie sich mit einem
Wisch Papier, einer sogenannten Besitzurkunde, in Schach halten lassen. Eigentumsrechte sind ein Aberglaube.
Man hat sein Eigentum nur dank der Großzügigkeit derjenigen, die es einem nicht wegnehmen. Aber wie lange
noch werden die Menschen so großzügig bleiben? Warum sollte das Volk sich nicht nehmen, was es sich
jederzeit nehmen kann?«
»Es sollte«, sagte Claude Slagenhop. »Es muß. Das Bedürfnis ist das einzige, worauf es ankommt. Wenn die
Menschen in Not sind, müssen wir handeln. Reden können wir später.«
Claude Slagenhop schob sich zwischen Philip und Scudder und drängte Scudder unauffällig zur Seite.
Slagenhop war nicht groß oder schwer, aber er hatte einen plumpen, kompakten Körper und eine gebrochene
Nase. Er war der Vorsitzende der Freunde des Globalen Fortschritts.
»Hunger wartet nicht«, sagte Claude Slagenhop. »Ideen sind heiße Luft. Ein leerer Bauch ist eine
unwiderlegbare Tatsache. Ich habe in all meinen Reden erklärt, daß reden uns nicht weiterbringt. Die
Gesellschaft leidet zur Zeit unter einer extremen Mangelsituation. Wir haben also das Recht zu nehmen, was wir
kriegen können. Recht ist, was der Gesellschaft nützt.«
»Er hat das Eisenerz nicht allein gefördert«, rief Philip plötzlich mit schriller Stimme. »Er hat Hunderte von
Arbeitern. Sie haben die Arbeit getan. Warum hält er sich für so tüchtig?«
Die beiden Männer blickten ihn an, Scudder hob eine Augenbraue, Slagenhops Gesicht blieb ausdruckslos.
»Ach, du lieber Gott«, sagte Betty Pope, die sich plötzlich an etwas erinnerte.
Hank Rearden stand an einem Fenster in einer dunklen Nische am Ende des Salons. Er hoffte, ein paar
Minuten lang würde niemand auf ihn achten. Er war gerade einer Frau mittleren Alters entronnen, die ihm von
ihren psychischen Erlebnis sen erzählt hatte. Er blickte hinaus. In der Ferne bewegte sich am Himmel der rote
Schein von Rearden Steel. Bei diesem Anblick atmete er kurz auf.
Er drehte sich um und sah in den Salon. Er hatte dieses Haus nie gemocht. Lillian hatte es ausgesucht. Aber
heute abend belebten die bunten Farben der Abendkleider den Raum und gaben ihm einen heiteren Glanz. Er
liebte es, frohe Menschen zu sehen, selbst wenn ihm diese Art von Fröhlichkeit ein Buch mit sieben Siegeln war.
Er betrachtete die Blumen, das sich in den Kristallgläsern spiegelnde Licht, die nackten Arme und Schultern
der Frauen. Draußen wehte ein kalter Wind über kahle Flächen. Er sah die dünnen Äste eines Baumes, die sich
wie um Hilfe flehende Arme zum Himmel reckten. Der Baum hob sich von dem roten Schein über dem
Stahlwerk ab.
Er konnte das Gefühl, das ihn plötzlich überkam, nicht benennen. Er hatte keine Worte für seine Ursache,
seine Qualität, seine Bedeutung. Zum Teil war es Freude, aber es war so feierlich, wie wenn man sein Haupt
entblößt – er wußte nicht, vor wem.
Als er sich wieder unter die Gäste mischte, lächelte er, aber das Lächeln erlosch jäh. Er sah einen neuen Gast
hereinkommen: Dagny Taggart.
Lillian ging ihr entgegen und musterte sie neugierig. Sie war ihr bisher nur wenige Male begegnet, und Dagny
im Abendkleid zu sehen, überraschte sie. Es war ein schwarzes Kleid, dessen Oberteil wie ein Umhang über
einen Arm und eine Schulter fiel und die andere Schulter entblößt ließ. Die nackte Schulter war der einzige
Schmuck des Kleids. Wenn man Dagny Taggart in den Kostümen sah, die sie sonst trug, dachte man nie an ihren
Körper. Dieses schwarze Kleid wirkte enthüllend, weil man mit Staunen entdeckte, daß die Linien ihrer Schulter
zart und schön waren und daß das Brillantband am Handgelenk ihres nackten Arms sie mit dem femininsten aller
Attribute schmückte: Sie sah aus, als sei sie angekettet.
»Ich freue mich so sehr, Sie hier zu sehen, Miss Taggart«, sagte Lillian Rearden, wobei ihre Gesichtsmuskeln
die Bewegungen vollzogen, die zu einem Lächeln gehören. »Ich hatte wirklich nicht zu hoffen gewagt, daß
meine Einladung Sie von Ihren so viel wichtigeren Arbeiten weglocken könnte. Bitte erlauben Sie mir, mich
geschmeichelt zu fühlen.«
James Taggart war zusammen mit seiner Schwester gekommen. Lillian lächelte ihn an, als wäre sie völlig
verzweifelt, ihn erst jetzt zu bemerken.
»Entschuldigen Sie, James. Aber das ist wohl das Schicksal guter Freunde, daß man sie übersieht, wenn
plötzlich jemand wie Ihre Schwester auftaucht, die sich sonst so rar macht.«
»Sie wird man nie übersehen«, antwortete James mit dünnem Lächeln.
»Mich? Ach, ich habe mich ganz damit abgefunden, im Schatten meines Mannes zu stehen. Ich finde, die
Frau eines großen Mannes muß sich mit dem Abglanz des Ruhms begnügen – sind Sie nicht auch der Meinung,
Miss Taggart?«
»Nein«, sagte Dagny.
»Ist das ein Kompliment oder ein Vorwurf, Miss Taggart? Aber verzeihen Sie, ich bin etwas ratlos. Wen
könnte ich Ihnen vorstellen? Ich fürchte, ich habe nichts als Schriftsteller und Künstler zu bieten, und die werden
Sie gewiß nicht interessieren.«
»Ich möchte erst einmal Hank suchen und ihn begrüßen.«
»Aber natürlich. James, erinnern Sie sich, daß Sie mir sagten, Sie würden gern Balph Eubank kennenlernen? –
O ja, er ist hier. – Ich werde ihm berichten, wie überschwenglich Sie sich bei Mrs. Whitecombs Dinner über
seinen letzten Roman geäußert haben.«
Als Dagny durch den Raum ging, fragte sie sich, warum sie gesagt hatte, daß sie Hank Rearden suchen wollte,
warum sie nicht zugegeben hatte, daß sie ihn gleich beim Eintreten erspäht hatte.
Rearden stand am anderen Ende des langen Raums und sah zu ihr herüber. Aber als sie auf ihn zuging, kam er
ihr nicht entgegen.
»Hallo, Hank.«
»Guten Abend.«
Er verbeugte sich höflich, aber unpersönlich, so förmlich, wie es seinem Abendanzug entsprach. Er lächelte
nicht.
»Ich danke Ihnen, daß Sie mich für heute abend eingeladen haben«, sagte sie herzlich.
»Ich wußte überhaupt nicht, daß Sie kommen würden.«
»Ach? Dann freue ich mich, daß Ihre Frau an mich gedacht hat. Ich habe gern mal eine Ausnahme gemacht.«
»Eine Ausnahme?«
»Ich gehe nicht sehr oft auf Parties.«
»Wie nett, daß Sie dann diese Gelegenheit als Ausnahme betrachten.« Er fügte nicht hinzu: Miss Taggart.
Aber es klang, als hätte er es gesagt.
Sein förmliches Verhalten war so unerwartet, daß sie sich ihm nicht anzupassen vermochte. »Ich wollte
feiern«, sagte sie.
»Meinen Hochzeitstag feiern?«
»Ach, es ist Ihr Hochzeitstag? Das wußte ich gar nicht. Herzlichen Glückwunsch, Hank.«
»Was wollten Sie feiern?«
»Ich wollte mir mal eine kleine Ruhepause gönnen, eine ganz persönliche Feier, Ihnen und mir zu Ehren.«
»Aus welchem Grunde?«
Sie dachte an die neuen Gleise im felsigen Bergland von Colorado, die langsam zu dem fernen Ziel der
Wyatt-Ölfelder vordrangen. Sie sah die zwischen welkem Gras auf dem gefrorenen Boden grünlich-blau
schimmernden Schienen, die kahlen Felsblöcke, die verfallenen Hütten halb ausgestorbener Siedlungen.
»Zu Ehren der ersten sechzig Meilen Rearden-Metal-Gleise«, antwortete sie.
»Wie erfreulich!« Er sagte das in einem Ton, der besser zu den Worten gepaßt hätte: »Ich habe nie etwas
davon gehört.«
Sie wußte nicht, was sie weiter sagen sollte. Es war ihr, als spräche sie mit einem Fremden.
»Nanu, Miss Taggart!«, brach eine fröhliche Stimme das Schweigen. »Das ist es, was ich meine, wenn ich
sage, Hank Rearden kann jedes Wunder vollbringen.«
Ein Geschäftspartner der beiden war zu ihnen herangetreten und lächelte in freudiger Überraschung. Die drei
hatten oft in Krisensitzungen über Frachtkosten und Stahllieferungen miteinander zu tun gehabt. Er sah Dagny
mit einem Blick an, der ein unmißverständlicher Kommentar zu ihrem ungewohnten Äußeren war. Hank
Rearden, dachte sie, hatte davon gar nichts bemerkt.
Sie erwiderte lachend seine Begrüßung und gestand sich nicht ein, daß sie leicht enttäuscht war, weil sie
diesen Blick lieber in Reardens Gesicht gesehen hätte. Sie wechselten ein paar Worte. Als sie sich umblickte,
war Rearden verschwunden.
»So, das ist Ihre berühmte Schwester«, sagte Balph Eubank zu James Taggart und nickte zu Dagny hinüber.
»Ich wußte noch gar nicht, daß meine Schwester berühmt ist«, sagte Taggart ein wenig bissig.
»Aber, mein Bester, sie ist ein ungewöhnliches Phänomen auf wirtschaftlichem Gebiet, und es kann Sie
darum nicht wundern, daß man über sie spricht. Ihre Schwester ist ein Symptom der Krankheit unseres
Jahrhunderts. Ein dekadentes Produkt des Maschinenzeitalters. Die Maschinen haben die Menschlichkeit
zerstört, haben den Menschen entwurzelt, haben ihm seine natürlichen Fähigkeiten geraubt, haben seine Seele
getötet und ihn in einen gefühllosen Roboter verwandelt. Sie ist ein Beispiel dafür – eine Frau, die eine
Eisenbahn leitet, anstatt sich in der schönen Kunst des Handwebens zu betätigen und Kinder zu gebären.«
Rearden bewegte sich zwischen den Gästen und bemühte sich, nicht in ein Gespräch gezogen zu werden. Es
war niemand da, mit dem er sich gern unterhalten hätte.
»Sagen Sie, Hank Rearden, Sie sind gar nicht so schlimm, wenn man Sie in Ihrer Löwenhöhle sieht. Wenn Sie
uns hin und wieder einmal eine Pressekonferenz gewährten, würden Sie schließlich doch noch unsere Sympathie
gewinnen.«
Rearden drehte sich um und sah den, der das sagte, ungläubig an. Es war ein junger Journalist von der
schäbigen Sorte. Er arbeitete für ein linkes Boulevardblatt. Seine beleidigende Vertraulichkeit schien zu
bedeuten, daß er sich Rearden gegenüber absichtlich so unverfroren benahm, weil er wußte, daß Rearden sich nie
mit einem Mann seiner Art eingelassen hätte.
Rearden hätte ihm nie Zutritt zu seinem Stahlwerk gewährt, aber der Mann war Lillians Gast, und so
beherrschte er sich und fragte kühl: »Was wünschen Sie?«
»Sie sind nicht so schlimm. Sie sind begabt. Technisch begabt. Aber was Rearden Metal betrifft, stimme ich
nicht mit Ihnen überein.«
»Ich habe Sie nicht darum gebeten.«
»Bertram Scudder hat gerade gesagt, Ihre Politik…«, begann der Mann aggressiv, wobei er zur Bar
hindeutete, aber dann hielt er plötzlich inne, als ob er zu weit gegangen wäre.
Rearden warf einen Blick auf den Schmuddeltypen, der an der Bar lehnte. Lillian hatte ihm den Mann
vorgestellt, aber er hatte nicht auf den Namen geachtet. Er drehte sich brüsk um und ging weg. Die junge
Dreckschleuder traute sich nicht, ihm zu folgen.
Lillian, die inmitten einer Gruppe von Gästen stand, sah Rearden erstaunt an, daß er zu ihr kam, und trat, ohne
ein Wort zu sagen, ein paar Schritte zur Seite, damit die anderen sie nicht hören konnten.
»Ist das da hinten Scudder von The Future?« fragte er.
»Ja, natürlich.«
Er musterte sie stumm, unfähig, es zu glauben, unfähig, es zu verstehen. Sie beobachtete ihn gespannt. »Wie
konntest du ihn hierher einladen?« fragte er. »Aber, Henry, mach dich doch nicht lächerlich! Du willst doch
wohl nicht engstirnig sein? Du mußt lernen, die Meinungen anderer zu tolerieren und ihre Redefreiheit zu
respektieren.«
»In meinem Haus?«
»Ach, sei nicht stur!«
Er antwortete nicht, nicht weil er über etwas nachdachte, sondern weil zwei Bilder beharrlich vor ihm
auftauchten. Er sah den Artikel »Der Krake« von Bertram Scudder, der nichts weiter war als ein öffentlich
entleerter Eimer Jauche – ein Artikel, der nicht eine einzige Tatsache enthielt, nicht einmal eine erfundene,
sondern aus dem sich eine trübe Flut von herabwürdigenden und höhnischen Bemerkungen ergoß, bei denen nur
eines klar war: die schmutzige Bösartigkeit, die Beweise nicht nötig hatte. Und er sah die Linien von Lillians
Profil, die stolze Reinheit, derentwegen er sie geheiratet hatte.
Aber dann wurde ihm bewußt, daß das Profil, das er gesehen hatte, nur eine Projektion war, denn sie hatte ihm
ihr ganzes Gesicht zugekehrt und sah ihn prüfend an. Im Moment der plötzlichen Rückkehr zur Realität glaubte
er Schadenfreude in ihren Augen zu lesen. Doch im nächsten Augenblick sagte er sich, daß er bei klarem
Verstand war und daß das nicht sein konnte.
»Es ist das erste Mal, daß du diesen…« – er gebrauchte mit kühler Gelassenheit einen obszönen Ausdruck –
»in mein Haus eingeladen hast, und es ist das letzte Mal.«
»Wie kannst du es wagen, sowas…«
»Kein weiteres Wort, Lillian. Sonst werfe ich ihn sofort hinaus.«
Er gab ihr einen Augenblick Zeit zu antworten, Einwände zu erheben, ihn anzuschreien, wenn sie es wollte.
Aber sie blieb stumm, sah ihn nicht an, und nur ihre weichen Wangen wirkten plötzlich ein wenig eingefallen.
Während er sich wie ein Blinder durch das Knäuel aus Licht, Stimmen und Parfümwolken bewegte, spürte er
den kalten Hauch der Angst. Er wußte, daß er über Lillian nachdenken und die Antwort auf das Rätsel ihres
Charakters finden mußte. Dies war eine Enthüllung, über die er nicht hinweggehen konnte. Aber er dachte doch
nicht über sie nach – und er spürte die Angst, weil er wußte, daß die Antwort für ihn schon seit langem
bedeutungslos geworden war.
Die Flut der Müdigkeit stieg wieder an. Es war ihm, als könnte er ihre immer dichter werdenden Wogen fast
greifen; sie war nicht in ihm, sondern außerhalb und ergoß sich durch den Raum. Einen Augenblick lang kam er
sich allein und verloren vor, wie in einer grauen Wüste, hilfsbedürftig und doch ohne Hoffnung auf Hilfe.
Er blieb jäh stehen. Im erleuchteten Eingang am gegenüberliegenden Ende des Raums sah er einen
hochgewachsenen, arroganten Mann, der einen Augenblick lang zögerte, bevor er eintrat. Er war dem Mann nie
begegnet, aber von den Prominenten, die sich in die Klatschspalten der Zeitungen drängten, war dies der einzige,
den er verachtete. Es war Francisco d’Anconia.
Rearden hatte an Leute wie Bertram Scudder nie viele Gedanken verschwendet. Aber in jeder Stunde seines
Lebens, in der Qual und dem Stolz jeden Augenblicks, wenn seine Muskeln oder sein Kopf vor Anstrengung
schmerzten, bei jedem Schritt, den er getan hatte, um aus dem Bergwerk von Minnesota aufzusteigen und seine
Arbeit in Gold zu verwandeln, bei all seiner tiefen Achtung vor Geld und dessen Bedeutung, verachtete er die
Verschwender, die sich der großen Gabe ererbten Wohlstands nicht würdig zu erweisen wußten, und der dort,
dachte er, war der verächtlichste Vertreter der Gattung.
Er sah Francisco d’Anconia eintreten, sich vor Lillian verbeugen und sich dann den Gästen zuwenden, als
gehörte ihm dieser Raum, in dem er nie zuvor gewesen war. Wie gebannt starrten alle auf ihn.
Rearden, der von neuem zu Lillian ging, sagte ohne Ärger, mit einer mehr heiteren als spöttischen Stimme:
»Ich wußte gar nicht, daß du den kennst.«
»Ich bin ihm auf ein paar Parties begegnet.«
»Ist er auch einer deiner Freunde?«
»Ganz und gar nicht.« Ihre Empörung war echt.
»Warum hast du ihn dann eingeladen?«
»Man kann keine Party geben – jedenfalls keine, die zählt –, ohne ihn einzuladen, wenn er im Lande ist. Es ist
ärgerlich, wenn er kommt, aber viel peinlicher, wenn er nicht kommt.«
Rearden lachte. Sie war nicht auf der Hut; so etwas gab sie sonst nicht zu. »Ich will dir deine Party nicht
verderben,« sagte er müde, »aber halte mir diesen Mann vom Leib. Stell ihn mir nicht vor. Ich will ihn nicht
kennenlernen. Ich weiß nicht, wie du das anfangen wirst, aber da du ja eine erfahrene Gastgeberin bist, wird es
dir schon gelingen…«
Dagny stand wie angewurzelt, als sie Francisco herankommen sah. Er verneigte sich im Vorbeigehen vor ihr.
Er blieb nicht stehen, aber sie wußte, daß er in Gedanken stehengeblieben war. Sie sah ihn leise lächeln. Er
wollte ihr damit zeigen, daß er verstand, aber nicht bereit war nachzugeben. Sie wandte sich ab. Sie hoffte, ihm
den Rest des Abends aus dem Weg gehen zu können.
Balph Eubank hatte sich der Gruppe um Dr. Pritchett zugesellt und sagte mit finsterer Miene: »…nein, Sie
können nicht erwarten, daß die Menschen die höheren Sphären der Philosophie verstehen. Die Kultur sollte den
Händen der Dollarjäger entwunden werden. Wir brauchen eine staatliche Unterstützung der Literatur. Es ist
schimpflich, daß Künstler wie Hausierer behandelt werden und daß Kunstwerke wie Seife verkauft werden
müssen.«
»Wollen Sie sich damit darüber beklagen, daß sie sich nicht wie Seife verkaufen?« fragte Francisco
d’Anconia. Sie hatten nicht bemerkt, daß er hinzugekommen war. Die Unterhaltung war plötzlich wie
abgeschnitten. Die meisten von ihnen waren ihm nie begegnet, aber sie erkannten ihn alle sofort.
»Ich meinte…«, begann Balph Eubank ärgerlich, verstummte dann jedoch. Er sah das gespannte Interesse in
den Gesichtern seiner Zuhörer. Aber dieses Interesse galt nicht mehr der Philosophie.
»Hallo, Professor«, sagte Francisco und verbeugte sich vor Dr. Pritchett.
Dr. Pritchetts Gesicht verriet keine Freude, als er den Gruß erwiderte und dann Francisco einige der um ihn
Herumstehenden vorstellte.
»Wir diskutieren gerade über ein sehr interessantes Thema«, sagte die ernste alte Dame. »Dr. Pritchett hat uns
gerade erklärt, daß alles nichts ist.«
»Zweifellos muß er darüber mehr wissen als irgendein anderer«, antwortete Francisco ernst.
»Ich hätte nicht gedacht, daß Sie Dr. Pritchett so gut kennen, Señor d’Anconia«, sagte die alte Dame und
fragte sich, warum der Professor von ihrer Bemerkung wenig angetan zu sein schien.
»Ich habe an der Patrick-Henry-Universität studiert, an der jetzt Dr. Pritchett lehrt. Aber mein Lehrer war
einer seiner Vorgänger – Hugh Akston.«
»Hugh Akston!« rief die attraktive junge Frau. »Aber das ist doch unmöglich, Señor d’Anconia! Dafür sind
Sie noch nicht alt genug. Ich glaubte, das wäre einer der großen Namen des… letzten Jahrhunderts.«
»Vielleicht im Geist, meine Gnädige, nicht in Wirklichkeit.«
»Aber ich dachte, er sei schon seit Jahren tot.«
»O nein, er lebt noch.«
»Aber warum hört man dann gar nichts mehr von ihm?«
»Er hat sich vor neun Jahren zurückgezogen.«
»Ist das nicht seltsam, wenn ein Politiker oder ein Filmstar sich zurückzieht, stehen auf den Titelseiten aller
Zeitungen lange Berichte darüber. Aber wenn ein Philosoph sich zurückzieht, nehmen die Menschen überhaupt
keine Notiz davon.«
»Im Laufe der Zeit tun sie’s doch.«
Ein junger Mann sagte erstaunt: »Ich dachte, Hugh Akston wäre einer jener Klassiker, mit denen sich außer
Philosophiehistorikern niemand mehr befaßt. Ich habe kürzlich einen Artikel gelesen, in dem er der letzte der
großen Anwälte der Vernunft genannt wurde.«
»Was hat denn Hugh Akston eigentlich gelehrt?« fragte die ernste alte Dame.
»Er lehrte, daß alles etwas ist«, antwortete Francisco.
»Ihre Treue zu Ihrem Lehrer ist lobenswert, Señor d’Anconia«, sagte Dr. Pritchett trocken. »Dürfen wir
daraus schließen, daß Sie ein Beispiel der praktischen Ergebnisse seiner Lehre sind?«
»Unbedingt.«
James Taggart, der zu der Gruppe gestoßen war, wartete darauf, daß man ihn bemerkte.
»Hallo, Francisco.«
»Guten Abend, James.«
»Was für ein glücklicher Zufall, dich hier zu sehen! Ich hatte dich längst dringend sprechen wollen.«
»Das ist neu. So kenn’ ich dich gar nicht.«
»Ach, du machst wieder deine Späße, wie früher.« Taggart entfernte sich langsam, wie zufällig, von der
Gruppe, in der Hoffnung, daß Francisco ihm folgen würde. »Du weißt doch wohl, es ist niemand hier im Raum,
der nicht gern mit dir sprechen würde.«
»Wirklich? Ich vermute eher das Gegenteil.« Francisco war ihm gehorsam gefolgt, blieb aber in Hörweite der
anderen stehen.
»Ich habe auf jede mögliche Weise versucht, dich zu erreichen«, sagte Taggart, »aber… bestimmte Umstände
haben es leider vereitelt.«
»Willst du damit verschleiern, daß ich mich geweigert habe, dich zu empfangen?«
»Nun, das ist… ich meine, warum hast du dich geweigert?«
»Ich konnte mir nicht vorstellen, worüber du mit mir sprechen wolltest.«
»Über die San-Sebastián-Gruben natürlich«, sagte Taggart mit leicht erhobener Stimme.
»Warum denn?«
»Aber… hör mal, Francisco, ich meine das ganz ernst. Es ist eine Katastrophe, eine beispiellose Katastrophe –
und niemand kann sich einen Vers darauf machen. Ich weiß nicht, was ich davon denken soll. Ich verstehe das
überhaupt nicht, aber ich habe ein Recht, es zu wissen.«
»Ein Recht? Bist du nicht ein bißchen altmodisch, James? Was möchtest du denn wissen?«
»Nun, vor allem, was wirst du… gegen die Verstaatlichung unternehmen?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Du wirst doch ganz bestimmt nicht wollen, daß ich etwas dagegen unternehme? Meine Bergwerke und deine
Eisenbahn sind, weil es der Wille des Volkes war, enteignet worden. Und du wirst doch nicht wollen, daß ich
mich dem Willen des Volkes widersetze?«
»Francisco, das ist nichts zum Lachen.«
»Ich habe das nie angenommen.«
»Ich habe einen Anspruch auf eine Erklärung! Du schuldest deinen Aktionären einen Bericht über die ganze
schändliche Angelegenheit! Warum hast du ein wertloses Bergwerk gekauft? Warum hast du all die Millionen
verschwendet? Was für ein elender Schwindel steckt dahinter?«
Francisco sah ihn in höflicher Verwunderung an. »Ich dachte, du würdest es billigen, James.«
»Billigen?!«
»Ich dachte, du betrachtetest die San-Sebastián-Gruben als die praktische Verwirklichung eines Ideals von
höchstem moralischem Wert. Erinnere dich, daß du und ich in der Vergangenheit so oft verschiedener Meinung
waren. Ich glaubte darum, du würdest mir dankbar sein, daß ich einmal im Einklang mit deinen Grundsätzen
handelte.«
»Wovon redest du eigentlich?«
Francisco schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich weiß nicht, weshalb du mein Verhalten schändlich nennst. Ich
glaubte, du würdest darin das ehrliche Bemühen sehen, das zu tun, was die ganze Welt predigt. Glauben nicht
alle, daß es schlecht ist, eigennützig zu sein? Ich war bei dem San-Sebastián-Projekt völlig selbstlos. Is t es nicht
schlecht, persönliche Interessen zu verfolgen? Ich hatte nicht das geringste persönliche Interesse daran. Ist es
nicht schlecht, Profit zu machen? Ich habe keinen Profit, ich habe Verlust gemacht. Sind sich nicht alle einig
darüber, daß der Zweck und die Rechtfertigung eines Industrieunternehmens nicht die Produktion, sondern die
Arbeitsplätze seiner Arbeiter und Angestellten sind? Die San-Sebastián-Gruben waren das bei weitem
erfolgreichste Unternehmen in der Industriegeschichte. Sie haben zwar kein Kupfer produziert, aber sie haben
Tausenden von Menschen ihre Arbeitsplätze gesichert, Menschen, die in einem ganzen Leben nicht das hätten
verdienen können, was sie dort pro Tag erhielten und für eine Arbeit, die sie gar nicht zu leisten vermochten.
Heißt es nicht allgemein, daß der Besitzer eines Unternehmens ein Parasit und ein Ausbeuter ist, daß die Arbeiter
und Angestellten die ganze Arbeit tun und die Produktion erst ermöglichen? Ich habe niemand ausgebeutet. Ich
habe die San-Sebastián-Gruben nicht mit meiner nutzlosen Gegenwart belästigt. Ich habe sie den Männern
überlassen, auf die es ankommt. Ich habe den Wert dieses Besitzes nicht abgeschätzt. Ich habe das einen
Bergbaufachmann tun lassen. Er war kein sehr guter Fachmann, aber er brauchte die Stellung sehr nötig. Heißt es
nicht allgemein, daß es bei der Einstellung einer Arbeitskraft nur auf die Bedürftigkeit und nicht auf die
Fähigkeiten ankommt? Glaubt nicht jeder, es genüge, etwas zu benötigen, um es zu erhalten? Ich habe mich an
jedes moralische Rezept unserer Zeit gehalten. Ich habe Dankbarkeit erwartet und ehrenvolle Erwähnung. Ich
verstehe nicht, warum man mich verurteilt.«
Während alle anderen schwiegen, lachte Betty Pope plötzlich schrill auf. Sie hatte nichts verstanden, aber sie
sah die hilflose Wut in James Taggarts Gesicht.
Man blickte James Taggart in gespannter Erwartung seiner Antwort an. Das Thema an sich interessierte
niemand, man weidete sich nur an dem Schauspiel der Betroffenheit. Taggart gelang ein gönnerhaftes Lächeln.
»Du erwartest doch wohl nicht von mir, daß ich das ernst nehme?« fragte er.
»Es hat eine Zeit gegeben«, erwiderte Francisco, »da ich nicht glaubte, daß jemand es ernst nehmen könnte.
Das war ein Irrtum von mir.«
»Das ist unerhört!« Taggarts Stimme wurde lauter. »Es ist einfach unerhört, deine Pflichten der Öffentlichkeit
gegenüber derart auf die leichte Schulter zu nehmen!« Er drehte sich um und lief weg.
Francisco zuckte mit den Schultern und breitete die Arme aus: »Siehst du, ich habe ja gleich nicht geglaubt,
daß du mit mir sprechen wolltest.«
Rearden stand allein am anderen Ende des Salons. Philip sah ihn, ging auf ihn zu und winkte Lillian heran.
»Lillian, ich glaube, Henry amüsiert sich überhaupt nicht«, sagte er lächelnd, wobei man nicht wußte, ob sein
spöttisches Lächeln Lillian oder Rearden galt. »Können wir nicht etwas dagegen tun?«
»Ach, Unsinn!« sagte Rearden.
»Wenn ich wüßte, was man dagegen tun kann, Philip«, sagte Lillian. »Ich habe immer gewünscht, Henry
würde lernen, sich zu entspannen. Er ist in allem so grimmig ernst. Er ist wie ein strenger Puritaner. Ich habe mir
immer gewünscht, ihn wenigstens einmal betrunken zu sehen. Aber ich habe es aufgegeben. Was würdest du
raten?«
»Ach, ich weiß es nicht. Aber er sollte nicht immer so allein herumstehen.«
»Laß mich nur«, sagte Rearden. Obwohl er das vage Gefühl hatte, er dürfe sie nicht verletzen, konnte er nicht
umhin hinzuzufügen: »Ihr wißt ja gar nicht, wieviel Mühe es mich gekostet hat, alleingelassen zu werden.«
»Da hast du’s.« Lillian lächelte Philip an. »Sich am Leben und an den Menschen zu freuen, ist nicht so
einfach wie eine Tonne Stahl zu kochen. Geistige Interessen erwirbt man nicht auf dem Markt.«
Philip lachte. »Es sind nicht geistige Interessen, über die ich mir Sorgen mache. Wieso bist du eigentlich so
sicher, daß er ein Puritaner ist, Lillian? Wenn ich du wäre, würde ich nicht zulassen, daß seine Blicke überall
hinschweifen. Es sind heute abend zu viele schöne Frauen hier.«
»Henry auf Abenteuer aus? Du schmeichelst ihm, Philip. Du überschätzt seinen Mut.« Sie lächelte kalt und
vielsagend, dann ging sie wieder zu ihren Gästen.
Rearden sah seinen Bruder an. »Was zum Teufel soll dein Gerede?«
»Ach, hör auf, den Puritaner zu spielen. Kannst du keinen Scherz vertragen?«
Dagny bewegte sich ziellos durch die Gästeschar und fragte sich, warum sie die Einladung zu dieser Party
angenommen hatte. Die Antwort verwunderte sie. Sie hatte Hank Rearden sehen wollen. Als sie ihn zwischen all
den anderen beobachtete, wurde ihr zum ersten Mal der Kontrast bewußt. Die Gesichter der anderen wirkten wie
die wechselnde Zusammenstellung austauschbarer Züge. Jedes Gesicht schien sich mit allen anderen zu einem
konturlosen Teig vermischen zu wollen. Alle Gesichter sahen aus, als würden sie zerfließen. Reardens scharf
gezeichnetes Gesicht mit den hellblauen Augen und dem aschblonden Haar dagegen hatte die Festigkeit von Eis.
Die vollkommene Klarheit seiner Linien ließ es unter den anderen wirken, als bewegte es sich, von einem
Lichtstrahl beschienen, durch einen Nebel.
Unwillkürlich mußte sie immer wieder zu ihm hinüber sehen. Aber nicht einen Augenblick lang sah er zu ihr
hinüber. Sie konnte nicht glauben, daß er ihrem Blick absichtlich auswich. Es gab keinen einleuchtenden Grund
dafür. Dennoch war sie sich gewiß, daß er es tat. Sie wäre am liebsten auf ihn zugegangen, um sich davon zu
überzeugen, daß sie sich irrte. Aber irgend etwas hielt sie zurück. Nur was?
Rearden unterhielt sich geduldig mit seiner Mutter und zwei Damen, denen er von seiner Jugend und seinem
Kampf erzählen sollte. Er fügte sich, sagte sich, seine Mutter sei eben auf ihre Art stolz auf ihn. Dennoch war es
ihm, als wolle sie zu verstehen geben, sie habe ihm in seinem Kampf beigestanden und sei diejenige, der er
seinen Erfolg verdanke. Er war froh, als sie ihn endlich wieder allein ließ. Wieder einmal flüchtete er sich in die
Nische am Fenster.
Er stand dort eine Zeitlang und stützte sich auf das Gefühl des Ungestörtseins wie auf einen äußeren Halt.
»Mr. Rearden«, sagte eine seltsam leise Stimme neben ihm. »Erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen vorstelle.
Mein Name ist d’Anconia.«
Rearden drehte sich bestürzt um. In Francisco d’Anconias Stimme war etwas, dem er selten zuvor begegnet
war: ein Ton echter Hochachtung.
»Guten Abend«, antwortete er. Er sagte das zwar barsch, aber es war immerhin eine Begrüßung.
»Ich habe bemerkt, daß Ihre Frau versucht hat, der Notwendigkeit auszuweichen, mich Ihnen vorzustellen.
Und ich kann mir den Grund denken. Wäre es Ihnen lieber, wenn ich Ihr Haus verließe?«
Daß er das klipp und klar aussprach, statt darüber hinwegzugehen, entsprach so wenig dem üblichen
Verhalten, daß Rearden einen Augenblick lang erleichtert schwieg und d’Anconia prüfend anblickte. Francisco
hatte das ganz schlicht gesagt, weder vorwurfsvoll noch entschuldigend, sondern auf eine ungewohnte Art, die
Achtung ausdrückte, sowohl gegenüber Rearden als auch gegenüber sich selbst.
»Nein«, sagte Rearden, »was auch immer Sie vermuten, das habe ich nicht gesagt.«
»Ich danke Ihnen. Dann werden Sie mir gestatten, mit Ihnen zu sprechen.«
»Warum sollten Sie mit mir sprechen wollen?«
»Meine Motive können Sie im Augenblick nicht interessieren.«
»Das, was ich Ihnen zu sagen hätte, würde Sie auch nicht interessieren.«
»Sie irren sich über einen von uns, Mr. Rearden, oder über uns beide. Ich bin allein deshalb zu dieser
Gesellschaft gekommen, weil ich Sie kennenlernen wollte.«
Reardens Stimme hatte belustigt geklungen, aber jetzt bekam sie einen Unterton von Verachtung. »Sie haben
anfangs kein Blatt vor den Mund genommen, bleiben Sie dabei.«
»Ich tue es.«
»Weswegen wollten Sie mich kennenlernen? Damit ich Geld verliere?«
Francisco blickte ihn fest an. »Ja, darauf wird es wohl hinauslaufen.«
»Was ist es diesmal? Eine Goldgrube?«
Francisco schüttelte langsam den Kopf. Die bewußte, bedächtige Bewegung hatte fast etwas Trauriges.
»Nein«, sagte er, »ich will Ihnen nichts verkaufen. Ich habe übrigens auch nicht versucht, James Taggart das
Kupferbergwerk anzudrehen. Er ist von selbst zu mir gekommen. Sie werden das nicht tun.«
Rearden lachte. »Wenn Ihnen das klar ist, dann haben wir immerhin eine vernünftige Grundlage für ein
Gespräch. Halten Sie sich daran. Wenn Sie nicht an eine phantastische Investition dachten, warum wollten Sie
mich dann treffen?«
»Um sie kennenzulernen.«
»Das ist keine Antwort. Sie wiederholen nur, was Sie bereits gesagt haben.«
»Nicht ganz, Mr. Rearden.«
»Oder soll es heißen, daß Sie mein Vertrauen gewinnen wollen?«
»Nein. Ich kann Menschen nicht leiden, die davon reden, daß sie das Vertrauen eines anderen gewinnen
wollen. Wenn man anständig handelt, braucht man nicht das vordatierte Vertrauen anderer, sondern nur ihre
vernünftige Einsicht. Wer einen moralischen Blankoscheck dieser Art fordert, hat unehrliche Absichten.«
Rearden starrte ihn erschrocken an. Es war, als streckte er unwillkürlich die Hand aus, um sich an etwas
festzuklammern, damit er nicht hinschlug. Der Blick verriet, wie sehr es ihn nach einem Menschen verlangte wie
dem, den er hier vor sich zu sehen glaubte. Aber dann senkte er die Augen, schloß sie fast, um das Bild und sein
Verlangen zu verscheuchen. Sein Gesicht war hart. Es hatte einen Ausdruck von Strenge, einer inneren Strenge
gegen sich selbst. Es war das herbe Gesicht eines einsamen Menschen.
»Nun«, sagte er tonlos, »was wollen Sie, wenn nicht mein Vertrauen?«
»Ich möchte Sie verstehen lernen.«
»Warum?«
»Aus einem ganz persönlichen Grunde, der Sie im Augenblick nicht zu interessieren braucht.«
»Was möchten Sie an mir verstehen?«
Francisco blickte stumm in das Dunkel hinaus. Das Feuer im Stahlwerk erlosch. Nur ein schwacher roter
Schein war am Horizont sichtbar, in dem man am Himmel die vom Sturm zerfetzten Wolken tre iben sah.
Schattenhaft raste etwas dahin und verschwand. Es waren die Äste von Bäumen, aber es sah aus, als wäre es das
sichtbare Ungestüm des Windes.
»Es ist eine furchtbare Nacht für jedes Tier, das ihr schutzlos in der Ebene preisgegeben ist«, sagte Francisco
d’Anconia. »Da weiß man erst zu schätzen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.«
Rearden schwieg einen Augenblick lang, dann sagte er verwundert, wie zu sich selbst: »Merkwürdig…«
»Was?«
»Gerade eben habe ich das gleiche gedacht…«
»Wirklich?«
»…ich konnte es nur nicht in Worte fassen.«
»Soll ich Ihnen noch das übrige sagen?«
»Tun Sie’s.«
»Sie standen hier und blickten mit dem größten Stolz, den jemand empfinden kann, in den Sturm – weil Sie in
einer solchen Nacht in Ihrem Hause Sommerblumen und halbnackte Frauen um sich haben können – als Beweis
für Ihren Sieg über diesen Sturm. Und wenn Sie nicht wären, würden die meisten von denen, die hier sind,
hilflos inmitten einer solchen Ebene die Beute dieses Sturms sein.«
»Woher wissen Sie das?«
Während er dies fragte, wurde Rearden bewußt, daß der andere nicht seine Gedanken, sondern seine
geheimsten, persönlichsten Gefühle ausgesprochen und er selber, der nie jemand seine Gefühle offenbarte, sie in
dieser Frage verraten hatte. Er sah ein leises Flackern in Franciscos Augen, wie den Widerschein eines Lächelns
oder einer plötzlichen Erkenntnis.
»Was wissen Sie schon von einem Stolz dieser Art?« fragte Rearden scharf, als könnte diese höhnische zweite
Frage das Geständnis der ersten auslöschen.
»Ich habe ihn einmal empfunden, als ich jung war.«
Rearden blickte ihn an. In Franciscos Gesicht war weder Spott noch Selbstmitleid; die feingezeichneten Züge
und die hellblauen Augen spiegelten eine stille Gelassenheit; ohne Zucken bot sich dieses Gesicht jedem Schlag
dar.
»Warum wollen Sie darüber sprechen?« fragte Rearden, in dem gegen seinen Willen einen Augenblick lang
Mitleid aufstieg.
»Sagen wir, aus Dankbarkeit, Mr. Rearden.«
»Aus Dankbarkeit gegen mich?«
»Wenn Sie sie annehmen wollen.«
Reardens Stimme wurde härter. »Ich habe keine Dankbarkeit verlangt, ich brauche sie nicht.«
»Ich habe nicht gesagt, daß Sie sie brauchen. Aber von allen, die Sie heute nacht vor dem Sturm schützen, bin
ich der einzige, der sie Ihnen zeigt.«
Rearden schwieg einen Augenblick und fragte dann leise, fast drohend: »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich will Ihre Aufmerksamkeit auf das Wesen jener lenken, für die Sie arbeiten.«
»Nur ein Mann, der in seinem ganzen Leben nicht einen Tag lang anständig gearbeitet hat, kann so etwas
denken oder sagen.« In dem verächtlichen Ton, in dem Rearden das sagte, schwang eine gewisse Erleichterung
mit; er hatte sich von dem Zweifel, ob er den Charakter seines Gegners richtig beurteilte, entwaffnen lassen, aber
jetzt war er wieder sicher, daß er sich nicht geirrt hatte. »Sie würden es nicht verstehen, wenn ich Ihnen sagte,
daß der Mensch, der arbeitet, für sich selbst arbeitet, selbst wenn er lauter solche Jammerlappen wie Sie auf dem
Buckel hat. Ich ahne jetzt, was Sie denken; sagen Sie nur, daß das schlecht ist, daß ich eigennützig, eingebildet,
herzlos, grausam bin. Ich bin es. Ich will von diesem ganzen Phrasengedresche, daß man für andere arbeitet,
nichts wissen, ich nicht.«
Zum ersten Mal nahm er eine persönliche Reaktion in Franciscos Augen wahr; es war etwas Ungestümes und
Junges in diesem Blick. »Das einzige, was daran falsch ist«, antwortete Francisco, »ist, daß Sie den anderen
erlauben, es schlecht zu nennen.« Während Rearden ungläubig schwieg, deutete Francisco auf die Menge im
Salon. »Warum schütteln Sie diese Leute nicht ab?«
»Weil es arme, elende Kinder sind, die verzweifelt und sehr unbeholfen darum kämpfen, am Leben zu
bleiben, während ich die Last nicht spüre.«
»Warum sagen Sie ihnen das nicht?«
»Was?«
»Daß Sie für sich und nicht für sie arbeiten.«
»Sie wissen es.«
»O ja, sie wissen es. Jeder einzelne hier weiß es. Aber sie glauben, Sie wüßten es nicht, und es ist das Ziel all
ihrer Bemühungen zu verhindern, daß Sie es bemerken.«
»Warum sollte ich mich dafür interessieren, was sie denken?«
»Weil es ein Kampf ist, in dem man eine klare Stellung beziehen muß.«
»Ein Kampf? Was für ein Kampf? Ich bin der Stärkere. Ich kämpfe nicht gegen Waffenlose.«
»Sind sie waffenlos? Sie haben eine Waffe gegen Sie. Es ist ihre einzige Waffe, aber es ist eine furchtbare.
Fragen Sie sich selbst einmal, welche Waffe es ist.«
»Was beweist Ihnen das?«
»Die unverzeihliche Tatsache, daß Sie so unglücklich sind.«
Rearden konnte jede Art von Vorwurf, Beleidigung, Verurteilung durch andere vertragen; das einzige,
wogegen er sich wehrte, war Mitleid. Der plötzlich in ihm aufwallende Ärger machte ihm wieder bewußt, mit
wem er hier sprach. »Wie kommen Sie zu dieser unverschämten Bemerkung?« sagte er. »Was bezwecken Sie
damit?«
»Sagen wir – Ihnen die Worte zu geben, die Sie eines Tages brauchen werden.«
»Warum wollen Sie mit mir über ein solches Thema sprechen?«
»Weil ich hoffe, daß Sie sich daran erinnern werden.«
Rearden ärgerte sich über die unbegreifliche Tatsache, daß er sich über dieses Gespräch freute. Er witterte
Verrat, witterte eine unbekannte Gefahr. »Erwarten Sie von mir, daß ich vergesse, was Sie sind?« fragte er und
begriff zugleich, daß er es vergessen hatte.
»Ich erwarte nicht, daß Sie überhaupt über mich nachdenken.«
Reardens Ärger verdeckte ein anderes Gefühl, das er sich nicht eingestehen wollte: er spürte einen leisen
Schmerz. Hätte er diesen Schmerz analysiert, dann hätte er bemerkt, daß er immer noch Francisco sagen hörte:
»Ich bin der einzige, der sie Ihnen zeigt… wenn Sie sie annehmen…« Er hörte die Worte und den seltsam
feierlichen Ton der ruhigen Stimme und seine eigene unerklärliche Antwort darauf. Etwas in ihm wollte »Ja«
rufen, sie annehmen, diesem Mann sagen, er nehme sie an, er brauche sie – obwohl er nicht sagen konnte, was er
brauchte; es war nicht Dankbarkeit, und er wußte, der andere hatte auch etwas anderes als Dankbarkeit gemeint.
Laut sagte er: »Ich habe das Gespräch mit Ihnen nicht gesucht, sondern Sie haben mich darum gebeten, und
darum müssen Sie nun auch anhören, was ich Ihnen sage. Es gibt nur eine Form menschlicher Verderbtheit: kein
Ziel zu haben.«
»Das stimmt.«
»Ich kann allen anderen verzeihen. Sie sind nicht verderbt, sondern nur hilflos.
Aber jemand wie Ihnen kann ich nicht verzeihen.«
»Vor der Sünde der Vergebung habe ich Sie warnen wollen.«
»Sie hatten die größte Chance im Leben. Was haben Sie damit gemacht? Wenn Sie sich über das alles im
klaren sind, was Sie gesagt haben, wie können Sie dann überhaupt mit mir sprechen? Wie können Sie jemand
gegenübertreten, nach all dem, was Sie sich an Unverantwortlichem bei dem Mexiko-Projekt geleistet haben?«
»Wenn Sie wollen, dürfen Sie mich dafür verurteilen.«
Dagny stand in der Nähe der Fensternis che und hörte zu. Die beiden bemerkten sie nicht. Sie hatte sie dort
zusammen stehen sehen und war in einem Impuls, den sie weder erklären noch bremsen konnte, näher gerückt.
Es schien ihr äußerst wichtig zu wissen, was diese beiden Männer sich sagten.
Sie hatte die letzten Sätze ihres Gesprächs gehört. Sie hatte es nie für möglich gehalten, daß sie es einmal
erleben würde, Francisco geschlagen zu sehen. Er konnte jeden Gegner in jeder Art von Kampf besiegen. Aber
hier gab er sich wehrlos preis. Sie wußte, es war nicht Gleichgültigkeit. Sie kannte sein Gesicht gut genug, um zu
sehen, welche Anstrengung ihn seine Ruhe kostete. Sie sah, wie seine Wangenmuskeln sich spannten.
»Von all denen, die von der Leistung anderer leben, sind Sie der einzige wirkliche Parasit.«
»Ich habe Ihnen Grund gegeben, so zu denken.«
»Wie kommen Sie dann dazu, über den Sinn des Menschseins zu sprechen? Sie sind derjenige, der ihn
verraten hat.«
»Es tut mir leid, wenn ich Sie mit dem beleidigt habe, was Sie vielleicht mit Recht als Anmaßung betrachten.«
Francisco verbeugte sich und wandte sich zum Gehen. Ohne es zu wollen, ohne zu wissen, daß diese Frage
seinen Ärger zunichte machte, daß er damit den anderen festhalten wollte, sagte Rearden: »Was wollten Sie an
mir verstehen lernen?«
Francisco drehte sich um. Der Ausdruck seines Gesichts hatte sich nicht verändert. Sein Blick verriet immer
noch höfliche Achtung. »Ich weiß es bereits«, antwortete er.
Rearden sah ihm nach, als er auf die anderen Gäste zuging. Ein Kellner, in den Händen eine Kristallschale,
und Dr. Pritchett, der wieder einmal ein Canapé nahm, entzogen Francisco Reardens Blick. Hank spähte in das
Dunkel hinaus. Man sah draußen nur den Sturm.
Dagny kam auf ihn zu, als er aus der Nische heraustrat. Sie lächelte ihn einladend an. Er blieb stehen. Aber es
schien ihr, daß er es widerstrebend tat. Um das Schweigen zu brechen, sagte sie hastig: »Hank, warum haben Sie
so viele Intellektuelle aus der Plünderer-Ecke hier? Ich würde sie nicht in meinem Haus dulden.«
Sie hatte das eigentlich nicht sagen wollen. Aber sie wußte nicht, was sie sagen sollte; nie zuvor hatte sie sich
in seiner Gegenwart so gehemmt gefühlt.
Sie sah, daß sich seine Lider senkten wie eine Tür, die sich schließt. »Ich sehe keinen Grund, warum man sie
nicht zu einer Party einladen sollte«, antwortete er kalt.
»Ich wollte die Auswahl Ihrer Gäste nicht kritisieren, aber… ich mußte mir Mühe geben, nicht
herauszubekommen, wer von Ihnen Bertram Scudder ist. Ich würde ihm sonst eine runterhauen.« Sie bemühte
sich, das wie nebenbei zu sagen. »Ich möchte keine Szene heraufbeschwören, aber ich bin nicht sicher, ob ich
mich in der Gewalt hätte. Ich konnte es einfach nicht glauben, als mir jemand sagte, Ihre Frau habe ihn
eingeladen.«
»Ich habe ihn eingeladen.«
»Aber…« Dann fügte sie leise hinzu: »Warum?«
»Ich messe solchen Parties keinerlei Bedeutung bei.«
»Verzeihen Sie, Hank, ich wußte nicht, daß Sie so tolerant sind. Ich bin es nicht.«
Er antwortete nicht.
»Ich weiß, Sie mögen keine Parties, ebensowenig wie ich, aber manchmal meine ich… Vielleicht sind wir die
einzigen, die fähig wären, sie zu genießen.«
»Ich fürchte, ich habe keine Begabung dafür.«
»Nicht für diese Art Party. Aber glauben Sie, daß auch nur einer hier sie genießt? Sie bemühen sich nur, noch
gedanken- und zielloser zu sein als sonst, unbeschwert und unbedeutend… Wissen Sie, ich glaube, nur wer sich
ungeheuer bedeutend fühlt, kann sich wirklich unbeschwert fühlen.«
»Ich kann das nicht beurteilen.«
»Es ist nur ein Gedanke, der mir hin und wieder zu schaffen macht… Ich habe es bei meinem ersten Ball
gedacht… Ich glaube immer noch, daß Parties Feiern sein sollten. Und Feiern dürfte es nur für die geben, die
etwas zu feiern haben.«
»Ich habe nie darüber nachgedacht.«
Sie konnte ihre Worte nicht seiner strengen Förmlichkeit anpassen; sie konnte an diese Förmlichkeit nicht
recht glauben. In seinem Büro waren sie voreinander immer ganz ungehemmt gewesen, aber jetzt war es, als
stecke er in einer Zwangsjacke.
»Hank, überlegen Sie doch mal. Wenn Sie keinen dieser Leute kennten, wäre das nicht ein schönes Bild? Das
Licht, die Kleider, die Phantasie, die nötig war, um das alles zu ermöglichen…« Sie ließ ihre Blicke schweifen.
Sie bemerkte nicht, daß seine Blicke ihren nicht folgten. Er beobachtete die Schatten auf ihrer nackten Schulter,
die weichen blauen Schatten, die das durch ihr Haar fallende Licht bildete. »Warum haben wir das alles den
Idioten überlassen? Es hätte unser Fest sein sollen.«
»Wie?«
»Ich weiß es nicht… Ich habe immer erwartet, Parties würden anregend und köstlich sein wie ein edler
Drink.« Sie lachte, aber es lag eine leise Trauer in diesem Lachen. »Aber ich trinke ja auch gar nicht. Das
Trinken ist auch so ein Symbol, das seine ursprüngliche Bedeutung schon lange verloren hat.« Er schwieg.
»Vielleicht haben wir etwas versäumt«, fügte sie hinzu.
»Ich bin mir dessen nicht bewußt.«
In einem Gefühl plötzlicher trostloser Leere war sie froh, daß er ihre Worte nicht verstanden oder beantwortet
hatte, denn sie hatte das unbestimmte Gefühl, ihm zuviel enthüllt zu haben. Sie zuckte die Schultern. »Es ist eine
alte Illusion von mir«, sagte sie gleichgültig. »Eine Stimmung, wie sie mich alle paar Jahre einmal überfällt.
Zeigen Sie mir den letzten Stahlpreisindex, und schon habe ich das alles vergessen.«
Sie wußte nicht, daß seine Augen ihr folgten, als sie von ihm wegging.
Ohne jemand anzusehen, bewegte sie sich langsam durch den Salon. Sie bemerkte eine kleine Gruppe von
Gästen, die sich um den leeren Kamin drängte; es war nicht kalt im Raum, aber sie hockten dort, als ob sie der
Gedanke an ein gar nicht vorhandenes Feuer wohlig wärmte.
»Ich weiß nicht, warum, aber ich fürchte mich immer mehr vor dem Dunkel. Nein, nicht jetzt, nur wenn ich
allein bin. Die Nacht ängstigt mich. Die Nacht an sich.«
Die das sagte, war eine alte Jungfer mit einer traurigen, nachdenklichen Miene. Die drei Frauen und die
beiden Männer der Gruppe waren elegant gekleidet, die Haut ihrer Gesichter war weich und gepflegt. Aber ihr
Verhalten hatte etwas beklommen Vorsichtiges, was sie leiser als sonst sprechen ließ und ihre Altersunterschiede
verwischte. Sie wirkten alle gleich grau und verbraucht. Überall begegnete man Gruppen von ehrbaren Leuten,
die so aussahen. Dagny blieb stehen und hörte zu.
»Warum«, fragte jemand aus der Gruppe, »warum haben Sie Angst vor der Nacht?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete die Jungfer. »Ich fürchte mich nicht vor Dieben oder Einbrechern oder
ähnlichem, aber ich liege die ganze Nacht lang wach. Ich schlafe erst ein, wenn ich sehe, daß der Himmel hell zu
werden beginnt. Es ist sehr komisch. Jeden Abend, wenn es dunkel wird, habe ich das Gefühl, daß es diesmal
endgültig ist, daß es nie wieder hell werden wird.«
»Meine Cousine, die an der Küste von Maine lebt, hat mir das gleiche geschrieben«, sagte eine der beiden
anderen Frauen.
»In der letzten Nacht«, sagte die Jungfer, »konnte ich der Schießerei wegen nicht schlafen. Die ganze Nacht
hindurch schossen sie draußen auf dem Meer. Man sah nichts, man hörte nur in langen Abständen die Schüsse
irgendwo im Nebel über dem Atlantik.«
»Ich habe heute morgen davon in der Zeitung gelesen. Der Küstenschutz hatte eine Übung.«
»Nein, nein«, sagte die Jungfer gleichgültig. »Jeder an der Küste weiß, was es war. Es war Ragnar
Danneskjöld. Der Küstenschutz versuchte ihn zu fangen.«
»Ragnar Danneskjöld in der Delaware-Bucht?«
»O ja, sie sagen, es war nicht das erste Mal.«
»Haben sie ihn gefangen?«
»Nein.«
»Niemand kann ihn fangen«, sagte einer der Männer.
»Der Volksstaat Norwegen hat eine Million Dollar auf seinen Kopf ausgesetzt.«
»Das ist eine gewaltige Summe für den Kopf eines Seeräubers.«
»Aber wie kann es Sicherheit, Ordnung oder Planung auf der Welt geben, wenn ein Seeräuber in allen sieben
Meeren frei herumfährt?«
»Wissen Sie, was er letzte Nacht gekapert hat?« sagte die Jungfer. »Das große Schiff mit den
Lebensmittelspenden, die wir dem Volksstaat Frankreich schicken wollten.«
»Was macht er mit den Sachen, die er raubt?«
»Das weiß niemand.«
»Ich habe einmal einen Matrosen von einem Schiff getroffen, das er angegriffen hatte, und dieser Mann hatte
ihn mit eigenen Augen gesehen. Er sagte, Ragnar Danneskjöld habe das lauterste goldene Haar und das
unheimlichste Gesicht auf Erden, ein Gesicht ohne jedes Gefühl. Wenn jemals ein Mensch ohne Herz geboren
wurde, dann ist er es, sagte der Matrose.«
»Ein Neffe von mir sah Ragnar Danneskjölds Schiff eines Nachts vor der Küste von Schottland. Er schrieb
mir, er habe seinen Augen nicht getraut. Das Schiff war besser als alle in der gesamten Flotte des Volksstaats
England.«
»Er soll sich in einem der norwegischen Fjorde verstecken, wo weder Gott noch ein Mensch ihn finden kann.
Im Mittelalter versteckten sich dort die Wikinger.«
»Auch der Volksstaat Portugal hat eine Belohnung auf seinen Kopf ausgesetzt und ebenso der Volksstaat
Türkei.«
»Es heißt, er sei ein nationaler Skandal in Norwegen. Er stammt aus einer der besten norwegischen Familien.
Die Familie hat zwar schon vor Generationen ihr ganzes Vermögen verloren, aber sie trägt einen der
vornehmsten Namen. Die Ruinen ihrer Burg stehen noch. Sein Vater ist Bischof. Er hat ihn enterbt und
exkommuniziert. Aber das ist ohne jede Wirkung auf ihn geblieben.«
»Wissen Sie, daß Ragnar Danneskjöld in unserem Lande studiert hat? Wirklich, auf der Patrick-Henry-
Universität.«
»Das kann doch wohl nicht sein.«
»O doch. Sie können es nachprüfen.«
»Was mir Sorge macht… Wissen Sie, es gefällt mir gar nicht, daß er jetzt sogar in unseren Gewässern
auftaucht. Ich dachte immer, so etwas könnte nur in abgelegenen Regionen passieren. Nur in Europa. Aber daß
ein so gefährlicher Geächteter in unserer Zeit die Delaware-Bucht unsicher machen kann! «
»Er ist auch vor Nantucket gesehen worden und in Bar Harbour. Die Zeitungen sind aufgefordert worden,
nichts darüber zu schreiben.«
»Warum?«
»Die Leute sollen nicht erfahren, daß die Marine ihm gegenüber machtlos ist.«
»Mir gefällt das nicht. Es ist ein komisches Gefühl. Es kommt einem wie finsterstes Mittelalter vor.«
Dagny blickte auf. Sie sah Francisco in der Nähe stehen. Er musterte sie spöttisch und mit einer Art
gespannter Neugier.
»Wir leben in einer seltsamen Welt«, sagte die Jungfer leise.
»Ich habe einen Artikel gelesen«, sagte eine der beiden anderen Frauen tonlos, »in dem stand, daß Zeiten der
Not gut für uns sind. Es sei gut, daß die Menschen ärmer würden. Entbehrungen auf sich zu nehmen, sei eine
moralische Tugend.«
»Das glaube ich auch«, sagte die dritte, ohne Überzeugung.
»Wir dürfen uns keine Sorgen machen. Ich habe eine Rede gehört, in der es hieß, es sei sinnlos, sich Sorgen
zu machen oder einen Sündenbock zu suchen. Niemand ist verantwortlich für das, was er tut. Die Umstände
haben ihn so gemacht. Wir können nichts dagegen tun. Wir müssen lernen, es zu ertragen.«
»Was nützt es alles! Was ist des Menschen Schicksal? Ist es nicht immer sein Schicksal gewesen zu hoffen,
aber nie, die Erfüllung seiner Hoffnung zu erleben? Weise ist, wer gar nicht zu hoffen versucht.«
»Das ist die richtige Einstellung.«
»Ich weiß nicht… Ich weiß überhaupt nicht mehr, was richtig ist… wie können wir es je wissen?«
»Wer ist John Galt?«
Dagny drehte sich brüsk um und ging weiter. Eine der Frauen folgte ihr.
»Ich weiß es«, sagte die Frau geheimnisvoll flüsternd wie ein Mitverschworener.
»Was wissen Sie?«
»Ich weiß, wer John Galt ist.«
»Wer?« fragte Dagny gespannt und blieb stehen.
»Ich kenne einen Mann, der John Galt persönlich kennt. Dieser Mann ist ein alter Freund einer Großtante von
mir. Er war dort und hat es miterlebt. Kennen Sie die Atlantissage, Miss Taggart?«
»Was?«
»Atlantis.«
»So ungefähr.«
»Die Insel der Seligen, so nannten sie die Griechen vor Tausenden von Jahren. Sie sagten, Atlantis sei ein Ort,
wo die Geister der Helden in einem der übrigen Welt unbekannten Glück lebten. Ein Ort, zu dem nur die Geister
der Helden Zugang hatten, und sie gelangten dorthin, ohne zu sterben, denn sie trugen das Geheimnis des Lebens
in sich. Schon damals war Atlantis der Menschheit verloren, aber die Griechen wußten, daß es existiert hatte. Sie
versuchten es zu finden. Einige von ihnen sagten, es sei unterirdisch, liege verborgen im Herzen der Erde, aber
die meisten sagten, es sei eine Insel. Eine strahlende Insel im Atlantischen Ozean. Vielleicht dachten sie dabei an
Amerika. Sie fanden es aber nie. Jahrhunderte später sagte man, es sei nur eine Sage. Die Menschen glaubten
nicht daran, aber sie hörten nie auf, danach zu suchen, denn sie wußten, daß sie es finden mußten.«
»Und was hat John Galt damit zu tun?«
»Er hat es gefunden.«
Dagny, die sich für die Geschichte kaum noch interessierte, fragte: »Wer war er?«
»John Galt war ein Millionär, ein unvorstellbar reicher Mann. Als er eines Nachts im heftigsten Sturm, der je
über die Welt gebraust war, in seiner Yacht mitten auf dem Atlantik segelte, fand er es. Er sah es in der Tiefe, in
die es versunken war, damit die Menschen es nicht mehr erreichen könnten. Er sah die Türme von Atlantis auf
dem Boden des Ozeans schimmern. Es war ein solcher Anblick, daß der, dem er einmal zuteil geworden war,
nichts anderes mehr auf Erden sehen mochte. John Galt versenkte sein Schiff und ging mit der ganzen
Schiffsbesatzung unter. Sie begleiteten ihn alle freiwillig. Mein Freund war der einzige Überlebende.«
»Wie interessant!«
»Mein Freund sah es mit eigenen Augen«, sagte die Frau gekränkt.
»Es ist schon vor vielen Jahren geschehen, aber John Galts Familie hat die Geschichte vertuscht.«
»Und was ist aus seinem Vermögen geworden? Ich erinnere mich nicht, je etwas von einem Galt-Vermögen
gehört zu haben.«
»Es ist mit ihm untergegangen. Sie brauchen es nicht zu glauben«, fügte sie verärgert hinzu.
»Miss Taggart glaubt es nicht«, sagte Francisco d’Anconia, »aber ich glaube es.«
Sie drehten sich um. Er war ihnen nachgegangen und blickte sie herausfordernd ernst an.
»Haben Sie überhaupt je an etwas geglaubt, Señor d’Anconia?« fragte die Frau bissig.
»Nein, Verehrteste.«
Er lachte, als sie sich abrupt umdrehte und ging. Dagny fragte kühl: »Was ist so witzig daran?«
»Daß diese Witzfigur nicht weiß, daß sie dir die Wahrheit gesagt hat.«
»Erwartest du von mir, daß ich das glaube?«
»Nein.«
»Was findest du dann so amüsant?«
»Ach, sehr viel hier. Du nicht?«
»Nein.«
»Das gehört auch zu dem, was ich lustig finde.«
»Francisco, willst du mich bitte in Ruhe lassen?«
»Aber das habe ich doch getan. Hast du vergessen, daß du es warst, die mich heute abend angesprochen hat?«
»Warum beobachtest du mich die ganze Zeit?«
»Weil etwas meine Neugier reizt.«
»Was?«
»Deine Reaktion auf das, was du nicht amüsant findest.«
»Warum interessieren dich meine Reaktionen?«
»Das ist meine Art, die Party zu genießen, die du übrigens wohl gar nicht genießt? Außerdem bist du die
einzige Frau hier, die einen Blick wert ist.«
Sie blieb trotzig stehen, weil die Art, wie er sie anblickte, sie eigentlich gezwungen hätte, beleidigt das Feld
zu räumen. Sie stand wie immer kerzengerade mit hocherhobenem Kopf. Es war die unweibliche Haltung einer
Top-Managerin. Aber ihre nackte Schulter verriet die Zartheit ihres Körpers unter dem schwarzen Kleid. Die
stolze Kraft forderte jede überlegene Kraft heraus, und die Zartheit deutete darauf hin, daß ihr Widerstand
gebrochen werden konnte. Sie war sich dessen nicht bewußt. Sie war nie jemand begegnet, der das erkannt hatte.
Seine Augen wanderten über die Konturen ihres Körpers: »Dagny, was für eine grandiose Vergeudung!«
Sie mußte sich abwenden und flüchten. Sie fühlte zum ersten Mal seit Jahren, wie sie rot wurde: Sie wurde
rot, weil sie plötzlich wußte, daß die Bemerkung das aussprach, was sie den ganzen Abend gefühlt hatte.
Sie eilte davon und versuchte, nicht zu denken.
Plötzlich erschallte laute Musik aus dem Rundfunk, und sie blieb stehen. Sie bemerkte Mort Liddy, der den
Apparat eingeschaltet hatte, einer Gruppe von Freunden zuwinkte und laut rief: »Das ist es! Das ist es! Ihr müßt
es hören!«
Die machtvollen Klänge waren die Anfangsakkorde aus Halleys Viertem Konzert. Die Töne stiegen auf in
gequältem Triumph, der den Schmerz leugnete, und wurden zu einer Hymne an eine ferne Vision. Dann
veränderte sich die Melodie jäh. Es war, als ob ein paar Hände voll Dreck und Steine auf sie geschleudert
würden, und was folgte, war das gurgelnde und scheppernde Aufschlaggeräusch der Treffer. Man hatte Halleys
Konzert auf Pop getrimmt. Seine Melodie war zerfetzt worden, und die Löcher waren mit gicksenden Tönen
gestopft, die große Verkündigung der Freude war zum Kichern in einer Bar geworden, doch das, was von
Halleys Melodie noch geblieben war, gab die Form: Die Melodie war gleichsam das Rückgrat.
»Ganz hübsch, nicht wahr?« sagte Mort Liddy stolz und nervös lächelnd zu seinen Freunden. »Ganz hübsch,
wie? Die beste Filmmusik des Jahres. Hat mir einen Preis eingebracht. Hat mir einen langfristigen Vertrag
eingebracht. Ja, das ist meine Musik zu dem Film Der Himmel im Hinterhof.«
Dagny starrte in den Raum, als ob ein Sinn den anderen ersetzen könnte, als ob das Sehen das Hören
auslöschen könnte. Ihr Kopf bewegte sich langsam im Kreise, als versuchte sie, irgendwo einen Halt zu finden.
Sie sah Francisco mit gekreuzten Armen an einer Säule lehnen; er blickte sie fest an; er lachte.
Zittere nicht so, dachte sie, geh weg. Sie fühlte einen Ärger in sich aufsteigen, dessen sie nicht mehr Herr
werden konnte. Sie dachte: Sag nichts. Bleib ruhig. Und sieh zu, daß du hier rauskommst.
Sie bewegte sich langsam und unauffällig in Richtung Tür. Da hörte sie, was Lillian gerade sagte, und blieb
stehen. Lillian hatte das schon mehrmals an diesem Abend gesagt, als Antwort auf die gleiche Frage, aber es war
das erste Mal, daß Dagny es hörte.
»Das?« sagte Lillian und streckte den Arm mit dem Metallarmband aus, damit zwei elegant gekleidete Frauen
es genau betrachten konnten. »O nein, das ist nicht aus einem Eisenwarengeschäft. Es ist ein besonderes
Geschenk von meinem Mann. Ja, natürlich, es ist häßlich. Aber, verstehen Sie nicht? Es soll unbezahlbar sein.
Selbstverständlich würde ich es jederzeit gegen ein gewöhnliches Brillantarmband eintauschen, aber anscheinend
will keiner mit mir tauschen, obwohl es sehr wertvoll ist. Warum? Es ist das erste Stück, das aus Rearden Metal
angefertigt wurde.«
Dagny sah nicht den Raum. Sie hörte nicht die Musik. Sie spürte den Druck einer unheimlichen Stille in ihren
Ohren. Sie wußte nicht, was vorausgegangen war, noch was folgen würde. Sie wußte nichts von denen, um die
es dabei ging, weder von sich selbst noch von Lillian, noch von Rearden, noch von dem, was sie tat. Es war ein
Augenblick, der aus jedem Zusammenhang gelöst war. Sie war beherrscht von dem, was Lillian gesagt hatte. Sie
blickte auf das Armband aus grünblauem Metall.
Sie fühlte, wie etwas von ihrem Handgelenk abgerissen wurde, und sie hörte sich in der großen Stille sehr
ruhig und kalt, bar jeden Gefühls sagen: »Wenn Sie nicht so feige sind, wie ich es vermute, dann werden Sie es
tauschen.«
In ihrer ausgestreckten Hand hielt sie Lillian ihr Brillantarmband hin.
»Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst, Miss Taggart?« sagte eine Frauenstimme.
Es war nicht Lillians Stimme. Lillians Augen blickten sie fest an. Lillian wußte, daß es ihr ernst war.
»Geben Sie mir das Armband«, sagte Dagny und hob ihre Hand mit dem funkelnden Brillantarmband darin
ein wenig höher.
»Das ist furchtbar«, rief eine Frau. Es war seltsam, daß der Ruf so schrill klang. Da erst merkte Dagny, daß
mehrere Menschen um sie herumstanden und daß alle schwiegen. Sie hörte plötzlich wieder, hörte sogar die
Musik; es war Halleys verstümmeltes Konzert, das irgendwo in der Ferne erklang.
Sie sah Reardens Gesicht. Es wirkte ebenso verstümmelt wie die Musik. Sie wußte nicht, wodurch. Er
beobachtete die Szene.
Lillian schürzte die Oberlippe; es glich einem Lächeln. Sie öffnete das Metallband, ließ es in Dagnys Hand
fallen und nahm das Brillantband.
»Ich danke Ihnen, Miss Taggart«, sagte sie.
Dagnys Finger schlossen sich um das Metall. Sie fühlte es. Sie fühlte nichts sonst.
Lillian drehte sich um, denn Rearden kam auf sie zu. Er nahm ihr das Brillantband aus der Hand und legte es
um ihr Handgelenk, führte ihre Hand an seine Lippen und küßte sie.
Er sah Dagny nicht an.
Lillian lachte heiter, ungezwungen, anmu tig und stellte damit die festliche Stimmung im Raum wieder her.
»Sie können es wieder haben, Miss Taggart, falls Sie sich eines anderen besinnen sollten«, sagte sie.
Dagny hatte sich abgewandt. Sie fühlte sich ruhig und frei. Der Druck war von ihr gewichen, sie hatte nicht
mehr das Bedürfnis, zu gehen.
Sie befestigte das Metallband an ihrem Arm. Es tat ihr wohl, das Gewicht zu spüren. Unerklärlicherweise
überkam sie eine Anwandlung weiblicher Eitelkeit, wie sie sie nie zuvor an sich erlebt hatte: der Wunsch, daß
man sie dieses besondere Schmuckstück tragen sah.
Aus weiter Ferne hörte sie das Schnattern entrüsteter Stimmen: »Etwas so Beleidigendes habe ich noch nicht
gesehen… Es war unerhört… Ich bin froh, daß Lillian sie beim Wort genommen hat… Tut ihr ganz recht, wenn
sie ein paar tausend Dollar wegwerfen will…«
Den Rest des Abends blieb Rearden an der Seite seiner Frau. Er beteiligte sich an ihren Gesprächen, lachte
mit ihren Freunden, war plötzlich der ergebene, aufmerksame, bewundernde Ehemann.
Gerade trug er ein Tablett mit Getränken in den Händen, nach denen einige von Lillians Freunden verlangt
hatten – eine Formlosigkeit, die gar nicht zu ihm paßte und die man nie bei ihm gesehen hatte. Dagny trat auf ihn
zu. Sie sah ihn an, als wären sie allein in seinem Büro. Ganz Top-Managerin, stand sie mit erhobenem Kopf da.
Er sah zu ihr hinunter. Sein Blick glitt von den Fingerspitzen ihrer einen Hand zu ihrem Gesicht. Er sah sie bis
auf das Metallarmband nackt.
»Es tut mir leid, Hank«, sagte sie, »aber ich mußte es tun.«
Seine Augen blieben ausdruckslos. Dennoch glaubte sie plötzlich zu wissen, was er fühlte: Er hätte sie am
liebsten ins Gesicht geschlagen.
»Das mußte nicht sein«, antwortete er kühl und ging weiter.
Es war schon sehr spät, als Rearden in das Schlafzimmer seiner Frau kam. Sie war noch wach. Auf ihrem
Nachttisch brannte eine Lampe.
Sie lag im Bett, gestützt von Kissen aus blaßgrünem Leinen. Ihr Nachthemd war aus blaßgrünem Satin. Sie
trug es mit der unbewegten Perfektion einer Schaufensterpuppe. Die glänzenden Falten sahen aus, als ob sich
unter ihnen noch Seidenpapier bauschte. Das apfelblütenweiße Licht fiel auf einen Tisch, auf dem ein Glas
Fruchtsaft stand und ein Buch und Toilettengegenstände aus glitzerndem Silber lagen, die an chirurgische
Instrumente erinnerten. Ihre Arme hatten die Tönung von Porzellan. Ihr Mund war blaßrosa geschminkt. Sie
zeigte keinerlei Erschöpfung nach der Party, aber auch kein Zeichen eines Lebens, das sich erschöpfen konnte.
Das Ganze war wie das von einem Dekorateur aufgebaute Bild einer für den Schlaf angezogenen Dame, die
nicht gestört werden darf. Er hatte immer noch seinen Abendanzug an. Der Knoten seiner Schleife hatte sich
gelöst, und eine Haarsträhne hing ihm ins Gesicht. Sie blickte ihn ohne Erstaunen an, als wüßte sie, was er in der
letzten Stunde in seinem Zimmer durchgemacht hatte.
Er warf ihr einen stummen Blick zu. Seit langer Zeit hatte er ihr Schlafzimmer nicht betreten, und er wäre
auch jetzt lieber nicht hereingekommen.
»Ist es nicht üblich, daß man etwas sagt, Henry?«
»Bitte, wenn du es wünschst.«
»Einer deiner hervorragenden Fachleute im Werk sollte sich einmal unsere Heizung ansehen. Weißt du, daß
sie während der Gesellschaft ausgegangen ist und Simmons sie nur mit größter Mühe wieder in Gang gebracht
hat?… Mrs. Weston sagt, unser bestes Stück sei unsere Köchin – die Hors d’oeuvres fand sie köstlich… Balph
Eubank hat etwas sehr Komisches über dich bemerkt. Er sagte, du seist ein Kreuzfahrer mit dem Rauch eines
Fabrikschornsteins als Federbusch. Ich bin froh, daß du Francisco d’Anconia nicht magst, ich kann ihn nicht
ausstehen.«
Er gab sich nicht die Mühe, zu erklären, warum er gekommen war, noch seine Niederlage zu bemänteln oder
sie dadurch zuzugeben, daß er wieder ging. Es war ihm plötzlich gleichgültig, was sie dachte oder fühlte. Er ging
ans Fenster und blickte hinaus.
Warum hatte sie ihn geheiratet? dachte er. An ihrem Hochzeitstag vor acht Jahren hatte er sich diese Frage
noch nicht gestellt, aber in der Qual seiner Einsamkeit hatte er es sich seitdem oft gefragt. Er hatte jedoch keine
Antwort darauf gefunden.
Nicht der gesellschaftlichen Stellung oder des Geldes wegen, dachte er. Sie kam aus einer alten Familie, die
beides hatte. Der Name ihrer Familie gehörte zwar nicht zu den allervornehmsten, und das Vermögen war
bescheiden, aber beides reichte doch aus, daß Lillian in den ersten Kreisen der New Yorker Gesellschaft
verkehrte, wo er ihr zum ersten Mal begegnet war. Vor neun Jahren war er im Glanz des Erfolges von Rearden
Steel, eines Erfolges, den die Sachverständigen der Stadt für unmöglich gehalten hatten, wie ein Comet in New
York aufgetaucht. Gerade weil ihm alles gleichgültig war, fiel er auf. Er wußte nicht, daß man von ihm
erwartete, er würde sich seinen Weg in die Gesellschaft erkaufen, und daß man sich schon im voraus daran
geweidet hatte, ihn abzulehnen. Er hatte keine Zeit, die Enttäuschung der Leute zu bemerken.
Widerstrebend nahm er ein paar Einladungen von Leuten an, die sich etwas von ihm erhofften. Er wußte
nicht, aber sie wußten, daß seine Höflichkeit Herablassung denen gegenüber war, die ihn zu ducken gehofft
hatten, die gesagt hatten, die Zeit des Erfolges sei vorüber.
Das Strenge an Lillian hatte ihn angezogen – der Konflikt zwischen dieser Strenge und ihrem Verhalten. Er
hatte nie jemand geliebt und nie erwartet, geliebt zu werden. Ihn fesselte das Benehmen einer Frau, die sichtlich
hinter ihm her war, aber mit ebenso sichtlichem Widerstreben, als geschähe es gegen ihren Willen, als kämpfte
sie gegen ein Verlangen an, von dem sie nichts wissen wollte. Sie hatte ihre Bekanntschaft eingefädelt. Aber
dann trat sie ihm kalt gegenüber, als ob ihr nichts daran läge, daß er es erführe. Sie sprach wenig. Sie hatte etwas
Geheimnisvolles, das ihm zu sagen schien, er werde ihr nie nahekommen können, und etwas Spöttisches, das
sich über ihr eigenes genauso wie über sein Verlangen lustig machte.
Er hatte nicht viele Frauen gekannt. Er war auf sein Ziel zugegangen und hatte alles in der Welt und in seinem
Inneren beiseite gefegt, was in keiner Beziehung dazu stand. Seine Hingabe an sein Werk war wie eines der
Feuer, mit denen er umging, ein Feuer, das jedes niedere Element, jede Unreinheit aus dem weißen Strom des
Metalls herausbrannte. Für Halbheiten hatte er nichts übrig. Aber manchmal überkam ihn plötzlich eine heftige
Begierde, die sich nicht verdrängen ließ. Er hatte ihr nachgegeben, hatte im Laufe der Jahre mit Frauen, die er zu
lieben glaubte, flüchtige Erlebnisse gehabt. Hinterher hatte er nur eine bedrückende Leere gefühlt – denn er hatte
einen Akt des Triumphes gesucht, wenn er auch nicht wußte, welcher Art, aber das, was er gefunden hatte, war
nur die Einwilligung einer Frau in ein paar Momente Lust gewesen. Und ihm war die Sinnlosigkeit solcher
Eroberungen nur zu klar. Er hatte hinterher nicht das Gefühl, etwas errungen zu haben, sondern kam sich
erniedrigt vor. Er haßte seine Begierde immer mehr. Er bekämpfte sie. Er begann schließlich zu glauben,
Begierde sei etwas rein Physisches, ein seelenloser, körperlicher Trieb, und er lehnte sich gegen den Gedanken
auf, daß sein Fleisch frei wählen konnte und diese Wahl über seinen Willen triumphierte. Er hatte sein Leben in
Schächten und Stahlwerken verbracht, hatte durch die Kraft seines Intellekts die Materie nach seinem Wunsch
geformt – er fand es daher unerträglich, daß er unfähig sein sollte, sein eigenes Fleisch zu beherrschen. Er
kämpfte dagegen. Er hatte jeden Kampf gegen die leblose Natur gewonnen. Aber diesen Kampf hatte er
verloren.
Gerade weil sie so schwer zu erobern gewesen war, hatte er Lillian begehrt. Sie schien eine Frau zu sein, die
ein Piedestal erwartete und verdiente; dies erweckte in ihm den Wunsch, sie in sein Bett herunterzuziehen. Sie
herunterzuziehen, dachte er. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit dunkler Lust, dem Gefühl eines schmutzigen
Sieges, der trotzdem wert war, ihn zu erringen.
Er konnte nicht verstehen warum – er hielt es für einen obszönen Widerstreit, das Zeichen irgendeiner
Verderbtheit –, warum er zugleich einen tiefen Stolz bei dem Gedanken empfand, eine Frau in die Stellung
seiner Ehefrau zu erheben. Es war ein feierliches und erhabenes Gefühl. Es war fast, als wollte er die Frau
dadurch ehren, daß er sie besaß. Lillian schien dem Bild zu entsprechen, das er, ohne es zu wissen, in sich trug;
er sah die Eleganz, den Stolz, die Reinheit; er wußte nicht, daß alles übrige eine Projektion war.
Er erinnerte sich an den Tag, als Lillian aus New York in sein Büro kam. Sie hatte sich plötzlich dazu
entschlossen und bat ihn, sie durch sein Stahlwerk zu führen. Er hörte, wie in ihrer sanften, weichen, atemlosen
Stimme der Ton der Bewunderung immer stärker wurde, als sie ihn nach seiner Arbeit fragte und ihre Blicke
umherschweifen ließ. Er sah, wie sich ihre elegante Figur vor den Flammen des Hochofens abhob und wie sie
auf ihren hohen Absätzen mit leichten, raschen Schritten durch die Schlackenhaufen balancierte, ohne von seiner
Seite zu weichen.
Als sie den glühenden Stahl beobachtete, der sich aus einem Hochofen ergoß, schien der Blick in ihren Augen
das zu zeigen, was er selbst empfand. Als sie dann zu ihm aufsah, sprach aus ihrem Blick eine ehrfürchtige
Bewunderung, die sie stumm und hilflos machte. An jenem Abend hielt er um ihre Hand an.
Erst nach einiger Zeit gestand er sich ein, daß seine Ehe eine Qual war. Er erinnerte sich noch an die Nacht
dieses Eingeständnisses. Er stand an Lillians Bett und sah sie an. Die Venen an seinen Handgelenken traten
hervor: Er sagte sich, daß er die Qual verdiente und sie ertragen würde. Lillian sah ihn nicht an; sie richtete ihr
Haar. »Darf ich jetzt schlafen?« fragte sie.
Sie hatte sich nie verweigert, sie erfüllte ihm alle seine Wünsche und wann immer er wollte. Sie erfüllte sie
als eheliche Pflicht. Von Zeit zu Zeit mußte sie sich eben als Objekt der Begierde ihres Mannes gebrauchen
lassen. Sie verurteilte ihn nicht. Sie ließ keinen Zweifel daran, daß sie es als eine Gegebenheit hinnahm, daß
Männer niedere Triebe hatten, die den geheimen häßlichen Teil der Ehe bildeten. Sie war herablassend duldsam.
Sie lächelte in amüsiertem Ekel über seinen Rausch. »Es ist der unwürdigste Zeitvertreib, den ich kenne«, sagte
sie einmal zu ihm, »aber ich habe mich nie in die Illusion verloren, Männer würden über den Tieren stehen.«
Sein Verlangen nach ihr war in der ersten Woche ihrer Ehe erloschen; was übrig blieb, war nur ein Bedürfnis,
gegen das er nichts vermochte. Er hatte nie ein Bordell betreten; manchmal dachte er, daß er dort nicht größeren
Abscheu über sich selbst empfinden würde, als wenn es ihn drängte, das Schlafzimmer seiner Frau zu betreten.
Oft las sie gerade in einem Buch. Sie legte es beiseite mit einem weißen Band als Lesezeichen. Wenn er
erschöpft dalag, mit geschlossenen Augen und noch keuchend, setzte sie ihre Lektüre fort.
Er sagte sich, daß er die Qual verdiente, denn er hatte sie nie wieder anrühren wollen, es aber nicht
fertiggebracht, diesen Entschluß durchzuhalten. Er verachtete sich deswegen. Er verachtete das Bedürfnis, das
ihm nicht die geringste Freude bereitete, in dem er keinerlei Sinn sah, das nur noch das Bedürfnis nach einem
Frauenkörper war, einem namenlosen Körper, der einer Frau gehörte, die er vergessen mußte, während er sie
umarmte. Er kam zu der Überzeugung, daß das Bedürfnis verworfen war. Er verurteilte Lillian nicht. Er empfand
eine traurige, gleichgültige Achtung vor ihr. Der Haß auf seine Begierde ließ ihn glauben, Frauen seien rein und
eine reine Frau kenne keine körperliche Lust.
In all den Jahren der stummen Qual seiner Ehe wäre ihm ein Gedanke nie geko mmen: der Gedanke an
Untreue. Er hatte ihr sein Wort gegeben, und er wollte es halten. Es war nicht die Treue gegen Lillian; es war
nicht Lillian, die er vor Entehrung schützen wollte – sondern seine Frau.
Daran dachte er jetzt, als er am Fenster stand. Er hatte nicht in ihr Zimmer kommen wollen. Er hatte dagegen
angekämpft. Er hatte noch stärker gegen den besonderen Grund gekämpft, warum er heute abend nicht zu
widerstehen vermochte. Als er sie dann sah, hatte er plötzlich gewußt, daß er sie nicht anrühren würde. Der
Grund, der ihn in dieser Nacht hierher getrieben hatte, war der Grund, der es ihm unmöglich machte.
Er fühlte sich jetzt frei von jeder Begierde, empfand erleichtert, daß ihm alles gleichgültig war, ihr Körper,
dieses Zimmer, ja sogar seine Anwesenheit hier. Er hatte sich von ihr abgewandt, um ihre lackierte Keuschheit
nicht zu sehen. Er dachte, er müßte Achtung empfinden. Was er empfand, war Ekel.
»…aber Dr. Pritchett sagte, unsere Kultur liege im Sterben, weil unsere Universitäten von den Almo sen der
Fleischkonservenfabrikanten, der Stahlkocher und der Hersteller von Cornflakes abhängig sind.« Warum hatte
sie ihn geheiratet? dachte er. Diese helle, schrille Stimme sprach nicht in den Tag hinein. Sie wußte, warum er
gekommen war. Sie wußte, was sie ihm antat, als sie ihr silbernes Nagelset ergriff und sich unter fröhlichem
Geplauder die Fingernägel polierte. Sie sprach über die Party, sie sprach über alle, die da waren, aber sie
erwähnte weder Bertram Scudder noch – Dagny Taggart.
Was hatte sie in der Ehe mit ihm gesucht? Er spürte etwas Kaltes, Zielbewußtes in ihr – fand aber nichts, was
er hätte verurteilen können. Sie hatte nie versucht, ihn auszunutzen. Sie stellte keine Ansprüche an ihn. Sie fand
keine Befriedigung im Nimbus der Industriemacht – die verschmähte sie, ihr Freundeskreis war ihr lieber. Sie
war nicht auf Geld versessen. Sie gab wenig aus, sie war gleichgültig gegen jede Extravaganz, die er ihr hätte
bieten können. Er hatte kein Recht, sie anzuklagen, dachte er, oder je das Band zwischen ihnen
durchzuschneiden. Sie war eine anständige Ehefrau, und sie begehrte nichts Materielles von ihm.
Er drehte sich um und blickte sie müde an.
»Wenn du wieder einmal eine Party gibst«, sagte er, »dann beschränke dich auf deinen eigenen Kreis. Lade
nicht Leute ein, von denen du glaubst, sie seien meine Freunde. Ich lege keinen Wert darauf, ihnen
gesellschaftlich zu begegnen.«
Sie lachte erheitert. »Ich kann dich verstehen, Liebling.«
Ohne noch ein Wort zu sagen, ging er hinaus.
Was wollte sie von ihm? dachte er. Worauf war sie aus? In der Welt, die er kannte, gab es keine Antwort auf
diese Frage.

VII. Die Ausbeuter und die Ausgebeuteten

Die Schienen liefen durch die Felsen zu den Bohrtürmen hinauf, und die Bohrtürme ragten zum Himmel
empor. Dagny stand auf der Brücke und blickte zum Kamm des Berges hin, wo die Sonne auf ein Stück Metall
an der Spitze des höchsten Turms fiel. Es sah aus, als ob eine weiße Fackel über der Bergkette der Wyatt-
Ölfelder flammte.
Im Frühling, dachte sie, werden die von Cheyenne kommenden Schienen auf diese treffen. Sie sah den
grünblauen Schienen nach, die bei den Bohrtürmen begannen, den Berg herunterkamen, die Brücke überquerten
und an ihr vorüber weiterzogen. Sie wandte den Kopf, um sie in der klaren Luft zu verfolgen, wie sie sich in
großen Kurven an den Hängen der Berge entlangschlängelten, bis an das Ende der neuen Gleise in der Ferne, wo
sich ein Kran dicht am Himmel bewegte wie ein Arm, dessen Knochen und Nerven bloßgelegt sind.
Ein mit grünblauen Bolzen beladener Schlepper kam an ihr vorbei. Aus der Tiefe, wo Männer auf
Metallkabeln schaukelten und Löcher für die Verstärkung der Stützpfeiler der Brücke in die Felswand drillten,
klang das ständige Surren der Bohrer herauf. Weiter unten an den Gleisen sah sie Männer, deren von der
Anspannung ihrer Muskeln steife Arme die Griffe der elektrischen Schotterstampfer umklammerten.
»Muskeln, Miss Taggart«, sagte Ben Nealy, der Unternehmer, zu ihr, »Muskeln – das ist das einzige, was man
braucht, um irgend etwas auf der Welt zu bauen.«
Nirgends schien es einen Unternehmer zu geben, der McNamara gleichkam. Sie hatten den besten genommen,
den sie finden konnten. Von den Taggart-Ingenieuren konnte niemand mit der Überwachung der Arbeit betraut
werden, denn sie alle standen dem neue Metall voll Skepsis gegenüber. »Um offen zu sein, Miss Taggart«, hatte
ihr Chefingenieur gesagt, »da es etwas völlig Neues ist, das noch niemand erprobt hat, kann ich die
Verantwortung dafür nicht übernehmen.«
»Ich übernehme sie«, hatte sie geantwortet. Er war ein Mann in den Vierzigern, der immer noch das
windhundhafte Gebaren des ehemaligen Studenten hatte. Früher hatte Taggart Transcontinental einen
Chefingenieur gehabt, einen schweigsamen, grauhaarigen Selfmademan, um den jede andere
Eisenbahngesellschaft sie beneidet hatte. Er war vor fünf Jahren in den Ruhestand getreten.
Dagny sah über die Brücke in die Tiefe. Sie stand auf einem schmalen Stahlträger über einer Schlucht, die
sich zweihundert Meter tief in den Berg gefressen hatte. Ganz unten sah sie verschwommen ein ausgetrocknetes
Flußbett, sich türmende Felsblöcke und jahrhundertealte knorrige Bäume. Sie fragte sich, ob Felsblöcke,
Baumstämme und Muskeln je diese Schlucht würden schließen können. Sie dachte darüber nach, wieso ihr
plötzlich eingefallen war, daß vor Jahrtausenden nackte Höhlenbewohner auf dem Grund dieser Schlucht gelebt
hatten.
Sie blickte zu den Wyatt-Ölfeldern hinauf. Die Gleise verzweigten sich zwischen den Ölquellen, und sie sah
die kleinen Scheiben der Weichen wie Punkte im Schnee. Es waren Weichen, wie man sie zu Tausenden auf
allen Bahnstrecken sah, ohne auf sie zu achten, aber diese funkelten in der Sonne, und die Funken waren
grünlich-blau. Bei ihrem Anblick mußte sie an die vielen Stunden denken, in denen sie ruhig und geduldig auf
Mr. Mowen, den Vorstandsvorsitzenden von Amalgamated Switch and Signal, Connecticut, einzureden versucht
hatte. »Aber, Miss Taggart, meine liebe Miss Taggart, meine Gesellschaft hat Ihre Gesellschaft seit Ge nerationen
beliefert. Ihr Großvater war der erste Kunde meines Großvaters, und Sie dürfen darum überzeugt sein, daß wir
bestrebt sind, alles zu tun, was Sie verlangen, aber sagten Sie, Weichen aus Rearden Metal?«
»Ja.«
»Aber, Miss Taggart! Bedenken Sie doch, was es heißen würde, mit diesem Metall arbeiten zu müssen!
Wissen Sie nicht, daß das Zeug erst bei mehr als zweitausend Grad schmilzt?… Großartig? Nun vielleicht ist das
großartig für Motorenfabriken, aber ich denke dabei daran, daß wir eine völlig neue Anlage brauchen, daß es ein
ganz neuer Arbeitsvorgang ist, daß Männer dafür ausgebildet werden müssen, die ganze Fabrikplanung
durcheinandergerät, die Arbeitsvorschriften umgestoßen werden, niemand sich mehr zurechtfinden wird, und
Gott allein weiß, ob etwas dabei herauskommt oder nicht! – Woher wollen Sie das wissen, Miss Taggart? Wie
können Sie es wissen, da es noch nicht erprobt worden ist? – Ich kann nicht behaupten, daß das Metall gut ist,
und ebenso kann ich nicht sagen, daß es schlecht ist… Nein, ich kann nicht sagen, ob es die Erfindung eines
Genies ist, wie Sie meinen, oder nur wieder ein großer Schwindel, wie viele bedeutende Leute sagen, Miss
Taggart, sehr viele… Nein, ich kann überhaupt nichts dazu sagen. Wie kann ich mich überhaupt auf so etwas
einlassen?«
Sie hatte den Preis für ihren Auftrag verdoppelt. Rearden hatte zwei Fachleute geschickt, die Mowens
Personal ausbilden, unterweisen, ihnen jede Phase des Prozesses zeigen und erklären sollten, und hatte während
dieser Zeit Mowens Personal aus seiner Tasche entlohnt.
Sie blickte auf die Nägel in den Schienen. Sie erinnerten sie an die Nacht, in der sie erfuhr, daß Summit
Casting in Illinois, die einzige Firma, die bereit war, Nägel aus Rearden Metal herzustellen, Konkurs angemeldet
hatte, nachdem der Auftrag erst zur Hälfte ausgeführt war. Sie war an jenem Abend nach Chicago geflogen, hatte
drei Anwälte, einen Richter und einen höheren Regierungsbeamten aus dem Bett geholt, hatte zwei von ihnen
bestochen und den anderen gedroht, hatte schließlich eine Ausnahmegenehmigung erhalten, deren
Rechtsgültigkeit sehr fragwürdig war. Sie hatte erreicht, daß die Tore von Summit Casting aufgeschlossen
wurden, und hatte eine Gruppe von Arbeitern zusammengetrommelt, die, noch ehe es hinter den Fenstern hell
wurde, an den Schmelzöfen standen. Unter der Leitung eines Ingenieurs von Taggart und eines Fachmanns von
Rearden hatten sie weitergearbeitet, und der Wiederaufbau der Rio-Norte-Linie konnte planmäßig fortgesetzt
werden.
Sie horchte auf das Geräusch der Bohrer. Einmal hatte die Arbeit unterbrochen werden müssen, weil man die
für die Stützpfeiler der Brücke nötigen Bohrungen nicht fortsetzen konnte. »Ich konnte es nicht ändern«, hatte
Ben Nealy gekränkt gesagt. »Sie wissen ja, wie schnell sich Bohrköpfe abnutzen. Ich hatte welche bestellt, aber
Incorporated Tool hatte ein bißchen Probleme. Und die konnten auch nichts dafür. Associated Steel hinkt mit
den Stahllieferungen hinterher. Und ohne Stahl keine Bohrer. Wir können nur warten. Es hat keinen Sinn, daß
Sie sich aufregen, Miss Taggart. Ich tue mein Bestes.«
»Ich habe Sie für eine Arbeit engagiert und nicht dafür, Ihr Bestes zu tun, was immer das auch sein mag…«
»Seltsam, was Sie da sagen. Damit machen Sie sich nicht beliebt, Miss Taggart, damit machen Sie sich
garantiert nicht beliebt.«
»Vergessen Sie Incorporated Tool. Vergessen Sie den Stahl! Bestellen Sie Bohrköpfe aus Rearden Metal.«
»Nein, das tue ich nicht. Ich habe genug Ärger mit dem verdammten Zeug bei Ihren Schienen. Ich will mir
nicht meine eigenen Geräte damit verderben.«
»Ein Bohrkopf aus Rearden Metal hält dreimal so lange wie einer aus Stahl.«
»Mag sein.«
»Ich habe gesagt, Sie sollen sie bestellen.«
»Wer bezahlt sie?«
»Ich.«
»Wie soll man jemand finden, der sie herstellen kann?« Sie hatte Rearden angerufen. Er hatte eine schon seit
langem stillgelegte Werkzeugfabrik ausfindig gemacht. Eine Stunde später hatte er sie den Verwandten des
letzten Eigentümers abgekauft. Innerhalb eines Tages war die Firma wiedereröffnet worden. Eine Woche darauf
waren Bohrköpfe aus Rearden Metal für die Brücke in Colorado geliefert worden.
Sie blickte auf die Brücke. Sie stellte ein schlecht gelöstes Problem dar, aber sie mußte sich damit abfinden.
Die vierhundert Meter lange Stahlbrücke über die schwarze Schlucht war zur Zeit von Nat Taggarts Sohn erbaut
worden. Sie war schon lange nicht mehr sicher. Zuerst war sie mit Stützbalken aus Stahl, dann aus Eisen und
schließlich aus Holz geflickt worden; jetzt lohnte das Flicken kaum noch. Sie hatte an eine neue Brücke aus
Rearden Metal gedacht. Sie hatte ihren Chefingenieur gebeten, ihr eine Zeichnung und einen Kostenvoranschlag
vorzulegen. Der Entwurf, den er ihr brachte, war der einer Stahlbrücke, bei der die größere Stärke des neuen
Metalls kaum berücksichtigt war; die Kosten waren so hoch, daß der Plan sich unmöglich durchführen ließ.
»Verzeihen Sie, Miss Taggart«, hatte er beleidigt gesagt. »Was soll das heißen, ich hätte das Metall nicht
berücksichtigt? Der Entwurf entspricht den besten Brücken, die es überhaupt gibt. Was hatten Sie sich denn
gedacht?«
»Eine neue Konstruktionsmethode.«
»Was meinen Sie mit einer neuen Methode?«
»Ich meine, als die Menschen Baustahl bekamen, bauten sie damit keine Stahlkopien von Holzbrücken.«
Verärgert hatte sie hinzugefügt: »Rechnen Sie mir aus, was die Reparatur unserer alten Brücke kosten wird,
wenn sie noch weitere fünf Jahre halten soll.«
»Ja, Miss Taggart«, hatte er hoch erfreut gesagt. »Wenn wir sie mit Stahl verstärken…«
»Wir werden sie mit Rearden Metal verstärken.«
»Jawohl, Miss Taggart«, hatte er kühl erwidert.
Sie blickte auf die schneebedeckten Berge. Ihre Arbeit in New York war ihr manchmal hart erschienen.
Manchmal hatte sie, wie gelähmt durch die Unerbittlichkeit der Zeit, die sich nicht strecken ließ, in ihrem Büro
vor sich hingestarrt, an Tagen, da eine Besprechung die andere jagte, da sie über nicht mehr betriebsfähige
Diesellokomotiven, aus den Fugen geratene Güterwagen, versagende Signalsysteme, schwindende Einnahmen
diskutierte. Und währenddessen mußte sie an die letzte Stockung beim Bau der Rio-Norte-Linie denken;
während sie sprach, hatte sie zwei grünblaue Schienenstränge vor ihrem inneren Auge gesehen; und sie hatte die
Diskussion unterbrochen, weil sie plötzlich begriff, warum eine gewisse Nachricht sie beunruhigt hatte; sie nahm
den Hörer ab, rief ihren Unternehmer an und fragte ihn: »Woher bekommen Sie die Lebensmittel für Ihre
Leute?…Ach, das habe ich mir gedacht. Nun, Barton und Jones in Denver haben gestern Konkurs angemeldet.
Es ist besser, Sie bemühen sich sofort um einen neuen Lieferanten, wenn Sie nicht wollen, daß eine Hungersnot
bei Ihnen ausbricht.« Sie hatte die Strecke von ihrem Schreibtisch in New York aus gebaut. Es war ihr unsäglich
schwierig vorgekommen. Aber jetzt sah sie die Schienen. Die Strecke wuchs, sie würde termingerecht fertig
sein.
Sie hörte schwere, eilige Schritte und drehte sich um. Ein Mann kam auf der Strecke heran. Er war groß und
jung, sein schwarzes Haar, das kein Hut verdeckte, wehte im kalten Wind; er trug eine Arbeiterlederjacke, aber
er wirkte nicht wie ein Arbeiter. In der Art, wie er ging, verriet sich eine gebieterische Sicherheit. Sie konnte sein
Gesicht erst erkennen, als er näherkam. Es war Ellis Wyatt. Sie hatte ihn seit dem einen Gespräch in ihrem Büro
nicht wiedergesehen. Er trat auf sie zu, blieb stehen, blickte sie an und lächelte. »Hallo, Dagny«, sagte er.
Sie wußte sofort, was diese beiden Worte ihr sagen wollten. Es war Vergebung, Verständnis, Anerkennung, es
war ein Salut.
Sie lachte wie ein Kind, glücklich darüber, daß alles wieder in Ordnung war.
»Hallo«, sagte sie und streckte ihre Hand aus.
Seine Hand hielt ihre einen Augenblick länger fest, als es eine Begrüßung erforderte. Es war wie der Strich
unter einer Rechnung, die sie beide beglichen hatten.
»Sagen Sie Nealy, er soll Schneezäune auf einer Strecke von anderthalb Meilen am Granada-Paß aufstellen«,
sagte er. »Die alten sind verfault. Sie werden keinem Sturm mehr standhalten. Schicken Sie ihm einen
Schneepflug. Mit dem, den er hat, kann man nicht einmal einen Hof fegen. Jeden Tag können die großen
Schneefälle einsetzen.«
»Wie oft haben Sie das schon getan?« fragte sie.
»Was?«
»Wie oft sind Sie hergekommen, um sich ein Bild von dem Fortschritt der Arbeit zu machen?«
»Hin und wieder. Wenn ich Zeit hatte. Warum?«
»Waren Sie in der Nacht hier, als es zu dem Felsrutsch kam?«
»Ja.«
»Als ich den Bericht las, war ich überrascht, wie schnell und gut man die Gleise von dem Geröll befreit hat.
Das ließ mich denken, daß Nealy ein besserer Mann ist, als ich geglaubt hatte.«
»Er ist es nicht.«
»Haben Sie veranlaßt, daß er die Tagesration für seine Leute hier an die Strecke bringen läßt?«
»Natürlich. Seine Männer verbrachten ihre halbe Zeit mit der Jagd nach Eßbarem und derlei. Sagen Sie ihm,
er soll auf seine Wassertanks achten. Sie werden ihm sonst in einer der nächsten Nächte einfrieren. Sehen Sie zu,
daß Sie eine neue Drainiermaschine bekommen. Seine gefällt mir gar nicht. Prüfen Sie seine elektrischen
Leitungen.«
Sie blickte ihn einen Augenblick lang an. »Ich danke Ihnen, Ellis«, sagte sie dann.
Er lächelte und ging weiter. Sie sah ihn über die Brücke und dann den steilen Weg zu seinen Bohrtürmen
hinaufgehen.
»Der denkt, ihm gehört das alles hier.«
Sie drehte sich überrascht um. Ben Nealy war auf sie zugekommen und deutete mit dem Daumen auf Ellis
Wyatt.
»Was gehört ihm?«
»Die Eisenbahn, Miss Taggart, Ihre Eisenbahn. Oder vielleicht die ganze Welt. Das denkt er.«
Ben Nealy war ein untersetzter Mann mit einem weichen, mürrischen Gesicht. In seinen Augen war etwas
Widerspenstiges. Im bläulichen Schimmer des Schnees hatte seine Haut die Farbe von Butter.
»Was treibt er sich dauernd hier herum?« sagte er. »Als ob niemand etwas von der Arbeit verstände außer
ihm. Albernes Getue. Wofür hält er sich?«
»Der Teufel soll Sie holen«, sagte Dagny ruhig, ohne die Stimme zu erheben.
Nealy konnte nicht ahnen, weshalb sie das gesagt hatte. Das eine jedoch spürte er dunkel: Es war für sie etwas
Entsetzliches, daß er nicht empört war. Er sagte nichts.
»Gehen wir kurz rüber in Ihr Quartier«, sagte sie und zeigte mißgelaunt auf einen alten Eisenbahnwagen, der
auf dem Abstellgleis stand. »Und treiben Sie jemand auf, der mitschreibt.«
»Wie steht es übrigens mit den Schwellen, Miss Taggart?«, sagte Nealy hastig, als sie sich in Bewegung
setzten. »Mr. Coleman von Ihrem Büro hat gesagt, sie seien in Ordnung, er hat nichts davon gesagt, daß sie zu
abgenützt seien. Ich verstehe nicht, warum Sie glauben, sie…«
»Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollten sie ersetzen.«
Als sie aus dem Waggon herauskam, erschöpft von der zweistündigen Anstrengung, geduldig zu sein,
Anweisungen und Erklärungen zu geben, sah sie ein Auto an der Straßenbiegung unten parken. Es war ein
funkelnagelneuer schwarzer Zweisitzer. Ein neuer Wagen fiel überall sofort auf; man sah sie nicht oft.
Sie sah um sich und seufzte tief beim Anblick der großen Gestalt, die am Fuß der Brücke stand. Es war Hank
Rearden. Sie hatte nicht erwartet, ihn in Colorado zu treffen. Er hielt einen Bleistift und einen Notizblock in der
Hand und schien in Berechnungen vertieft. Seine Kleidung fiel ebenso auf wie sein Wagen; er trug einen
schlichten Regenmantel und einen Hut mit heruntergeklapptem Rand, aber beides war von so guter Qualität, so
offenkundig teuer, daß es im Vergleich zu der schäbigen Kleidung der anderen geradezu protzig wirkte, vor
allem, weil er es mit so natürlicher Lässigkeit trug. Sie merkte plötzlich, daß sie auf ihn zulief. Die Müdigkeit
war völlig verschwunden. Dann erinnerte sie sich, daß sie ihn seit der Party nicht gesehen hatte. Sie blieb stehen.
Er sah sie, winkte ihr freudig überrascht zu und kam ihr entgegen. Er lächelte. »Hallo«, sagte er, »Ihre erste
Reise hierher?«
»Meine fünfte in drei Monaten.«
»Ich wußte gar nicht, daß Sie hier sind. Niemand hat es mir gesagt.«
»Ich ahnte schon, daß Sie mal raus mußten.«
»Raus?«
»Aus Ihrem Werk. Um sich das hier anzusehen. Das ist Ihr Metall. Wie gefällt es Ihnen?«
Er ließ seine Augen umherschweifen. »Wenn Sie sich je entschließen sollten, Ihre Arbeit bei der Eisenbahn
aufzugeben, dann lassen Sie es mich wissen.«
»Würden Sie mich anstellen?«
»Jederzeit.«
Sie sah ihn an. »Sie meinen das nur halb im Scherz, Hank. Ich glaube, es wäre Ihnen recht, wenn es soweit
mit mir käme und ich Sie um eine Stellung bitten müßte. Daß ich Ihre Angestellte und nicht Ihre Kundin wäre.
Daß Sie mir Befehle geben könnten.«
»Ja, das würde mir gut gefallen.«
Mit hartem Gesicht sagte sie: »Geben Sie Ihren Job nicht auf! Ich würde Ihnen keine Stellung bei der
Eisenbahn versprechen.«
Er lachte. »Versuchen Sie das nicht!«
»Was?«
»Einen Kampf zu gewinnen, wenn ich die Bedingungen festsetze.«
Sie antwortete nicht. Sie war verwundert über ihr Gefühl bei diesen Worten; es war kein gewöhnliches
Gefühl, sondern ein körperliches Lustempfinden, das sie nicht mit Namen nennen oder verstehen konnte.
»Übrigens«, sagte er, »es ist nicht meine erste Fahrt hierher. Ich war schon gestern hier.«
»Warum?«
»Ich hatte geschäftlich in Colorado zu tun, und da wollte ich gleich die Gelegenheit nutzen, um zu sehen, wie
die Dinge hier stehen.«
»Was interessiert Sie hier besonders?«
»Warum nehmen Sie an, daß mich etwas interessiert?«
»Sie würden doch nicht Ihre Zeit verschwenden und sich das zweimal ansehen.«
Er lachte. »Stimmt.« Er deutete auf die Brücke. »Die interessiert mich.«
»Weshalb?«
»Sie ist abbruchreif.«
»Glauben Sie, ich wüßte das nicht?«
»Ich habe Ihren Auftrag für Brückenglieder aus Rearden Metal gesehen. Sie schmeißen Ihr Geld zum Fenster
hinaus. Der Unterschied zwischen dem Betrag, den Sie für einen Notbehelf ausgeben, der nur für ein paar Jahre
halten wird, und den Kosten einer neuen Brücke aus Rearden Metal ist verhältnismäßig so klein, daß ich nicht
begreife, weshalb Sie dieses Museumsstück erhalten wollen.«
»Ich habe an eine neue Brücke aus Rearden Metal gedacht. Ich habe mir von meinen Ingenieuren einen
Kostenvoranschlag machen lassen.«
»Auf welche Summe sind sie gekommen?«
»Zwei Millionen Dollar.«
»Du lieber Himmel!«
»Was würden Sie sagen?«
»Achthunderttausend.«
Sie blickte ihn an. Sie wußte, daß er nie etwas nur so dahinsagte. Mit gezwungen ruhiger Stimme fragte sie:
»Wie kommen Sie darauf?«
»Es ist so.«
Er zeigte ihr sein Notizbuch. Sie sah ein Gekrake l von Buchstaben, viele Zahlen, ein paar rohe Skizzen. Sie
verstand seinen Entwurf, bevor er ihn ganz erklärt hatte. Sie merkte gar nicht, daß sie sich gesetzt hatten, daß sie
auf einem Stapel gefrorener Bretter saß und die Kälte durch ihre dünnen Strümpfe drang. Sie beugten sich
gemeinsam über ein paar Blätter, die es Tausenden Tonnen Fracht ermöglichen würden, den leeren Raum über
der Schlucht zu überqueren. Seine Stimme klang scharf und klar, während er von Tragfähigkeit,
Höchstbelastung, Winddruck sprach. Sein Entwurf zeigte eine vierhundert Meter lange Spannbrücke. Er hatte
einen neuen Bautyp erfunden, der nur aus Material mit der Stärke und Leichtigkeit von Rearden Metal gebaut
werden konnte.
»Hank«, fragte sie, »haben Sie das innerhalb von zwei Tagen ausgearbeitet?«
»O nein. Das ist älter als Rearden Metal. Ich habe es berechnet, während ich Stahl für Brücken herstellte. Ich
wollte ein Metall haben, mit dem man unter anderem eine solche Brücke bauen könnte. Ich bin nur
hierhergekommen, um mir selbst ein Bild von Ihrem speziellen Problem zu machen.«
Er lachte, als sie sich langsam mit der Hand über die Augen strich und ihr Mund einen bitteren Zug bekam.
Sie schien all das wegwischen zu wollen, wogegen sie einen so erschöpfenden, unerfreulichen Kampf geführt
hatte.
»Dies ist nur ein roher Entwurf«, sagte er, »aber ich glaube, Sie können daran sehen, was möglich ist.«
»Ich kann Ihnen nicht alles sagen, was ich sehe, Hank.«
»Bemühen Sie sich nicht, ich weiß es.«
»Sie retten Taggart Transcontinental zum zweiten Mal.«
»Sie waren sonst ein besserer Psychologe.«
»Wie meinen Sie das?«
»Was kann mir daran liegen, Taggart Transcontinental zu retten? Wissen Sie nicht, daß ich eine Brücke aus
Rearden Metal haben will, um sie allen zeigen zu können?«
»Ja, Hank, ich weiß es.«
»Es gibt nur allzu viele Leute, die zetern, Schienen aus Rearden Metal seien unsicher. Und darum habe ich
gedacht: Schaffe etwas, über das sie wirklich zetern können. Zeig ihnen eine Brücke aus Rearden Metal!«
Sie blickte ihn an und lachte laut, weil diese Worte sie entzückten.
»Was soll das?« fragte er.
»Hank, ich kenne außer Ihnen niemand, nicht einen Menschen auf der Welt, der unter solchen Umständen
daran denken würde, den Leuten so eine Antwort zu geben.«
»Und wie ist es mit Ihnen? Wollen Sie nicht die Antwort mit mir gemeinsam geben und sich dem gleichen
Geschrei aussetzen?«
»Sie wissen doch, daß ich das gern tun würde.«
»Ja, ich weiß es.«
Er blinzelte sie mit zusammengekniffenen Augen an – er lachte nicht, wie sie gelacht hatte, aber dieses
Blinzeln sagte im Grunde das gleiche.
Sie erinnerte sich plötzlich an ihre letzte Begegnung auf der Party. Es kam ihr vor, als hätte sie das nur
geträumt. Die Unbeschwertheit dieses Augenblicks, die Leichtigkeit und das Gefühl, mit niemand sonst so
ungezwungen sein zu können, machten den Gedanken an Feindschaft unmöglich. Die Party hatte stattgefunden.
Daran gab es keinen Zweifel. Aber sein Verhalten strafte die Tatsache Lügen.
Sie gingen an den Rand der Schlucht und blickten in die dunkle Tiefe, auf den dahinter aufsteigenden Felsen,
auf die hoch über den Wyatt-Bohrtürmen stehende Sonne. Dagny stand mit gespreizten Beinen auf den
gefrorenen Steinen, stemmte sich fest gegen den Wind. Ohne sie zu berühren, fühlte sie seine Brust hinter ihrer
Schulter.
»Hank, glauben Sie, wir könnten die Brücke noch rechtzeitig fertigstellen? Es sind nur noch sechs Monate.«
»Gewiß. Ihr Bau erfordert weniger Zeit und Mühe als der jedes anderen Brückentyps. Meine Ingenieure
werden die Baupläne entwerfen, und ich werde sie Ihnen dann vorlegen. Sie sind zu nichts verpflichtet. Sie
sollen sich die Pläne nur ansehen und überlegen, ob Sie sich eine solche Brücke leisten können. Sie werden sie
sich leisten können, und dann können Sie Ihre Leute die Einzelheiten ausarbeiten lassen.«
»Und wie ist es mit dem Metall?«
»Ich werde das Metall walzen lassen, selbst wenn ich jeden anderen Auftrag ablehnen muß.«
»Sie können das in so kurzer Zeit?«
»Habe ich je einen Ihrer Aufträge nicht rechtzeitig erfüllt?«
»Nein! Aber so wie die Dinge heute liegen, werden Sie vielleicht nicht dazu imstande sein.«
»Sie denken wohl, Sie sprechen mit – Orren Boyle?«
Sie lachte. »Schicken Sie mir die Zeichnungen so bald wie mö glich. Ich werde sie mir ansehen und Ihnen
binnen achtundvierzig Stunden meine Entscheidung mitteilen. Was meine Leute betrifft, sie…«
Sie hielt inne und runzelte die Stirn. »Hank, warum ist es heutzutage so schwer, gute Leute zu finden?«
»Ich weiß es nicht…«
Er blickte auf die Linien der Berge, die den Himmel durchschnitten. Eine dünne Rauchsäule stieg aus einem
fernen Tal auf.
»Haben Sie die neuen Städte Colorados gesehen?« fragte er.
»Ja.«
»Ist es nicht wunderbar, was für prächtige Leute sie aus jedem Winkel des Landes dorthin geholt haben? Sie
sind alle jung, sie haben alle mit ein paar Pennies angefangen, und jetzt bewegen sie Berge.«
»Welchen Berg haben Sie beschlossen zu bewegen?«
»Was meinen Sie?«
»Was tun Sie in Colorado?«
Er lächelte. »Ich sehe mich nach einer Grube um.«
»Nach was für einer?«
»Kupfer.«
»Lieber Gott, haben Sie nicht schon genug am Hals?«
»Ich weiß, es ist sehr schwierig. Aber man kann sich auf die Kupferlieferungen überhaupt nicht mehr
verlassen. Im ganzen Lande scheint es kein einziges erstklassiges Unternehmen dieser Art mehr zu geben – und
mit d’Anconia Copper will ich nichts zu tun haben. Ich traue diesem Windhund nicht.«
»Das kann ich Ihnen nicht verdenken«, sagte sie und wandte die Augen ab. »Und wenn es niemand mehr gibt,
der etwas davon versteht, dann muß ich eben mein Kupfer selber fördern, so wie ich mein Eisenerz selber
fördere. Ich kann es nicht riskieren, durch all diese Mängel und Verknappungen an meiner Arbeit gehindert zu
werden. Ich brauche für Rearden Metal sehr viel Kupfer.«
»Haben Sie die Grube gekauft?«
»Noch nicht. Es sind da noch ein paar Probleme zu lösen. Ich muß erst Arbeiter, das ganze Gerät und die
Transportmittel beschaffen.«
»Oh…« Sie lachte. »Sie wollen wohl mit mir über eine Nebenlinie sprechen?«
»Vielleicht. Dies ist der Staat der unbegrenzten Möglichkeiten. Wissen Sie, daß sie hier jede Art von
Mineralvorkommen haben, die nur darauf warten, gefördert zu werden? Und wie ihre Fabriken wachsen! Ich
fühle mich zehn Jahre jünger, wenn ich hierher komme.«
»Ich nicht.« Sie blickte über die Berge hinweg nach Osten. »Ich muß immer an den Kontrast zu dem ganzen
übrigen Taggart-Netz denken. Von Jahr zu Jahr wird weniger produziert, und infolgedessen geht auch der
Güterverkehr zurück. Es ist, als ob… Hank, was ist nur mit dem Land los?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich denke immer an das, was man uns in der Schule von der Sonne gesagt hat: daß sie jedes Jahr an Kraft
verliert und jedes Jahr mehr erkaltet. Ich erinnere mich, daß ich mich damals fragte, wie das wohl in den letzten
Tagen der Welt sein würde. Ich glaube, es würde so sein wie jetzt: immer kälter, bis alles zum Stillstand
kommt.«
»Ich habe so etwas nie geglaubt. Ich habe immer geglaubt, daß die Menschen einen Ersatz finden, bis die
Sonne irgendwann erschöpft ist.«
»Komisch. Das habe ich auch lange geglaubt.«
Er deutete auf die Rauchsäule. »Da geht Ihre Sonne auf. Die hält erstmal eine Zeit lang vor.«
»Wenn sie nicht angehalten wird.«
»Glauben Sie, daß sie angehalten werden kann?«
Sie blickte auf die Schienen unter ihren Füßen. »Nein«, sagte sie.
Er lächelte. Er sah zu den Schienen hinunter und ließ dann seine Augen längs der Strecke zu den Berghängen
und dem Kran in der Ferne schweifen. Sie sah nur die Linien seines Profils und das grünblaue Band, das sich
durch die Landschaft schlängelte.
»Wir haben’s geschafft, nicht wahr?« sagte er.
Als Lohn für alle Mühe, für alle schlaflosen Nächte, für allen stummen Glauben, mit dem sie gegen die
Verzweiflung angekämpft hatte, war dieser Augenblick alles, was sie begehrte. »Ja, wir haben es geschafft.«
Sie sah einen alten Kran auf einem Nebengleis, und es fiel ihr ein, daß seine Kabel abgenutzt waren und
ersetzt werden mußten. Diese von allem Gefühl gelöste große Klarheit war die Belohnung dafür, wenn man alles
gefühlt hatte, was man fühlen konnte. Das, was sie geleistet hatten, dachte sie, und dieser Augenblick, da sie sich
dessen bewußt wurden, da sie es beide empfanden – welche größere Vertrautheit konnte es zwischen zwei
Menschen geben? Jetzt konnte sie sich den einfachsten, gewöhnlichsten Aufgaben des Augenblicks zuwenden.
Sie fragte sich, wieso sie dessen gewiß war, daß er das gleiche empfand wie sie. Er wandte sich jäh ab und
ging auf seinen Wagen zu. Sie folgte ihm. Sie sahen einander nicht an.
»Ich muß in einer Stunde an die Ostküste«, sagte er. Sie deutete auf den Wagen. »Woher haben Sie den?«
»Von hier. Es ist ein Hammond. Hammond in Colorado ist die einzige Firma, die noch anständige Autos baut.
Ich habe ihn gerade gekauft. Auf dieser Reise.«
»Ein toller Wagen.«
»Ich bin hin und weg.«
»Fahren Sie damit nach New York zurück?«
»Nein. Ich lasse ihn mit der Bahn bringen. Ich bin mit meinem Flugzeug hergekommen.«
»Wenn das so ist: Ich habe von Cheyenne her die ganze Strecke abgefahren; ich mußte sie mir ansehen. Aber
ich möchte jetzt so schnell wie möglich nach Hause zurück. Würden Sie mich mitnehmen? Kann ich mit Ihnen
zurückfliegen?«
Er antwortete nicht sofort. Nach einer Weile sagte er: »Leider nicht.« Sie fragte sich, ob sie es sich einbildete,
daß seine Stimme barsch klang. »Ich fliege nicht nach New York zurück, ich fliege nach Minnesota.«
»Dann nehme ich eine Linienmaschine, falls heute eine fliegt.« Sie sah seinem Wagen nach, wie er auf der
kurvenreichen Straße hinunterfuhr und verschwand. Eine Stunde später fuhr sie zum Flughafen. Es war ein
kleiner Flugplatz in einer Mulde innerhalb der trostlosen Bergkette. Auf der harten, gefurchten Erde lagen
Schneefetzen. Der Signalturm erhob sich an der einen Seite, und seine Drähte hingen auf den Boden herunter;
die beiden anderen Signaltürme waren durch einen Sturm umgerissen worden.
Ein einsamer Wächter kam ihr entgegen. »Nein, Miss Taggart«, sagte er bedauernd, »erst übermorgen fliegt
wieder eine Maschine. Die transkontinentalen Linienmaschinen verkehren nur alle zwei Tage, und das von heute
mußte in Arizona notlanden. Motorschaden, wie üblich.« Er fügte hinzu: »Schade, daß Sie nicht ein bißchen
früher gekommen sind. Mr. Rearden ist gerade eben in seinem Privatflugzeug nach New York abgeflogen.«
»Aber er ist doch nicht nach New York geflogen.«
»Doch. Er hat es mir selbst gesagt.«
»Haben Sie sich nicht verhört?«
»Er hat mir gesagt, er habe heute abend dort eine Besprechung.« Sie stand wie gelähmt da und starrte in den
Himmel, und ihre Augen schweiften nach Osten.
Sie konnte sich den Grund nicht erklären, sie hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt, nichts, mit dem sie
dagegen ankämpfen konnte, nichts, das ihr geholfen hätte, es zu verstehen.
»Diese verdammten Straßen«, sagte James Taggart. »Wir kommen zu spät.« Dagny blickte an dem Rücken
des Chauffeurs vorbei geradeaus. Durch den schlierigen Kreis, den der Scheibenwischer auf der
Windschutzscheibe zeichnete, sah sie die Kette haltender, schwarz glänzender alter Wagen. In der Ferne
signalisierte der Schein einer dicht über dem Boden hängenden roten Laterne eine Stelle, an der das Pflaster
aufgerissen war. »An jeder zweiten Ecke wird man durch Bauarbeiten aufgehalten«, sagte Taggart gereizt.
»Warum bringt man das nicht mal in Ordnung?«
Sie lehnte sich zurück, sie fühlte sich erschöpft am Ende eines Tages, den sie um sieben Uhr an ihrem
Schreibtisch begonnen hatte. Noch ehe sie mit ihrer Arbeit fertig war, hatte sie nach Hause eilen und sich
umziehen müssen, weil sie Jim versprochen hatte, auf dem Dinner des New York Business Council zu sprechen.
»Sie wollen von uns gerne etwas über Rearden Metal hören«, hatte er gesagt. »Du kannst das viel besser als ich.
Unsere Position muß hieb- und stichfest sein. Die Kontroverse um Rearden Metal schlägt zu hohe Wellen.«
Als sie jetzt neben ihm in seinem Wagen saß, bereute sie, daß sie sich dazu bereitgefunden hatte. Sie blickte
auf die New Yorker Straßen und dachte an den Wettlauf zwischen Metall und Zeit, zwischen den Schienen der
Rio-Norte-Linie und den nur allzu schnell vergehenden Tagen. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, weil
sie hier untätig im Wagen sitzen mußte und einen Abend vergeudete, während sie jede Stunde für ihre Arbeit
brauchte.
»Bei all diesen Angriffen auf Rearden, von denen man überall hört«, sagte Taggart, »braucht er vielleicht ein
paar Freunde.«
Sie blickte ihn verwundert an. »Soll das heißen, daß du ihm beistehen willst?«
Er antwortete nicht sofort. Dann fragte er mit rauher Stimme: »Was denkst du über den Bericht des
Sonderausschusses des National Council of Metal Industries?«
»Du weißt, was ich darüber denke.«
»Sie sagen, Rearden Metal sei eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit. Sie sagen, seine chemische
Zusammensetzung sei fehlerhaft, es sei spröde, seine molekulare Struktur sei instabil, es werde plötzlich und
ohne Vorwarnung reißen… « Er hielt inne, als ob er um eine Antwort bettelte. Aber sie blieb stumm.
Beklommen fragte er: »Du hast deine Meinung darüber nicht geändert, nicht wahr?«
»Worüber?«
»Über das Metall.«
»Nein, Jim, ich habe meine Meinung nicht geändert.«
»Sie sind aber Fachleute… diese Ausschußmitglieder… erstklassige Fachleute… Chefmetallurgen der
größten Firmen mit einem Haufen von Diplomen aller Universitäten im Land…« Er sagte das in einem
jammernden Ton, als wollte er sie anflehen, etwas zu sagen, das ihn an diesen Männern und ihrem Urteil
zweifeln ließ.
Sie sah ihn verwirrt an; dies paßte so gar nicht zu ihm.
Der Wagen ruckte voran. Er fuhr langsam durch eine Lücke in einem Bretterzaun, an dem Loch mit der
geplatzten Wasserleitung vorüber. Sie sah die neuen Rohre, die neben dem Loch aufgestapelt waren; sie trugen
das Warenzeichen: Stockton Foundry, Colorado. Sie wandte den Blick ab; sie wollte nicht an Colorado erinnert
werden.
»Ich kann es nicht verstehen…«, sagte Taggart bekümmert. »Die Top-Experten des National Council of Metal
Industries…«
»Wer ist der Vorsitzende des National Council, Jim? Ist das nicht Orren Boyle?«
Ohne sie anzusehen, sagte Taggart: »Wenn dieser fette Schleimer glaubt, er kann…« Aber er vollendete den
Satz nicht.
Sie blickte zu einer Laterne an der Ecke auf. Es war eine mit Licht gefüllte Glaskugel. Vom Sturm geschützt,
hing sie dort und beleuchtete als einziger Hüter mit Holz vernagelte Fenster und gesprungene Bürgersteige. Am
Ende der Straße jenseits des Flusses sah Dagny die Linien der Silhouette eines Elektrizitätswerks. Ein
vorüberfahrender Lastwagen versperrte ihr die Aussicht. Seine neue grünweiß leuchtende Beschriftung war
selbst im Schneeregen gut zu erkennen: »Wyatt Oil, Colorado«. Vielleicht war es einer der Tankwagen, die das
Elektrizitätswerk versorgten.
»Dagny, hast du von der Diskussion auf der Tagung der Stahlarbeiter-Gewerkschaft in Detroit gehört?«
»Nein, was für eine Diskussion?«
»Es hat in allen Zeitungen gestanden. Es ging darum, ob den Mitgliedern gestattet werden sollte, mit Rearden
Metal zu arbeiten, oder nicht. Es kam zwar zu keinem Beschluß, aber dem Unternehmer, der Rearden Metal
ausprobieren wollte, genügte das. Er hat, so schnell er konnte, seinen Auftrag annulliert… Was soll – was soll
werden, wenn alle sich dagegen entscheiden?«
»Laß sie.«
Eine Lichterkette zog sich kerzengerade zur Spitze eines unsichtbaren Turms hinauf. Es war der Fahrstuhl
eines großen Hotels. Der Wagen fuhr an der Hinterseite des Hotels vorüber. Männer schleppten eine schwere
Holzkiste von einem Lastwagen in den Keller. Sie sah den Namen auf der Kiste: »Nielsen Motors, Colorado.«
»Die von der Vereinigung der Lehrer von New Mexico angenommene Resolution gefällt mir gar nicht«, sagte
Taggart.
»Was für eine Resolution?«
»Eine Resolution, in der es heißt, daß nach ihrer Meinung Kindern nicht erlaubt werden darf, auf der neuen
Rio-Norte-Linie von Taggart Transcontinental zu fahren, denn das sei lebensgefährlich… Sie haben ausdrücklich
erklärt: die neue Linie von Taggart Transcontinental. Alle Zeitungen haben die Resolution gebracht. Für unsere
PR ist das katastrophal… Was meinst du, was sollen wir ihnen darauf antworten?«
»Unsere Antwort wird der erste Zug sein, der auf der neuen Rio-Norte-Linie fährt.«
Er schwieg. Er wirkte niedergeschlagen. Sie konnte es nicht verstehen. Er zeigte keine Schadenfreude, er
führte nicht die Ansichten seiner Lieblingsautoritäten gegen sie ins Treffen. Er schien im Gegenteil zu wollen,
daß sie ihn beruhigte.
Ein Wagen überholte sie. Eine Sekunde lang sah sie das funkelnde Gefährt sicher und kraftvoll dahingleiten,
und sie wußte sofort, was es für ein Wagen war: ein Hammond aus Colorado.
»Dagny, werden wir… wird die Strecke… termingerecht fertig?«
Es war seltsam, ein ganz einfaches Gefühl in seiner Stimme zu vernehmen, den unverfälschten Ton
animalischer Angst.
»Gott helfe dieser Stadt, wenn es uns nicht gelingt«, antwortete sie und konnte die leise Verachtung in ihrer
Stimme nicht unterdrücken.
Der Wagen bog um eine Ecke. Über den schwarzen Dächern der Stadt sah man das vom weißen Licht eines
Scheinwerfers angestrahlte Kalenderblatt. Es verkündete: 29. Januar.
»Dan Conway ist ein Lump.«
Die Worte brachen aus ihm heraus, als ob er sie nicht länger zurückhalten könnte.
Sie blickte ihn betroffen an. »Warum?«
»Er hat sich geweigert, uns die Colorado-Strecke von Phoenix-Durango zu verkaufen.«
»Du hast…«, die Stimme stockte ihr. Krampfhaft bemüht, ihn nicht anzuschreien, fuhr sie fort: »Du bist doch
nicht deswegen zu ihm gegangen?«
»Natürlich!«
»Du hast doch wohl nicht erwartet,…daß er sie dir verkaufen würde.«
»Warum nicht?« Er wurde wieder hysterisch-aggressiv. »Ich habe ihm mehr als jeder andere geboten. Wir
hätten uns dann die Kosten erspart, sie abzureißen und das Material wegzubefördern. Wir hätten sie so benutzen
können, wie sie ist, und es wäre für uns eine wunderbare PR gewesen, daß wir mit Rücksicht auf die öffentliche
Meinung auf Rearden Metal-Schienen verzichtet haben. Es hätte sich in jeder Hinsicht gelohnt. Aber der Schuft
hat es abgelehnt. Er hat sogar erklärt, daß nicht ein Meter Schiene an Taggart Transcontinental verkauft würde.
Er verkauft die Schienen häppchenweise an jeden Hergelaufenen, an die kleinen Eisenbahngesellschaften in
Arkansas oder North Dakota, verkauft sie mit Verlust, weit unter dem, was ich ihm geboten habe. Will nicht
einmal etwas daran verdienen! Und du solltest die Aasgeier sehen, die sich um ihn scharen. Sie wissen, daß sie
nirgendwo sonst Schienen bekommen.«
Sie saß mit gesenktem Kopf. Sie brachte es nicht über sich, ihn anzusehen. »Mir scheint das der Absicht des
Abkommens gegen Verdrängungswettbewerb völlig zu widersprechen«, sagte er wütend. »Die Absicht der
National Alliance of Railroads war doch, die großen Eisenbahnen zu schützen und nicht die Bimmelbahnen von
North Dakota. Aber ich kann die Vereinigung jetzt nicht dazu bringen, darüber abzustimmen, weil alle
Mitglieder dort unten sind und einander überbieten, um die Schienen zu bekommen.« Sie sprach langsam, als
wünschte sie, sie könnte die Worte mit Handschuhen anfassen: »Ich verstehe jetzt, warum du willst, daß ich
Rearden Metal verteidige.«
»Ich weiß nicht, was du…«
»Halt den Mund, Jim«, sagte sie ruhig.
Er schwieg einen Augenblick lang. Dann lehnte er den Kopf zurück und sagte herausfordernd: »Du mußt
Rearden Metal erstklassig verteidigen. Bertram Scudder kann ziemlich sarkastisch werden.«
»Bertram Scudder?«
»Er ist einer der Redner heute abend.«
»Einer der… Du hast mir nicht gesagt, daß da noch andere reden werden.«
»Nun… ich… Was macht das denn? Du fürchtest dich doch wohl nicht vor ihm?«
»Das New York Business Council… und da lädst du Bertram Scudder ein?«
»Warum nicht? Hältst du das nicht für klug? Er ist Kaufleuten durchaus nicht feindlich gesonnen. Er hat die
Einladung angenommen. Wir wollen großzügig sein und uns jede Meinung anhören. Und vielleicht werden wir
ihn sogar dafür gewinnen… Was starrst du so vor dich hin? Du wirst ihn doch wohl schlagen können?«
»Ihn schlagen?«
»Im Rundfunk. Der Abend wird übertragen. Du wirst mit ihm über die Frage debattieren: Ist Rearden Metal
ein todbringendes Produkt der Habgier?«
Sie beugte sich vor, schob die Trennscheibe zur Seite und befahl dem Chauffeur: »Halten Sie an!«
Sie hörte nicht, was Taggart sagte. Sie bekam nur undeutlich mit, daß er fast schrie: »Die Leute warten!
Fünfhundert Gäste sind zum Dinner eingeladen, und sie haben eine Ringschaltung… Du kannst mir das nicht
antun.« Er packte sie am Arm und rief: »Aber warum denn nur?«
»Du verdammter Idiot, glaubst du, ich halte ihre Fragen einer Diskussion für wert?«
Der Wagen hielt an; sie sprang hinaus und rannte.
Das erste, was sie nach einer Weile bemerkte, waren ihre Schuhe. Sie ging wieder im langsamen, normalen
Schritt, und es war seltsam, das eisige Pflaster unter den dünnen Sohlen der schwarzen Seidensandalen zu
fühlen. Sie strich sich das Haar aus der Stirn zurück und fühlte Tropfen schmelzenden Schnees in ihrer
Handfläche.
Sie war jetzt ruhig; die blinde Wut war vergangen; sie spürte nichts als eine graue Müdigkeit. Sie hatte leichte
Kopfschmerzen, sie merkte, daß sie hungrig war, und erinnerte sich, daß sie auf der Versammlung hatte zu
Abend essen sollen. Sie ging weiter. Sie wollte nichts essen. Sie würde nur irgendwo eine Tasse Kaffee trinken
und dann in einem Taxi nach Hause fahren.
Sie sah sich um. Nirgends war ein Taxi zu sehen. Sie kannte diese Gegend nicht. Sie macht keinen guten
Eindruck. Jenseits der Straße erstreckte sich ein leeres Gelände, ein verlassener Park, den eine gezackte Linie
umriß, die von den fernen Wolkenkratzern zu Fabrikschornsteinen hinunter lief; sie sah ein paar Lichter in den
Fenstern verfallener Häuser, ein paar kleine schmutzige Läden, die schon geschlossen waren, und zwei Blöcke
weiter den Nebel über dem East River.
Sie ging zum Stadtzentrum zurück. Eine schwarze Ruine erhob sich vor ihr. Vor langer Zeit war es ein
Bürogebäude gewesen; durch das nackte Stahlgerüst sah sie den Himmel und die Reste der eingestürzten
Mauern. Im Schatten der Ruine stand wie ein Grashalm, der sich von den Wurzeln eines toten Baumriesen nährt,
ein kleiner Diner. Seine Fenster waren ein leuchtendes Band aus Glas und Licht. Sie ging hinein.
Innen war eine saubere Theke mit einem funkelnden Chromrand. Darauf stand eine glitzernde
Kaffeemaschine, und der Geruch von Kaffee erfüllte den Raum. Ein paar armselige Gestalten hockten an der
Theke, ein kräftiger älterer Mann stand dahinter, der die Ärmel seines sauberen weißen Hemds bis zu den
Ellbogen aufgerollt hatte. Die wohlige Wärme machte ihr bewußt, wie sehr sie draußen gefroren hatte. Sie zog
ihren schwarzen Samtumhang fest um sich und ließ sich an der Theke nieder.
»Eine Tasse Kaffee, bitte«, sagte sie.
Die Männer blickten sie ohne Neugier an. Es schien sie nicht zu verwundern, eine Frau in Abendkleidung in
einem Slum-Diner zu sehen; in solchen Zeiten wunderte man sich über gar nichts mehr. Der Besitzer drehte sich
gleichgültig um und erledigte ihre Bestellung. In seiner dumpfen Gleichgültigkeit verbarg sich jene
Barmherzigkeit, die keine Fragen stellt.
Sie konnte nicht sagen, ob die vier an der Theke Bettler oder Arbeiter waren. In solchen Zeiten ließen weder
Kleidung noch Manieren den Unterschied erkennen. Der Wirt stellte eine Tasse Kaffee vor sie hin. Sie umschloß
sie mit beiden Händen und genoß ihre Wärme.
Sie ließ die Augen in dem Raum umherschweifen und dachte in gewohnter beruflicher Berechnung, wie
wunderbar es doch war, daß man für ein Zehncentstück so viel kaufen konnte. Ihre Augen glitten von dem
fleckenlosen Stahlzylinder der Kaffeemaschine zu dem eisernen Bratrost, den Glasregalen, dem Spülbecken aus
Steingut, dem Chromquirl eines Mixers. Der Wirt war dabei, Brotscheiben zu toasten. Es machte ihr Freude, die
geniale Erfindung einer Art offenen Fließbands zu betrachten, das sich langsam bewegte und die Brotscheiben an
glühenden elektrischen Spiralen entlangführte.
Dann sah sie den auf dem Toaster eingeprägten Namen: »Marsh, Colorado«.
Ihr Kopf sank auf ihren Arm, der auf der Theke lag. »Es hat keinen Zweck, Lady«, sagte der alte Mann neben
ihr.
Sie mußte den Kopf heben. Sie mußte lächeln. Ihr Lächeln galt ihm und ihr selbst.
»Es hat keinen Zweck?« fragte sie.
»Nein. Vergessen Sie es. Sie betrügen sich nur selbst.«
»Womit?«
»Mit all dem, für das es sich überhaupt nicht lohnt. Es ist alles Staub, Lady, Staub und Blut. Glauben Sie nicht
an die Träume, mit denen man Sie vollpumpt, und Sie bleiben unverletzt.«
»Was für Träume?«
»Die Geschichten, die sie einem erzählen, wenn man jung ist – vom menschlichen Geist. Es gibt keinen
menschlichen Geist. Der Mensch ist nur ein niederes Tier ohne Verstand, ohne Seele, ohne Tugenden oder
moralische Werte. Ein Tier, das nur zwei Dinge kann: essen und sich fortpflanzen.« Sein hageres Gesicht mit
den starren Augen und den eingesunkenen Wangen, das gewiß einmal edel gewesen war, hatte immer noch einen
vornehmen Zug. Er sah wie ein Prediger aus oder ein Professor der Kunstgeschichte, der sich jahrelang in die
Bilder obskurer Museen versenkt hat. Sie fragte sich, was ihn zerstört haben mochte, wodurch er so aus der Bahn
geschleudert worden war.
»Man geht durchs Leben auf der Suche nach Schönheit, nach Größe, nach einer erhabenen Leis tung«, sagte
er. »Und was findet man? Einen Haufen von komplizierten Maschinen zur Herstellung gepolsterter Wagen oder
Sprungfedermatratzen.«
»Was stört Sie an Sprungfedermatratzen?« sagte ein Mann, der wie ein Lastwagenfahrer aussah. »Hören Sie
nicht auf ihn, Lady. Er hört sich gern sprechen. Er meint es nicht böse.«
»Die einzige Begabung des Menschen ist seine traurige Fähigkeit, die Bedürfnisse seines Körpers zu
befriedigen«, sagte der alte Mann. »Das erfordert keine Intelligenz. Glauben Sie nicht den Ge schichten vom
Verstand, vom Geist, von den Idealen, vom grenzenlosen Streben des Menschen.«
»Ich tue es nicht«, sagte ein junger Mann, der am Ende der Theke saß. Sein Mantel war an einer Schulter
durchgescheuert; sein eckiger Mund wirkte alt und bitter.
»Geist?« sagte der alte Mann. »Fürs Produzieren und für Sex braucht man keinen Geist. Und nichts anderes
interessiert die Menschen. Das kennen sie, daraus machen sie sich etwas. Ein Beweis dafür ist unsere
Großindustrie – die einzige Leistung unserer angeblichen Zivilisation. Sie ist das Werk primitiver Materialisten
mit den Zielen, den Interessen und der Moral von Schweinen. Es erfordert keinerlei Moral, um einen Zehntonner
vom Fließband laufen zu lassen.«
»Was ist Moral?« fragte sie.
»Die Fähigkeit, Recht von Unrecht zu unterscheiden, das Vermögen, das Wahre zu sehen, der Mut, danach zu
handeln, die Hingabe an alles, was gut ist, und die Kraft, um jeden Preis für das Gute einzutreten. Aber wo findet
man das noch?«
Der junge Mann sagte halb lächelnd, halb höhnisch: »Wer ist John Galt?«
Sie trank den Kaffee mit dem angenehmen Gefühl, daß die heiße Flüssigkeit das Blut in ihren Adern wieder
belebte.
»Ich kann es Ihnen sagen«, sagte ein kleiner, zerknitterter Typ, der seine Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte.
»Ich weiß es.«
Niemand hörte auf ihn oder beachtete ihn. Der junge Mann beobachtete Dagny mit grimmiger Intensität. Aber
er schien selbst nicht zu wissen, gegen wen sein Grimm sich richtete.
»Sie haben keine Angst«, sagte er plötzlich zu ihr, ohne Erklärung, wie eine sachliche Feststellung, mit einer
tonlosen Stimme, in der leise Verwunderung mitschwang.
Sie blickte ihn an. »Nein«, sagte sie, »ich habe keine Angst.«
»Ich weiß, wer John Galt ist«, sagte der Zerknitterte. »Es ist ein Geheimnis, aber ich we iß es.«
»Wer?« fragte sie ohne Interesse.
»Ein Forscher, der größte, der je gelebt hat, der Entdecker des Jungbrunnens.«
»Geben Sie mir noch eine Tasse schwarzen«, sagte der alte Mann und schob seine Tasse über die Theke.
»John Galt hat ihn jahrelang gesucht. Er hat Ozeane überquert und Wüsten durchwandert, und er ist in
vergessene Schächte meilenweit unter die Erde hinuntergestiegen. Aber er hat ihn auf dem Gipfel eines Berges
gefunden. Er brauchte zehn Jahre, um den Berg zu erklettern, er brach sich alle Knochen. Er schürfte sich die
Haut seiner Hände ab. Er verlor darüber seine Heimat, seinen Namen, seine Geliebte, aber er erklomm den Berg.
Er fand den Jungbrunnen, den er zu den Menschen hinunterbringen wollte. Nur – er kam nie zurück.«
»Warum nicht?« fragte sie.
»Weil er erkannte, daß er ihn nicht hinunterbringen konnte.«

Der Mann, der Rearden am Schreibtisch gegenüber saß, hatte ein nichtssagendes Gesicht, und sein Verhalten
war so nachdrucklos, daß man sich kein richtiges Bild von ihm machen konnte und auch nicht wußte, was er
eigentlich wollte. Das einzig Auffallende an ihm war die Knollennase, die ein bißchen zu groß für sein Gesicht
war. Er gab sich fast unterwürfig. Aber in seiner merkwürdigen Art lag zugleich eine Drohung, die er einerseits
zu verhehlen, andererseits zu unterstreichen suchte. Rearden konnte den Zweck seines Besuchs nicht verstehen.
Es war Dr. Potter, der eine nicht klar umrissene Stellung beim State Science Institute hatte.
»Was wünschen Sie?« fragte Rearden zum dritten Mal.
»Es ist der soziale Aspekt, den ich Sie zu berücksichtigen bitte, Mr. Rearden«, erwiderte der Mann sanft. »Ich
bitte Sie dringend, daran zu denken, in welcher Zeit wir leben. Unsere Wirtschaft ist noch nicht reif dafür.«
»Wofür?«
»Unsere Wirtschaft ist in einer äußerst heiklen Lage. Wir müssen uns mit vereinten Kräften bemühen, sie vor
dem Zusammenbruch zu bewahren.«
»Was soll ich dabei tun?«
»Das sind die Überlegungen, auf die ich Ihre Aufmerksamkeit lenken sollte. Ich bin vom State Science
Institute, Mr. Rearden.«
»Das haben Sie schon gesagt. Aber was wollen Sie von mir?«
»Das State Science Institute hat keine günstige Meinung über Rearden Metal.«
»Das haben Sie auch schon gesagt.«
»Ist das nicht ein Faktor, den Sie berücksichtigen müssen?«
»Nein.«
Hinter dem breiten Fenster des Büros begann es zu dämmern. Die Tage waren kurz. Rearden sah den
unregelmäßigen Schatten der Nase auf der Wange des Mannes und die blassen Augen, die ihn beobachteten; es
war ein unbestimmter Blick, aber er war ihm bewußt zugekehrt.
»Das State Science Institute repräsentiert die besten Köpfe des Landes, Mr. Rearden.«
»Das habe ich schon gehört.«
»Sie wollen doch gewiß nicht Ihr eigenes Urteil gegen das dieser Männer stellen?«
»Doch, das will ich.«
Der Mann blickte Rearden wie um Hilfe flehend an, als ob Rearden ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen
hätte, demzufolge er schon längst hätte verstanden haben müssen. Aber Rearden kam ihm nicht zu Hilfe.
»Ist das alles, was Sie wissen wollen?« fragte er.
»Es ist nur eine Frage der Zeit, Mr. Rearden«, sagte der Mann versöhnlich. »Nur ein zeitlicher Aufschub, um
unserer Wirtschaft eine Chance zu geben, sich zu stabilisieren. Wenn Sie ein paar Jahre warten…«
Rearden lachte lauthals und verächtlich los. »Ach, das wollen Sie? Sie wollen wohl, daß ich Rearden Metal
vom Markt zurückziehe? Warum?«
»Nur für ein paar Jahre, Mr. Rearden, nur bis…«
»Hören Sie«, sagte Rearden, »jetzt will ich Ihnen mal eine Frage stellen: Haben Ihre Wissenschaftler erklärt,
Rearden Metal sei nicht das, was ich behaupte?«
»Soweit haben wir uns nicht festgelegt.«
»Haben sie erklärt, es sei nicht gut?«
»Es ist die soziale Auswirkung eines Produkts, die berücksichtigt werden muß. Wir denken an das Land als
Ganzes, uns geht es um das Gemeinwohl und die augenblickliche furchtbare Krise…«
»Ist Rearden Metal gut oder nicht?«
»Wenn wir die Angelegenheit vom Blickpunkt des beunruhigenden Ansteigens der Arbeitslosigkeit aus
betrachten, die derzeit…«
»Ist Rearden Metal gut?«
»In einer Zeit der äußersten Stahlknappheit können wir es nicht zulassen, daß ein Stahlwerk, das zuviel
produziert, sich immer mehr ausdehnt, denn dadurch würden die zu wenig produzierenden Werke aus dem Markt
gedrängt, und die Folge wäre eine unausgeglichene Wirtschaft…«
»Wollen Sie endlich meine Frage beantworten?«
Der Mann zuckte die Achseln. »Die Frage des Wertes ist relativ. Wenn Rearden Metal nicht gut ist, ist es eine
physische Gefahr, wenn es gut ist, ist es eine soziale Gefahr.«
»Wenn Sie mir etwas über die physische Gefahr von Rearden Metal zu sagen haben, dann sagen Sie es. Aber
von dem übrigen bitte kein Wort mehr! Auf diesem Ohr bin ich taub.«
»Aber Fragen der sozialen Wohlfahrt sind doch…«
»Kein Wort darüber.«
Der Mann machte ein bestürztes und unglückliches Gesicht. Gleich darauf fragte er hilflos: »Aber was ist
denn Ihr Hauptinteresse?«
»Der Markt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es gibt einen Markt für Rearden Metal, und ich beabsichtige, ihn voll auszunutzen.«
»Ist dieser Markt nicht irgendwie hypothetisch? Der Widerhall, den Ihr Metall in der Öffentlichkeit gefunden
hat, ist nicht ermutigend. Außer dem Auftrag von Taggart Transcontinental haben Sie keinen größeren…«
»Wenn Sie glauben, daß es keine Nachfrage gibt, warum machen Sie sich dann Sorgen?«
»Wenn es keine Nachfrage gibt, werden Sie einen schweren Verlust erleiden, Mr. Rearden.«
»Das ist meine Sorge, nicht Ihre.«
»Wenn Sie dagegen zu einer Zusammenarbeit bereit sind und sich entschließen, ein paar Jahre zu warten…«
»Warum sollte ich warten?«
»Aber ich glaube doch deutlich genug erklärt zu haben, daß nach Ansicht des State Science Institute Rearden
Metal nicht in die derzeitige metallurgische Szene paßt.«
»Warum sollte mich das interessieren?«
Der Mann seufzte. »Sie sind ein sehr schwieriger Mensch, Mr. Rearden«, sagte er.
Der Spätnachmittagshimmel legte sich wie eine bleierne Last auf die Fensterscheiben. Die Gestalt des Mannes
schien sich zwischen den glatten, geraden Flächen der Möbel in ein Nichts aufzulösen.
»Ich habe Ihnen diese Unterredung gewährt«, sagte Rearden, »weil Sie mir sagten, Sie wollten über etwas
äußerst Wichtiges mit mir sprechen. Wenn dies alles ist, was Sie mir zu sagen hatten, dann entschuldigen Sie
mich bitte jetzt. Ich bin sehr beschäftigt.«
Der Mann lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Ich glaube, Sie haben zehn Jahre lang mit Rearden Metal
experimentiert«, sagte er. »Wieviel hat Sie das gekostet?«
Rearden blickte auf: Er verstand die Absicht dieser Frage nicht, dennoch verriet die Stimme des Mannes, die
plötzlich härter geworden war, deutlich, daß er einen bestimmten Zweck verfolgte. »Anderthalb Millionen
Dollar«, sagte Rearden.
»Wieviel wollen Sie dafür haben?«
Rearden verschlug es einen Augenblick lang die Stimme. Er konnte es einfach nicht glauben. »Wofür?« fragte
er leise.
»Für alle Rechte an Rearden Metal.«
»Ich glaube, Sie verlassen lieber das Zimmer«, sagte Rearden.
»Es liegt kein Grund vor, so beleidigt zu sein. Sie sind ein Geschäftsmann. Ich mache Ihnen ein geschäftliches
Angebot. Nennen Sie mir Ihren Preis.«
»Die Rechte an Rearden Metal sind nicht verkäuflich.«
»Ich bin in der Lage, Ihnen eine große Summe zu bieten; es ist Regierungsgeld.«
Rearden saß reglos, seine Wangenmuskeln spannten sich, aber sein Blick war gleichgültig, nur ein
nachdenklicher Ekel spiegelte sich darin.
»Sie sind Geschäftsmann, Mr. Rearden. Sie können es sich nicht leisten, einen solchen Vorschlag außer acht
zu lassen. Auf der einen Seite spielen Sie gegen große Gegner. Sie stehen allein gegen eine ungünstige
öffentliche Meinung. Sie laufen Gefahr, jeden Penny, den Sie in Rearden Metal hineingesteckt haben, zu
verlieren. Auf der anderen Seite können wir Ihnen das Risiko und die Verantwortung abnehmen. Und Sie
verdienen dabei sofort eine beträchtliche Summe, eine viel größere Summe als die, welche Sie aus dem Verkauf
des Metalls in den nächsten zwanzig Jahren erzielen können.«
»Das State Science Institute ist eine wissenschaftliche, keine kommerzielle Einrichtung«, sagte Rearden.
»Wovor hat man dort solche Angst?«
»Sie gebrauchen häßliche, überflüssige Worte, Mr. Rearden. Wir wollen uns doch freundschaftlich
unterhalten. Die Angelegenheit ist ernst.«
»Das merke ich allmählich.«
»Wir bieten Ihnen einen Blankoscheck. Sie wissen, was das bedeutet. Was können sie sich noch mehr
wünschen?«
»Der Verkauf der Rechte an Rearden Metal steht nicht zur Diskussion. Wenn Sie mir sonst noch etwas zu
sagen haben, sagen Sie es bitte, und dann gehen Sie.«
Der Mann lehnte sich wieder zurück, blickte Rearden ungläubig an und fragte: »Was ist Ihr Ziel?«
»Mein Ziel? Was meinen Sie?«
»Sie wollen doch wohl Geld verdienen?«
»Ja, das will ich.«
»Sie wollen einen möglichst hohen Gewinn erzielen?«
»Ja.«
»Warum wollen Sie dann jahrelang kä mpfen, Ihren Gewinn pennyweise aus jeder Tonne herausquetschen –
statt ein Vermögen für Rearden Metal anzunehmen? Warum?«
»Weil es mir gehört. Verstehen Sie das?«
Der Mann seufzte und erhob sich. »Ich hoffe, Sie werden keinen Grund haben, Ihre Entscheidung zu bereuen,
Mr. Rearden«, sagte er. Aber man hörte seiner Stimme an, daß er das Gegenteil meinte.
»Guten Abend«, sagte Rearden.
»Ich muß Ihnen, glaube ich, noch sagen, daß das State Science Institute vielleicht eine amtliche Erklärung
herausgibt, in der vor Rearden Metal gewarnt wird.«
»Das soll es ruhig tun.«
»Eine solche Erklärung würde die Dinge für Sie noch schwieriger machen.«
»Zweifellos.«
»Was die weiteren Konsequenzen betrifft…« Der Mann zuckte wieder die Achseln. »Dies ist keine Zeit für
Menschen, die eine Zusammenarbeit ablehnen. In unserer Zeit braucht man Freunde. Sie sind nicht beliebt, Mr.
Rearden.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Sie verstehen mich schon.«
»Nein, ich verstehe Sie nicht.«
»Die Gesellschaft ist eine komplexe Struktur. Es sind da so viele verschiedene Dinge, die an einem dünnen
Faden hängen und auf eine Entscheidung warten. Wir können nie sagen, wann so eine Entscheidung getroffen
wird und was vielleicht der entscheidende Faktor sein kann, wenn das Gleichgewicht empfindlich ist. Drücke ich
mich klar aus?«
»Nein.«
Die rote Flamme fließenden Metalls schoß durch die Dämmerung. Ein orangener Schein, die Farbe roten
Goldes, fiel auf die Wand hinter Reardens Schreibtisch und glitt dann sanft über seine Stirn. Sein Gesicht hatte
eine stille Heiterkeit.
»Das State Science Institute ist eine Regierungseinrichtung, Mr. Rearden. Es liegen dem Parlament gewisse
Gesetzentwürfe vor, die vielleicht jeden Augenblick angenommen werden. Geschäftsleute sind heutzutage
besonders verletzlich. Ich bin gewiß, daß Sie mich verstehen.«
Rearden stand auf. Er lächelte. Er sah aus, als ob alle Spannung von ihm gewichen wäre.
»Nein, Dr. Potter«, sagte er. »Ich verstehe Sie nicht. Wenn ich es verstehen würde, müßte ich Sie erschießen.«
Der Mann ging zur Tür, blieb dann stehen und blickte Rearden dieses eine Mal mit purer menschlicher
Neugier an. Rearden stand reglos vor dem über die Wand gleitenden Schein; er stand zwanglos, die Hände in den
Taschen. »Würden Sie mir sagen«, fragte der Mann, »ganz unter uns – ich frage Sie nur aus persönlichem
Interesse –, warum Sie sich dagegen sperren?«
Rearden antwortete ruhig: »Ich werde es Ihnen sagen. Sie werden es nicht verstehen. Ich sperre mich dagegen,
weil Rearden Metal gut ist.«
Dagny konnte Mr. Mowens Beweggrund nicht verstehen. Amalgamated Switch and Signal hatte plötzlich
mitgeteilt, den Auftrag nicht ausführen zu können. Es war nichts geschehen. Sie konnte keinen Grund dafür
finden, und sie wollten sich nicht näher erklären. Sie war nach Connecticut geeilt, um Mr. Mowen persönlich zu
sprechen. Aber das einzige Ergebnis der Unterredung war, daß sie noch bestürzter war als vorher. Mr. Mowen
erklärte, daß er Weichen aus Rearden Metal nicht weiter herstellen wollte. Er wich ihrem Blick aus und sagte als
einzige Erklärung dafür: »Zu viele Leute mögen es nicht.«
»Was? Rearden Metal oder daß Sie die Weichen herstellen?«
»Beides, vermute ich – Die Menschen mögen es nicht… Ich will nicht in Schwierigkeiten kommen.«
»Was für Schwierigkeiten?«
»Irgendwelche.«
»Haben Sie auch nur ein einziges Argument gegen Rearden Metal gehört, das stimmt?«
»Ach, wer weiß denn, was stimmt? – In der Resolution des National Council of Metal Industries heißt es…«
»Sie haben Ihr Leben lang Metall verarbeitet; in den letzten vier Monaten haben Sie Rearden Metal
verarbeitet. Wissen Sie nicht, daß es das Großartigste ist, womit Sie je zu tun gehabt haben?« Er antwortete
nicht. »Wissen Sie es nicht?« Er wandte den Blick ab. »Wissen Sie die Wahrheit nicht?«
»Ach, Miss Taggart, wissen Sie, ich bin nur ein kleiner Unternehmer, ich kann nichts riskieren. Ich bin ein
Mann, der nichts weiter will als Geld verdienen.«
»Wie, glauben Sie, verdient man Geld?«
Aber sie wußte, daß jedes Wort sinnlos war. Bei dem vergeblichen Versuch, ihm in die Augen zu sehen, hatte
sie das gleiche Gefühl wie schon einmal auf einem einsamen Streckenabschnitt, als ein Sturm die Telefondrähte
heruntergerissen hatte: Die Verbindung war abgeschnitten, und die Worte hallten ins Leere.
Es war sinnlos zu streiten, dachte sie, und über Menschen nachzudenken, die ein Argument weder widerlegen
noch anerkennen wollten. Im Zug auf ihrer Rückfahrt nach New York sagte sie sich immer wieder, daß Mr.
Mowen keine Rolle spielte, daß nichts jetzt eine Rolle spielte außer dem einen, daß sie jemand anderen finden
mußte, der die Weichen herstellte. Sie hatte eine ganze Liste mit Namen im Kopf und fragte sich, wer sich am
leichtesten überzeugen, erweichen oder bestechen lassen würde.
Als sie das Vorzimmer ihres Büros betrat, wußte sie sofort, daß etwas geschehen war. Sie nahm die
unnatürliche Stille wahr. Die Gesichter ihrer Mitarbeiter waren ihr zugewendet, als wäre dies der Augenblick,
auf den sie alle gewartet, gehofft und vor dem sie sich gefürchtet hatten.
Eddie Willers erhob sich und ging auf die Tür ihres Büros zu, als wüßte er, daß sie verstand und ihm folgte.
Sie hatte sein Gesicht gesehen. Ganz gleich, was es ist, dachte sie, ich wünschte, es hätte ihn nicht so sehr
mitgenommen.
»Das State Science Institute«, sagte er ruhig, als sie allein in ihrem Büro waren, »hat eine Erklärung
herausgegeben, die vor dem Gebrauch von Rearden Metal warnt.« Er fügte hinzu: »Der Rundfunk hat die
Erklärung ausgestrahlt, und sie steht in den Abendzeitungen.«
»Was sagen sie?«
»Sie sagen gar nichts… sie sagen tatsächlich nichts, dennoch sagen sie alles. Das ist das Ungeheuerliche
dabei.«
Er versuchte krampfhaft, ruhig zu sprechen. Aber er hatte seine Worte nicht in der Gewalt. Sie sprudelten aus
ihm heraus wie bei einem Kind, das vor Entsetzen und Empörung aufschreit, wenn es zum ersten Mal dem
Bösen begegnet, weil es das gar nicht fassen kann.
»Was sagen sie, Eddie?«
»Sie… Du mußt es lesen.« Er deutete auf die Zeitung, die er auf ihren Schre ibtisch gelegt hatte. »Sie sagen
nicht, Rearden Metal sei schlecht, sie sagen nicht, es verbürge keine Sicherheit. Was sie gemacht haben… « Er
breitete die Arme aus und ließ sie in einer müden Geste wieder sinken.
Sie sah mit einem Blick, was sie gemacht hatten. Sie sah die Sätze: Es ist durchaus möglich, daß sich nach
langem Gebrauch plötzlich Risse bilden, obwohl die Länge dieser Periode sich nicht voraussagen läßt – Die
Möglichkeit einer molekularen Reaktion, die im Augenblick unbekannt ist, kann nicht ganz von der Hand
gewiesen werden… Obwohl die Spannungsfähigkeit des Metalls offensichtlich nachweisbar ist, bleiben gewisse
Fragen hinsichtlich seines Verhaltens bei ungewöhnlicher Belastung noch offen… Wenn sich auch die
Forderung, daß die Verwendung des Metalls verboten werden sollte, nicht durch Beweise stützen läßt, so würde
doch eine weitere Untersuchung seiner Eigenschaften wertvoll sein.
»Wir können nicht dagegen an. Darauf gibt es keine Antwort«, sagte Eddie leise. »Wir können keinen
Widerruf verlangen. Wir können ihnen nicht unsere Tests zeigen oder etwas beweisen. Sie haben nichts gesagt.
Sie haben nichts gesagt, was sich widerlegen ließe oder sie wissenschaftlich in Verlegenheit bringen könnte. Es
ist ein feiges Vorgehen. Man würde das von einem Betrüger oder Erpresser erwarten. Aber, Dagny, es ist das
State Science Institute!«
Sie nickte stumm. Ihre Augen starrten auf einen Punkt hinter dem Fenster. Am Ende einer dunklen Straße
gingen die Birnen eines elektrischen Leuchtschildes an und aus, als ob sie ihr boshaft zuwinkten.
Eddie nahm seine Kraft zusammen und sagte im Ton eines militärischen Rapports: »Die Taggart-Aktien sind
im Keller. Ben Nealy hat die Arbeit niedergelegt. Die Eisenbahnergewerkschaft hat ihren Mitgliedern verboten,
auf der Rio-Norte-Linie zu arbeiten. Jim hat die Stadt verlassen.«
Sie legte Hut und Mantel ab, ging durch den Raum und setzte sich betont bedächtig an ihren Schreibtisch.
Sie sah einen großen braunen Umschlag vor sich liegen; er trug den Aufdruck: »Rearden Steel«.
»Den hat, gleich nachdem du weg warst, ein Bote gebracht«, sagte Eddie. Sie nahm den Umschlag in die
Hand, öffnete ihn aber nicht. Sie wußte, was er enthielt: die Zeichnungen der Brücke. Nach einer Weile fragte
sie: »Wer hat diese Erklärung herausgegeben?«
Eddie blickte sie an und lächelte kurz und bitter, wobei er den Kopf schüttelte. »Nein«, sagte er, »ich habe
auch daran gedacht, ich habe angerufen und mich erkundigt. Nein, sie ist vom Büro von Dr. Floyd Ferris, dem
Bevollmächtigten des State Science Institute, herausgegeben worden.« Sie sagte nichts.
»Aber immerhin, Dr. Stadler ist der Leiter. Er ist das State Science Institute. Er muß davon gewußt haben. Er
hat es geduldet. Wenn es geschehen ist, dann ist es in seinem Namen geschehen… Dr. Robert Stadler…
Erinnerst du dich, wie wir, als wir auf dem College waren, von den Großen in der Welt sprachen… den
Menschen des reinen Intellekts… und wie wir dabei auch immer seinen Namen erwähnten und…« Er unterbrach
sich. »Verzeih mir, Dagny, ich weiß, es hat keinen Sinn, überhaupt noch etwas zu sagen, nur…« Ihre Hand
preßte sich um den braunen Umschlag.
»Dagny«, fragte er mit leiser Stimme, »was ist nur mit den Menschen los? Warum hat diese Erklärung Erfolg?
Sie ist so schäbig und so schmierig. Man sollte annehmen, ein anständiger Mensch würde sie in die Gosse
werfen. Wie konnten« – die Stimme brach ihm fast vor verzweifelter Wut – »wie konnten sie sie annehmen?
Haben sie sie gar nicht gelesen, haben sie sie gar nicht angesehen? Denken sie überhaupt nicht? Dagny, was geht
in den Menschen vor, daß sie so etwas tun – und wie können wir unter solchen Umständen leben?«
»Ruhig, Eddie, keine Angst.«
Das Gebäude des State Science Institute erhob sich in New Hampshire auf einem einsamen Berghang
zwischen einem Fluß und dem Himmel. Aus der Ferne wirkte es wie ein alleinstehendes Monument in einem
Urwald. Die Bäume waren sorgfältig gepflanzt, die Wege waren wie in einem Park angelegt, die Dächer einer
kleinen Stadt waren in dem einige Meilen entfernten Tal sichtbar. Aber nichts hatte zu dicht herankommen und
von der Erhabenheit des Baus ablenken dürfen.
Die Mauern aus weißem Marmor gaben ihm klassische Grandeur; die ganze Anlage erinnerte in ihrer Klarheit
und Schönheit an eine moderne Fabrik. Es war ein edler Bau. Vom anderen Ufer des Flusses betrachteten ihn die
Menschen mit Ehrfurcht und hielten ihn für ein Denkmal für einen Lebenden, dessen Charakter so erlesen war
wie die Architektur des Baus. Über dem Eingang waren in Marmor die Worte eingemeißelt: Dem furchtlosen
Geist und der unverletzlichen Wahrheit. In einem stillen Flügel hing in einem kahlen Flur an einer Tür ein
kleines Messingschild, auf dem stand: Dr. Robert Stadler.
Mit siebenundzwanzig Jahren hatte Dr. Robert Stadler eine Abhandlung über kosmische Strahlen geschrieben,
die die Theorien seiner Vorgänger fast vollständig über den Haufen warf. Für die, die nach ihm kamen, war das,
was er bewiesen hatte, der Ausgangspunkt für jede Forschung, die sie unternahmen. Mit dreißig Jahren galt er
allgemein als der größte Physiker seiner Zeit. Mit zweiunddreißig wurde er Dekan der Naturwissenschaftlichen
Fakultät der Patrick-Henry-Universität, zu jener Zeit, da die große Universität noch mit Recht berühmt war. Es
war Dr. Robert Stadler, von dem ein Schriftsteller gesagt hatte: »Vielleicht ist unter den Phänomenen des
Universums, die er erforscht, keines so wunderbar wie das Gehirn Dr. Stadlers selbst.« Es war Dr. Robert Stadler
gewesen, der einmal einen Studenten zurechtgewiesen hatte: »Freie wissenschaftliche Forschung? Das erste
Adjektiv ist überflüssig.«
Mit vierzig wandte sich Dr. Robert Stadler an die Nation und unterstützte die Gründung eines State Science
Institute. »Befreien Sie die Wissenschaft von der Herrschaft des Dollars«, sagte er. Die Sache war lange in der
Schwebe gewesen; eine Gruppe unbekannter Wissenschaftler hatte still und zäh erreicht, daß eine
Gesetzesvorlage durch alles Gestrüpp hindurch den Weg ins Parlament fand. Die Öffentlichkeit hatte sich nicht
recht für den Entwurf erwärmen können, hatte einige Zweifel gehabt, hatte ein gewisses Unbehagen gespürt.
Aber Dr. Stadlers Name wirkte auf das Land genauso wie die kosmischen Strahlen, die er erforschte: Er brach
jeden Widerstand. Die Nation erbaute das weiße Marmorgebäude als ein persönliches Geschenk für einen ihrer
größten Männer.
Dr. Stadlers Büro war ein kleiner Raum, der wie das Büro des Buchhalters einer erfolglosen Firma wirkte. Die
Einrichtung bestand aus einem billigen Tisch aus häßlichem gelben Eichenholz, einem Aktenschrank, zwei
Stühlen und einer schwarzen Tafel, auf die mit Kreide mathematische Formeln geschrieben waren. Dagny, die
auf einem der beiden Stühle an einer leeren Wand saß, fand das Büro prätentiös und funktional zugleich.
Prätentiös, weil die bescheidene Einrichtung so wirkte, als wollte Dr. Stadler unterstreichen, daß er sich bei
seiner herausragenden Stellung diese Anspruchslosigkeit erlauben konnte. Funktional, weil er tatsächlich nichts
anderes brauchte.
Sie war Dr. Stadler ein paarmal auf Banketten bei irgendwelchen feierlichen Anlässen begegnet. Sie hatte an
diesen Banketten so widerstrebend teilgenommen wie er und hatte bemerkt, daß er sich gern mit ihr unterhielt.
»Miss Taggart«, hatte er einmal zu ihr gesagt, »ich erwarte nie, auf Intelligenz zu stoßen. Daß ich sie nun gerade
hier finde, ist ebenso überraschend wie beglückend!« In der Erinnerung an diese Bemerkung war sie in sein Büro
gekommen. Sie saß dort und beobachtete ihn wie ein Wissenschaftler: nichts voraussetzend, jedes Gefühl von
sich wegschiebend, nur darum bemüht, zu beobachten und zu verstehen.
»Miss Taggart«, sagte er fröhlich, »Sie reizen meine Neugier. Ich bin jedesmal neugierig, wenn Gewohntes
plötzlich nicht mehr gilt. Im allgemeinen sind Besucher eine qualvolle Pflicht für mich. Ich bin ehrlich erstaunt,
daß es mir so ein Vergnügen bereitet, Sie hier zu sehen. Wissen Sie, wie das ist, wenn man plötzlich fühlt, daß
man reden kann, ohne versuchen zu müssen, eine Art Verständnis aus einem Vakuum herauszuholen?«
Er saß auf der Ecke seines Schreibtischs und benahm sich ganz formlos. Er war nicht groß, und seine
Schlankheit gab ihm etwas Jugendliches, fast Jungenhaftes. Sein schmales Gesicht war alterslos; es war
eigentlich ein häßliches Gesicht, aber die hohe Stirn und die großen grauen Augen verrieten eine solche
Intelligenz, daß man darüber alles andere vergaß. In den Augenwinkeln waren Lachfalten, und die Mundwinkel
hatten einen leicht bitteren Zug. Er sah nicht wie ein Mann Anfang Fünfzig aus. Das ein wenig angegraute Haar
war das einzige Kennzeichen seines Alters.
»Erzählen Sie mir mehr von sich«, sagte er. »Ich habe Sie immer fragen wollen, wieso Sie eine solche
Laufbahn eingeschlagen haben und wie Sie es mit diesen Leuten aushalten.«
»Ich kann Ihnen nicht zu viel von Ihrer kostbaren Zeit nehmen, Dr. Stadler«, sagte sie mit höflicher,
unpersönlicher Bestimmtheit. »Und das, was ich mit Ihnen besprechen will, ist äußerst wichtig.«
Er lachte: »Da sieht man gleich den Geschäftsmann – er will sofort auf den springenden Punkt kommen. Ja,
wirklich. Aber machen Sie sich keine Gedanken wegen meiner Zeit – sie gehört Ihnen. Und was, sagten Sie,
wollen Sie mit mir besprechen? Ach so ja, Rearden Metal. Nun, das gehört nicht gerade zu den Dingen, über die
ich besonders gut informiert bin, aber wenn ich da etwas für Sie tun kann…« Er machte eine auffordernde Geste
mit der Hand.
»Kennen Sie die vom State Science Institute über Rearden Metal herausgegebene Erklärung?«
Seine Stirn umwölkte sich ein wenig. »Ja, ich habe davon gehört.«
»Haben Sie sie gelesen?«
»Nein.«
»Es sollte damit vor der Verwendung von Rearden Metal gewarnt werden.«
»Ja, ja, soviel habe ich mitbekommen.«
»Können Sie mir sagen, aus welchem Grund?«
Er breitete die Hände aus; es waren attraktive Hände – lang und sehnig, schön in ihrer Andeutung gespannter
Energie und Kraft. »Das weiß ich wirklich nicht. Es fällt in das Gebiet von Dr. Ferris. Ich bin sicher, er hat seine
Gründe gehabt. Möchten Sie mit Dr. Ferris sprechen?«
»Nein. Kennen Sie die Zusammensetzung von Rearden Metal?«
»O ja, ein bißchen. Aber sagen Sie, warum interessiert Sie das?«
Verwunderung flackerte in ihren Augen auf und erlosch; so unpersönlich wie vorher sagte sie: »Ich baue eine
Eisenbahnstrecke mit Schienen aus Rearden Metal, die…«
»Richtig, ich habe davon gehört. Sie müssen mir verzeihen, ich lese die Zeitungen nicht so regelmäßig, wie
ich es sollte. Ihre Eisenbahn baut diese neue Strecke, nicht wahr?«
»Die Existenz meiner Eisenbahn hängt von der Fertigstellung dieser Strecke ab – und ebenso, glaube ich, wird
schließlich die Existenz dieses Landes davon abhängen.«
Die Lachfalten um seine Augen vertieften sich. »Können Sie so etwas mit positiver Sicherheit sagen, Miss
Taggart? Ich könnte es nicht.«
»In diesem Fall?«
»In keinem Fall. Niemand kann die Zukunft eines Landes voraussagen. Sie läßt sich nicht errechnen. Sie ist
ein Chaos, das dem Gesetz des Augenblicks unterworfen und in dem alles möglich ist.«
»Glauben Sie, daß Produktion für die Existenz eines Landes nötig ist, Dr. Stadler?«
»Ja. Ja, natürlich.«
»Der Bau unserer neuen Strecke ist durch die Erklärung Ihres Instituts zum Stillstand gekommen.« Er lächelte
nicht und antwortete nicht.
»Stellt diese Erklärung Ihr Urteil über die Zusammensetzung von Rearden Metal dar?« fragte sie.
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich sie nicht gelesen habe«, sagte er mit einer gewissen Schärfe.
Sie öffnete ihre Handtasche, zog einen Zeitungsausschnitt heraus und reichte ihn ihm. »Würden Sie ihn bitte
lesen und mir sagen, ob das die Sprache der Wissenschaft ist?«
Er überflog den Zeitungsausschnitt, lächelte abfällig und schob ihn mit einer Geste des Ekels beiseite.
»Widerlich, nicht wahr?« sagte er. »Aber was können Sie tun, wenn Sie mit Menschen umgehen müssen?«
Sie blickte ihn verständnislos an. »Billigen Sie diese Erklärung nicht?«
Er zuckte die Achseln. »Das ist unerheblich.«
»Haben Sie sich selbst ein Urteil über Rearden Metal gebildet?«
»Nun, Metallurgie ist nicht gerade – wie soll ich es sagen? – meine Spezialität.«
»Haben Sie irgendwelche Angaben über Rearden Metal nachgeprüft?«
»Miss Taggart, ich weiß nicht, worauf Sie mit Ihren Fragen hinauswollen.« Seine Stimme klang leicht
ungeduldig.
»Ich würde gern Ihr persönliches Urteil über Rearden Metal hören.«
»Zu welchem Zweck?«
»Damit ich es vielleicht an die Presse weitergeben kann.« Er sprang auf. »Das ist völlig unmöglich!«
Verzweifelt bemüht zu einer Verständigung zu kommen, sagte sie: »Ich werde Ihnen alles notwendige
Informationsmaterial unterbreiten, damit Sie sich ein endgültiges Urteil bilden können.«
»Ich kann keine öffentlichen Erklärungen darüber abgeben.«
»Warum nicht?«
»Die Sache ist viel zu kompliziert, um sie in einem beiläufigen Gespräch erklären zu können.«
»Aber wenn Sie entdecken sollten, daß Rearden Metal tatsächlich ein äußerst wertvolles Produkt ist, das…«
»Das hat nichts damit zu tun.«
»Der Wert von Rearden Metal hat nichts damit zu tun?«
»Es geht da nicht allein um die Tatsachen.«
Sie traute ihren Ohren nicht und fragte: »Was interessiert die Wissenschaft außer Tatsachen?«
Der bittere Zug um seinen Mund trat bei seinem Bemühen zu lächeln noch deutlicher hervor. »Miss Taggart,
Sie verstehen die Probleme von Wissenschaftlern nicht.«
Langsam, während sie es aussprach, begann sie zu verstehen: »Ich glaube, Sie wissen, was Rearden Metal
wirklich ist?«
Er zuckte mit den Schultern: »Ich weiß es, ja. Nach den Informationen, die ich gesehen habe, scheint es
bemerkenswert zu sein. Eine recht gute Leistung – soweit es die Technologie betrifft.« Ungeduldig ging er in
dem Büro auf und ab. »Ich würde tatsächlich gern eines Tages einen Speziallaboratoriumsmotor bestellen, der
genauso hohe Temperaturen aushalten kann. Es wäre sehr nützlich in Verbindung mit gewissen Erscheinungen,
die ich gern beobachten möchte. Ich habe entdeckt, daß, wenn die Geschwindigkeit von Partikeln sich so
beschleunigt, daß sie fast die Lichtgeschwindigkeit erreicht, die Partikel…«
»Dr. Stadler«, fragte sie leise, »Sie kennen die Wahrheit, dennoch werden Sie sich nicht öffentlich zu ihr
bekennen?«
»Miss Taggart, Sie gebrauchen einen abstrakten Ausdruck, während wir es mit etwas Praktisch-Realem zu tun
haben.«
»Wir haben es mit der Wissenschaft zu tun.«
»Wissenschaft? Bringen Sie nicht die Maßstäbe, auf die es dabei ankommt, ein wenig durcheinander? Nur im
Bereich der reinen Wissenschaft ist die Wahrheit ein absolutes Kriterium. Wenn wir es mit angewandter
Wissenschaft, mit Technologie, zu tun haben, haben wir es mit Menschen zu tun, und da geht es um andere
Überlegungen als um die Wahrheit.«
»Was für Überlegungen?«
»Ich bin kein Technologe, Miss Taggart. Ich habe keine Begabung und keine Neigung für den Umgang mit
Menschen. Ich kann mich nicht in sogenannte praktische Dinge hineinziehen lassen.«
»Die Erklärung ist in Ihrem Namen herausgegeben worden.«
»Ich habe nichts damit zu tun gehabt!«
»Sie sind für den Namen dieses Instituts verantwortlich.«
»Das ist eine völlig unberechtigte Vermutung.«
»Die Menschen glauben, Ihr Name bürge für alles, was dieses Institut macht.«
»Ich kann nichts dafür, was die Leute denken – wenn sie überhaupt denken! «
»Sie haben Ihrer Erklärung geglaubt. Sie war eine Lüge.«
»Wie kann einer die Wahrheit sagen, wenn er sich an das Publikum wendet?«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie sehr ruhig.
»Wahrheitsfragen spielen in sozialen Zusammenhängen keine Rolle. Wahrheiten sind sozial völlig
unbeachtlich.«
»Was leitet dann das Handeln der Menschen?«
Er zuckte die Achseln. »Die Zweckdienlichkeit des Augenblicks.«
»Dr. Stadler«, sagte sie, »ich glaube, ich muß Ihnen sagen, welche Bedeutung und welche Konsequenz es hat,
daß der Bau meiner Bahnlinie zum Stillstand gekommen ist. Man hat mich im Namen der öffentlichen Sicherheit
am Weiterbau gehindert, weil ich die besten Schienen benutze, die je hergestellt worden sind. In sechs Monaten,
wenn ich bis dahin die Strecke nicht fertigstelle, ist das bedeutendste Industriegebiet des Landes ohne
Transportmittel. Es wird zerstört, weil es das beste ist und weil es Leute gibt, die glauben, sich ein Stück seines
Wohlstands unter den Nagel reißen zu können.«
»Das ist vielleicht niederträchtig, ungerecht, entsetzlich – aber so ist das Leben in der Gesellschaft. Immer
wird jemand geopfert, und in der Regel ungerecht; anders kann man nicht unter den Menschen leben. Was
vermag der einzelne schon dagegen!«
»Sie können die Wahrheit über Rearden Metal sagen.«
Er antwortete nicht.
»Ich könnte Sie bitten, es zu tun, um mich zu retten. Ich könnte Sie bitten, es zu tun, um eine nationale
Katastrophe abzuwenden. Aber ich werde es nicht tun. Dies wären für Sie wahrscheinlich keine ausreichenden
Gründe. Es gibt nur einen stichhaltigen Grund: Sie müssen es sagen, weil es wahr ist.«
»Ich bin über diese Erklärung nicht gefragt worden«, brach es wie ein Schrei aus ihm heraus. »Ich hätte sie
nicht zugelassen! Sie ist mir ebenso zuwider wie Ihnen. Aber ich kann sie nicht öffentlich dementieren.«
»Sie sind nicht gefragt worden? Dann müßte Ihnen daran liegen, die Gründe herauszubekommen, die zu
dieser Erklärung geführt haben.«
»Ich kann das Institut jetzt nicht zerstören.«
»Müßten Sie nicht versuchen, die Gründe herauszubekommen?«
»Ich kenne die Gründe! Man sagt sie mir zwar nicht, aber ich kenne sie. Und ich kann das den Leuten nicht
einmal übelnehmen.«
»Würden Sie sie mir sagen?«
»Wenn Sie es wollen, werde ich sie Ihnen sagen. Sie möchten die Wahrheit hören, nicht wahr? Dr. Ferris
vermag nichts dagegen zu tun, wenn die Dummköpfe, welche die Geldmittel für dieses Institut bewilligen, auf
dem bestehen, was sie Ergebnisse nennen. Sie sind unfähig, sich so etwas wie eine abstrakte Wissenschaft
vorzustellen. Für sie ist Wissenschaft identisch mit den neuesten Erfindungen, die ihnen zugute kommen. Ich
weiß nicht, wie es Dr. Ferris gelungen ist, dieses Institut am Leben zu erhalten. Ich kann nur sein praktisches
Geschick bewundern. Ich glaube nicht, daß er je ein erstrangiger Wissenschaftler war – aber was für ein
unbezahlbarer Diener der Wissenschaft ist er! Ich weiß, daß er vor kurzer Zeit vor einem ernsten Problem stand.
Er hat mir nichts davon gesagt. Er verschont mich mit all dem, aber hintenherum höre ich doch davon. Es haben
Leute das Institut kritisiert, weil wir nach ihrer Meinung nicht genug Output haben. Die Öffentlichkeit hat
Sparsamkeit verlangt. In Zeiten wie diesen, in denen das fette kleine Behagen der Leute bedroht ist, können Sie
sicher sein, daß die Wissenschaft das erste ist, was man opfert. Dies ist das einzige wissenschaftliche Institut, das
es noch gibt. Es gibt praktisch keine privaten Forschungsstiftungen mehr. Sehen Sie sich die gierigen Schurken
an, die unsere Industrie leiten. Sie können von ihnen keine Unterstützung der Wissenschaft erwarten.«
»Wer unterstützt Sie jetzt?« fragte sie mit leiser Stimme. Er zuckte die Achseln. »Die Gesellschaft.«
Nur mühsam brachte sie es über sich zu sagen: »Sie wollten mir die Gründe nennen, die zu dieser Erklärung
geführt haben.«
»Ich hätte eigentlich gedacht, Sie wären von selbst darauf gekommen. Wenn Sie bedenken, daß dieses Institut
seit dreizehn Jahren eine Abteilung für metallurgische Forschung hat, die über zwanzig Millionen Dollar
gekostet und nichts hervorgebracht hat als eine neue Silberpolitur und ein Antirostmittel – das, glaube ich, nicht
einmal so gut ist wie die alten –, dann können Sie sich vorstellen, wie die Öffentlichkeit reagiert, wenn ein
Privatmann ein Produkt herausbringt, das die ganze metallurgische Wissenschaft revolutioniert und sich als
sensationell erfolgreich erweist!«
Sie senkte den Kopf und schwieg.
»Ich mache unserer metallurgischen Abteilung keine Vorwürfe«, sagte er ärgerlich. »Ich weiß, daß Ergebnisse
dieser Art sich nicht für einen bestimmten Zeitpunkt voraussagen lassen. Aber die Öffentlichkeit wird das nicht
verstehen. Was sollen wir opfern? Eine ausgezeichnete neue Metallegierung – oder das letzte
Forschungszentrum, das es auf der Welt noch gibt, und die ganze Zukunft der menschlichen Erkenntnis? Das ist
die Alternative.« Sie saß immer noch mit gesenktem Kopf da. Nach einer Weile sagte sie: »Gut, Dr. Stadler, ich
will nicht streiten.«
Er sah, wie sie nach ihrer Tasche griff, als ob sie sich an die automatischen Bewegungen zu erinnern
versuchte, die notwendig waren, um aufzustehen.
»Miss Taggart«, sagte er ruhig. Es war fast eine Bitte. Sie blickte auf. Ihr Gesicht hatte einen müden, leeren
Ausdruck. Er trat dicht an sie heran und stützte sich mit einer Hand über ihrem Kopf an die Wand, als ob er
seinen Arm um sie legen wollte. »Miss Taggart«, sagte er mit stiller, bitterer Eindringlichkeit, »ich bin älter als
Sie. Glauben Sie mir, man kann auf der Erde nicht anders leben. Die Menschen sind der Wahrheit und der
Vernunft nicht zugänglich. Ein vernünftiges Argument vermag sie nicht zu erreichen. Der Geist ist machtlos
gegen sie. Aber wir müssen nun einmal mit ihnen auskommen. Wenn wir etwas vollbringen wollen, müssen wir
ihnen etwas vorgaukeln, damit sie es uns vollbringen lassen. Oder wir müssen sie zwingen. Etwas anderes
verstehen sie nicht. Wir können nicht ihre Unterstützung für irgendein Streben des Intellekts, für irgendein Ziel
des Geistes erwarten. Sie sind nichts als niedere Tiere. Sie sind gierig, ihrem Ich frönende, räuberische
Dollarjäger, die…«
»Ich bin auch ein Dollarjäger, Dr. Stadler«, sagte sie leise.
»Sie sind ein ungewöhnliches, hochbegabtes Kind, das noch nicht genug vom Leben gesehen hat, um das
volle Ausmaß des menschlichen Stumpfsinns begreifen zu können. Ich habe mein Leben lang dagegen gekämpft.
Ich bin des Kampfes müde…« Seine Worte klangen ehrlich. Er ging langsam von ihr weg.
»Es gab eine Zeit, da mir aufging, wie jämmerlich man diese Welt verpfuscht hat, und ich hätte am liebsten
laut geschrien und die Menschen gebeten, auf mich zu hören – ich konnte sie lehren, so viel besser zu leben, als
sie es taten –, aber niemand war da, der auf mich hörte. Sie hatten kein Organ, mit dem sie mich hören
konnten… Intelligenz? Es ist ein so seltener, gefährlicher Funke, der einen Augenblick lang irgendwo unter den
Menschen aufblitzt und erlischt. Man kann weder sein Wesen noch seine Zukunft… noch sein Ende angeben… «
Sie machte Anstalten, sich zu erheben.
»Gehen Sie nicht, Miss Taggart. Ich möchte, daß Sie es verstehen.«
In gehorsamer Gleichgültigkeit erhob sie ihr Gesicht zu ihm. Ihr Gesicht war nicht blaß, aber es hatte etwas
seltsam Nacktes, als ob die Haut jede Farbe verloren hätte.
»Sie sind noch jung«, sagte er. »In Ihrem Alter habe ich auch an die unbegrenzte Macht der Vernunft
geglaubt. An die leuchtende Vision des Menschen als eines vernünftigen Wesens. Seitdem bin ich so oft
enttäuscht worden… Ich möchte Ihnen nur eine Geschichte erzählen.«
Er stand am Fenster seines Büros. Draußen war es dunkel geworden. Die Dunkelheit schien aus dem
schwarzen Flußbett tief unten aufzusteigen. Ein paar Lichter von den Hügeln am anderen Ufer spiegelten sich im
Wasser. Der Himmel hatte noch das starke dunkle Abendblau. Ein einsamer Stern, der niedrig über der Erde
schimmerte, schien unnatürlich groß und ließ den Himmel noch dunkler wirken.
»Als ich an der Patrick-Henry-Universität war«, sagte er, »hatte ich drei Schüler. Ich hatte schon vorher viele
sehr begabte Studenten gehabt, aber diese drei waren jener Lohn, den sich ein Lehrer erfleht. Wenn man sich je
wünschen könnte, daß der menschliche Geist einem als Geschenk zuteil wird, daß einem der junge, strahlende
Geist zur Führung anvertraut wird, dann waren sie dieses Geschenk. Sie hatten die Intelligenz, von der man
erwartet, daß sie den Lauf der Welt ändern wird. Sie kamen aus sehr verschiedenen Milieus, aber sie waren
unzertrennliche Freunde. Sie hatten sich eine seltsame Fächerkombination ausgesucht. Ihre Hauptfächer waren
Physik und Philosophie, die sie bei mir und Hugh Akston studierten. So verschiedenen Interessen begegnet man
heute nicht mehr. Hugh Akston war ein ausgezeichneter Mann, ein großer Geist… ganz anders als die Kreatur,
die man jetzt auf seinen Platz gesetzt hat… Akston und ich waren dieser drei Studenten wegen fast eifersüchtig
aufeinander. Es war eine Art Wettstreit zwischen uns, ein freundschaftlicher Wettstreit allerdings, denn wir
verstanden uns sehr gut. Eines Tages sagte Akston, sie seien für ihn wie Söhne. Ich nahm ihm das beinahe ein
bißchen übel, denn ich betrachtete sie auch als meine Söhne…«
Er drehte sich um und sah sie an. Sein Gesicht wirkte plötzlich alt. »Als ich die Gründung dieses Instituts
guthieß, verwünschte mich einer von ihnen. Ich habe ihn seitdem nicht wiedergesehen. In den ersten Jahren
beunruhigte mich das. Ich fragte mich immer wieder, ob er recht gehabt hatte… Aber jetzt beunruhigt es mich
schon lange nicht mehr.«
Er lächelte. Es war ein bitteres Lächeln, sein ganzes Gesicht hatte jetzt einen Ausdruck der Bitterkeit.
»Diese drei Studenten, die zu all der Hoffnung berechtigten, welche die Gabe der Intelligenz je verheißt, diese
drei, von denen wir glaubten, daß sie eine glänzende Zukunft erwartete – einer von ihnen war Francisco
d’Anconia, der ein verkommener Playboy wurde. Der zweite war Ragnar Danneskjöld, der ein gewöhnlicher
Seeräuber wurde. Soviel über die Verheißung des menschlichen Geistes.«
»Wer war der dritte?« fragte sie.
Er zuckte die Achseln. »Der dritte hat es nicht einmal dazu gebracht, berüchtigt zu werden. Er ist spurlos im
großen Haufen der unbekannten Mittelmäßigkeit verschwunden. Wahrscheinlich ist er irgendwo zweiter
Hilfsbuchhalter.«

»Das ist eine Lüge! Ich bin nicht weggelaufen«, schrie James Taggart. »Ich bin hergekommen, weil ich krank
war. Frag Dr. Wilson. Es ist eine Art Grippe. Er wird es bestätigen. Und woher hast du erfahren, daß ich hier
bin?«
Dagny stand mitten im Raum; auf ihrem Mantelkragen und dem Rand ihres Hutes schmolzen Schneeflocken.
Sie blickte um sich und hatte ein Gefühl, das sie als Trauer empfunden hätte, wenn genug Zeit gewesen wäre,
darüber nachzudenken.
Es war ein Zimmer im Haus des alten Taggart-Landsitzes am Hudson. Jim hatte den Landsitz geerbt, kam
aber nur selten her. In ihrer Kindheit war dieser Raum das Arbeitszimmer ihres Vaters gewesen. Jetzt hatte er das
Trostlose eines benutzten, aber unbewohnten Zimmers. Alle Sessel bis auf zwei hatten Überzüge, der Kamin
brannte nicht, ein elektrischer Ofen, dessen Schnur sich über den Boden wand, spendete kümmerliche Wärme,
und die Glasplatte des Schreibtisches war leer. Jim lag auf der Couch und hatte sich anstelle eines Schals ein
Handtuch um den Hals gewickelt. Auf einem Stuhl neben ihm standen ein voller Aschenbecher, eine
Whiskyflasche und ein vergilbter Papierbecher; zwei Tage alte Zeitungen lagen auf dem Boden. Über dem
Kamin hing ein Porträt ihres Großvaters, das ihn in voller Größe mit einer Eisenbahnbrücke im Hintergrund
zeigte.
»Ich habe keine Zeit zum Streiten, Jim.«
»Es war deine Idee! Ich hoffe, du gibst vor dem Aufsichtsrat zu, daß es deine Idee war. An allem ist allein
dieses gottverdammte Rearden Metal schuld. Wenn wir auf Orren Boyle gewartet hätten…« In seinem
unrasierten Gesicht spiegelten sich die verschiedensten Gefühle: Angst, Haß, ein leiser Triumph, die
Erleichterung, einen Sündenbock gefunden zu haben, und die schwache Hoffnung auf Hilfe. Er hatte in der
Hoffnung, sie würde etwas sagen, innegehalten. Aber sie blieb stumm. Die Hände in den Manteltaschen,
beobachtete sie ihn.
»Wir können da jetzt gar nichts tun«, stöhnte er. »Ich habe versucht, Washington anzurufen, um zu erreichen,
daß sie Phoenix-Durango beschlagnahmen und uns aufgrund des Notstands übereignen, aber sie wollen nicht
einmal darüber diskutieren! Zu viele Leute sind dagegen, sagen sie, weil sie befürchten, daß das zu einem
bedenklichen Präzedenzfall werden könnte… Ich habe mich mit der National Alliance of Railroads in
Verbindung gesetzt, damit die Stillegung der Linie aufgehoben wird und Dan Conway die Erlaubnis erhält, noch
ein weiteres Jahr seine Bahn verkehren zu lassen – damit hätten wir Zeit gewonnen –, aber er hat sich geweigert,
es zu tun. Ich habe von Ellis Wyatt und seinen Freunden zu erreichen versucht, sich mit der Bitte an Washington
zu wenden, daß man Conway befiehlt, die Bahn weiter verkehren zu lassen – aber sie alle, Wyatt und die übrigen
Lumpen, haben es abgelehnt! Es geht ihnen dabei noch mehr an den Kragen als uns. Sie gehen bestimmt den
Bach runter. Aber sie haben es abgelehnt.«
Sie lächelte kurz, sagte aber nichts.
»Weiter können wir nichts mehr tun, wir sitzen in der Falle. Wir können diese Strecke nicht aufgeben und
können sie nicht fertigstellen! Wir können nicht aufhören und nicht weitermachen. Wir haben kein Geld.
Niemand wird uns auch nur mit der Zange anfassen! Was bleibt uns ohne die Rio-Norte-Linie! Aber wir können
sie nicht zu Ende bauen. Wir würden boykottiert werden. Wir kämen auf die schwarze Liste. Die
Eisenbahnergewerkschaft würde uns verklagen. Sie würde es tun, es gibt ein entsprechendes Gesetz. Wir können
diese Linie nicht fertigstellen. Lieber Gott, was sollen wir nur machen?«
Sie wartete. »Bist du fertig, Jim?« fragte sie dann kühl. »Wenn ja, werde ich dir sagen, was wir machen.«
Er blickte sie stumm unter seinen schweren Augenlidern an.
»Dies ist kein Vorschlag, Jim, sondern ein Ultimatum. Du kannst es nur anhören und annehmen. Ich werde
den Bau der Rio-Norte-Linie fertigstellen. Ich persönlich, nicht Taggart Transcontinental. Ich werde mich eine
Zeitlang als Stellvertretende Vorstandsvorsitzende beurlauben lassen. Ich werde eine Gesellschaft unter meinem
Namen gründen. Dein Aufsichtsrat wird mir die Rio-Norte-Linie übereignen. Ich werde als selbständige
Unternehmerin handeln. Ich werde die Gesellschaft selbst finanzieren. Ich werde allein die Verantwortung
tragen. Ich werde die Strecke termingerecht fertigstellen. Wenn sich erwiesen hat, daß die Rearden-Metal-
Schienen etwas taugen, werde ich die Linie Taggart Transcontinental zurückgeben und in meine Stellung
zurückkehren. Das ist alles.«
Er blickte sie weiter stumm an. Sie hätte nie vermutet, daß Hoffnung das Gesicht eines Menschen verunstalten
konnte, aber es war so. Es waren Hoffnung und List zugleich, die sich darin spiegelten. Sie wandte die Augen
von ihm ab und fragte sich, wie es möglich war, daß ein Mensch in einem solchen Augenblick nur daran dachte,
nach etwas zu suchen, das er auf andere abwälzen könnte.
Das erste, was er dann beklommen herausbrachte, war die absurde Frage: »Aber wer wird Taggart
Transcontinental in der Zwischenzeit leiten?« Sie lachte; es war ein bitteres Lachen, das sie selbst verwunderte.
»Eddie Willers«, sagte sie.
»O nein, das kann er nicht.«
Sie lachte noch einmal, ebenso bitter wie vorher. »Ich dachte, du wärst in solchen Dingen schlauer als ich.
Eddie wird den Titel eines Stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden erhalten. Er wird an meinem Schreibtisch in
meinem Büro sitzen. Aber wer, denkst du wohl, wird Taggart Transcontinental leiten?«
»Aber ich verstehe nicht, wie…«
»Ich werde zwischen Eddies Büro und Colorado hin- und herfliegen. Außerdem gibt es ja auch noch das
Telefon. Ich werde genau das tun, was ich immer getan habe. Es wird sich nichts ändern, bis auf die Komödie,
die du für deine Freunde inszenierst… und die Tatsache, daß es für mich ein bißchen schwieriger sein wird.«
»Welche Komödie?«
»Du weißt doch ganz genau, was ich meine, Jim. Ich habe keine Ahnung, in welche Art von Spielen ihr, du
und deine Aufsichtsratsmitglieder, verwickelt seid. Ich weiß nicht, von wie vielen Punkten aus ihr alle gegen die
Mitte und gegeneinander spielt oder in wie viele entgegengesetzte Richtungen ihr unter den verschiedensten
Vorwänden spielen müßt. Ich weiß es nicht, und es interessiert mich auch nicht. Ihr könnt euch alle hinter mir
verstecken. Wenn ihr alle Angst habt, weil ihr mit Freunden zu tun habt, die durch Rearden Metal bedroht sind –
nun, dann habt ihr hier die Chance, ihnen zu versichern, daß ihr nichts damit zu schaffen habt, daß nicht ihr das
tut, sondern ich. Ihr könnt alle in ihr Horn stoßen, mich verfluchen und anschwärzen. Ihr könnt alle zu Hause
bleiben, braucht keine Risiken auf euch zu nehmen und euch keine Feinde zu machen. Aber mich laßt
ungeschoren!«
»Nun…«, sagte er leise, »die Probleme, denen sich heute die Politik einer großen Eisenbahn gegenübersieht,
sind natürlich sehr verwickelt, während eine kleine unabhängige Gesellschaft, die nur einem gehört, es sich
leisten kann…«
»Ja, Jim, ja, ich weiß das alles. In dem Augenblick, in dem du verkündest, daß die Rio-Norte-Linie an mich
übereignet wird, werden die Taggart-Aktien steigen. Die Wanzen werden nicht mehr aus ihren Verstecken
herauskriechen, sobald sie keine große Gesellschaft mehr beißen können. Bevor sie beschließen, was sie mit mir
tun sollen, habe ich die Strecke fertig.
Und was mich betrifft, ich werde weder vor dir noch vor deinem Aufsichtsrat Rechenschaft ablegen oder mit
euch streiten oder um eure Zustimmung betteln. Dafür ist keine Zeit, wenn ich das tue, was getan werden muß.
Ich werde es darum allein tun.«
»Und… wenn du es nicht schaffst?«
»Wenn ich es nicht schaffe, trifft es mich allein.«
»Ist dir klar, daß in einem solchen Fall Taggart Transcontinental dir in keiner Weise helfen kann?«
»Das ist mir klar.«
»Du wirst nicht auf uns zählen?«
»Nein.«
»Du wirst jede offizielle Verbindung mit uns abbrechen, damit das, was du tust, unseren Ruf nicht gefährden
kann?«
»Ja.«
»Ich glaube, wir sollten uns einig darüber sein, daß im Falle des Scheiterns oder eines öffentlichen
Skandals… deine Beurlaubung permanent wird… Das heißt, daß du nicht erwarten kannst, auf deinen Posten
zurückzukehren.«
Sie schloß einen Augenblick lang die Augen, damit er die ungeheure Verachtung darin nicht sah.
»Einverstanden, Jim. In einem solchen Fall werde ich nicht zurückkehren.«
»Ehe wir dir die Rio -Norte-Linie übereignen, müssen wir eine schriftliche Vereinbarung treffen, daß du sie
uns, falls die Linie floriert, mitsamt deinem Gewinn zurückgibst. Anderenfalls könntest du versuchen, aus uns
Geld herauszupressen, weil wir die Linie brauchen.«
Ihre Augen zuckten erschrocken, dann sagte sie gleichgültig, als ob sie Almosen verteilte: »Na gut. Laß das
alles schriftlich niederlegen.«
»Und was deinen zeitweiligen Nachfolger betrifft…«
»Ja?«
»Willst du wirklich, daß es Eddie Willers wird?«
»Ja, ich will es.«
»Aber er kann sich nicht einmal wie ein Stellvertretender Vorstandsvorsitzender benehmen, er hat nicht die
Erscheinung, die Manieren, die…«
»Er kennt seine Arbeit und meine. Er weiß, was ich will. Ich vertraue ihm. Ich werde mit ihm arbeiten
können.«
»Würdest du es nicht für besser halten, einen von unseren distinguierten jungen Männern dafür zu nehmen,
jemand aus guter Familie, mit sicherem Auftreten und…«
»Eddie Willers wird es, Jim.«
Er seufzte. »Na schön, nur… wir müssen dabei vorsichtig vorgehen… Die Leute dürfen nicht ahnen, daß du
nach wie vor Taggart Transcontinental leitest. Niemand darf das wissen.«
»Alle werden es wissen, Jim. Aber da niemand es offen zugeben wird, wird jeder sich damit zufriedengeben.«
»Aber wir müssen den Schein wahren.«
»Ja, gewiß! Du brauchst mich auf der Straße nicht zu kennen, wenn du es nicht willst. Du kannst sagen, du
hättest mich nie zuvor gesehen. Und ich werde sagen, ich hätte noch nie etwas von Taggart Transcontinental
gehört.« Er starrte stumm auf den Fußboden und versuchte nachzudenken. Sie wandte die Augen dem Fenster zu
und blickte in den Park hinaus. Der Himmel hatte die grauweiße Blässe des Winters. Tief unten, am Ufer des
Hudson, sah sie die Straße, auf der sie immer nach Franciscos Wagen ausgeschaut hatte – sie sah die Klippe über
dem Fluß, auf die sie geklettert waren, um die Wolkenkratzer von New York zu sehen –, und irgendwo hinter
dem Wald waren die Pfade, die nach Rockdale führten. Die Erde war jetzt mit Schnee bedeckt, und was sich dem
Blick darbot, war wie das Skelett der Landschaft, an die sie sich erinnerte – kahle Äste, die aus dem Schnee zum
Himmel aufragten. Es war ein grauweißes Bild wie eine Fotografie, eine tote Fotografie, die man als Andenken
aufbewahrt, die aber nicht die Macht hat, etwas zurückzubringen. »Wie wirst du sie nennen?«
Sie drehte sich überrascht um. »Was?«
»Wie wirst du deine Gesellschaft nennen?«
»Ach so… nun, Dagny-Taggart-Linie, nehme ich an.«
»Aber… hältst du das für klug? Es könnte mißverstanden werden. Das Taggart könnte…«
»Wie soll ich sie denn nennen?« unterbrach sie ihn ärgerlich. »Miss Niemand? Madame X? John Galt?« Sie
hielt inne. Sie lächelte plötzlich, ein kaltes, strahlendes, gefährliches Lächeln. »So werde ich sie nennen: John-
Galt-Linie.«
»Um Gottes willen, nein!«
»Doch.«
»Aber das ist… das ist doch nur ein billiger Slangausdruck.«
»Ja.«
»Du kannst doch nicht aus einem so ernsten Projekt ein Gaudium machen!… Du kannst nicht so vulgär sein
und… und würdelos!«
»Kann ich das nicht?«
»Aber um Gottes willen, warum?«
»Weil es alle anderen so schockieren wird, wie es dich schockiert hat.«
»Ich habe solche Effekthascherei bei dir noch nie erlebt.«
»Diesmal gefällt es mir eben.«
»Aber…« Seine Stimme wurde zu einem fast abergläubischen Flüstern: »Dagny, du weißt doch, das
bedeutet… das bedeutet Unglück… Es ist das Symbol für…« Er hielt inne.
»Wofür ist es ein Symbol?«
»Ich weiß es nicht… Aber die Art, wie die Leute es benutzen, deutet darauf hin, daß sie es aus…«
»Aus Angst, aus Verzweiflung, aus Ohnmacht sagen?«
»Ja… Ja, das ist es.«
»Und das will ich ihnen ins Gesicht schleudern!«
Die glühende Kampflust in ihren Augen, ihr erster freudiger Blick, sagten ihm, daß er besser schwieg.
»Laß alle Papiere und Abmachungen auf den Namen John-Galt-Linie ausstellen«, sagte sie.
Er seufzte. »Nun, es ist deine Linie.«
»Allerdings.«
Er blickte sie erstaunt an. Sie hatte die Manieren und das Verhalten einer Stellvertretenden
Vorstandsvorsitzenden abgelegt; sie schien sich, glücklich entspannt, dem Niveau von Bahn- und Bauarbeitern
anzupassen.
»Was die Papiere und die gesetzliche Seite der Sache betrifft«, sagte er, »so dürfte es da einige
Schwierigkeiten geben. Wir müßten um die Genehmigung einkommen…«
Sie sah ihn an. In ihren Augen war noch etwas von dem wilden Funkeln. Aber es war kein freudiges Funkeln
mehr, und sie lächelte nicht. Der Blick hatte jetzt fast etwas Unheimliches, Dämonisches. Als er ihn sah, hoffte
er, ihn nie wieder sehen zu müssen. »Hör zu, Jim«, sagte sie; er hatte nie diesen Ton in einer Menschenstimme
gehört. »Es ist da etwas, was du beitragen kannst und was ich dir dringend rate: Halte mir deine Leute in
Washington vom Hals! Sorge dafür, daß sie mir all die Genehmigungen, Ermächtigungen, Urkunden und all den
anderen Papierkram geben, den ihre Gesetze fordern. Sie sollen aber nicht versuchen, mir in den Arm zu fallen.
Wenn sie das versuchen… Jim, unser Vorfahr, Nat Taggart, soll einen Politiker umgebracht haben, der ihm eine
Genehmigung zu verweigern versuchte, um die er nie hätte einzukommen brauchen. Ich weiß nicht, ob Nat
Taggart es getan hat oder nicht. Aber ich sage dir dies: Ich weiß, was er empfand, falls er es getan hat. Wenn er
es nicht getan hat, würde ich es vielleicht für ihn nachholen, um die Familiengeschichte zu vervollständigen. Das
ist mein Ernst, Jim.«
Francisco saß ihr am Schreibtisch gegenüber. Sein Gesicht war ausdruckslos. Es war ausdruckslos geblieben,
während Dagny ihm in dem klaren, unpersönlichen Ton einer geschäftlichen Unterredung die Gründung und den
Zweck ihrer eigenen Eisenbahngesellschaft erklärte. Er hatte zugehört. Er hatte nicht ein Wort gesagt.
Noch nie hatte sie in seinem Gesicht diese Leere gesehen. In seinem Blick war kein Spott, keine Heiterkeit,
kein Widerspruch. Es war, als wäre er in diesem Augenblick in einer anderen Welt und unerreichbar. Dennoch
blickten seine Augen sie aufmerksam an; sie schienen mehr zu sehen, als sie vermuten konnte; sie ließen sie an
ein Glas denken, das alle Lichtstrahlen auffängt, aber keinen reflektiert.
»Francisco, ich habe dich gebeten herzukommen, weil ich wollte, daß du mich einmal in meinem Büro siehst.
Du hast es noch nie gesehen. Früher hätte das etwas für dich bedeutet.«
Seine Augen schweiften langsam durch das Büro. Der einzige Schmuck an den Wänden waren eine Karte des
Netzes von Taggart Transcontinental, das Originalbild Nat Taggarts, das als Vorlage für seine Statue gedient
hatte, und ein großer Eisenbahnkalender in lustigen grellen Farben, wie er jedes Jahr mit einem neuen Bild an
jeden Taggart-Bahnhof verteilt wurde und wie er einst auf ihrem ersten Arbeitsplatz in Rockdale gehangen hatte.
Er stand auf und sagte ruhig: »Dagny, um deinetwillen und…« – er zögerte kaum merklich –, »und im Namen
jeden Mitgefühls, das du vielleicht für mich empfindest, bitte mich nicht um das, worum du mich bitten willst.
Tu es nicht. Laß mich jetzt gehen.«
Das entsprach ihm und allem, was sie von ihm zu hören erwartet hatte, so gar nicht. Nach einer Weile sagte
sie: »Warum?«
»Ich kann dir die Frage nicht beantworten. Ich kann überhaupt keine Fragen beantworten. Das ist einer der
Gründe, warum es besser ist, nicht darüber zu diskutieren.«
»Du weißt, um was ich dich bitten will?«
»Ja.« Ihr Blick war so beredt, so verzweifelt, daß er hinzufügen mußte: »Ich weiß, daß ich es ablehnen
werde.«
»Warum?«
Er lächelte müde, breitete die Arme aus, wie um ihr zu zeigen, daß er gerade das vorausgesagt und genau dem
aus dem Weg hatte gehen wollen.
Ruhig sagte sie: »Ich muß es versuchen, Francisco. Ich muß die Bitte an dich richten. Ich kann nicht anders.
Was du dann tust, ist deine Sache. Aber ich weiß in diesem Fall wenigstens, daß ich alles versucht habe.«
Er blieb stehen, neigte den Kopf jedoch ein wenig zum Zeichen, daß er ihr zustimmte, und sagte: »Wenn es
dir hilft, werde ich es mir anhören.«
»Ich brauche fünfzehn Millionen Dollar, um die Rio -Norte-Linie fertigzustellen. Sieben Millionen habe ich
für die Taggart-Aktien erhalten, die mir privat gehörten. Weiteres Geld kann ich nicht auftreiben. Ich werde auf
den Namen meiner neuen Gesellschaft Obligationen in Höhe von acht Millionen Dollar ausgeben. Ich habe dich
hergebeten, um dich zu bitten, diese Obligationen zu kaufen.«
Er schwieg.
»Ich bin nur ein Bettler, Francisco, und ich bettle dich um Geld an. Ich habe immer geglaubt, im
Geschäftsleben bettelte man nicht. Ich glaubte, es käme nur darauf an, was man anzubieten hat, und Wert gegen
Wert zu geben. So ist es heute nicht mehr, obwohl ich nicht verstehe, wie wir nach einem anderen Gesetz
handeln und weiterexistieren können. Objektiv beurteilt, wird die Rio-Norte-Linie die beste Eisenbahn im Land
sein. Mit dem normalen Maßstab gemessen, ist es die allerbeste Investition, und gerade das ist mein Verderben.
Ich kann kein Geld aufnehmen und dafür den Leuten ein gutes Geschäftsunternehmen bieten: Gerade weil es gut
ist, sind die Leute dagegen. Keine Bank würde die Obligationen meiner Gesellschaft kaufen; darum kann ich
nichts anbieten, ich kann nur bitten.«
Sie sagte das in nüchternem Ton. Dann hielt sie inne und wartete auf seine Antwort. Er blieb stumm.
»Ich weiß, ich habe dir nichts anzubieten«, fuhr sie fort. »Ich kann dir gegenüber nicht von einer Investition
sprechen. Es interessiert dich nicht, Geld zu verdienen. Industrievorhaben reizen dich schon seit langem nicht
mehr. Ich kann darum nicht behaupten, daß es ein fairer Tausch ist. Es ist nur ein Betteln.« Sie holte Atem und
sagte dann: »Gib mir das Geld als Almosen, weil es für dich nichts bedeutet.«
»Bitte mich nicht«, sagte er leise.
Sie wußte nicht, ob seine Stimme bekümmert oder ärgerlich klang. Er blickte zu Boden.
»Wirst du es tun, Francisco?«
»Nein.«
Nach einer Weile sagte sie: »Ich habe dich hergebeten, nicht weil ich glaubte, du würdest meinem Plan
zustimmen, sondern weil du der einzige bist, der versteht, was ich sage. Darum mußte ich es versuchen.« Sie
senkte die Stimme, als ob sie hoffte, ihr Gefühl damit besser verbergen zu können. »Weißt du, ich kann einfach
nicht glauben, daß du nicht mehr da bist, denn ich weiß, daß ich bei dir nicht ins Leere rede. Die Art, wie du
lebst, ist verkommen, aber die Art, wie du handelst, nicht. Selbst die Art, wie du darüber sprichst, ist es nicht…
Ich mußte es versuchen… Aber ich kann nicht länger darum kämpfen, dich zu verstehen.«
»Ich will dir einen Hinweis geben. Es gibt keine Widersprüche. Wenn du je einem Widerspruch zu begegnen
glaubst, dann prüfe deine Prämissen. Du wirst dann erkennen, daß eine von ihnen falsch ist.«
»Francisco«, flüsterte sie, »warum sagst du mir nicht, was mit dir geschehen ist?«
»Weil die Antwort dich in diesem Augenblick mehr verletzen würde als der Zweifel.«
»Ist es so furchtbar?«
»Die Antwort mußt du selber finden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich dir anbieten könnte, ich weiß nicht, was noch von Wert für
dich ist. Ist dir nicht klar, daß selbst ein Bettler einen Gegenwert geben muß, daß er irgendeinen Grund nennen
muß, der in einem vielleicht den Wunsch erweckt, ihm zu helfen… Ich habe einmal geglaubt, daß Erfolg dir viel
bedeutet, geschäftlicher Erfolg. Erinnerst du dich noch an unsere Gespräche darüber? Du warst sehr streng. Du
erwartetest eine Menge von mir. Du sagtest, ich müßte mein ganzes Leben darauf einstellen. Du überlegtest, wie
hoch ich bei Taggart Transcontinental aufsteigen würde.« Sie deutete mit der Hand auf das Büro. »So hoch bin
ich aufgestiegen… Ich glaubte darum… wenn die Erinnerung an das, was einmal von Wert für dich war, noch
eine Bedeutung für dich hat, und sei es nur zur Erheiterung oder für einen Augenblick der Trauer oder nur wie…
man Blumen auf ein Grab legt… du würdest mir das Geld geben wollen… im Namen dessen.«
»Nein.«
Mühsam sagte sie: »Dieses Geld würde nichts für dich bedeuten – du hast so viel für sinnlose Orgien
verschwendet – du hast noch viel mehr für die San-Sebastián-Gruben vergeudet…«
Er blickte auf. Er sah sie fest an, und sie sah den ersten Funken Leben in seinen Augen. Sein Blick hatte etwas
Strahlendes, Mitleidloses und unglaublich Stolzes, als wäre dies eine Anklage, die ihm Kraft gab.
»O ja«, sagte sie leise, als ob sie auf das, was er dachte, antwortete, »ich weiß das. Ich habe dich dieser
Gruben wegen verurteilt. Ich habe dir Vorwürfe gemacht. Ich habe dir auf jede Art meine Verachtung gezeigt,
und nun bin ich zu dir zurückgekommen – um des Geldes willen. Wie Jim, wie jeder Nichtskönner, dem du je
begegnet bist. Ich weiß, es ist ein Triumph für dich. Ich weiß, du hast das Recht, über mich zu lachen und mich
zu verachten. Nun – vielleicht kann ich dir das bieten. Wenn es eine Belustigung ist, die du willst. Wenn es dir
Genuß bereitet hat, Jim und die mexikanischen Planer auf dem Bauch kriechen zu sehen – würde es dir dann
nicht auch Freude machen, mich zu zerbrechen? Würdest du dich nicht daran weiden? Möchtest du nicht, daß ich
zugebe, daß du mich besiegt hast? Möchtest du mich nicht vor dir auf dem Bauch kriechen sehen? Sag mir, was
du willst, und ich werde es tun.«
Er bewegte sich so schnell, daß es ihr gar nicht gleich bewußt wurde. Es war ihr, als hätte es mit einem Zittern
begonnen. Er kam um den Schreibtisch herum, ergriff ihre Hand und führte sie an seine Lippen. Es war zunächst
eine Geste ernstesten Respekts, als wollte er ihr damit Kraft geben; aber als er seine Lippen und dann sein
Gesicht auf ihre Hand preßte, wußte sie, daß er selber dadurch Kraft gewinnen wollte.
Er ließ ihre Hand los, sah in ihr Gesicht hinunter, in ihre verängstigten starren Augen, er lächelte und
versuchte nicht zu verbergen, daß in diesem Lächeln Leiden, Ärger und Zärtlichkeit waren.
»Dagny, du möchtest auf dem Bauch kriechen? Du weißt ja gar nicht, was das bedeutet, und wirst es auch nie
wissen. Man kriecht nicht auf dem Bauch, wenn man es ehrlich zugibt. Glaubst du, ich wüßte nicht, daß deine
Bettelei das Mutigste war, das du tun konntest? Aber… bitte mich nicht darum, Dagny.«
»Im Namen alles dessen, was ich je für dich bedeutet habe«, flüsterte sie, »und dessen, was noch in dir ist…«
In dem Augenblick, in dem sie glaubte, sie hätte diesen Blick schon einmal gesehen – genauso hatte er
ausgesehen, als er zum letzten Mal neben ihr im Bett lag und von draußen der Schein der nächtlichen Lichter der
Stadt hereinfiel –, hörte sie seinen Schrei, einen Schrei, wie sie ihn noch nie aus seinem Munde vernommen
hatte:
»Liebste, ich kann es nicht.«
Sie sahen sich erschrocken und verwundert an. Sie schwiegen. Dagny bemerkte eine Veränderung in seinem
Gesicht. Sie war so abrupt, als hätte er einen Schalter gedreht. Er lachte plötzlich, trat zurück und sagte in einem
ganz gleichgültigen und gerade darum besonders widerwärtigen Ton:
»Entschuldige bitte diesen Stilbruch. Ich soll ja viele Frauen so genannt haben, wenn auch bei anderen
Gelegenheiten.«
Dagny sackte in sich zusammen. Es kümmerte sie nicht, daß er sie mit hängendem Kopf und eingezogenen
Schultern kauern sah.
Als sie den Kopf hob, blickte sie ihn gleichgültig an. »Meinen Glückwunsch Francisco, es war eine gute Tat.
Ich habe es für bare Münze genommen. Wenn es für dich ein Vergnügen war, dann bist du auf deine Kosten
gekommen. Ich werde dich um nichts mehr bitten.«
»Ich hatte dich gewarnt.«
»Ich wußte nicht, auf welcher Seite du stehst. Ich hielt es nicht für möglich – aber du stehst auf der Seite von
Orren Boyle und Bertram Scudder und deinem alten Lehrer.«
»Meinem alten Lehrer?« fragte er scharf.
»Dr. Robert Stadler.«
Er lachte erleichtert. »Ach, der? Er ist der Plünderer, der glaubt, sein Ziel rechtfertige es, sich in den Besitz
meiner Mittel zu setzen.« Er fügte hinzu: »Weißt du, Dagny, ich möchte dich eines Tages daran erinnern, was du
eben von der Seite gesagt hast, auf der ich deiner Meinung nach stehe. Ich werde dich daran erinnern und dich
fragen, ob du es wiederholen willst.«
»Du wirst mich nicht daran zu erinnern brauchen.«
Er wandte sich zum Gehen. Er hob die Hand zum Gruß und sagte: »Wenn sie jemals gebaut wird, wünsche
ich der Rio-Norte-Linie viel Glück.«
»Sie wird gebaut. Und sie wird John-Galt-Linie heißen.«
»Wie?!«
Es war ein ehrlicher Aufschrei; sie lachte spöttisch: »John-Galt -Linie.«
»Dagny, um Himmels willen, warum?«
»Gefällt dir der Name nicht?«
»Wie bist du auf ihn gekommen?«
»Klingt er nicht besser als Mr. Nemo oder Mr. Zero?«
»Dagny, warum?«
»Weil er dich erschreckt.«
»Wofür, glaubst du, ist er ein Symbol?«
»Für das Unmögliche. Für das Unerreichbare. Und ihr habt gerade darum Angst vor meiner Linie, weil euch
dieser Name erschreckt.«
Er lachte auf. Er lachte, ohne sie anzublicken, und sie spürte mit seltsamer Klarheit, daß er sie vergessen hatte,
daß er weit weg war, daß er – in wilder Lust und Bitterkeit – über etwas lachte, an dem sie keinen Anteil hatte.
Als er sich umdrehte, sagte er ernst: »Dagny, wenn ich du wäre, würde ich sie nicht so nennen.«
Sie zuckte die Schultern. »Jim gefällt der Name auch nicht.«
»Was gefällt dir daran?«
»Ich hasse ihn, ich hasse den Untergang, auf den ihr alle wartet, das Aufgeben und diese sinnlose Frage, die
immer wie ein Hilfeschrei klingt. Ich habe es satt, die Bittrufe an John Galt zu hören. Ich werde gegen ihn
kämpfen.«
Ruhig sagte er: »Du tust es schon.«
»Ich baue eine Eisenbahnlinie für ihn. Laß ihn kommen und sie für sich beanspruchen!« Er lächelte traurig
und nickte: »Das wird er.«
Der Widerschein der Hochöfen strich über die Decke und brach sich an einer Wand. Rearden saß an seinem
Schreibtisch, auf dem nur eine Lampe brannte.
Hinter ihrem Lichtkreis verschwamm die Dunkelheit des Büros mit der Dunkelheit draußen. Es kam ihm vor,
als wäre es ein leerer Raum, als wäre der Schreibtisch ein in der Luft hängendes Floß, auf dem zwei Menschen
gefangen saßen. Dagny saß ihm gegenüber.
Sie hatte ihren Mantel über die Lehne des Sessels geworfen, und ihr schlanker, straffer Körper in dem grauen
Kostüm lehnte sich schräg zurück. Nur die Hand, die auf der Kante des Schreibtisches lag, wurde vom Licht
beschienen; nur undeutlich sah er ihr Gesicht, das Weiß ihrer Bluse, das Dreieck des offenen Kragens.
»Gut, Hank«, sagte sie, »wir werden eine neue Brücke aus Rearden Metal bauen. Dies ist der offizielle
Auftrag des offiziellen Besitzers der John-Galt-Linie.«
Er lächelte und blickte auf die Zeichnungen der Brücke, die im Licht verstreut auf seinem Schreibtisch lagen.
»Sind Sie dazu gekommen, den Plan zu prüfen, den wir Ihnen geschickt haben?«
»Ja. Er bedarf keines Kommentars und keiner Komplimente. Der Auftrag besagt alles.«
»Schön. Ich danke Ihnen. Ich fange sofort an.«
»Möchten Sie mich nicht fragen, ob die John-Galt-Linie in der Lage ist, Aufträge zu erteilen?«
»Das brauche ich nicht. Daß sie gekommen sind, genügt mir.«
Sie lächelte. »Es stimmt. Es ist alles in Ordnung, Hank. Ich bin gekommen, um Ihnen das zu sagen und die
Einzelheiten der Brücke mit Ihnen zu besprechen.«
»Da bin ich aber neugierig: Wer hat denn die Obligationen der John-Galt -Linie gekauft?«
»Ich glaube, keiner von ihnen konnte sich das eigentlich leisten. Sie alle haben wachsende Unternehmen. Sie
brauchen ihr Geld für ihre eigenen Firmen. Aber sie brauchen auch die Linie, und sie haben nie jemand um Hilfe
gebeten.« Sie zog ein Papier aus ihrer Handtasche. »Hier, das ist John Galt, Incorporated«, sagte sie und reichte
es ihm über den Schreibtisch.
Er kannte die meisten der Namen auf der Liste: Ellis Wyatt, Wyatt Oil, Colorado; Ted Nielsen, Nielsen
Motors, Colorado; Lawrence Hammond, Hammond Cars, Colorado; Andrew Stockton, Stockton Foundry,
Colorado. Ein paar waren aus anderen Staaten. Er fand den Namen: Kenneth Danagger, Danagger Coal,
Pennsylvania. Die Zeichnungsbeträge schwankten zwischen fünf- und sechsstelligen Zahlen.
Er griff nach seinem Füllfederhalter, schrieb unten auf die Liste: Henry Rearden, Rearden Steel, Pennsylvania
– 1.000.000 Dollar, und gab ihr die Liste zurück.
»Hank«, sagte sie, »das wollte ich nicht. Sie haben so viel in Rearden Metal investiert, daß es für Sie
schwieriger ist als für jeden von uns. Sie können sich nicht noch ein Risiko leisten.«
»Ich habe nie Vergünstigungen angenommen«, antwortete er kühl.
»Was meinen Sie damit?«
»Ich habe nie von jemand verlangt, für meine Projekte mehr zu riskieren als ich selbst. Wenn es ein Spiel ist,
will ich genausoviel einsetzen wie jeder andere. Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß die Strecke mein erstes
Schaustück ist?«
Sie nickte und sagte ernst: »Ich verstehe. Ich danken Ihnen.«
»Übrigens glaube ich nicht, daß ich dieses Geld verlieren werde. Ich kenne die Bedingungen, unter denen
diese Obligationen in Aktien nach meiner Wahl konvertiert werden können. Darum erwarte ich, daß ich einen
unmäßigen Profit einstreichen werde – und Sie werden ihn für mich verdienen.«
Sie lachte. »Ach Gott, Hank, ich habe mit so vielen feigen Idioten gesprochen, daß ich dadurch von ihrem
Pessimismus fast angesteckt worden bin und die Linie allmählich als ein hoffnungsloses Verlustunternehmen
angesehen habe. Ich danke Ihnen für Ihre Ermunterung. Ja, ich glaube, ich werde Ihren unmäßigen Profit für Sie
verdienen.«
»Wenn es diese feigen Idioten nicht gäbe, würde überhaupt kein Risiko dabei sein. Aber wir müssen sie
schlagen, und wir werden sie schlagen.« Er fingerte aus den Papierstapeln auf seinem Schreibtisch zwei
Telegramme heraus. »Es gibt noch ein paar Menschen mit Verstand.« Er reichte ihr die Telegramme. »Ich
glaube, es wird Ihnen Freude machen, sie zu lesen.«
In einem stand: »Wollte es eigentlich noch um zwei Jahre verschieben, aber Erklä rung des State Science
Institute zwingt mich zu sofortigem Handeln. Betrachten Sie dies als verbindliche Zusage für den Bau einer 12-
Zoll Rearden-Metal-Pipeline über sechshundert Meilen von Colorado nach Kansas City. Einzelheiten folgen.
Ellis Wyatt.«
In dem anderen stand: »Betrifft unser Gespräch über meinen Auftrag. Fangen Sie an. Ken Danagger.«
Erklärend fügte Rearden hinzu: »Er wollte eigentlich auch nicht gleich damit anfangen. Es handelt sich um
achttausend Tonnen Rearden Metal. Stollenbewehrungen. Für Kohlenbergwerke.«
Sie blickten einander an und lächelten. Sie brauchten nichts dazu zu sagen. Er senkte die Augen, als sie ihm
die Telegramme zurückreichte. Ihre Hand wirkte, wie sie dort auf der Kante seines Schreibtisches lag,
durchsichtig, eine für einen Augenblick entspannte, wehrlose Jungmädchenhand mit langen, dünnen Fingern.
»Stockton Foundry in Colorado«, sagte sie, »wird meinen Auftrag zu Ende führen – den Auftrag, von dem
Amalgamated Switch and Signal zurückgetreten ist. Sie werden sich mit Ihnen in Verbindung setzen.«
»Das haben sie bereits getan. Was haben Sie wegen der Baubelegschaft unternommen?«
»Nealys Ingenieure bleiben; bessere könnte ich gar nicht bekommen, und ebenso ist es mit den Meistern. Es
wird gar nicht so schwierig sein, sie bei der Stange zu halten. Nealy hat sowieso nicht viel getaugt.«
»Und wie steht es mit den Arbeitern?«
»Es haben sich mehr gemeldet, als ich einstellen kann. Ich glaube nicht, daß die Gewerkschaft eingreift. Die
meisten haben Decknamen angegeben. Sie sind Gewe rkschaftsmitglieder. Sie brauchen die Arbeit um jeden
Preis. Ich werde die Linie von ein paar Männern bewachen lassen, aber ich erwarte keine Schwierigkeiten.«
»Und wie ist es mit dem Aufsichtsrat Ihres Bruders?«
»Sie laufen sich alle die Hacken danach ab, Erklärungen in den Zeitungen unterzubringen, daß sie nichts mit
der John-Galt-Linie zu tun haben und für wie verwerflich sie dieses ganze Unternehmen halten. Sie haben allem
zugestimmt, was ich verlangt habe.«
Die Linie ihrer Schultern wirkte gespannt, obwohl sie bequem zurückgelehnt saß. Spannung war bei ihr etwas
Natürliches, nicht ein Zeichen von Beklommenheit, sondern ein Zeichen von Freude: die Spannung ihres im
Dunkel halb sichtbaren Körpers unter dem grauen Kostüm.
»Eddie Willers hat den Posten des Stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden übernommen«, sagte sie. »Wenn
Sie etwas brauchen, setzen Sie sich mit ihm in Verbindung. Ich fliege heute abend nach Colorado.«
»Heute abend?«
»Ja. Wir müssen Zeit einholen. Wir haben eine Woche verloren.«
»Nehmen Sie Ihr eigenes Flugzeug?«
»Ja. Ich werde in zehn Tagen zurück sein. Ich habe vor, ein- oder zweimal im Monat nach New York zu
kommen.«
»Wo wohnen Sie da unten?«
»An der Arbeitsstelle. In meinem Eisenbahnwaggon, das heißt in Eddies. Ich habe ihn mir von ihm geliehen.«
»Sind Sie dort sicher?«
»Sicher? Wovor?« Dann lachte sie überrascht. »Hank, es ist das erste Mal, daß Ihnen bewußt geworden ist,
daß ich kein Mann bin. Natürlich bin ich dort sicher.«
Er sah sie nicht an. Er blickte auf ein Blatt Papier voll Zahlen auf seinem Schreibtisch. »Ich habe meine
Ingenieure«, sagte er, »einen Kostenanschlag für die Brücke aufstellen und sie außerdem berechnen lassen,
wieviel Zeit der Bau ungefähr erfordert. Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.« Er reichte ihr den Bogen, und
sie vertiefte sich in die Zahlen.
Der Schein der Lampe fiel auf ihr Gesicht. Er sah den festen, scharf gezeichneten, sinnlichen Mund. Dann
lehnte sie sich ein wenig zurück, und er sah nur noch eine Andeutung seiner Form und die dunklen Linien ihrer
Wimpern.
Habe ich, dachte er, habe ich, seit ich dich zum ersten Mal sah, nicht daran gedacht? Habe ich nicht seit zwei
Jahren nur an uns gedacht? – Er saß reglos da und betrachtete sie. Er hörte die Worte, die auszusprechen er sich
nie erlaubt hatte, die Worte, die er gefühlt, gekannt hatte und denen er dennoch ausgewichen war, die er dadurch
zu zerstören hoffte, daß er sich dagegen wehrte, sie auch nur zu denken… Seit dem ersten Mal, da ich dich sah…
Nichts als dein Körper, dein Mund und die Art, wie deine Augen mich anblickten, wenn… In jedem Satz, den
ich zu dir sagte, in jeder Konferenz, in der du dich so sicher fühltest, in allen wichtigen Gesprächen, die wir
führten… Du hattest Vertrauen zu mir, nicht wahr? Du glaubtest, daß ich deine Größe anerkenne? Daß ich so
von dir dachte, wie du es verdientest – als wärst du ein Mann? Glaubst du, ich wüßte nicht, wie oft ich dich
verraten habe? Die einzige beglückende Begegnung meines Lebens – der einzige Mensch, den ich je achtete, der
beste Unternehmer, den ich kenne – mein Verbündeter, mein Kampfgenosse in einem verzweifelten Ringen…
Die niedrigste aller Begierden – als meine Antwort auf das Höchste, dem ich je begegnet bin…
Sie sah auf. Er beugte sich über die Papiere auf seinem Schreibtisch. Nach einer Weile sagte er: »Die
wirklichen Kosten der Brücke sind geringer als unsere ursprüngliche Berechnung. Sie haben sicher bemerkt, daß
die Stärke der Brücke auch noch ein zweites Gleis zuläßt, das sich, glaube ich, schon in wenigen Jahren
amortisieren könnte. Und wenn Sie die Kosten auf mehrere Jahre verteilen…«
Er sprach, und sie sah, wie sich sein Gesicht im Schein der Lampe von der schwarzen Leere des Büros abhob.
Die Lampe war außerhalb ihres Gesichtsfeldes, und es war ihr, als ob sein Gesicht die Papiere auf dem
Schreibtisch beleuchtete. Sein Gesicht, dachte sie, und die kalte, strahlende Klarheit seiner Stimme, seines
Geistes, seines bewußten Strebens nach einem Ziel. Das Gesicht war wie seine Worte – als ob sich darin von
dem festen Blick der Augen über die hageren Wangen bis zu der leicht spöttisch herabgezogenen Kurve des
Mundes nur eines ausdrückte: erbarmungslose Askese.

Der Tag begann mit der Meldung einer Katastrophe: ein Gü terzug von Atlantic Southern war in New Mexico
in einer scharfen Kurve im Gebirge auf einen Personenzug aufgefahren, und sämtliche Güterwagen waren den
Abhang hinuntergestürzt. Die Wagen waren mit fünftausend Tonnen Kupfer von einem Bergwerk in Arizona auf
dem Weg zu Rearden Steel gewesen.
Rearden rief den Generaldirektor von Atlantic Southern an. Aber die Antwort, die er erhielt, lautete: »Ach
Gott, Mr. Rearden, woher sollen wir das wissen? Wie soll jemand wissen, wie lange es dauern wird, bis die
Trümmer beseitigt sind? Es ist eines der schlimmsten Unglücke, die wir je hatten… Ich weiß es nicht, Mr.
Rearden. Es gibt in diesem Gebiet keine anderen Eisenbahnstrecken, und die Strecke ist auf eine Länge von
vierhundert Metern unbefahrbar. Wir hatten dort einen Felsrutsch. Unser Hilfszug kommt nicht durch. Ich weiß
nicht, wie oder wann wir die Güterwagen wieder auf die Schienen bekommen sollen. Es wird mindestens zwei
Wochen dauern… Drei Tage? Unmöglich, Mr. Rearden! – Wir können es nicht ändern! – Aber Sie können Ihren
Kunden doch sagen, das sei höhere Gewalt. Es ist schließlich nicht Ihre Schuld, wenn dadurch
Lieferverzögerungen eintreten.«
In den nächsten Stunden brachte Rearden mit Hilfe seiner Sekretärin, zweier junger Ingenieure seiner
Transportabteilung, einer Straßenkarte und des Telefons eine Reihe Lastwagen auf den Weg zum Schauplatz der
Katastrophe und schickte einen Ersatzgüterzug zum nächsten Bahnhof von Atlantic Southern. Den Zug hatte er
von Taggart Transcontinental geliehen. Die Lastwagen kamen von überall her, aus New Mexiko, Colorado und
Arizona. Reardens Mechaniker hatten telefonisch Jagd auf private Lastwagenbesitzer gemacht und ihnen eine
Bezahlung angeboten, die jede Diskussion von vornherein ausschloß.
Es war die dritte von drei Kupferladungen, die Rearden erwartet hatte. Zwei waren gar nicht auf den Weg
gebracht worden. Die eine Gesellschaft hatte Pleite gemacht, die andere bat noch um Aufschub, weil sie nicht
schneller liefern konnte. Er hatte sich um all dies gekümmert, ohne eine seiner vielen Verabredungen abzusagen,
ohne die Lautstärke seiner Stimme zu steigern, ohne ein Zeichen von Anstrengung, Unsicherheit oder
Beklemmung; er hatte so schnell und entschlossen gehandelt wie ein militärischer Befehlshaber bei plötzlichem
feindlichen Feuer – und Owen Ives, seine Sekretärin, war sein durch nichts aus der Ruhe zu bringender Adjutant
gewesen. Sie war eine Frau Ende Zwanzig, deren harmonisches, undurchdringliches Gesicht vorzüglich in ein
mit allen Schikanen ausgestattetes Büro paßte; sie war eine seiner tüchtigsten Angestellten; die Art, wie sie ihre
Pflicht erfüllte, verriet einen klaren Verstand, der bei der Arbeit jedes Gefühl als etwas unverzeihlich
Unmoralisches betrachtete.
Als alles Notwendige geschehen war, sagte sie nur: »Mr. Rearden, ich glaube, wir sollten all unsere
Lieferanten bitten, das Material durch Taggart Transcontinental befördern zu lassen.«
»Ich glaube das auch«, hatte er geantwortet und dann hinzugefügt: »Rufen Sie Fleming in Colorado an. Sagen
Sie, ich nehme eine Option auf diese Kupfergrube.«
Er saß wieder an seinem Schreibtisch, sprach an einem Telefon mit seinem Werksleiter und an einem anderen
mit seinem Einkäufer, um festzustellen, wann die Lieferungen von Eisenerz fällig und wie viele Tonnen noch
vorhanden waren – er konnte es auf keinen Fall riskieren, daß auch nur eine Stunde Verzögerung eintrat. Es ging
um den letzten Stich für die Schienen der John-Galt -Linie. Da klingelte der Hausapparat und Miss Ives sagte,
seine Mutter sei draußen und wolle ihn sprechen.
Er hatte seine Familie gebeten, nie ohne vorherige Anmeldung ins Werk zu kommen. Er war froh gewesen,
daß sie es haßten und selten in seinem Büro erschienen. Am liebsten hätte er seine Mutter fortgeschickt; statt
dessen sagte er ruhig: »Gut. Sie soll hereinkommen.«
Kampflustig und zugleich wehrlos kam seine Mutter herein. Sie sah sich in dem Büro um, als wüßte sie, was
es ihm bedeutete, und als ob sie ihre Entrüstung über alles äußern wollte, was für ihn wichtiger war als sie selbst.
Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie sich in einem Sessel niederließ. Sie legte ihre Tasche bald hierhin, bald
dorthin, strich ihre Handschuhe und die Falten ihres Kleids glatt und sagte endlich: »Es ist reizend, wenn eine
Mutter in einem Vorzimmer warten und eine Stenotypistin um Erlaubnis bitten muß, ehe sie ihren eigenen Sohn
sehen darf, der…«
»Mutter, ist es etwas Wichtiges? Ich habe heute sehr viel zu tun.«
»Du bist nicht der einzige, der seine Probleme hat. Natürlich ist es wichtig. Du wirst ja wohl nicht glauben,
ich mache mir die Mühe, hierher zu fahren, wenn es nicht wichtig ist.«
»Worum handelt es sich?«
»Um Philip.«
»Ach, um Philip?«
»Er ist unglücklich.«
»Na und?«
»Er findet es nicht richtig, daß er von deinem Wohlwollen abhängig ist und von Almosen leben muß und nie
einen Dollar selbst verdient.«
»Aha«, sagte er mit einem überraschten Lächeln. »Ich habe schon lange darauf gewartet, daß ihm das klar
wird.«
»Für einen sensiblen Menschen ist das eine unhaltbare Lage.«
»Gewiß.«
»Es freut mich, daß du da mit mir übereinstimmst. Und jetzt mußt du ihm eine Stellung geben.«
»Eine… was?«
»Du mußt ihm eine Stellung geben, hier im Werk – aber eine hübsche, saubere Tätigkeit natürlich, mit einem
Schreibtisch und einem Büro und einem anständigen Gehalt, wo er nicht mit deinen Arbeitern und deinen
stinkenden Hochöfen in Berührung kommt.«
Obwohl er die Worte deutlich hörte, glaubte er, sie nicht richtig zu verstehen. »Mutter, das ist nicht dein
Ernst.«
»Selbstverständlich ist es mein Ernst. Ich habe herausbekommen, daß er sich das wünscht; er ist nur zu stolz,
dich darum zu bitten. Aber wenn du ihm die Stellung anbietest und so tust, als würdest du ihn um einen Gefallen
bitten, dann wird er bestimmt beglückt zugreifen. Um dir das zu sagen, bin ich hergekommen – damit er gar
nicht merkt, daß ich dich erst darauf gebracht habe.«
Es ging über seinen Horizont zu begreifen, was er da hörte. Ein einziger Gedanke stand ihm so klar vor
Augen, daß er es einfach nicht zu fassen vermochte, daß andere diesen Gedanken nicht sahen. Wie ein Schrei der
Bestürzung brach dieser Gedanke aus ihm heraus: »Aber er versteht doch nichts von Stahl!«
»Was hat das damit zu tun? Er braucht eine Stellung.«
»Aber er könnte sie nicht ausfüllen.«
»Er muß Selbstvertrauen gewinnen und sich wichtig fühlen.«
»Aber er wäre zu nichts nutze.«
»Er muß das Gefühl haben, daß er gebraucht wird.«
»Hier? Wofür könnte ich ihn brauchen?«
»Du stellst so viele Fremde ein.«
»Ich stelle Leute ein, die etwas leisten. Was hat er zu bieten?«
»Er ist immerhin dein Bruder.«
»Was hat das damit zu tun?«
Sie verstummte erschrocken und starrte ihn ungläubig an. Einen Augenblick sahen sie einander in die Augen,
wie über eine weite Entfernung hinweg.
»Er ist dein Bruder«, sagte sie, als wäre ihre Stimme eine Schallplatte, die eine Zauberformel wiederholte, an
der zu zweifeln sie nicht wagen durfte. »Er braucht eine Stellung in der Welt. Er braucht ein Gehalt, damit er das
Gefühl hat, er bekommt sein Geld als angemessenes Gehalt und nicht als Almosen. Das mußt du doch verstehen,
Henry.«
»Als angemessenes Gehalt? Aber er wäre mir keine zehn Cent wert.«
»Ist das dein erster Gedanke? Dein Gewinn? Ich bitte dich, deinem Bruder zu helfen, und du rechnest aus, was
du an ihm verdienen kannst, und willst ihm nur helfen, wenn es dir etwas einbringt. So ist es doch?« Sie sah den
Ausdruck in seinen Augen und blickte weg, sprach aber hastig mit erhobener Stimme weiter. »Ja, gewiß, du
hilfst ihm – wie du irgendeinem Bettler helfen würdest. Materielle Hilfe – das ist alles, was du kannst und
verstehst. Hast du darüber nachgedacht, was er geistig braucht und was eine Stellung für seine Selbstachtung
bedeutet? Er will nicht wie ein Bettler leben. Er will von dir unabhängig sein.«
»Dadurch, daß er von mir ein Gehalt für eine Arbeit bekommt, die er nicht leisten kann?«
»Darauf käme es doch für dich gar nicht an. Du hast hier genug Leute, die dir Geld einbringen.«
»Willst du, daß ich, um ihm zu helfen, einen Schwindel aufziehe?«
»Das verlangt niemand von dir.«
»Ist es ein Schwindel oder nicht?«
»Ich kann eben nicht mit dir sprechen. Weil du unmenschlich bist. Du hast kein Mitleid, keine Gefühle für
deinen Bruder, kein Verständnis für seine Gefühle.«
»Ist es ein Schwindel oder nicht?«
»Du hast mit niemand Erbarmen.«
»Würde so ein Schwindel deiner Meinung nach gerecht sein?«
»Du, der unmoralischste aller Menschen, denkst an nichts als Gerechtigkeit! Du empfindest überhaupt keine
Liebe.«
Er sprang auf. So abrupt wie immer, wenn ein Gespräch für ihn beendet war und er zu verstehen gab, daß sein
Besucher zu gehen hatte. »Mutter, ich leite ein Stahlwerk und kein Bordell.«
»Henry!« stöhnte sie empört.
»Sprich nie wieder mit mir über eine Stellung für Philip. Ich würde ihm nicht einmal die Stelle eines
Aschenfegers geben. Ich will ihn nicht in meinem Werk haben. Ich möchte, daß du das ein für allemal verstehst.
Du magst versuchen, ihm auf jede Weise zu helfen, aber betrachte nie mein Werk als Mittel zu diesem Zweck.«
Sie reckte höhnisch ihr faltiges Kinn. »Dein Werk ist wohl ein heiliger Tempel?«
»Wie?… Ja«, sagte er leise, selbst über diese Vorstellung erstaunt.
»Machst du dir nie Gedanken über die Menschen und deine moralischen Pflichten?«
»Ich weiß nicht, was du Moral zu nennen beliebst. Nein, ich mache mir keine Gedanken über die Menschen –
aber wenn ich Philip eine Stelle geben würde, könnte ich keinem fähigen Mann mehr in die Augen blicken, der
Arbeit braucht und sie verdient.«
Sie stand auf. Sie hatte den Kopf in die Schultern gezogen, und voll Bitterkeit rief sie: »Das ist deine
Grausamkeit, das ist das Niederträchtige und Eigennützige an dir. Wenn du deinen Bruder liebtest, würdest du
ihm eine Stellung geben, die er nicht verdient, gerade weil er sie nicht verdient. Das würde wahre Liebe, Güte
und Brüderlichkeit sein. Was hat Liebe sonst für einen Sinn? Wenn ein Mensch eine Stellung verdient, dann ist
es keine Tugend, sie ihm zu geben. Tugend ist es, sie dem zu geben, der sie nicht verdient.«
Er blickte sie an, wie ein Kind, das einen unheimlichen Alptraum erlebt. »Mutter«, sagte er leise, »du weißt
nicht, was du sagst. Selbst wenn ich dich noch so verachtete, ich könnte das nie für deine wahre Meinung
halten.«
Ihr Blick verwunderte ihn mehr als alles andere; es war ein Blick der Niederlage, und dennoch spiegelte sich
etwas Listiges, Verschlagenes darin. Es war wie ein Warnsignal, das ihm sagte, daß er etwas gesehen hatte, was
er verstehen mußte. Aber er konnte es nicht begreifen, er konnte sich nicht einmal zwingen, es für
nachdenkenswert zu halten. Er konnte keinen anderen Hinweis finden als sein leichtes Unbehagen und seinen
Ekel – und außerdem hatte er jetzt keine Zeit dafür, denn er saß bereits seinem nächsten Besucher gegenüber – er
hörte einem Mann zu, der um sein Leben kämpfte.
Der Mann drückte es nicht so aus, aber Rearden wußte, daß es darum ging. Was der Mann in Worte faßte, war
nur eine Bitte um fünfhundert Tonnen Stahl.
Es war Mr. Ward von der Ward Harvester Company in Minnesota, einem bescheidenen Unternehmen mit
untadeligem Ruf, jener Art von Firma, die selten groß wird, sich aber immer durchschlägt. Mr. Ward war der
Vertreter der vierten Generation der Familie, der diese Fabrik gehörte, und hatte sie bis jetzt ebenso geschickt
und verantwortungsbewußt geführt wie seine Vorfahren.
Er war ein Mann in den Fünfzigern mit einem kantigen, unbeweglichen Gesicht. Wenn man ihn ansah, merkte
man, daß er es für ebenso unanständig hielt, in seinem Gesicht zu zeigen, was er litt, wie sich in aller
Öffentlichkeit auszuziehen. Er sprach in einem trockenen, geschäftlichen Ton. Er sagte, er habe von jeher wie
schon sein Vater mit einem der kleinen Stahlwerke zusammengearbeitet, die jetzt von Orren Boyles Associated
Steel geschluckt worden waren. Er habe ein Jahr lang auf seine letzte Stahllieferung gewartet. Er habe sich schon
einen ganzen Monat hindurch bemüht, Rearden persönlich zu sprechen.
»Ich weiß, Ihr Werk läuft an der Kapazitätsgrenze, und ich weiß darum auch, daß Sie keine neuen Aufträge
annehmen können, weil bereits Ihre größten und ältesten Kunden warten müssen, bis sie an die Reihe kommen,
denn Sie sind der einzige anständige – ich meine, zuverlässige – Stahlfabrikant, den es noch im Land gibt. Ich
weiß nicht, welche Gründe ich Ihnen nennen soll, damit Sie in meinem Fall eine Ausnahme machen. Aber mir
blieb nichts anderes übrig. Ich muß sonst die Tore meiner Fabrik für immer schließen, und ich« – seine Stimme
brach ein wenig –, »und das kann ich mir einfach noch nicht vorstellen… und darum wollte ich einmal mit Ihnen
reden, selbst wenn ich mir wenig Erfolg davon verspreche… Ich muß jedenfalls alles nur Mögliche versuchen.«
Dies war eine Sprache, die Rearden verstehen konnte. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen«, sagte er.
»Aber es ist eine besonders schwierige Zeit für mich, weil ich einen sehr großen und sehr schwierigen Auftrag
auszuführen habe, der allem anderen vorgeht.«
»Ich weiß, aber würden Sie mir trotzdem einen Augenblick Gehör schenken, Mr. Rearden?«
»Gewiß.«
»Wenn es eine Geldfrage ist: Ich zahle Ihnen jeden Preis, den Sie verlangen. Wenn sich das Geschäft dadurch
für Sie lohnt, dann berechnen Sie mir den doppelten Preis, aber geben Sie mir den Stahl. Es würde mir nichts
ausmachen, wenn ich die Mähmaschinen in diesem Jahr mit Verlust verkaufen müßte. Ich brauche dann
wenigstens die Firma nicht zu schließen. Ich besitze persönlich genug, um ein paar Jahre lang Verluste tragen zu
können, wenn es nötig ist, um durchzuhalten – denn ich glaube, die Dinge können nicht mehr lange so
weitergehen, es muß besser werden, es muß besser werden, oder wir…« Er vollendete den Satz nicht. Dann sagte
er mit fester Stimme: »Es muß besser werden.«
»Es wird besser werden«, sagte Rearden.
Der Gedanke an die John-Galt -Linie gab diesen zuversichtlichen Worten einen besonderen Unterton. Der Bau
der John-Galt-Linie ging vorwärts. Die Angriffe auf sein Metall hatten aufgehört. Es war ihm, als würden er und
Dagny Taggart, auch wenn sie durch viele Meilen getrennt waren, jetzt nebeneinander vor einer offenen Ebene
stehen, in der es keine Hindernisse mehr gab. Sie lassen uns jetzt in Ruhe, dachte er. Die Worte waren wie eine
Kampfeshymne in ihm: Sie lassen uns in Ruhe.
»Unsere Kapazität beträgt tausend Mähmaschinen im Jahr«, sagte Mr. Ward. »Im letzten Jahr haben wir
dreihundert hergestellt. Ich habe den Stahl von bankrotten Firmen zusammengekratzt und hier und dort von
großen Werken ein paar Tonnen erbettelt und bin wie ein Hausierer überall herumgelaufen – aber ich will Sie
nicht damit langweilen, nur habe ich nie gedacht, daß es einmal so weit mit mir kommen würde. Und die ganze
Zeit hat mir Mr. Orren Boyle geschworen, er werde mir den Stahl in der nächsten Woche liefern. Aber was er
auch immer hat produzieren können, es ging an seine neuen Kunden, aus Gründen, über die sich niemand
auslassen möchte. Ich habe nur raunen hören, es seien Männer mit einem gewissen politischen Einfluß. Und jetzt
kann ich Mr. Boyle überhaupt nicht mehr erreichen. Er ist schon seit über einem Monat in Washington, und in
seinem Büro sagt man mir, sie könnten nichts machen, weil sie selbst kein Erz bekommen.«
»Verschwenden Sie nicht Ihre Zeit mit denen«, sagte Rearden, »Sie werden da nie etwas bekommen.«
»Wissen Sie, Mr. Rearden«, sagte Mr. Ward im Ton eines Mannes, der plötzlich etwas entdeckt, ohne selber
recht daran glauben zu können, »ich glaube, in der Art, wie Mr. Boyle seine Firma leitet, geht nicht alles mit
rechten Dingen zu. Ich verstehe nicht, worauf er hinauswill. Bei ihm liegt die Hälfte der Hochöfen still, aber im
letzten Monat standen in allen Zeitungen diese großen Berichte über Associated Steel. Über ihre Produktion? O
nein – über die prächtige Siedlung, die Mr. Boyle gerade für seine Arbeiter gebaut hat. In der letzten Woche hat
Mr. Boyle an alle Schulen Farbfilme geschickt, in denen man sieht, wie Stahl hergestellt wird und wieviel der
Stahl für jeden bedeutet. Jetzt hat er eine Rundfunksendung, in der über die Bedeutung der Stahlindustrie für das
Land geredet und immer wieder betont wird, daß die Stahlindustrie ein Ganzes bleiben muß. Ich verstehe nicht,
was er damit meint.«
»Ich verstehe es, aber machen Sie sich keine Gedanken darüber. Das wird ihm auch nichts nützen.«
»Wissen Sie, Mr. Rearden, ich mag Leute nicht, die unentwegt davon sprechen, daß alles, was sie tun, nur
dem Wohl der anderen dient. Es ist nicht wahr, und selbst wenn es wahr wäre, wäre es nicht gut. Darum sage ich,
ich brauche den Stahl, um meine eigene Firma zu retten, weil sie mir gehört, weil, wenn ich sie schließen
müßte… Ach, niemand versteht das heutzutage.«
»Ich verstehe es.«
»Ja… Ja, ich glaube, Sie verstehen es… und darum begreifen Sie auch, daß es mir allein darum geht. Aber da
sind auch meine Kunden. Sie haben seit Jahren mit mir zusammen gearbeitet. Sie rechnen auf mich. Es ist fast
unmöglich, Maschinen zu bekommen. Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet, wenn zum Beispiel in
Minnesota die Bauern kein Werkzeug bekommen können, wenn mitten in der Erntezeit Maschinen kaputtgehen
und man keinen Ersatz findet… außer in Mr. Orren Boyles Farbfilmen darüber… Ach ja… Und dann sind da
meine Arbeiter. Einige waren schon zur Zeit meines Vaters bei uns. Sie finden jetzt nirgendwo anders mehr
Arbeit.«
Es ist unmöglich, dachte Rearden, mehr Stahl aus dem Werk herauszupressen, wo jeder Hochofen, jede
Stunde und jede Tonne für die nächsten sechs Monate im voraus eingeteilt ist. Aber… Die John-Galt-Linie,
dachte er. Wenn er das konnte, konnte er alles… Es war ihm, als wollte er zehn neue Probleme auf einmal lösen.
Es war ihm, als wäre dies eine Welt, in der ihm nichts unmöglich war.
Er griff nach dem Telefonhörer und sagte: »Warten Sie, ich werde mal mit meinem Werksleiter sprechen und
mich erkundigen, wieviel wir in den nächsten Wochen produzieren. Vielleicht kann ich ein paar Tonnen von
einem der Aufträge abzweigen und…«
Mr. Ward wandte die Augen hastig ab, aber Rearden fing noch einen Blick von ihm auf. Für ihn bedeutet es
so viel und für mich so wenig, dachte er.
Er hob den Hörer ab, mußte ihn aber wieder auflegen, denn die Tür seines Büros flog auf, und Owen Ives kam
hereingestürmt.
Es war ganz unvorstellbar, daß Miss Ives sich einen solchen Formfehler erlaubte, daß ihr sonst so ruhiges
Gesicht seltsam verzerrt aussah, daß ihre Augen blind zu sein schienen und daß ihre Schritte so polternd klangen.
»Entschuldigen Sie die Störung, Mr. Rearden«, sagte sie, aber er merkte, daß sie weder das Büro noch Mr. Ward,
noch ihn selbst sah. »Ich hielt es für richtig, Ihnen gleich zu sagen, daß das Chancenausgleichsgesetz eben
angenommen worden ist.«
Es war der nüchterne Mr. Ward, der schrie: »O Gott, nein! O nein!« Rearden war aufgesprungen. Er stand
unnatürlich gebeugt, seine eine Schulter fiel nach vorn. Aber das dauerte nur Sekunden. Dann blickte er um sich,
als ob er wieder zu sich käme, sagte: »Verzeihen Sie bitte«, wobei er Miss Ives und Mr. Ward zugleich ansah,
und setzte sich wieder.
»Man hat uns doch gar nicht informiert, daß die Vorlage bereits im Parlament eingebracht war?« fragte er mit
beherrschter sachlicher Stimme.
»Nein, Mr. Rearden. Anscheinend ist es eine Art Überrumpelung gewesen, und man hat nur fünfundvierzig
Minuten darüber beraten.«
»Haben Sie das von Mr. Mouch gehört?«
»Nein, Mr. Rearden.« Sie betonte das Nein. »Der Bürodiener vom fünften Stock kam hereingerannt, um mir
zu sagen, was er gerade im Rundfunk gehört hatte. Ich habe die Zeitungen angerufen, um es nachzuprüfen. Ich
habe versucht, Mr. Mouch in Washington zu erreichen. Aber in seinem Büro hat sich niemand gemeldet.«
»Wann haben wir zuletzt von ihm gehört?«
»Vor zehn Tagen, Mr. Rearden.«
»Gut. Ich danke Ihnen, Gwen. Versuchen Sie weiter, sein Büro zu erreichen.«
»Ja, Mr. Rearden.«
Sie ging hinaus. Mr. Ward, der inzwischen aufgestanden war und den Hut in der Hand hielt, flüsterte: »Ich
glaube, es ist besser…«
»Setzen Sie sich«, sagte Rearden heftig.
Mr. Ward gehorchte und starrte ihn an.
»Wir sprachen doch wohl von einem Geschäft?« sagte Rearden.
Mr. Ward konnte das Gefühl nicht deuten, das Reardens Mund verzerrte, als er sagte: »Mr. Ward, was war es
noch, was uns die größten Schweine auf der Welt unter anderem vorwerfen? Ach ja, unser Motto ‘Business as
usual’. Also, business as usual, Mr. Ward.«
Er hob den Telefonhörer ab und verlangte seinen Werksleiter. »Sagen Sie, Pete… – Was? – Ja, ich hab’s
gehört. Wir sprechen später darüber. Was ich wissen wollte, ist, ob Sie mir über die Planung hinaus in den
nächsten Wochen fünfhundert Tonnen Stahl überlassen können? – Ja, ich weiß… ich weiß, es ist schwer…
Geben Sie mir die Daten und die Zahlen.« Während er hörte, machte er hastig ein paar Notizen auf einem Blatt
Papier. Dann sagte er: »Gut, ich danke Ihnen« und legte den Hörer wieder auf.
Ein paar Augenblicke betrachtete er die Zahlen, machte am Rande des Blattes ein paar kurze Berechnungen
und hob dann den Kopf. »Es klappt, Mr. Ward«, sagte er. »Sie bekommen Ihren Stahl in zehn Tagen.« Als Mr.
Ward gegangen war, ging Rearden in das Vorzimmer. Eiskalt sagte er zu Miss Ives: »Telegraphieren Sie an
Fleming in Colorado. Er wird wissen, warum ich auf diese Option verzichten muß.« Sie neigte den Kopf wie
eine gehorsame Sklavin. Sie sah ihn nicht an.
Er wandte sich seinem nächsten Besucher zu und sagte mit einer einladenden Geste: »Kommen Sie rein. Wie
geht es Ihnen?«
Ich werde später darüber nachdenken, dachte er; man geht Schritt für Schritt, und man muß in Bewegung
bleiben. Im Augenblick war er sich mit unnatürlicher Klarheit und brutaler Vereinfachung, wodurch es ihm
geradezu leicht wurde, nur des einen bewußt: Ich muß weitermachen! Dieser Gedanke stand ganz allein, ohne
Vergangenheit und ohne Zukunft. Er dachte nicht nach, weshalb er weitermachen mußte oder warum das so
wichtig war. Es war wie ein Befehl, dem er gehorchte. Schritt für Schritt zog er das Programm seiner
Verabredungen so durch, wie es festgelegt war.
Es war schon spät, als sein letzter Besucher ging und er aus seinem Büro herauskam. Alle Angestellten waren
bereits nach Hause gegangen. Miss Ives saß allein an ihrem Schreibtisch in dem leeren Raum. Sie saß aufrecht
und steif und hielt die Hände auf ihrem Schoß gefaltet. Sie hatte den Kopf nicht gesenkt, sondern hielt ihn
krampfhaft hoch, und ihr Gesicht war wie erstarrt. Lautlos und ohne daß ihr Gesicht zuckte, rannen Tränen ihre
Wangen hinunter, gegen ihren Willen und unaufhaltsam.
Sie sah ihn und sagte kühl und schuldbewußt: »Verzeihen Sie, Mr. Rearden.« Sie versuchte dabei, ihr Gesicht
zu verbergen.
Er ging auf sie zu. »Ich danke Ihnen«, sagte er sanft. Sie blickte erstaunt zu ihm auf.
Er lächelte. »Unterschätzen Sie mich nicht, Gwen? Ist es nicht zu früh, mich zu bewe inen?«
»Das andere hätte ich alles ertragen«, flüsterte sie, »aber die« – sie deutete auf die Zeitungen auf ihrem
Schreibtisch –, »nennen es einen Sieg der Anti-Habgier.«
Er lachte laut. »Ich verstehe nicht, wieso eine solche Sprachverrenkung Sie so aufregen kann«, sagte er.
»Aber was schreiben sie denn sonst noch?« Als sie ihn ansah, entspannte sich ihr Mund ein wenig. Das Opfer,
das sie nicht schützen konnte, war das einzige, was ihr Halt gab in einer Welt, die sich rings um sie auflöste.
Er strich mit der Hand leise über ihre Stirn; es war eine Geste, die seinem sonst so förmlichen Verhalten
widersprach, und eine stumme Anerkennung der Dinge, über die er nicht gelacht hatte. »Gehen Sie nach Hause,
Owen. Ich brauche Sie heute abend nicht mehr. Ich werde selber auch bald nach Hause gehen. Bitte warten Sie
nicht auf mich.«
Es war lange nach Mitternacht. Er saß immer noch an seinem Schreibtisch über den Blaupausen der Brücke
für die John-Galt-Linie. Plötzlich übermannte ihn ein Gefühl, vor dem er nicht länger flüchten konnte, als ob der
Vorhang der Bewußtlosigkeit gerissen wäre.
Er sank halb nach vorn, obwohl er sich dagegen wehrte, mit der Brust an die Kante des Schreibtisches
gepreßt, wie um einen Halt zu suchen. Sein Kopf hing herunter, als könnte er ihn nur mit Mühe daran hindern,
auf den Schreibtisch zu sinken. Ein paar Augenblicke lang saß er so da, spürte nichts als Schmerz, einen wilden
Schmerz, einen wesenlosen, grenzenlosen Schmerz – er wußte nicht, ob dieser Schmerz, der ihn am Denken
hinderte, ein seelischer oder ein körperlicher Schmerz war.
Nach einer Weile ging es vorüber. Er hob den Kopf, richtete sich auf und lehnte sich in seinen Stuhl zurück.
Daß er diesen Moment um Stunden hinausgeschoben hatte, war nichts, dessen er sich schämen mußte. Die Sache
war gelaufen. Durch Grübelei konnte er nichts mehr ändern.
Denken – sagte er ruhig zu sich selbst – ist eine Waffe, die man gebraucht, um zu handeln. Hier war kein
Handeln möglich. Denken ist das Instrument, mit dem man eine Wahl trifft. Ihm war keine Wahl geblieben.
Denken setzt einem Menschen das Ziel und zeigt ihm den Weg, auf dem er es erreicht. Jetzt, da sein Leben Stück
für Stück aus ihm herausgerissen wurde, hatte er keine Stimme, kein Ziel, keinen Weg, keine Verteidigung.
Dieser Gedanke überraschte ihn. Zum ersten Mal wurde ihm bewußt, daß er nie Furcht gekannt hatte, denn in
jedem Unglück hatte er das allmächtige Heilmittel besessen, handeln zu können. Nein, dachte er, nicht
Siegesgewißheit – wer kann sie je haben? –, Handlungsspielraum ist das einzige, was man braucht. In diesem
Augenblick sah er zum ersten Mal objektiv, was Angst wirklich ist: mit auf dem Rücken gefesselten Händen der
Vernichtung ausgeliefert zu sein.
Okay, dachte er, dann machst du eben mit gefesselten Händen weiter. Du machst weiter, auch wenn du in
Ketten liegst. Du machst weiter. Du mußt weitermachen… Aber eine andere Stimme, die er nicht hören wollte,
gegen die er ankämpfte und gegen die er anschrie, sagte ihm: Es hat keinen Zweck… es hat keinen Sinn…
Wofür? Laß es.
Er konnte die Stimme nicht zum Verstummen bringen. Er saß still über den Zeichnungen für die Brücke der
John-Galt-Linie und hörte eine Stimme, bei deren Klang er Bilder aufsteigen sah: Sie hatten es ohne ihn
beschlossen… Sie hatten ihn nicht eingeladen, hatten ihn nicht gefragt, hatten ihn nicht sprechen lassen… Sie
hatten es nicht einmal für ihre Pflicht gehalten, es ihm mitzuteilen – ihm mitzuteilen, daß sie ihn zum Krüppel
gemacht hatten und daß er nun sehen mußte, wie er damit zurecht kam… Von allen, die es betraf, wer es auch
war, aus welchem Grund und aus welcher Notwendigkeit auch immer, war er der einzige, auf den sie keine
Rücksicht hatten zu nehmen brauchen.
Auf dem Schild am Ende einer langen Straße stand: »Rearden Ore«. Es hing über schwarzen Metallstapeln…
und über Tagen und Nächten… über einer Uhr, deren jedes Ticken ein Tropfen seines Bluts war… des Bluts, das
er frohen Herzens gegeben hatte, als Bezahlung für einen fernen Tag und ein Schild über einer Straße… die er
mit seiner Mühe, seiner Kraft, seinem Intellekt, seiner Hoffnung bezahlt hatte… zerstört durch die Laune einiger
Männer, die sich zusammensetzten und abstimmten… Wer wußte, wes Geistes Kinder sie waren?… Wer wußte,
wessen Wille ihnen die Macht gegeben hatte?… Welches Motiv bewegte sie?… Was wußten sie?… Wer von
ihnen konnte ohne Hilfe einen Klumpen Eisenerz aus der Erde herausholen?… Zerstört durch die Laune von
Männern, die er nie gesehen hatte und die diese Metallstapel nie gesehen hatten… zerstört, weil sie es so
beschlossen hatten. Mit welchem Recht?
Er schüttelte den Kopf. Es gibt Dinge, über die man nicht nachdenken darf, dachte er. Es gibt Gemeinheiten,
die den, der sie zur Kenntnis nimmt, anstecken. Es gibt eine Grenze dessen, was ein Mensch aushalten kann.
Man darf nicht daran denken oder versuchen, bis dahin vorzustoßen.
Er fühlte sich ruhig und sagte sich, daß er morgen wieder frisch und kräftig sein würde. Er würde sich die
Schwäche dieser Nacht vergeben. Wie die Tränen, die man bei einem Begräbnis weinen darf. Man lernt dann mit
einer offenen Wunde weiterzuleben oder einer demontierten Fabrik.
Er stand auf und ging ans Fenster. Das Werk schien verlassen und still; über schwarzen Schornsteinen, langen
Rauchfahnen, dem Gewirr von Kränen und Brücken sah er einen schwachen roten Schein.
Er spürte eine trostlose Einsamkeit, wie er sie noch nie erlebt hatte. Er dachte, daß Gwen Ives und Mr. Ward
bei ihm Hoffnung, Erleichterung, neuen Mut finden konnten, aber bei wem konnte er das finden? Dieses eine
Mal brauchte auch er es. Wie gern hätte er einen Freund gehabt, der ihn leiden sehen durfte, einen Freund, der
nichts von ihm begehrte, an den er sich einen Augenblick lang anlehnen konnte, nur um zu sagen: »Ich bin sehr
müde«, und bei dem er einen Augenblick Ruhe fand. War unter all den Menschen, die er kannte, einer, den er
jetzt gern an seiner Seite gehabt hätte? Unmittelbar und erschreckend vernahm er die Antwort in seinem Inneren:
Francisco d’Anconia.
Sein wütendes Lachen brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück; die Absurdität dieses Verlangens gab
ihm seine Ruhe wieder. So weit kommt es mit dir, dachte er, wenn du deiner Schwäche nachgibst.
Er stand am Fenster und versuchte, nicht zu denken. Aber beständig hörte er Worte in sich: Rearden Ore…
Rearden Coal… Rearden Steel… Rearden Metal… Was hatte es für einen Sinn? Warum hatte er das alles
geschaffen? Warum sollte er je wieder etwas schaffen wollen?
Sein erster Tag auf einem Felsvorsprung der Eisenerzgruben… der Tag, als er im Wind stand und in die
Ruinen eines Stahlwerks hinunterblickte… der Tag, als er hier stand in seinem Büro, an diesem Fenster und
glaubte, daß sich eine Brücke, die unvorstellbare Lasten tragen konnte, aus nur einigen wenigen Elementen
bauen ließe, wenn man einen Hohlkasten mit einem Bogen kombinierte, wenn man diagonale Streben…
Er hielt in seinen Gedanken inne. An jenem Tag hatte er noch nicht an die Verbindung eines Hohlkastens mit
einem Bogen gedacht.
Im nächsten Augenblick stand er über seinen Schreibtisch gebeugt, wo er mit einem Bein auf dem Sit z seines
Stuhls kniete, weil er gar nicht die Zeit hatte, sich hinzusetzen, und zeichnete Linien, Kurven, Dreiecke,
Zahlenkolonnen wirr durcheinander auf die Blaupausen, auf die Löschunterlage, auf irgendwelche Briefe.
Eine Stunde später meldete er ein Ferngespräch an und wartete darauf, daß das Telefon neben einem Bett in
einem Eisenbahnwagen auf einem Abstellgleis klingelte. »Dagny«, sagte er, »die Zeichnungen, die ich Ihnen von
unserer Brücke geschickt habe, können Sie alle in den Mülleimer werfen, denn… – Was? – Ach, das? Zum
Teufel damit! Was scheren uns die Plünderer und ihre Gesetze! Denken Sie nicht daran! Dagny, was macht uns
das schon! Erinnern Sie sich an Reardens phantastische Ingenieurleistung, die Sie so sehr bewundert haben? Sie
taugt nicht das geringste. Ich habe mir eine Konstruktion überlegt, die alles schlägt, was jemals gebaute wurde!
Ihre Brücke kann vier Züge auf einmal tragen, hält dreihundert Jahre und kostet weniger als Ihre billigste
Abwasseranlage. Ich schicke Ihnen die Zeichnungen in zwei Tagen, aber ich wollte es Ihnen gleich mitteilen. Es
ist eine Kombination eines Hohlkastens mit einem Bogen. Wenn wir diagonale Streben nehmen und… – Was? –
Ich kann Sie nicht verstehen. Haben Sie sich erkältet?… – Wofür wollen Sie mir jetzt schon danken? Warten Sie
damit, bis ich es Ihnen erkläre.«

VIII. Die John-Galt-Linie

Der Arbeiter sah Eddie Willers von der anderen Seite des Tisches an und lächelte. »Ich komme mir wie ein
Flüchtling vor«, sagte Eddie Willers. »Sie wissen wohl, warum ich seit Monaten nicht hier gewesen bin?«
Er deutete auf die Kantine. »Ich spiele jetzt den Stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden, den
Stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden und Betriebsleiter. Um Gottes willen, nehmen Sie das nicht ernst. Ich
habe es so lange ertragen, wie ich konnte, aber dann mußte ich wenigstens einmal einen Abend flüchten… Das
erste Mal, als ich nach meiner angeblichen Beförderung zum Essen hier herunterkam, haben mich alle so
angestarrt, daß ich nicht wiederzukommen wagte. Nun, sollen die starren! Sie tun es nicht. Ich bin froh, daß das
für Sie keinen Unterschied macht. – Nein, ich habe sie seit zwei Wochen nicht gesehen. Aber ich telefoniere
jeden Tag mit ihr. Manchmal sogar zweimal am Tag. – Ja, ich weiß, wie ihr zumute ist. Sie ist begeistert. Was
hört man schon durchs Telefon – vibrierende Laute, nicht wahr? Ihre Stimme klingt, als ob sie sich in leichte
Schwingungen verwandelte… Sie verstehen wohl, was ich meine. Sie freut sich, daß sie diesen furchtbaren
Kampf allein führt und gewinnt. – O ja, sie gewinnt ihn! Wissen Sie, warum man seit einiger Zeit in den
Zeitungen über die John-Galt-Linie nichts mehr liest? Weil alles so gut klappt… und die Rearden Metal-
Schienen sind die großartigsten, die je gelegt wurden. Aber was hilft uns das, wenn wir keine Lokomotiven
haben, die genug Leistung bringen, um das voll zu nutzen? Denken Sie an die armseligen, mit Kohle gefeuerten
Maschinen, die wir noch haben – die können kaum so schnell fahren wie alte ausgediente Straßenbahnen… Aber
es ist immerhin noch Hoffnung. United Locomotive Works hat Konkurs anmelden müssen. Das war das Beste,
was uns in den letzten Wochen passieren konnte, denn Dwight Sanders hat die Fabrik gekauft. Er ist ein
hochbegabter junger Ingenieur, der das einzige gute Flugzeugwerk im Lande besaß. Er mußte es an seinen
Bruder verkaufen, um United Locomotive zu übernehmen. Das ist natürlich eine Folge des
Chancenausgleichsgesetzes. Es ist selbstverständlich nur eine abgekartete Sache zwischen den beiden, aber kann
man ihm das verdenken? Jedenfalls werden wir jetzt von United Locomotive Works Dieselloks bekommen.
Dwight Sanders wird die Sache schon schmeißen. – Ja, sie zählt auf ihn. Warum fragen Sie das? – Ja, er ist jetzt
für uns außerordentlich wichtig. Wir haben soeben mit ihm den Vertrag für die ersten zehn Diesellokomotiven
unterzeichnet. Als ich ihr berichtete, der Vertrag sei unterschrieben, lachte sie und sagte: ‘Na, siehst du, braucht
man sich je zu ängstigen?’ Sie sagte das, weil sie weiß – ich habe es ihr zwar nie verraten, aber sie weiß es –, daß
ich Angst habe. – Ja, ich habe Angst. – Ich weiß es nicht. Ich würde mich nicht ängstigen, wenn ich wüßte, was
ich dagegen tun kann. Aber… sagen Sie, verachten Sie mich wirklich nicht, weil ich Stellvertretender
Vorstandsvorsitzender bin? – Aber… finden Sie das nicht verwerflich? – Was für eine Ehre? Ich weiß nicht, was
ich eigentlich bin: ein Clown, ein Gespenst, eine zweite Besetzung oder ein elender Strohmann. Wenn ich in
ihrem Büro auf ihrem Sessel an ihrem Schreibtisch sitze, ko mme ich mir noch weit schlimmer vor: wie ein
Mörder… Gewiß, ich weiß, ich soll der Strohmann für sie sein – und das wäre eine Ehre. Aber… aber ich habe
das Gefühl, als ob ich auf eine abscheuliche Art, die ich nicht recht begreife, ein Strohmann für Jim Taggart bin.
Warum sollte sie einen Strohmann benötigen? Warum soll sie sich verstecken müssen? Warum hat man sie aus
dem Gebäude verbannt? Wissen Sie, daß sie in ein dunkles Loch in einer Nebenstraße ziehen mußte, gegenüber
der Einfahrt zur Expreßgut- und Gepäckabfertigung? Sie sollten sich das mal ansehen: das Büro von John Galt,
Incorporated. Dennoch weiß jeder, daß sie nach wie vor Taggart Transcontinental leitet. Warum muß sie sich mit
der hervorragenden Arbeit, die sie leistet, verstecken? Warum erkennt man ihre Verdienste nicht an? Warum
beraubt man sie dessen, was sie geschaffen hat, und gibt mir das, was man ihr gestohlen hat? Warum tun sie alles
nur Mögliche, um ihren Erfolg zu verhindern? Dabei ist sie doch die einzige, die den Untergang verhindert.
Warum quält man sie dafür, daß sie der Firma das Leben rettet? – Was haben Sie? Warum sehen Sie mich so an?
– Ja, ich glaube, sie verstehen… In alledem ist etwas, das ich nicht in Worte fassen kann, und es ist etwas Böses.
Darum habe ich Angst… Ich glaube, man kann das nicht auf die leichte Schulter nehmen… Wissen Sie, es ist
seltsam, aber ich glaube, die wissen das auch, Jim und seine Leute. Der ganze Laden hat etwas Verrottetes. Er ist
verrottet und tot. Taggart Transcontinental ist wie ein Mensch, der seine Seele verloren hat… der seine Seele
verraten hat. – Nein, das bekümmert sie nicht. Das letzte Mal, als sie in New York war, kam sie ganz unerwartet.
Ich saß in meinem Büro – in ihrem Büro. Plötzlich ging die Tür auf, und sie war da. Sie kam herein und sagte:
‘Mr. Willers, ich suche eine Stellung als Bahnhofsvorsteher. Würden Sie mir eine Chance geben?’ Ich hätte sie
alle am liebsten verflucht, aber ich mußte lachen. Ich war so froh, sie hier zu sehen, und sie lachte so glücklich.
Sie war geradewegs vom Flughafen gekommen. Sie trug Hosen und eine weite Jacke. Sie sah wundervoll aus.
Ihre Haut war prächtig gebräunt, als käme sie eben aus dem Urlaub. Sie wollte, daß ich auf ihrem Stuhl sitzen
blieb, setzte sich auf den Schreibtisch und berichtete von der neuen Brücke der John-Galt-Linie. – Nein. Ich habe
sie nie gefragt, warum sie diesen Namen gewählt hat. Ich weiß nicht, was er für sie bedeutet. Eine Art
Herausforderung, nehme ich an. Ich weiß nicht, wem gegenüber… Ach, das ist ja alles Unsinn. Es gibt gar
keinen John Galt, aber ich wünschte, sie hätte den Namen nicht genommen. Ich mag ihn nicht. Mögen Sie ihn? –
Sie mögen ihn? Damit sind Sie aber eine Ausnahme, und es klingt auch nicht gerade glücklich, wie Sie das
sagen.«
Die Fenster des Büros der John-Ga lt-Linie gingen auf eine dunkle Straße. Wenn Dagny von ihrem
Schreibtisch aufblickte, konnte sie den Himmel nicht sehen, nur die Mauer eines hohen Gebäudes. Es war die
Seitenwand des Wolkenkratzers von Taggart Transcontinental.
Ihr neues Büro waren zwei Räume im Erdgeschoß eines halbverfallenen Hauses. Das Haus stand zwar noch,
aber die oberen Stockwerke hatten wegen Einsturzgefahr geräumt werden müssen. Wer sich in so ein Haus
einmietete, war halb pleite und lebte, wie das Haus selbst, nur noch in der Erinnerung an die Vergangenheit.
Sie mochte ihr neues Büro. Es half ihr, Geld zu sparen. Die Räume enthielten keine überflüssigen
Möbelstücke, und es gab hier auch kein überflüssiges Personal. Die Einrichtung kam aus Trödlerläden. Die
Angestellten waren die besten, die sie hatte finden können. Bei ihren Besuchen in New York hatte sie keine Zeit,
auf den Raum zu achten, in dem sie arbeitete; es genügte ihr, daß er ihrem Zweck diente.
Sie wußte nicht, warum sie heute abend plötzlich in der Arbeit innehielt und auf die Regentropfen blickte, die
an den Fensterscheiben und an der Hausmauer auf der anderen Seite der Straße herabliefen. Es war schon nach
Mitternacht. Ihre wenigen Mitarbeiter waren gegangen. Sie mußte um drei Uhr wieder nach Colorado
zurückfliegen. Sie hatte nur noch wenig zu tun, mußte nur noch ein paar Berichte von Eddie lesen. Jetzt, da
plötzlich alle Spannung abgeklungen war und sie sich nicht mehr zu hetzen brauchte, konnte sie sich nicht mehr
auf die Arbeit konzentrieren. Die Berichte schienen eine Anstrengung zu fordern, die über ihre Kraft ging. Es
war zu spät, um nach Hause zu fahren und zu schlafen und zu früh, um zum Flughafen zu fahren. Du bist
erschöpft, dachte sie – und betrachtete ihre eigene Stimmung mit strenger, verächtlicher Distanz; sie wußte, daß
diese Stimmung vorübergehen würde. Sie hatte sich ganz plötzlich zu dem Flug nach New York entschlossen,
nachdem sie im Rundfunk eine kurze Meldung gehört hatte, und hatte ihr Flugzeug binnen zwanzig Minuten
startklar gemacht. Der Rundfunk hatte berichtet, daß Dwight Sanders sich plötzlich ohne Grund und Erklärung
vom Geschäft zurückgezogen hatte. Sie war nach New York geeilt, in der Hoffnung, ihn zu finden und ihn zu
bewegen, seinen Entschluß rückgängig zu machen. Aber während sie über den Kontinent flog, hatte sie geahnt,
daß sie ihn vergeblich suchen würde.
Der Frühlingsregen hing wie ein dünner Nebel bewegungslos hinter den Fenstern in der Luft. Sie sah zu der
weit geöffneten Einfahrt der Expreßgut- und Gepäckabfertigung von Taggart Transcontinental hinüber. An den
Stahlträgern der Decke dort hingen ein paar nackte elektrische Birnen, und auf dem abgetretenen Betonfußboden
stapelten sich Gepäckstücke. Das Ganze wirkte verlassen und tot.
Sie blickte auf einen Riß an der Wand ihres Büros. Sie hörte keinen Laut. Sie wußte, sie war in dieser Ruine
allein. Es war ihr, als wäre sie allein in der Stadt. Sie spürte ein Gefühl, das sie seit Jahren verdrängt hatte: eine
Einsamkeit, die weit über diesen Augenblick, über die Stille des Zimmers und die feuchte, glitzernde Leere der
Straße hinausging; die Einsamkeit grauen Ödlands, in der einen nichts anlockt; die Einsamkeit ihrer Kindheit.
Sie stand auf und ging ans Fenster. Wenn sie das Gesicht an die Scheibe preßte, konnte sie das ganze Taggart-
Gebäude sehen, dessen steile Linien zu seiner fernen Spitze am Himmel zusammenliefen. Sie blickte zu dem
dunklen Fenster des Zimmers auf, das ihr Büro gewesen war. Sie fühlte sich wie für immer verbannt, als wäre
sie von dem Gebäude durch viel mehr als durch eine Glasscheibe, einen Regenvorhang und die Spanne weniger
Monate getrennt.
Sie stand in einem Raum, in dem der Putz bröckelte, preßte das Gesicht an die Fensterscheibe und blickte zu
all dem Unerreichbaren auf, das sie liebte. Sie wußte nicht, was ihre Einsamkeit eigentlich war. Die einzigen
Worte, die sie dafür fand, waren: »Es ist nicht die Welt, die ich erwartet habe.«
Mit sechzehn hatte sie einmal etwas zu Eddie Willers gesagt, woran sie jetzt denken mußte. Die Schienen der
Taggart-Eisenbahn, die sich wie die Linien eines Wolkenkratzers in der Ferne in einem Punkt trafen, gaben ihr
das Gefühl, als hielte jemand hinter dem Horizont die Schienen in der Hand – nein, nicht ihr Vater oder einer der
Männer im Büro –, und eines Tages würde sie ihm begegnen.
Sie schüttelte den Kopf und wandte sich vom Fenster ab. Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. Sie
versuchte, nach den Berichten zu greifen. Aber plötzlich sackte sie über dem Schreibtisch zusammen. Ihr Kopf
fiel auf ihren Arm. Das darfst du nicht, dachte sie, aber sie blieb trotzdem so liegen. Es war ja auch gleichgültig,
da niemand sie sah.
Sie spürte eine Sehnsucht, gegen die sie sich immer gewehrt hatte, aber gegen die sie sich jetzt nicht mehr
wehren konnte. Sie dachte, wenn das Gefühl die Antwort eines Menschen auf das war, was die Welt zu bieten
hatte, wenn sie die Schienen, das Gebäude und noch mehr liebte, ja, wenn sie ihre Liebe zu dem allem liebte –
dann blieb da noch eine Antwort, die größte, die sie nicht erhalten hatte. Sie wollte ein Gefühl finden, das als
seinen endgültigen Ausdruck den Zweck aller Dinge enthielt, die sie auf der Erde liebte. Jemand finden, der der
Sinn ihrer Welt sein würde, wie sie der Sinn seiner Welt… Nein, nicht Francisco d’Anconia, nicht Hank
Rearden, keinen Mann, dem sie je begegnet war oder den sie bewundert hatte… einen Mann, den es nur in dem
Bewußtsein für ihre Fähigkeit zu einem Gefühl gab, das sie nie empfunden hatte, für das sie aber ihr Leben
hingegeben hätte… Sie spürte das Verlangen in den Muskeln, in den Nerven ihres Körpers.
Ist das dein Wunsch? Ist es so einfach? dachte sie, wußte aber, daß es nicht einfach war. Ihre Liebe zu ihrer
Arbeit und das Begehren ihres Körpers waren untrennbar miteinander verbunden, als ob ihr das eine das Recht
auf das andere gäbe, das Recht und den Sinn, als ob das eine die Erfüllung des anderen wäre – und das
Verlangen würde nie erfüllt werden, außer durch einen ihr ebenbürtigen Menschen.
Das Gesicht im Arm verborgen, bewegte sie den Kopf und schüttelte ihn langsam. Sie würde ihn nie finden.
Der Gedanke, was ihr Leben sein könnte, war alles, was sie je von der Welt besitzen würde, nach der sie sich
sehnte: der Gedanke, es zu finden, es festzuhalten und es nie wieder loszulassen – und die seltenen Momente, in
denen ein Abglanz davon ihren Weg erhellte.
Sie hob den Kopf.

Auf dem Straßenpflaster hinter dem Fenster sah sie den Schatten eines Mannes, der an der Tür ihres Büros
stand.
Die Tür war einige Schritte weit entfernt. Sie konnte weder ihn noch die Straßenlaterne sehen, sondern nur
seinen Schatten auf dem Pflaster. Er bewegte sich nicht.
Er war der Tür so nahe wie jemand, der gerade eintreten will. Sie wartete darauf, ihn anklopfen zu hören. Statt
dessen sah sie den Schatten plötzlich weiter weg. Als hätte irgend etwas ihn zurückspringen lassen. Der Mann
drehte sich um und schien gehen zu wollen. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. Sie sah nur noch den
Schatten seines Hutrandes und seiner Schultern auf dem Pflaster. Der Schatten verharrte einen Augenblick,
schwankte und wurde wieder länger. Der Mann kam zurück.
Sie spürte keine Angst. Reglos und verblüfft saß sie an ihrem Schreibtisch und beobachtete ihn. Er blieb vor
der Tür stehen, trat dann zurück, ging ruhelos auf und ab und blieb von neuem stehen. Sein Schatten schwang
wie ein unregelmäßiges Pendel über das Pflaster, beschrieb den Verlauf eines stummen Kampfes. Es war ein
Mann, der mit sich kämpfte, ob er durch diese Tür eintreten oder flüchten sollte.
Sie sah dem allem zu, als ginge es sie nichts an. Sie hatte nicht die Kraft, etwas zu tun. Sie konnte nur
beobachten. Sie fragte sich wie betäubt: Wer ist er? Hat er mich irgendwo aus der Dunkelheit beobachtet? Hat er
mich in dem hellen, kahlen Fenster auf den Tisch sinken sehen? Hat er meine trostlose Einsamkeit gesehen, wie
ich jetzt seine sehe? Sie fühlte nichts. Sie waren allein im Schweigen einer toten Stadt. Er schien ihr meilenweit
entfernt, die Spiegelung eines Leidens ohne Namen, ein überlebender Gefährte, dessen Probleme ihren so fern
waren wie ihre seinen. Er ging auf und ab, verschwand aus ihrer Sicht, kam wieder zurück. Auf dem glänzenden
Pflaster der dunklen Straße sah sie den Schatten einer unbekannten Qual.
Wieder bewegte sich der Schatten davon. Sie wartete. Er kehrte nicht zurück. Da sprang sie auf. Sie hatte den
Ausgang des Kampfes erleben wollen; aber jetzt, da er ihn gewonnen – oder verloren – hatte, empfand sie das
jähe, dringende Verlangen zu wissen, wer er war und was er hier wollte. Sie lief durch das dunkle Vorzimmer,
riß die Tür auf und blickte hinaus.
Auf der Straße war niemand. Das Pflaster, auf dem sich ein paar Lichter spiegelten, verschwand in der Ferne.
Sie sah das dunkle Loch im zerbrochenen Fenster eines aufgegebenen Ladens, weiter entfernt die Türen von
Wohnhäusern. Auf der anderen Straßenseite glitzerten Regenstreifen unter einer Laterne, die über dem
schwarzen Spalt eines offenen Tors hing, das zu den Tunneln von Taggart Transcontinental führte.

Rearden unterschrieb die Papiere, schob sie über den Schreibtisch und blickte weg. Er dachte, er würde nie
wieder an sie denken müssen, und wünschte, dieser Augenblick läge schon weit hinter ihm.
Paul Larkin griff zögernd nach den Papieren; er machte ein freundlich hilfloses Gesicht. »Es ist nur eine
gesetzliche Formalität«, sagte er. »Du weißt, daß ich diese Erzgruben immer als dein Eigentum ansehen werde.«
Rearden schüttelte langsam den Kopf; es war nur eine Bewegung seiner Nackenmuskeln; sein Gesicht war
undurchdringlich, als spräche er zu einem Fremden. »Nein«, sagte er, »entweder gehört mir etwas, oder es gehört
mir nicht.«
»Aber… aber du weißt doch, daß du mir vertrauen kannst. Du brauchst dir um die Erzlieferungen keine
Sorgen zu machen. Wir haben eine Abmachung getroffen. Du weißt, daß du dich auf mich verlassen kannst.«
»Ich weiß es nicht. Ich hoffe es.«
»Aber ich habe dir mein Wort gegeben.«
»Ich bin noch nie von jemandes Wort abhängig gewesen.«
»Warum… warum sagst du das? Wir sind Freunde. Ich werde alles tun, was du willst. Du wirst meine ganze
Produktion erhalten. Die Bergwerke sind sozusagen immer noch deine. Du hast nichts zu befürchten. Ich
werde… Hank, was hast du?«
»Laß das Reden.«
»Aber… aber was ist denn?«
»Ich schätze Beteuerungen nicht. Ich will nichts davon hören, wie beruhigt ich sein kann. Wir haben eine
Abmachung getroffen, die ich nicht erzwingen kann. Du sollst wissen, daß ich mir über meine Lage vollkommen
im klaren bin. Wenn du dein Wort halten willst, dann rede nicht darüber, sondern tu es.«
»Warum siehst du mich so an, als ob es meine Schuld wäre? Du weißt doch, wie peinlich es mir ist. Ich habe
die Bergwerke nur gekauft, weil ich glaubte, ich würde dir damit helfen – ich meinte, es wäre dir lieber, sie
einem Freund als einem völlig Fremden zu verkaufen. Es ist nicht meine Schuld. Mir ist dieses erbärmliche
Chancenausgleichsgesetz zuwider. Ich weiß nicht, wer dahintersteckt. Ich hätte es nicht einmal im Traum für
möglich gehalten, daß es angenommen würde. Ich war so entsetzt, als…«
»Na, nun ist es geschehen.«
»Aber, ich will nur…«
»Warum willst du durchaus darüber reden?«
»Ich…« Larkins Stimme klang fast flehend. »Ich habe dir den besten Preis bezahlt, Hank. Das Gesetz spricht
von ‘angemessener Entschädigung’. Mein Angebot war höher als jedes andere.«
Rearden blickte auf die Papiere, die noch auf dem Schreibtisch lagen. Er dachte an die Summe, die er auf
Grund dieser Papiere für seine Erzgruben bekam. Zwei Drittel des Betrages waren Geld, das Larkin als Anleihe
von der Regierung erhalten hatte; das neue Gesetz sah solche Anleihen vor, ‘um den neuen Besitzern, die nie
eine Chance hatten, eine faire Möglichkeit zu geben’. Zwei Drittel des Restes waren eine Anleihe, die er Larkin
selbst gegeben hatte, eine Hypothek, die er auf seine eigenen Bergwerke aufgenommen hatte… Und das
Regierungsgeld, dachte er plötzlich, das ihm jetzt als Bezahlung für seinen Besitz gegebene Geld, wessen Arbeit
hatte es geliefert?
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Hank«, sagte Larkin in diesem unbegreiflichen, beharrlich
bittenden Ton. »Es ist nur eine Formalität.«
Rearden konnte nicht recht verstehen, was Larkin eigentlich von ihm wollte. Er spürte, Larkin erwartete etwas
über die äußere Tatsache des Verkaufs hinaus, ein paar Worte, die er, Rearden, aussprechen sollte, eine
Handlung, die mit der Gnade in Beziehung stand, die zu gewähren man von ihm erwartete. Larkins Augen hatten
in diesem glücklichsten Augenblick seines Lebens den verlangenden Blick eines Bettlers.
»Warum solltest du dich ärgern, Hank? Es ist nur eine neue Form von Bürokratie. Nichts als eine neue
historische Gegebenheit. Niemand kann etwas gegen historische Gegebenheiten ausrichten. Niemand kann
deswegen ein Vorwurf gemacht werden. Aber irgendwie kann man sich imme r arrangieren. Sieh dir all die
anderen an. Sie machen sich nichts daraus, sie…«
»Sie setzen Strohmänner ein, die sie an der Kandare haben und die den ihnen gewaltsam genommenen Besitz
für sie leiten. Ich…«
Paul Larkin unterbrach ihn. »Warum willst du durchaus solche Worte gebrauchen, Hank?«
»Ich kann dir ruhig sagen – und ich glaube, du weißt es –, daß ich mich auf Spiele solcher Art nicht verstehe.
Ich habe weder die Zeit noch die Neigung, dich in irgendeiner Weise zu erpressen, um dich an mich zu fesseln
und meine Gruben durch dich zu besitzen. Besitz ist etwas, das ich nicht teile, und ich will ihn nicht durch die
Gnade deiner Feigheit behalten – durch das ständige Bemühen, dich zu überlisten – und nicht dadurch, daß ich
ständig das Schwert einer Drohung über dir schweben lasse. Auf diese Art arbeite ich nicht, und ich gebe mich
nicht mit Feiglingen ab. Die Bergwerke gehören dir. Wenn du mir Priorität bei allen Erzlieferungen geben willst,
dann tu es. Wenn du mich betrügen willst, dann steht es in deiner Macht.«
Larkin sah ihn gekränkt an. »Das ist sehr unfair von dir«, sagte er vorwurfsvoll. »Ich habe dir nie Grund
gegeben, mir zu mißtrauen.« Mit einer hastigen Bewegung nahm er die Papiere an sich.
Rearden sah sie in Larkins innerer Manteltasche verschwinden. Er sah, als Larkin den Mantel aufschlug, die
Falten einer sich straff über dem wabbeligen Leib spannenden Jacke und einen Schweißfleck im Hemd an der
Achselhöhle. Ungerufen tauchte plötzlich vor ihm ein Gesicht auf, das er vor siebenundzwanzig Jahren gesehen
hatte. Es war das Gesicht eines Predigers an einer Straßenecke in einer Stadt, an deren Namen er sich nicht mehr
erinnerte. Nur die dunklen Mauern der Slums waren ihm noch im Gedächtnis und der Regen eines Herbstabends
und die selbstgerechte Bosheit um den schmalen Mund des Mannes, der in das Dunkel rief: »… das vornehmste
Ideal – daß der Mensch lebt zum Heil seiner Brüder, daß der Starke für den Schwachen arbeitet, daß der Begabte
dem Unbegabten dient… « Dann sah er sich selbst als jungen Mann von achtzehn Jahren. Er sah diesen Jüngling
mit dem angespannten Gesicht, dem schnellen Schritt, der trunkenen Freude des Körpers, trunken von der Arbeit
schlafloser Nächte, sah den stolz gereckten Kopf, die klaren, festen, unbarmherzigen Augen, die Augen eines
Menschen, der sich selbst ohne Erbarmen dem Ziel zutrieb, das er sich gesetzt hatte. Und er sah Paul Larkin, wie
er in jener Zeit ausgesehen haben mußte – einen Burschen mit einem alten Babygesicht, einem freundlichen,
freudlosen Lächeln, der darum flehte, verschont zu werden. Wenn jemand damals Hank Rearden diesen jungen
Mann gezeigt und ihm gesagt hätte, daß er das Ziel seines Weges war, derjenige, der das ernten würde, was er im
Schweiß seines Angesichts gesät hatte, was hätte er dann…?
Es war kein Gedanke, es war wie ein Faustschlag in seinem Schädel. Als er dann wieder denken konnte,
wußte Rearden, was der Junge, der er gewesen war, gefühlt hätte: das Verlangen, diese obszöne Qualle namens
Larkin unter die Füße zu nehmen und sie bis auf den letzten Tropfen zu zertreten.
Er hatte noch nie ein solches Gefühl erlebt, und ein paar Augenblicke vergingen, ehe ihm klar wurde, daß es
das war, was die Menschen Haß nannten.
Er bemerkte, daß Larkin sich erhob, um zu gehen, irgend etwas von Wiedersehen murmelte und dabei den
Mund beleidigt verzog, als wäre er der Gekränkte.
Als er sein Kohlenbergwerk an Ken Danagger verkaufte, dem die größte Kohlengesellschaft in Pennsylvania
gehörte, wunderte sich Rearden, daß ihn das kaum schmerzte. Er spürte keinen Haß. Ken Danagger war ein
Mann in den Fünfzigern mit einem harten, verschlossenen Gesicht. Er hatte seine Laufbahn als Bergmann
begonnen.
Als Rearden ihm den Verkaufsvertrag überreichte, sagte Danagger wie nebenher: »Ich glaube, ich habe noch
nicht erwähnt, daß Sie alle Kohle, die Sie bei mir kaufen, zum Selbstkostenpreis bekommen.«
Rearden blickte ihn erstaunt an. »Das ist gegen das Gesetz«, sagte er.
»Wer soll herausbekommen, was wir untereinander ausmachen?«
»Sie meinen einen Rabatt?«
»Ja.«
»Das verstößt gegen zwei Dutzend Gesetze. Man wird Sie mehr am Schlafittchen packen als mich, wenn man
Sie dabei ertappt.«
»Gewiß. Das ist Ihr Schutz. So hängen Sie nicht von meinem guten Willen ab.«
Rearden lächelte; es war ein glückliches Lächeln, aber er schloß die Augen wie unter einem Schlag. Dann
schüttelte er den Kopf. »Danke«, sagte er. »Aber ich bin nicht einer von denen. Ich erwarte von niemand, daß er
zum Selbstkostenpreis für mich arbeitet.«
»Ich bin auch nicht einer von denen«, sagte Danagger ärgerlich. »Hören Sie, Rearden, glauben Sie, ich wüßte
nicht, was mir da unverdienterweise in den Schoß fällt? Mit Geld läßt sich so etwas nicht bezahlen. Heutzutage
nicht.«
»Sie haben sich nicht freiwillig erboten, meinen Besitz zu kaufen. Ich habe Sie gebeten, ihn zu kaufen. Ich
wünschte, ich hätte jemand wie Sie gekannt, der meine Erzgruben hätte übernehmen können. Aber da war
niemand. Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann bieten Sie mir keinen Rabatt an. Geben Sie mir die
Möglichkeit, Ihnen höhere Preise zu zahlen als irgendein anderer. Fordern Sie alles von mir, was Sie wollen. Nur
liefern Sie die Kohlen. Mit dem übrigen werde ich schon fertig. Aber ich brauche die Kohlen.«
»Sie werden sie bekommen.«
Rearden fragte sich, warum er nichts von Wesley Mouch hörte. Auf seine Anrufe in Washington hin meldete
sich niemand. Dann erhielt er einen Brief, der nur einen Satz enthielt und ihn darüber informierte, daß Mr.
Mouch seine Stellung aufgegeben hatte. Zwei Wochen später las er in den Zeitungen, daß Wesley Mouch zum
Stellvertretenden Koordinator des Büros für Wirtschaftsplanung und Nationale Bodenschätze ernannt worden
war.
Grüble über das alles nicht nach, dachte Rearden in der Stille vieler Abende, an denen er gegen die plötzliche
Anwandlung dieses neuen Gefühls kämpfte, das er nicht empfinden wollte. Es ist ein unsäglich Böses in der
Welt, du weißt es, und es hat keinen Sinn, über seine verschiedenen Erscheinungsformen nachzudenken. Du
mußt ein wenig härter arbeiten. Nur ein wenig härter. Laß dich nicht unterkriegen!
Täglich verließ eine neue Ladung Träger und Streben das Walzwerk und wurde nach Colorado zur John-Galt-
Linie auf den Weg gebracht. Die Brücke begann, Gestalt anzunehmen. Sie funkelte in den ersten Strahlen der
Frühlingssonne. Hank hatte keine Zeit für Schmerz, keine Kraft für Ärger. Binnen einiger Wochen war es
vorüber. Die Anwandlungen blinden Hasses hörten auf und kamen nicht wieder.
Er hatte sich wieder ganz in der Gewalt, als er eines Abends mit Eddie Willers telefonierte. »Eddie, ich bin in
New York, im Wayne-Falkland. Kommen Sie morgen zum Frühstück zu mir. Ich möchte etwas mit Ihnen
besprechen.«
Eddie Willers ging mit bedrückendem Schuldgefühl zu der Verabredung. Er hatte sich noch nicht von dem
Schock der Annahme des Chancenausgleichsgesetzes erholt. Es hatte einen dumpfen Schmerz in ihm
hinterlassen wie einen blauen Fleck nach einem Fausthieb. Der Anblick der Stadt war ihm zuwider. Sie sah jetzt
aus, als verstecke sich in ihr die Drohung eines boshaften Unbekannten. Er fürchtete sich vor der Begegnung mit
einem der Opfer des Gesetzes. Es war ihm fast, als wäre er dafür mitverantwortlich.
Aber als er Rearden sah, verging dieses Gefühl. In Reardens Verhalten war nichts, was ihn als ein Opfer hätte
erscheinen lassen. Hinter den Fenstern des Hotelzimmers spiegelte sich die Frühlingsmorgensonne in den
Fenstern der Stadt. Das helle Blau des Himmels hatte etwas Jugendliches. Die Büros waren noch geschlossen,
und die Stadt wirkte nicht boshaft, sondern so, als wäre sie freudig und hoffnungsvoll zu neuen Taten gerüstet –
genau wie Rearden. Er sah frisch und ausgeschlafen aus. Er hatte einen Morgenmantel an; die Notwendigkeit,
sich anzuziehen, schien ihm lästig, weil er darauf brannte, sich in das erregende Spiel seiner geschäftlichen
Pflichten zu stürzen.
»Guten Morgen, Eddie. Verzeihen Sie, daß ich Sie so früh herbemüht habe, aber es war für mich der einzig
mögliche Zeitpunkt. Ich muß gleich nach dem Frühstück nach Philadelphia zurück. Wir können uns beim
Frühstück unterhalten.«
Sein Morgenmantel war aus dunkelblauem Flanell, und auf die Brusttasche waren die weißen Initialen H. R.
gestickt. Hank wirkte jung und entspannt, heimisch in diesem Zimmer und in der Welt.
Eddie beobachtete den Kellner, der den Frühstückstisch mit wohltuender Flinkheit und Geschicklichkeit in
das Zimmer rollte. Er genoß den Anblick des frisch gestärkten Tischtuchs, der auf dem Silber funkelnden Sonne,
der beiden mit Eisstückchen gefüllten Schalen, in denen Gläser mit Orangensaft standen. Er hatte nie gewußt,
daß solche Dinge ihn so sehr erfreuen konnten.
»Ich wollte Dagny in dieser besonderen Angelegenheit nicht anrufen«, sagte Rearden. »Sie hat genug zu tun.
Wir beide können das in ein paar Minuten erledigen.«
»Falls ich dazu befugt bin.«
Rearden lächelte. »Sie sind es.« Er beugte sich über den Tisch. »Eddie, wie ist die finanzielle Lage von
Taggart Transcontinental im Augenblick? Schwierig?«
»Noch schlimmer als das, Mr. Rearden.«
»Können Sie die Löhne bezahlen?«
»Nicht ganz. Wir haben verhindert, daß die Zeitungen darüber berichten, aber ich glaube, jedermann weiß es.
Wir sind auf dem ganzen Netz im Rückstand, und Jim fallen bald keine Entschuldigungen mehr ein.«
»Wissen Sie, daß Ihre erste Zahlung für die Rearden Metal-Schienen nächste Woche fällig ist?«
»Ja, das weiß ich.«
»Wir wollen uns auf ein Moratorium einigen. Ich geben Ihnen einen Zahlungsaufschub. Sie brauchen erst
sechs Monate nach Eröffnung der John-Galt-Linie zu zahlen.«
Eddie Willers stellte mit einem Ruck seine Kaffeetasse hin. Er brachte kein Wort heraus.
Rearden lachte. »Was ist denn los? Sie sind doch wohl befugt, das anzunehmen?«
»Mr. Rearden… ich weiß nicht… was ich dazu sagen soll.«
»Sie brauchen nichts weiter zu sagen als: abgemacht.«
»Abgemacht«, sagte Eddie kaum vernehmbar.
»Ich werde den Vertrag aufsetzen und Ihnen zuschicken. Sie können Jim davon unterrichten, und er muß ihn
dann unterschreiben.«
»Ja, Mr. Rearden.«
»Ich habe nicht gern mit Jim zu tun. Er verschwendet zwei Stunden, um sich selbst glauben zu machen, er
könne mir einreden, daß er mir einen Gefallen tut, wenn er annimmt.«
Eddie saß bewegungslos und blickte auf seinen Teller hinunter. »Was ist denn nun schon wieder?«
»Mr. Rearden, ich möchte… Ihnen danken… aber es gibt keine Worte, die ausdrücken könnten, was…«
»Hören Sie, Eddie, Sie haben alles, was zu einem guten Geschäftsmann gehört, und es ist darum besser, wenn
Sie einiges richtig sehen. In solchen Situationen gibt es keinen Dank. Ich tue das nicht für Taggart
Transcontinental. Ich tue es aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Warum sollte ich jetzt mein Geld von Ihnen
fordern, wenn das vielleicht den Todesstoß für Ihre Gesellschaft bedeutet? Wenn Ihre Gesellschaft nicht gut
wäre, würde ich es eintreiben, und zwar so schnell wie möglich. Ich bin kein Wohltäter, und ich lasse mich nicht
mit Leuten ein, die nichts von ihrer Sache verstehen. Aber Sie sind immer noch die beste Eisenbahn im Land.
Wenn die John-Galt-Linie fertiggestellt ist, werden Sie finanziell die gesündeste sein. Ich habe darum gute
Gründe zu warten. Außerdem sind Sie meiner Schienen wegen in Schwierigkeiten. Und ich will, daß Sie Erfolg
haben.«
»Ich schulde Ihnen trotzdem Dank, Mr. Rearden… für etwas, das viel größer ist als Mildtätigkeit.«
»Nein. Verstehen Sie denn nicht? Ich habe gerade sehr viel Geld bekommen… das ich gar nicht haben wollte.
Ich kann es nicht anlegen. Ich kann überhaupt nichts damit anfangen… und darum macht es mir in gewisser
Weise Freude, daß ich das Geld im gemeinsamen Kampf gegen diese Leute verwenden kann. Sie machen es mir
möglich, Ihnen einen Zahlungsaufschub zu gewähren und Ihnen damit zu helfen, sie zu bekämpfen.«
Er sah Eddie zusammenzucken, als ob er eine Wunde berührt hätte.
»Das ist das Furchtbare daran!«
»Was?«
»Was sie Ihnen angetan haben… und was Sie dagegen tun… Ich meine…« Er hielt inne. »Verzeihen Sie, Mr.
Rearden. Ich weiß, so spricht man nicht geschäftlich.«
Rearden lächelte. »Danke, Eddie. Ich weiß, was Sie meinen. Aber lassen Sie das. Die sollen zum Teufel
gehen!«
»Ja. Nur… Mr. Rearden, darf ich Ihnen etwas sagen? Ich weiß, es ist völlig unpassend, und ich spreche nicht
als Stellvertretender Vorstandsvorsitzender.«
»Sagen Sie’s.«
»Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, was Ihr Angebot für Dagny, für mich, für jeden anständigen Menschen
bei Taggart Transcontinental bedeutet. Sie wissen es. Und Sie wissen auch, daß Sie auf uns zählen können.
Aber… ich finde, es ist furchtbar, daß auch Jim Taggart den Nutzen davon hat – daß ausgerechnet Sie ihn und
seinesgleichen retten, nach dem, was sie…«
Rearden lachte: »Eddie, was scheren uns Leute wie er! Wir steuern einen Expreßzug, und die hocken auf dem
Dach und spielen sich als Zugführer auf. Was macht uns das schon! Wir haben genug Kraft, sie mitzuschleppen,
meinen Sie nicht auch?«

»Das gibt eine Katastrophe.«


Die Sommersonne spiegelte sich wie Feuer in den Fenstern der Stadt und warf glitzernde Funken in den Staub
der Straßen. Hitzesäulen schimmerten in der Luft, stiegen von den Dächern zu dem weißen Kalenderblatt auf.
Der Motor des Kalenders lief weiter und zeigte die letzten Junitage an.
»Das gibt eine Katastrophe«, sagten die Leute. »Nur ein Zug, der erste, genügt, und die John-Galt-Linie fliegt
auseinander. Bis zu der Brücke kommen die nie. Und wenn doch, kracht sie unter ihnen zusammen.«
Von den Berghängen in Colorado rollten Frachtzüge die Phoenix-Durango-Strecke hinunter, in nördlicher
Richtung nach Wyoming auf die Hauptlinie von Taggart Transcontinental, in südlicher Richtung nach New
Mexiko auf die Hauptlinie von Atlantic Southern. Tankzüge fuhren von den Wyatt-Ölfeldern in alle Richtungen
nach den Industriegebieten in fernen Staaten. Niemand sprach darüber. Für die Leute bewegten sich die
Tankzüge so lautlos wie Strom, und wie Strom beachtete man sie nur, wenn sie zum Licht elektrischer Lampen,
zur Glut von Hochöfen, zur Antriebskraft von Motoren wurden. Ansonsten interessierte man sich nicht dafür.
Strom war selbstverständlich.
Die Phoenix-Durango-Eisenbahn sollte ihren Betrieb am 25. Juli einstellen.
»Rearden ist ein habgieriges Ungeheuer«, sagten die Leute. »Seht doch, wie er das Geld scheffelt! Hat er je
etwas gegeben? Hat er je soziale Verantwortung gezeigt? Ihn interessiert nur Geld. Für Geld tut er alles. Was
macht es ihm aus, wenn die Brücke einstürzt und Menschen ums Leben kommen?«
»Die Taggarts sind seit Generationen eine Bande von Profitgeiern«, sagten die Leute. »Es liegt ihnen im Blut.
Man braucht nur daran zu denken, daß der Gründer dieser Familie Nat Taggart war, der berüchtigste und
unsozialste Ausbeuter aller Zeiten, der das Land bis zum letzten Blutstropfen ausgepreßt hat, um ein Vermögen
zusammenzuraffen. Man kann sicher sein, daß ein Taggart nie zögern wird, Menschenleben in Gefahr zu
bringen, wenn er dabei Profit machen kann. Sie haben minderwertige Schienen gekauft, weil die billiger sind als
Schienen aus Stahl – was scheren sie Katastrophen und zerfetzte Menschenleiber, wenn sie den Fahrpreis
kassiert haben!«
Die Leute sagten es, weil andere es sagten. Sie wußten nicht, warum man es sagte und überall hörte. Sie
nannten keine Gründe und fragten auch nicht nach Gründen. Die Vernunft, hatte Dr. Pritchett ihnen gesagt, ist
der allernaivste Aberglaube.
»Die Quelle der öffentlichen Meinung?« sagte Claude Slagenhop in einem Rundfunkvortrag. »Es gibt keine
Quelle der öffentlichen Meinung. Sie ist völlig spontan. Sie ist ein Reflex des kollektiven Instinkts des
kollektiven Geistes.« Orren Boyle gab Globe, dem Nachrichtenmagazin mit der höchsten Auflage, ein Interview.
Das Hauptthema dieses Interviews war die große soziale Verantwortung der Metallurgen, wobei er die
zahlreichen Nutzanwendungen aller Arten von Metall hervorhob, bei denen Menschenleben von der Qualität des
eingesetzten Metalls abhingen. »Man darf, denke ich, Menschen nicht als Versuchskaninchen für ein neues
Produkt benutzen«, sagte er. Er nannte keine Namen.
»O nein, ich sage nicht, daß die Brücke einstürzen wird«, sagte der Chefmetallurg von Associated Steel in
einer Fernsehsendung. »Ich sage das mit keinem Wort. Ich sage nur, wenn ich Kinder hätte, würde ich sie nicht
in dem ersten Zug fahren lassen, der diese Brücke überquert. Aber das ist nur eine ganz persönliche Ansicht,
weiter nichts, weil ich eben Kinder so besonders liebe.«
»Ich behaupte nicht, daß die Rearden-Taggart-Konstruktion einstürzen wird«, schrieb Bertram Scudder in The
Future. »Vielleicht stürzt sie ein, vielleicht auch nicht. Das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist:
Wie kann sich die Gesellschaft gegen die Arroganz, den Eigennutz und die Habgier zweier zügelloser
Individualisten wehren, deren Handeln nicht die geringste Rücksicht auf das Gemeinwohl erkennen läßt? Diese
beiden sind anscheinend gewillt, das Leben ihrer Mitmenschen kaltlächelnd in Gefahr zu bringen, weil sie allein
ihrem eigenen Urteil vertrauen, gegen die Meinung der überwältigenden Mehrheit erfahrener Fachleute. Darf die
Gesellschaft das zulassen? Wenn diese Brücke einstürzt, ist es dann nicht zu spät, Vorsichtsmaßnahmen zu
ergreifen? Wäre das nicht, als würde man den Brunnen zudecken, nachdem das Kind hineingefallen ist?«
Eine Gruppe, die sich selbst »Ausschuß uneigennütziger Bürger« nannte, sammelte Unterschriften für eine
Petition, die eine einjährige Untersuchung der John-Galt-Linie durch Regierungssachverständige forderte, bevor
der erste Zug sie befahren dürfte. Die Petition erklärte, daß ihre Unterzeichner sich nur von ihrer »Bürgerpflicht«
leiten ließen. Als erste unterschrieben Balph Eubank und Mort Liddy. In allen Zeitungen wurde dieser Petition
viel Raum zur Verfügung gestellt, und man kommentierte sie ausführlich. Sie wurde darum besonders beachtet,
weil ihre Urheber »uneigennützig« waren.
Dagegen berichteten die Zeitungen mit keinem Wort von dem Fortschritt des Baus der John-Galt-Linie. Kein
Reporter wurde an die Baustelle geschickt. Die allgemeine Pressepolitik hatte fünf Jahre zuvor ein berühmter
Zeitungsverleger formuliert. »Es gibt keine objektiven Tatsachen«, hatte er gesagt. »Jeder Bericht über
Tatsachen gibt nur die Meinung eines einzelnen wieder. Es ist darum sinnlos, über Tatsachen zu berichten.«
Einige Geschäftsleute hielten es für angebracht, sich über die Frage Gedanken zu machen, ob Rearden Metal
vielleicht einen Handelswert habe. Sie veranlaßten eine Untersuchung. Sie beauftragten nicht Metallurgen,
Probestücke zu untersuchen, oder Ingenieure, die Baustelle zu besichtigen. Sie veranstalteten eine
Meinungsumfrage. Zehntausend Menschen, vom dümmsten bis zum klügsten, wurde die Frage gestellt:
»Würden Sie auf der John-Galt-Linie fahren?« Die Mehrheit antwortete: »Nein.«
Es gab in der Öffentlichkeit keine Stimme, die Rearden Metal verteidigte. Und niemand fand es
beachtenswert, daß die Aktien von Taggart Transcontinental, wenn auch sehr langsam und fast heimlich, an der
Börse stiegen. Einige freilich verfolgten die Kursentwicklung und stiegen vorsichtig ein. Mr. Mowen kaufte
Taggart-Aktien auf den Namen seiner Schwester. Ben Nealy kaufte sie auf den Namen eines Vetters. Paul Larkin
kaufte sie unter einem Decknamen.
»Ich halte nichts von Polemik«, sagte einer von ihnen.
»Natürlich, der Bau geht planmäßig weiter«, sagte James Taggart achselzuckend zu seinem Aufsichtsrat. »Sie
können volles Vertrauen haben. Meine kleine Schwester ist kein Mensch, sondern ein Kraftwerk. Man darf sich
deshalb über ihren Erfolg nicht wundern.«
Als James Taggart das Gerücht hörte, mehrere Streben wären eingestürzt und hätten drei Arbeiter erschlagen,
sprang er auf, lief in das Büros seines Sekretärs und wies ihn an, Colorado anzurufen. In seinen Augen spiegelte
sich unverhüllte Angst. Dennoch verzog sein Mund sich plötzlich fast zu einem Lächeln, und er sagte: »Ich
würde etwas dafür geben, wenn ich jetzt Hank Reardens Gesicht sehen könnte.« Als er hörte, daß das Gerücht
falsch war, sagte er: »Gott sei Dank.« Aber seine Stimme klang ein wenig enttäuscht.
»Ja, ja«, sagte Philip Rearden zu seinen Freunden, als er das gleiche Gerücht hörte, »vielleicht erlebt er hin
und wieder auch einen Rückschlag. Vielleicht ist mein großer Bruder nicht so groß, wie er glaubt.«
»Liebling«, sagte Lillian Rearden zu ihrem Mann. »Ich habe dich gestern beim Tee verteidigt. Die Frauen
sagten, Dagny Taggart sei deine Geliebte… Um Gottes willen, sieh mich nicht so an! Ich weiß, es ist lächerlich,
und ich habe ihnen gehörig Bescheid gesagt. Diese hirnlosen Weiber können sich eben nicht vorstellen, daß eine
Frau sich um deines Metalls willen gegen die ganze Welt stellt. Ich weiß das natürlich besser. Ich weiß, daß die
Taggart völlig geschlechtslos ist und sich nicht das geringste aus dir macht – und ich weiß, daß du dir, wenn du
je den Mut hättest, dich auf so etwas einzulassen, dafür nicht eine Rechenmaschine im Kostüm, sondern ein
blondes, sexy Showgirl aussuchen würdest, das… Ach, Henry, ich scherze doch nur – sieh mich nicht so an!«
»Dagny«, sagte James Taggart in klagendem Ton, »was ist nur los? Taggart Transcontinental ist so unbeliebt
geworden.«
Dagny lachte in heller Freude auf, wie sie jeden Moment auflachen konnte. Als ob beständig eine Quelle der
Freude in ihr wäre und es nur eines kleinen Anstoßes bedürfte, sie hervorsprudeln zu lassen. Sie lachte
ungezwungen, mit weitgeöffnetem Mund. Ihre Zähne wirkten in dem braungebrannten Gesicht noch weißer als
sonst. Ihre Augen hatten den Blick, den man in einer weiten Landschaft erwirbt, in der man bis in fernste Fernen
sehen kann. Bei ihren letzten Besuchen in New York war ihm aufgefallen, daß sie ihn anblickte, als würde sie
ihn gar nicht sehen.
»Was sollen wir tun? Die Öffentlichkeit ist in ihrer überwältigenden Mehrheit gegen uns.«
»Jim, erinnerst du dich an die Geschichte, die man von Nat Taggart erzählt? Er sagte, er beneide nur einen
seiner Konkurrenten. Den, der mal gesagt hatte: Scheiß auf die Öffentlichkeit. Er wünschte, er hätte das selbst
gesagt.«
In den Sommertagen und in der drückenden Stille der Abende in der Stadt geschah es manchmal, daß ein
einsamer Mann oder eine einsame Frau – auf der Parkbank, an einer Straßenecke, an einem offenen Fenster – in
einer Zeitung eine kurze Notiz über den Fortschritt der John-Galt-Linie las und in einer plötzlichen Anwandlung
von Hoffnung auf die Stadt blickte. Es waren die ganz Jungen, die fühlten, dies war das Ereignis in der Welt,
nach dem sie sich sehnten – oder die Uralten, die eine Welt gekannt hatten, in der solche Ereignisse keine
Wunder waren. Sie interessierten sich nicht für Eisenbahnen. Sie verstanden nichts vom Geschäft. Sie wußten
nur, daß jemand gegen große Gegner kämpfte und siegte. Sie bewunderten nicht das Ziel des Kämpfers. Sie
glaubten den Stimmen der öffentlichen Meinung – aber wenn sie lasen, daß die Linie wuchs, spürten sie dennoch
einen Augenblick lang einen Lichtschimmer und fragten sich, warum ihnen ihre eigenen Probleme plötzlich
leichter erschienen.
Unauffällig und ohne daß es anderswo bekannt wurde als auf dem Güterbahnhof von Taggart
Transcontinental in Cheyenne und im Büro der John-Galt-Linie in der dunklen Straße, rollte Frachtgut heran,
und Aufträge für ganze Wagenladungen häuften sich: Fracht für den ersten Zug, der auf der John-Galt-Linie
fahren sollte. Dagny Taggart hatte angekündigt, der erste Zug würde nicht ein mit Prominenten und Politikern
beladener Sonderzug sein, wie es in solchen Fällen üblich war, sondern ein Güterzug.
Die Fracht kam von Farmen, von Holzplätzen, von Bergwerken im ganzen Land, von fernen Orten, die nur
durch die neuen Fabriken Colorados lebten. Niemand schrieb darüber, denn die Fracht kam von Auftraggebern,
die nicht »uneigennützig« waren.
Phoenix-Durango würde den Betrieb am 25. Juli einstellen. Der erste Zug der John-Galt-Linie sollte am 22.
Juli fahren.
»Also, Miss Taggart«, sagte der Delegierte der Lokomotivführer-Gewerkschaft, »ich glaube nicht, daß wir
Ihnen erlauben können, den Zug fahren zu lassen.«
Dagny saß an ihrem abgewetzten Schreibtisch vor der schmutzigen Wand ihres Büros. Ohne mit der Wimper
zu zucken, sagte sie: »Machen Sie, daß Sie rauskommen!«
So etwas hatte der Mann in den feinen Büros von Eisenbahnmanagern noch nie gehört. Er machte ein
verblüfftes Gesicht.
»Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen…«
»Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann fangen Sie noch mal von vorn an «
»Wie?«
»Sagen Sie mir nicht, was Sie mir erlauben.«
»Ich meinte, wir erlauben unseren Männern nicht, Ihren Zug zu fahren.«
»Das ist etwas anderes.«
»Das haben wir jedenfalls beschlossen.«
»Wer hat das beschlossen?«
»Der Ausschuß. Was Sie tun, ist eine Verletzung der Menschenrechte. Siel können Menschen nicht zwingen,
ihr Leben auf dieser Brücke zu riskieren, nur weil Sie Profit machen wollen.«
Sie griff nach einem Blatt Papier und reichte es ihm. »Schreiben Sie das auf«, sagte sie, »und wir machen
dann einen Vertrag.«
»Was für einen Vertrag?«
»Daß kein Mitglied Ihrer Gewerkschaft je als Lokomotivführer auf der John-Galt -Linie angestellt wird.«
»Einen Augenblick… Ich habe nicht gesagt…«
»Wollen Sie den Vertrag nicht?«
»Nein, ich…«
»Warum nicht, wo Sie doch wissen, daß die Brücke einstürzen wird?«
»Ich will nur…«
»Ich weiß, was Sie wollen. Sie wollen Ihre Männer durch die Stellungen, die ich ihnen gebe, in der Gewalt
haben und mich umgekehrt durch Ihre Männer. Ich soll für die Stellungen sorgen, und Sie wollen es mir
unmöglich machen, daß ich Stellungen anbieten kann. Ich stelle Sie jetzt vor die Wahl. Der Zug wird fahren.
Dagegen können Sie nichts machen. Aber Sie können wählen, ob er von einem Ihrer Männer gefahren wird oder
nicht. Wenn Sie keinen von ihnen fahren lassen, wird der Zug trotzdem fahren, und wenn ich selbst die
Lokomotive führen muß! Sollte die Brücke einstürzen, dann gibt es ohnedies keine Eisenbahnen mehr. Aber
wenn sie nicht einstürzt, erhält kein Mitglied Ihrer Gewerkschaft je wieder eine Stellung bei der John-Galt-Linie.
Wenn Sie glauben, daß ich Ihre Männer mehr brauche als Ihre Männer mich, dann lassen Sie sich nicht beirren.
Wenn Sie wissen, daß ich eine Lokomotive führen kann, daß Sie aber keine Eisenbahnstrecke bauen können,
dann sollten Sie vielleicht nochmal in sich gehen. Wollen Sie nun Ihren Männern verbieten, diesen Zug zu
führen?«
»Ich habe nicht gesagt, daß wir es verbieten. Ich habe nichts von Verbieten gesagt. Aber… aber Sie können
Menschen nicht zwingen, ihr Leben bei etwas zu riskieren, das noch niemand erprobt hat.«
»Ich zwinge niemand, diesen Zug zu führen.«
»Sondern?«
»Ich werde fragen, wer es freiwillig tun will.«
»Und wenn keiner dazu bereit ist?«
»Das ist dann mein Problem und nicht Ihres.«
»Dann werde ich allen raten, sich zu weigern.«
»Bitte. Raten Sie, was Sie wollen. Sagen Sie ihnen, was Sie wollen. Aber lassen Sie ihnen die Wahl.
Versuchen Sie nicht, es zu verbieten.«
In jedem Lokomotivschuppen des Taggart-Netzes wurde ein Anschlag ausgehängt, der unterzeichnet war:
Eddie Willers, Stellvertretender Vorstandsvorsitzender und Betriebsleiter. Lokomotivführer, die bereit waren,
den ersten Zug auf der John-Galt-Linie zu fahren, wurden darin aufgefordert, sich spätestens am 15. Juli um elf
Uhr im Büro von Mr. Willers zu melden.
Um Viertel vor elf am Morgen des 15. Juli klingelte das Telefon in Dagnys Büro. Es war Eddie, der sie aus
seinem Zimmer hoch oben im Taggart-Gebäude anrief. »Dagny, ich glaube, es ist besser, wenn du
rüberkommst«, sagte er mit seltsamer Stimme.
Sie eilte über die Straße und durch die Marmorhalle zum Fahrstuhl und zu der Tür hinauf, an deren
Glasscheibe immer noch »Dagny Taggart« stand. Sie riß die Tür auf.
Das Vorzimmer des Büros war überfüllt. An den Wänden und zwischen den Schreibtischen standen dicht
gedrängt Männer. Als sie eintrat, verstummten sie jäh und zogen die Hüte. Sie sah die ergrauenden Köpfe, die
muskulösen Schultern, sie sah die lächelnden Gesichter ihrer an ihren Schreibtischen sitzenden Mitarbeiter und
das Gesicht von Eddie Willers am Ende des Raums. Jeder wußte, daß diese Szene keiner Erklärung bedurfte.
Eddie stand an der offenen Tür ihres Büros. Die Männer traten beiseite, um sie durchzulassen. Er bewegte die
Hand, deutete auf den Schreibtisch und auf den Stoß von Briefen und Telegrammen, der dort lag.
»Alle,« sagte er. »Alle Lokomotivführer von Taggart Transcontinental. Die, die konnten, sind persönlich
gekommen, einige sogar aus dem Bezirk Chicago. Die übrigen haben sich schriftlich gemeldet. Um genau zu
sein, nur von dreien habe ich nichts gehört: Einer ist auf Urlaub, irgendwo in den Wäldern im Norden, einer im
Krankenhaus und der dritte im Gefängnis, wegen Geschwindigkeitsüberschreitung – mit dem Auto.«
Sie ließ ihre Augen über die Männer schweifen. Sie sah das unterdrückte Lächeln in den feierlich-ernsten
Gesichtern. Sie verneigte sich. Einen Augenblick lang stand sie mit gesenktem Kopf, als nähme sie einen
Urteilsspruch entgegen in dem Bewußtsein, daß dieser Urteilsspruch ihr, jedem Mann im Raum und der Welt
hinter den Wänden des Gebäudes galt.
»Ich danke Ihnen«, sagte sie.
Die meisten Männer waren ihr schon oft begegnet. Als sie den Kopf hob und sie sie ansahen, wurde vielen
von ihnen – zu ihrem Erstaunen und zum ersten Mal – bewußt, daß ihr Gesicht das einer Frau und dazu noch
schön war.
Einer, der hinten in der Menge stand, rief übermütig: »Weg mit Jim Taggart!«
Ein lautes Gelächter folgte. Die Männer konnten sich vor Jubel nicht lassen und klatschten in die Hände. Die
Reaktion auf die Bemerkung stand in keinem Verhältnis zu ihr. Aber die Bemerkung gab ihnen die
Entschuldigung, die sie brauchten. Ihr Klatschen hätte der unverschämten Frechheit gelten können. Aber jeder
im Raum wußte, wem sie wirklich zujubelten.
Dagny hob die Hand. »Es ist noch zu früh«, sagte sie lachend. »Warten Sie noch eine Woche. Dann feiern
wir, und glauben Sie mir, wir werden feiern.«
Sie losten, wer den Zug fahren durfte. Sie zogen ein zusammengefaltetes Blatt aus einem Stapel von Blättern,
auf denen ihre Namen standen. Der Gewinner war nicht anwesend, aber er war einer der besten Männer der
Gesellschaft, Pat Logan, Lokomotivführer des Taggart Comet im Bezirk Nebraska.
»Telegraphiere Pat, und teile ihm mit, daß er zum Lokomotivführer eines Güterzuges degradiert ist«, sagte sie
zu Eddie. Und als fiele es ihr gerade ein, fügte sie mit leicht durchschaubarer Beiläufigkeit hinzu: »Ach ja, und
laß ihn auch wissen, daß ich auf dieser Fahrt mit ihm im Führerstand fahre.«
Ein neben ihr stehender alter Lokomotivführer grinste und sagte: »Das habe ich mir schon gedacht, Miss
Taggart.«
An dem Tag als Dagny ihn aus ihrem Büro anrief, war Rearden in New York. »Hank, ich habe morgen eine
Pressekonferenz.«
Er lachte schallend. »Nein!«
»Doch.« Ihre Stimme klang ernst, fast bedenklich ernst. »Die Zeitungen haben mich plötzlich entdeckt und
stellen Fragen. Ich werde sie ihnen beantworten.«
»Na, dann viel Spaß!«
»Sind Sie morgen in der Stadt? Ich hätte Sie gerne dabei.«
»Okay. Ich möchte das nicht versäumen.«
Die Reporter, die zu der Pressekonferenz ins Büro der John-Galt-Linie kamen, waren junge Männer, die man
so geschult hatte, daß sie glaubten, ihr Beruf bestehe darin, der Welt die eigentlichen Ereignisse zu
verschweigen. Es war ihre tägliche Pflicht, irgendeiner bekannten Persönlichkeit zuzuhören, die sich in sorgfältig
gewählten inhaltsleeren Sätzen über das Gemeinwohl äußerte. Es war ihre tägliche Aufgabe, daraus nach
Belieben etwas zu stricken. Aber es durfte nichts Konkretes ableitbar sein. Sie konnten deshalb mit dem jetzt
gegebenen Interview nichts anfangen.
Dagny Taggart saß hinter ihrem Schreibtisch in einem Büro, das einem Kellerloch glich. Sie trug eine weiße
Bluse und ein dunkelblaues, gut geschnittenes Kostüm, das eine strenge, fast militärische Eleganz hatte. Sie saß
aufrecht, und ihr Benehmen war äußerst würdevoll, einen Hauch zu würdevoll.
Rearden saß in einer Ecke des Raums. Er versuchte, es sich auf einem kaputten Sessel bequem zu machen.
Seine langen Beine hingen über eine der Armstützen, und sein Körper lehnte gegen die andere. Sein Benehmen
war angenehm formlos, einen Tick zu formlos.
Mit klarer, eintöniger Stimme, als handelte es sich um eine militärische Meldung, gab Dagny, ohne dabei
Papiere zu Rate zu ziehen, die technischen Einzelheiten über die neue Linie bekannt, äußerte sich eingehend über
das Schienenmaterial, die Tragfähigkeit der Brücke, die Baumethode, die Kosten. Im trockenen Ton eines
Bankiers sprach sie dann von den finanziellen Aussichten der Linie und nannte die großen Gewinne, die sie zu
erzielen erwartete. »Das ist alles«, sagte sie.
»Alles?« sagte einer der Reporter. »Wollen Sie uns nicht eine Botschaft an die Öffentlichkeit geben?«
»Das war meine Botschaft.«
»Aber… ich meine, wollen Sie sich nicht verteidigen?«
»Wogegen?«
»Wollen Sie uns nicht sagen, womit Sie den Bau Ihrer Linie rechtfertigen?«
»Das habe ich bereits getan.«
Ein Mann mit einem ständig spöttisch verzogenen Mund fragte: »Ich möchte gern wissen, wie es Bertram
Scudder schon gesagt hat, welche Sicherheit wir haben, wenn Ihre Linie nicht gut ist?«
»Benutzen Sie sie nicht!«
Ein anderer fragte: »Wollen Sie uns nicht sagen, warum Sie diese Linie gebaut haben?«
»Ich habe es schon gesagt: des Gewinns wegen, den ich erwarte.«
»Ach, Miss Taggart, sagen Sie das nicht«, rief ein blutjunger Mann. Er war noch ein Anfänger mit
idealistischen Vorstellungen von seinem Beruf. Und Dagny Taggart war ihm sympathisch, ohne daß er wußte,
warum. »Es ist grundfalsch, so etwas zu äußern. Das sagen schon alle über Sie.«
»Wirklich?«
»Ich bin sicher, Sie meinen es nicht so, wie es klingt, und… ich bin sicher, Sie wollen das näher erklären.«
»Nun, schön, wenn Sie es wünschen. Der Durchschnittsgewinn der Eisenbahnen hat bisher zwei Prozent des
investierten Kapitals betragen. Ein Wirtschaftszweig, der so viel leistet und so wenig verdient, sollte sich selbst
als unmoralisch betrachten. Wie ich schon erklärt habe, lassen die Kosten der John-Galt-Linie in bezug auf das
geschätzte Verkehrsaufkommen einen Gewinn von nicht weniger als fünfzehn Prozent der Investitionen
erwarten. Ich weiß, jeder Gewinn über fünf Prozent gilt heutzutage als Wucher. Ich werde dennoch alles tun, um
zu erreichen, daß die John-Galt-Linie mir einen Gewinn von zwanzig Prozent einbringt. Darum habe ich die
Linie gebaut. Habe ich mich jetzt klar genug ausgedrückt?«
Der junge Mann blickte sie hilflos an. »Sie meinen doch nicht Ihren eigenen Gewinn, Miss Taggart? Sie
meinen doch natürlich den Gewinn der kleinen Aktionäre«, sagte er hoffnungsvoll.
»O nein. Da ich einer der größten Aktionäre von Taggart Transcontinental bin, wird auch mein Anteil am
Gewinn einer der größten sein. Mr. Rearden dagegen ist in einer viel glücklicheren Lage, denn er hat keine
Aktionäre, mit denen er sich den Gewinn teilen muß – oder möchten Sie lieber selbst das Wort ergreifen, Mr.
Rearden?«
»Ja, gern«, sagte Rearden. »Insofern die Formel von Rearden Metal mein persönliches Geheimnis ist und in
Anbetracht der Tatsache, daß die Erzeugung des Metalls viel weniger kostet, als ihr euch das vorstellen könnt,
werde ich den Leuten das Fell so weit über die Ohren ziehen, daß ich in den nächsten Jahren einen Gewinn von
fünfundzwanzig Prozent mache.«
»Was meinen Sie damit: den Leuten das Fell über die Ohren ziehen, Mr. Rearden?« fragte der junge Mann.
»Wenn das stimmt, was ich in Ihren Anzeigen gelesen habe, daß Ihr Metall dreimal so lange hält wie jedes
andere und halb so teuer ist, dann würde Ihre Kundschaft doch ein gutes Geschäft machen?«
»Ach, ist Ihnen das aufgefallen?« sagte Rearden.
»Sind Sie sich beide bewußt«, fragte der Mann mit dem spöttischen Mund, »daß das, was Sie sagen,
veröffentlicht wird?«
»Aber, Mr. Hopkins«, sagte Dagny in höflichem Erstaunen, »hätten wir einen Grund, uns mit Ihnen zu
unterhalten, wenn das, was wir sagen, nicht zur Veröffentlichung bestimmt wäre?«
»Wollen Sie, daß wir alles, was Sie gesagt haben, wortwörtlich bringen?«
»Ich hoffe, ich kann mich darauf verlassen, daß Sie es wortwörtlich bringen. Würden Sie so liebenswürdig
sein und mitschreiben?« Sie machte eine Pause, wartete, bis alle ihre Bleistifte gezückt hatten, und diktierte
dann: »Miss Taggart sagt, Zitat: Ich rechne damit, eine Menge Geld an der John-Galt -Linie zu verdienen. Und
das kommt mir auch zu. Ende des Zitats. Ich danke Ihnen herzlich.«
»Noch Fragen, meine Herren?« fragte Rearden.
Aber niemand hatte noch eine Frage.
»Ich muß Ihnen jetzt noch etwas über die Eröffnung der John-Galt-Linie mitteilen«, sagte Dagny. »Der erste
Zug wird vom Taggart-Transcontinental-Bahnhof in Cheyenne, Wyoming, am 22. Juli um vier Uhr nachmittags
abfahren. Es wird ein aus achtzig Wagen bestehender Eilgüterzug sein. Er wird von vier Diesellokomotiven mit
8000 PS gezogen, die ich für diese Gelegenheit von Taggart Transcontinental ausgeliehen habe. Er wird ohne
Halt bis Wyatt Junction in Colorado durchfahren und eine Durchschnittsgeschwindigkeit von hundert Meilen in
der Stunde haben. Wie bitte?« fragte sie, als sie ein langes, leises Pfeifen hörte.
»Was sagten Sie, Miss Taggart?«
»Ich sagte, einhundert Meilen in der Stunde – trotz Steigungen und Kurven.«
»Aber wäre es nicht besser, die Geschwindigkeit etwas unter die normale herabzusetzen, statt… Miss Taggart,
berücksichtigen Sie so gar nicht die öffentliche Meinung?«
»Aber ich berücksichtige sie. Wäre nicht die öffentliche Meinung, würde eine Durchschnittsgeschwindigkeit
von fünfundsechzig Meilen in der Stunde völlig ausreichen.«
»Wer wird den Zug fahren?«
»Das hat mir einiges Kopfzerbrechen bereitet. Alle Taggart-Lokomotivführer haben sich freiwillig gemeldet,
ebenso die Heizer, die Zugführer und die Schaffner. Wir mußten das Los bestimmen lassen, wer in dem Zug
mitfahren darf. Der Lokomotivführer wird Pat Logan vom Taggart Comet sein, der Heizer Ray McKim. Ich
werde auf dem Führerstand mitfahren.«
»Das ist doch nicht möglich!«
»Ich lade Sie zur Eröffnung herzlich ein. Sie findet am 22. Juli statt. Entgegen meiner üblichen Politik bin ich
diesmal auf Publicity geradezu versessen. Wirklich. Ich kann gar nicht genug Scheinwerfer, Radiomikrophone
und Fernsehkameras haben. Ich rate Ihnen, ein paar Kameras rings um die Brücke aufzustellen. Der Einsturz der
Brücke würde Ihnen tolle Aufnahmen ermöglichen.«
»Miss Taggart«, fragte Rearden, »warum haben Sie nicht erwähnt, daß ich ebenfalls auf der Lokomotive
mitfahre?«
Sie wandte sich ihm zu, und einen Augenblick lang waren sie gleichsam allein. Sie sahen sich tief in die
Augen.
»Ach, richtig, Mr. Rearden«, antwortete sie.

Sie traf ihn erst am 22. Juli auf dem Bahnsteig des Taggart-Bahnhofs in Cheyenne wieder.
Sie sah sich nach niemand um, als sie den Bahnsteig betrat. Sie war wie betäubt, so daß sie weder den
Himmel noch die Sonne, noch den Lärm einer riesigen Menge wahrnahm, sondern nur Angst und Freude spürte.
Dennoch war er der erste, den sie sah, und sie hätte nicht sagen können, wie lange er der einzige blieb. Er
stand neben der Lokomotive des John Galt -Zuges und sprach mit jemand, für den sie weder Augen noch Ohren
hatte. Hank trug graue Hosen und ein graues Hemd. Er sah wie ein Mechaniker aus, aber alle ringsum starrten
ihn an, denn er war Hank Rearden von Rearden Steel… Hoch über ihm sah sie die Buchstaben TT auf der
Vorderseite der silberglänzenden Lokomotive.
Sie standen weit entfernt voneinander, und zwischen ihnen drängte sich die Menge. Aber als sie eintraf, waren
seine Augen sofort bei ihr. Sie sahen sich an, und sie wußte, er fühlte das gleiche wie sie. Dies sollte kein
feierlicher Akt sein, von dem ihre Zukunft abhing, sondern nur ihr Freudentag. Ihre Arbeit war getan. In diesem
Augenblick gab es keine Zukunft. Sie hatten sich die Gegenwart verdient.
»Nur wenn man spürt, daß man äußerst wichtig ist«, hatte sie zu ihm gesagt, »kann man sich wirklich
unbeschwert fühlen.« Was auch die Fahrt des Zuges für die anderen bedeuten mochte, für sie beide lag die
Bedeutung dieses Tages allein in ihnen selbst. Was immer auch die anderen im Leben suchten, ihr Recht auf das,
was sie jetzt fühlten, war alles, was sie zu finden wünschten.
Dann wandte sie den Blick von ihm ab.
Sie bemerkte, daß man auch sie anstarrte, daß Menschen rings um sie waren, daß sie lachte und auf Fragen
antwortete.
Sie hatte nicht erwartet, daß so viele Leute kommen würden. Sie füllten den Bahnsteig, die Gleise, den Platz
vor dem Bahnhof. Sie hockten auf den Dächern der abgestellten Güterwagen, standen an den Fenstern jedes
Hauses, das man sah. Etwas hatte sie hierher gezogen, etwas lag in der Luft, das im letzten Augenblick selbst
James Taggart hatte wünschen lassen, der Eröffnung der John-Galt-Linie beizuwohnen. Sie hatte es ihm jedoch
untersagt. »Wenn du kommst, Jim«, hatte sie gesagt, »werde ich dich aus deinem eigenen Bahnhof hinauswerfen
müssen. Das ist ein Ereignis, an dem du nicht teilnimmst.« Dann hatte sie Eddie Willers dazu bestimmt, Taggart
Transcontinental bei der Eröffnung zu vertreten.
Sie blickte auf die Menge, und es überraschte sie, daß alle sie anstarrten, da dieses Ereignis doch eigentlich
nur sie anging und kein anderer einen Anteil daran haben konnte, und zugleich empfand sie es als richtig, daß die
Leute hier waren, daß sie es miterleben wollten, denn das Miterleben einer großen Leistung war das schönste
Geschenk, das man anderen machen konnte.
Sie fühlte keinen Ärger. Gegen niemand auf der Welt. Was sie durchgemacht hatte, war jetzt gleichsam im
Nebel entrückt wie ein Schmerz, der zwar noch da ist, aber nicht mehr die Macht hat, einem weh zu tun. All dies
konnte der Wirklichkeit nicht standhalten. Die Bedeutung dieses Tages trat so strahlend hervor wie das in der
Sonne funkelnde Silber der Lokomotive. Alle Menschen mußten sie jetzt wahrnehmen, niemand konnte daran
zweifeln, und sie brauchte niemand zu hassen.
Eddie Willers beobachtete sie. Er stand auf dem Bahnsteig, umgeben von Taggart-Managern, Bezirksleitern,
Politikern und verschiedenen Behördenvertretern, denen man lange hatte zureden, die man hatte bestechen und
bedrohen müssen, damit sie erlaubten, daß ein Zug mit einer Stundengeschwindigkeit von hundert Meilen durch
Stadtgebiete fuhr. Dieses eine Mal, an diesem Tag und bei diesem Anlaß, vermochte Eddie sich mit dem Titel zu
identifizieren, den er trug, und er trug ihn mit Würde. Aber während er mit den Leuten ringsum sprach,
verfolgten seine Augen Dagny in der Menge. Sie trug blaue Hosen und ein blaues Hemd und kümmerte sich
nicht um offizielle Pflichten; die hatte sie ihm überlassen. Der Zug war jetzt das einzige, was sie interessierte; sie
war nur jemand vom Zugpersonal.
Sie sah ihn, sie kam heran und schüttelte ihm die Hand. Ihr Lächeln drückte all das aus, was sie einander nicht
zu sagen brauchten. »Eddie, heute bist du Taggart Transcontinental.«
»Ja«, sagte er leise und feierlich.
Reporter stellten Dagny Fragen und zogen sie von Eddie weg. Sie stellten auch ihm Fragen. »Mr. Willers,
welche Politik verfolgt Taggart Transcontinental hinsichtlich dieser Linie? Taggart Transcontinental ist also nur
ein neutraler Beobachter, Mr. Willers?« Er beantwortete die Fragen, so gut er es konnte. Er blickte auf die
Sonne, die auf der Diesellokomotive funkelte, aber was er sah, war die Sonne in einer Waldlichtung und ein
zwölfjähriges Mädchen, das ihm sagte, er werde ihr eines Tages helfen, die Eisenbahn zu leiten.
Er sah aus der Ferne, wie das Personal des Zuges sich vor der Lokomotive aufreihte und sich den Fotografen
stellte. Dagny und Rearden lächelten, als ob man sie auf einem Sommerurlaub knipste. Pat Logan, der
Lokomotivführer, ein kleiner, kräftiger Mann mit ergrauendem Haar und einem undurchdringlichen Gesicht,
setzte eine Miene heiterer Gleichgültigkeit auf. Ray McKim, der Heizer, ein harter, junger Riese, grinste halb
verlegen, halb überlegen. Die übrigen Männer des Zugpersonals sahen aus, als ob sie den Kameras zuwinken
wollten. Ein Fotograf sagte lachend: »Könnt ihr nicht, bitte, ein bißchen wie zum Tod Verurteilte aussehen? Ich
weiß, das möchte der Chefredakteur gern haben.«
Dagny und Rearden beantworteten Fragen für die Presse. Sie sprachen jetzt ohne Spott und Bitterkeit. Es
machte ihnen Spaß. Sie sprachen, als wären die Fragen in gutem Glauben gestellt. Und ohne daß es die Reporter
selbst merkten, stimmte das plötzlich sogar.
»Was glauben Sie, was auf dieser Fahrt geschehen wird?« fragte ein Reporter einen der Bremser. »Glauben
Sie, daß Sie an Ihr Ziel kommen?«
»Davon gehe ich aus«, sagte der Bremser, »und du auch, Kumpel.«
»Mr. Logan, haben Sie Kinder? Haben Sie eine Extraversicherung abgeschlossen? Ich denke dabei an die
Brücke, wissen Sie.«
»Lassen Sie sich nicht vor mir auf der Brücke erwischen«, antwortete Pat Logan verächtlich.
»Mr. Rearden, woher wissen Sie, daß Ihre Schienen halten?«
»Woher wußte Gutenberg, daß seine Erfindung funktioniert?« entgegnete Rearden.
»Sagen Sie, Miss Taggart, was kann einen Siebentausend-Tonnen-Zug auf einer Dreitausend-Tonnen-Brücke
tragen?«
»Mein Urteil«, erwiderte sie.
Die Männer von der Presse, die ihren eigenen Beruf verachteten, wußten nicht, warum sie sich heute über ihn
freuten. Einer von ihnen, ein junger Mann, der schon seit Jahren einen großen Ruf hatte und so zynisch aussah,
als wäre er zweimal so alt, wie er in Wirklichkeit war, sagte plötzlich: »Ich weiß, was ich sein möchte. Ein
Reporter, der etwas zu berichten hat: ehrliche, grundsolide, ernstzunehmende Neuigkeiten.« Die Zeiger auf der
Uhr am Bahnhofsgebäude standen auf drei Uhr fünfundvierzig. Das Zugpersonal ging zum Begleitwagen am
anderen Ende des Zuges. Der Lärm und die Unruhe der Menge flauten ab. Unwillkürlich standen die Leute still.
Der Fahrdienstleiter hatte von allen Bahnhöfen längs der Fünfhundertmeilenstrecke, die sich durch das
Gebirge zu den Wyatt-Ölfeldern wand, Meldung erhalten. Er kam aus dem Bahnhofsgebäude heraus, blickte
Dagny an und hob die Hand. Die Strecke war frei. Dagny stand neben der Lokomotive. Zur Bestätigung
wiederholte sie sein Zeichen.
Wie die Glieder einer Wirbelsäule standen die Güterwagen zu einer dichten Kette gefügt. Vom Schluß des
Zuges gab der Zugführer sein Handzeichen. Dagny erwiderte es.
Rearden, Logan und McKim standen schweigend, als nähmen sie Haltung an, und ließen sie als erste die
Lokomotive besteigen. Als sie die Stufen hinaufkletterte, fiel einem Reporter noch eine Frage ein.
»Miss Taggart«, rief er ihr nach, »wer ist John Galt?«
Sie drehte sich um. Mit einer Hand hielt sie sich an einer Metallstange fest. Einen Augenblick lang schien sie
über den Köpfen der Menge zu schweben.
»Wir sind es«, antwortete sie.
Logan folgte ihr in den Führerstand, dann McKim. Rearden stieg als letzter auf, dann schloß sich die Tür der
Lokomotive – nahtlos und endgültig, als würde sie versiegelt.
Von der Signalbrücke leuchteten grüne Lichter gegen den blauen Himmel. Zwischen den Gleisen leuchteten
grüne Lichter dicht über dem Boden. Sie verloren sich in der Ferne an einer Kurve, wo ein großes grünes Licht
mit dem sommerlichen Grün der Blätter wetteiferte, die auch wie grüne Lichter aussahen.
Zwei Männer hielten vor der Lokomotive ein weißes Seidenband quer über die Gleise. Es waren der Leiter
des Bezirks Colorado und Nealys Chefingenieur, der in seiner Stellung geblieben war. Eddie Willers sollte das
Band durchschneiden und damit die neue Linie eröffnen.
Die Fotografen stellten ihn, mit der Schere in der Hand, die Lokomotive im Rücken, für die Aufnahme auf. Er
solle den feierlichen Akt zwei- oder dreimal wiederholen, erklärten sie, damit sie das beste Bild auswählen
könnten. Sie hielten dafür neues Band bereit. Er war nahe daran, einzuwilligen, aber dann sagte er plötzlich:
»Nein, ich will kein nachgestelltes Bild.«
Im ruhigen Ton einer Autorität, eines Stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden, der keine Widerrede duldet,
sagte er ruhig, aber sehr bestimmt: »Treten Sie weiter zurück. Machen Sie eine Aufnahme, wenn ich das Band
durchschneide, und dann räumen Sie schnell die Gleisanlage.«
Sie gehorchten und liefen eilig ein Stück die Strecke hinunter. Es war nur noch eine Minute Zeit. Eddie kehrte
den Fotografen den Rücken und stand mit dem Gesicht zur Lokomotive zwischen den Gleisen. Er hielt die
Schere über dem weißen Band bereit, nahm den Hut ab und warf ihn auf den Boden. Er blickte zu der Maschine
auf. Ein leiser Wind wehte durch sein blondes Haar. Die Lokomotive war wie ein großer Silberschild, der das
Emblem Nat Taggarts trug.
Eddie Willers hob die Hand genau in der Sekunde, als der Zeiger der Bahnhofsuhr auf vier sprang.
»Fahren Sie los, Pat«, rief er.
Sobald die Lokomotive sich in Bewegung setzte, durchschnitt er das weiße Band und sprang zur Seite.
Vom Nebengleis aus sah er das Fenster des Führerstands vorübergleiten und Dagny, die seinen Gruß mit
erhobener Hand erwiderte. Dann war die Lokomotive verschwunden, und er blickte auf den von Menschen
überfüllten Bahnsteig, der immer wieder zwischen den vorüberfahrenden Güterwagen auftauchte.
Die grünblauen Schienen kamen wie zwei vom Horizont hervorschießende Strahlen auf sie zu. Die Schwellen
verschmolzen zu einem unter den Rädern ruhig dahinfließenden Strom. Dicht über dem Boden heftete sich ein
verschwommener Lichtstreifen an die Lokomotive. Bäume und Telegraphenmasten wurden plötzlich sichtbar
und verschwanden wie weggeschleudert. Die grünen Ebenen glitten sanft vorüber. Am Horizont bewegte sich
eine lange Woge von Bergen in umgekehrter Richtung und schien dem Zug zu folgen.
Dagny spürte die Räder unter ihren Füßen nicht. Die Lokomotive bewegte sich mit sanftem Druck. Als würde
sie in der Luft schweben. Ohne Schienenkontakt. Die Geschwindigkeit war nicht fühlbar. Die grünen
Signallichter schossen im Abstand weniger Sekunden vorbei. Dagny wußte, daß sie zwei Meilen auseinander
standen.
Die Tachometernadel zeigte auf hundert.
Dagny saß auf dem Platz des Heizers und blickte immer wieder zu Logan hinüber. Er war konzentriert, wirkte
aber zugleich entspannt. Seine eine Hand lag wie spielerisch auf einem der Schalthebel. Seine Augen waren fest
auf die Strecke gerichtet. Jede Bewegung hatte die selbstbewußte Lässigkeit eines Mannes, der seine Aufgabe
beherrscht. Die Konzentration war ihm nicht anzumerken. Ray McKim saß auf einer Bank hinter ihnen. Rearden
stand in der Mitte des Führerstandes.
Er stand, die Hände in den Taschen, mit gespreizten Beinen, um das Tempo abzufangen, und blickte
geradeaus. Nichts zu beiden Seiten der Strecke vermochte ihn jetzt zu interessieren. Er sah nur die Schienen.
Besitz, dachte Dagny und blickte über die Schulter zu ihm hin: Es gab Menschen, die nichts von seinem
Wesen wußten und seine Wirklichkeit bezweifelten? Dagny wußte, Besitz bestand nicht aus Papieren, Siegeln,
Urkunden und Genehmigungen. Er war das, was in Reardens Augen leuchtete.
Der Lärm, der den Führerstand erfüllte, schien ein Teil der Umgebung zu sein, die sie durchführen. Er enthielt
das leise Dröhnen der Motoren, das laute Klappern von Blech und Stahl und den hohen, dünnen Klang der
vibrierenden Glasscheiben.
Bilder flogen vorüber – ein Wassertank, ein Baum, ein Schuppen, ein Getreidesilo. Wie ein Scheibenwischer
seine Kreise beschreibt, tauchten sie auf, wurden größer und tauchten wieder unter. Die Telegraphendrähte
machten einen Wettlauf mit dem Zug, hoben und senkten sich von Stange zu Stange in einem gleichmäßigen
Rhythmus, als zeichnete ein Elektrokardiograph die Kurve eines ruhigen Herzschlags an den Himmel.
Dagny Blick richtete sich voraus auf den Dunst, in dem Schienen und Horizont ineinander übergingen, einen
Dunst, der jeden Augenblick aufreißen und eine Katastrophe enthüllen konnte. Sie wunderte sich, warum sie sich
sicherer fühlte, als sie sich je in einem Waggon hinter der Lokomotive gefühlt hatte. Sicherer, obwohl jedes
plötzliche Hindernis sie und die Windschutzscheibe vor ihr als erste zerschmettern würde. Sie lächelte, als ihr
plötzlich klar wurde, warum: Es war die Sicherheit, ganz vorn zu sein, wo man alles überblicken und die Fahrt
verfolgen konnte, nicht das blinde Gefühl, von einer unbekannten, unkontrollierten Kraft irgendwohin gezogen
zu werden. Es war das höchste Lebensgefühl: nicht zu glauben, sondern zu wissen.
Die Fenster des Führerstands ließen das Land weiter erscheinen. Die Erde schien der Bewegung genauso
wenig Widerstand entgegenzusetzen wie dem Auge. Dennoch war nichts fern und nichts unerreichbar. Sie hatte
kaum einen See vor sich aufblitzen sehen, da war sie schon an ihm vorüber, und er lag hinter ihr.
Es war eine seltsame Verkürzung des Abstandes zwischen Blick und Berührung, dachte sie, zwischen
Wunsch und Erfüllung, zwischen – sie zögerte einen Moment, bevor sie die beiden Begriffe verband – Geist und
Körper. Erst die Vision, dann die physische Form, die sie ausdrückte. Erst der Gedanke – dann die entschlossene
Bewegung auf der geraden Linie eines direkt zum gewählten Ziel führenden Wegs. Konnte das eine Bedeutung
haben ohne das andere! War es nicht Sünde zu wünschen, ohne zu handeln, oder zu handeln ohne Ziel? Welches
Böse kroch durch die Welt und versuchte, beides auseinanderzubrechen und gegeneinander zu stellen?
Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht daran denken oder sich fragen, warum die Welt hinter ihr so war, wie
sie war. Es war ihr gleichgültig. Sie lehnte sich an das offene Fenster, spürte, wie der Fahrtwind ihr das Haar in
die Stirn wehte, und das einzige, was sie dabei empfand, war Freude. Dennoch war ihr Geist hellwach.
Gedankenfetzen tauchten in ihr auf. Physische Freude, dachte sie. Dies ist ein aus Stahl gebauter Zug, der auf
Schienen aus Rearden Metal fährt… angetrieben von der Kraft von Generatoren und verbrennenden Öls. Es ist
das physische Gefühl physischer Bewegung im Raum… Aber ist es die Ursache und der Sinn dessen, was ich
jetzt fühle? Nennt man das eine niedere animalische Freude, dieses Gefühl, daß es mir nichts ausmachen würde,
wenn die Schienen unter uns – was sie nicht tun werden – jetzt rissen? Daß es mir nichts ausmachen würde, weil
ich diesen Moment erleben durfte? Nennt man das eine niedere, physische, materielle, unwürdige, sinnliche
Lust?
Sie lächelte mit geschlossenen Augen, während der Wind durch ihr Haar strich.
Sie schlug die Augen auf und bemerkte, daß Rearden zu ihr heruntersah. Es war der gleiche Blick, mit dem er
die Schienen betrachtet hatte. Sie fühlte, wie ihre Willenskraft durch einen einzigen dumpfen Schlag gelähmt
wurde, der sie bewegungsunfähig machte. Sie hielt seinem Blick stand, lehnte sich in ihrem Sitz zurück, und der
Fahrtwind preßte den dünnen Stoff ihres Hemdes an ihren Körper.
Er wandte den Blick ab, und ihre Augen schweiften wieder über die vorüberrasende Landschaft.
Sie wollte nicht denken, aber die Gedanken dröhnten in ihr weiter wie die Motoren der Lokomotive. Sie
blickte um sich. Das feine Stahlgespinst der Decke, dachte sie, und die Reihe der Nieten in der Ecke, von denen
die Stahlplatten zusammengehalten wurden: Wer hatte sie hergestellt? Die brutale Kraft von Männermuskeln?
Wer hatte es möglich gemacht, daß die vier Skalen und die drei Hebel vor Pat Logan die unglaubliche Kraft der
vier Lokomotiven hinter ihnen bändigten und sie der mühelosen Beherrschung einer einzigen Menschenhand
überlassen konnten?
Dies und das Können, das es geschaffen hatte, sahen die Menschen das als böse an? Nannte man das ein
schändliches Interesse für die materielle Welt? War dies die Versklavung durch die Materie? War dies die
Kapitulation des Geistes vor dem Körper?
Sie schüttelte den Kopf, als ob sie wünschte, sie könnte das alles aus dem Fenster schleudern und es irgendwo
längs der Gleis e zertrümmert liegenlassen. Sie blickte in den Sonnenschein auf den Sommerfeldern. Sie brauchte
nicht nachzudenken, weil diese Fragen nur Details einer Wahrheit waren, die sie kannte und immer gekannt
hatte. Laß sie vorbeifliegen wie die Telegraphenmasten. Was sie wußte, war wie der Draht, dessen
ununterbrochene Linie den Zug begleitete. Die Worte dafür, für diese Reise und für ihr Gefühl und für das ganze
menschliche Dasein waren: Es ist so einfach und so klar.
Sie sah hinaus. Schon eine Zeitlang hatte sie menschliche Gestalten bemerkt, die mit seltsamer
Regelmäßigkeit längs des Schienenstrangs auftauchten. Aber sie verschwanden so schnell, daß ihr erst klar
wurde, was sie bedeuteten, als sich aus den flüchtigen Impressionen – wie aus den einzelnen Bildern eines Films
– ein Ganzes formte. Sie hatte die Strecke seit Fertigstellung bewachen lassen. Aber diese Menschen, die
gleichsam eine Kette längs der Gleise bildeten, hatte sie nicht angestellt. An jedem Meilenstein stand ein
einsamer Wächter. Einige waren Schuljungen, andere waren so alt, daß ihre Silhouetten sich wie krumme Nägel
vom Himmel abhoben. Alle waren sie mit irgend etwas bewaffnet. Der eine hatte ein kostspieliges Gewehr, der
andere eine uralte Muskete. Was sie gerade hatten auftreiben können. Alle trugen sie Eisenbahnermützen. Es
waren die Söhne von Taggart-Angestellten und pensionierte alte Eisenbahner, die ein Leben lang für Taggart
Transcontinental gearbeitet hatten. Unaufgefordert waren sie gekommen, um diesen Zug zu beschützen. Sobald
die Lokomotive an ihnen vorüberkam, stand jeder in strammer Haltung und hob grüßend sein Gewehr.
Als sie begriff, warum sie dort standen, brach sie plötzlich in lautes Gelächter aus. Sie schüttelte sich vor
Lachen wie ein Kind; es klang wie ein befreites Schluchzen. Pat Logan nickte ihr mit einem leisen Lächeln zu; er
hatte die Ehrengarde schon längst bemerkt. Sie lehnte sich aus dem offenen Fenster, und mit einer weiten
triumphierenden Gebärde winkte sie den Männern und Knaben zu.
Auf dem Gipfel eines fernen Berges sah sie eine winkende Menschenmenge. In einem Tal darunter lagen die
grauen Häuser eines Dorfes verstreut, als wären sie einmal dort hingefallen und dann vergessen worden; die
Dächer neigten sich, als wollten sie einstürzen, und die Zeit hatte die Farbe der Mauern gebleicht. Vielleicht
hatten dort Generationen gelebt, die nichts an das Dahingehen ihrer Tage erinnert hatte als die Bewegung der
Sonne von Osten nach Westen. Jetzt hatten diese Menschen den Berg erklommen, um den silberköpfigen Comet
zu sehen, der durch ihre Wiesen und Felder dahinschoß.
Als die Häuser zahlreicher wurden und näher an die Strecke heranrückten, sah sie Menschen an den Fenstern,
in den Toreinfahrten, auf fernen Dächern stehen. Sie sah Menschenmengen, die die Straßen an Bahnübergängen
blockierten. Die Straßen, die den Stäben eines Fächers glichen, schnellten vorüber, und sie konnte die Gesichter
der Menschen nicht erkennen, nur ihre Arme, die wie sich im Fahrtwind wiegende Zweige den Zug grüßten. Sie
standen unter den schwingenden roten Lichtern der Warnsignale, unter den Schildern, die verkündeten:
»Achtung! Bahnübergang!«
Der Bahnhof, an dem sie vorüberflogen, als sie mit hundert Meilen die Stunde durch eine Stadt fuhren, war
eine sich bewegende Skulptur aus Menschen vom Bahnsteig bis zum Dach. Sie sah winkende Arme, in die Luft
geschleuderte Hüte und etwas, das auf die Lokomotive zuflog: einen Blumenstrauß.
Je weiter sie fuhren, durch desto mehr Städte kamen sie, mit Bahnhöfen, an denen sie nicht anhielten, mit
Menschenmengen, die nur gekommen waren, um zu sehen, sich zu freuen und neue Hoffnung zu schöpfen.
Unter den verrußten Dachtraufen alter Stationsgebäude sah sie Blumengirlanden und an den von der Zeit
angenagten Mauern rot-weiß-blaue Fahnen. Es erinnerte sie an die Bilder, die sie mit heimlichem Neid in
Lesebuchgeschichten von Eisenbahnen gesehen hatte, Bilder aus jener Zeit, als die Menschen herbeieilten, um
die erste Fahrt eines Zuges mitzuerleben. Damals fuhr Nat Taggart durch das Land, und überall, wo sein Zug
hielt, strömten Menschen herbei, um seine gewaltige Leistung zu bewundern. Jene Zeit, hatte sie gedacht, war
längst vorüber – Generationen waren dahingegangen, für die es nirgends ein Ereignis zu bejubeln gab, für die es
nichts zu sehen gab als die Jahr um Jahr länger werdenden Risse in den von Nat Taggart erbauten Mauern.
Dennoch kamen die Menschen wieder, so wie sie damals gekommen waren, von dem gleichen Impuls getrieben.
Sie sah Rearden an. Er stand an der Wand, ohne auf die Menschenmengen zu achten, gleichgültig gegen ihre
Bewunderung. Er beobachtete die Leistung von Schienen und Zug mit dem intensiven professionellen Interesse
eines Fachmanns. Seine Haltung verriet, wie gleichgültig er gegenüber Gedanken war wie: »Sie freuen sich«. Er
konnte nur das eine denken: »Wir haben es geschafft!«
Seine hochgewachsene Gestalt in grauem Hemd und grauen Hosen wirkte, als wäre sein Körper nackt und
bloß, um durch nichts im Handeln gehemmt zu sein. Die Hosen akzentuierten die schlanken Linien seiner Beine,
die mü helose Sicherheit, mit der er sich aufrecht hielt und bereit schien, jederzeit auf einen kurzen Wink hin
loszustürmen. Die kurzen Ärmel akzentuierten die ungeheure Kraft seiner Arme. Das offene Hemd entblößte die
straffe Haut seiner Brust.
Dagny begriff plötzlich, daß sie ihn zu oft ansah, und wandte den Kopf ab. Aber diesen Tag verband nichts
mit der Vergangenheit oder Zukunft – ihre Gedanken waren von allem abgeschnitten –, sie war sich nur des
einen Gefühls bewußt, daß sie mit ihm gefangen war, mit ihm in der gleichen Zelle eingeschlossen. Seine Nähe
machte ihr diesen Tag noch bewußter.
Bewußt drehte sie sich noch einmal nach ihm um. Er sah sie an. Er wich ihrem Blick nicht aus, sondern
begegnete ihm kalt und mit voller Absicht. Sie lächelte herausfordernd, ohne sich zuzugeben, weshalb sie
lächelte. Sie wußte nur, es war der härteste Schlag, mit dem sie dieses unbewegliche Gesicht treffen konnte. Sie
spürte plötzlich das Verlangen, ihn zittern zu sehen, ihm einen Schrei zu entlocken. Sie wandte den Kopf
langsam ab. Eine kindische Heiterkeit erfüllte sie, und sie wunderte sich nur, warum ihr das Atmen so schwer
wurde.
Sie saß in ihren Stuhl zurückgelehnt, blickte geradeaus und wußte, daß er sie ebenso wahrnahm wie sie ihn.
Das besondere Selbstbewußtsein, das ihr dies gab, machte sie froh. Wenn sie die Beine übereinanderschlug,
wenn sie ihren Arm auf das Fensterbrett stützte, wenn sie sich das Haar aus der Stirn strich – bei allem dachte
sie, ohne es sich zuzugeben, immer nur das eine: Sieht er es?
Die Städte lagen schon weit hinter ihnen. Die Strecke führte bergan in eine immer unwirtlichere Landschaft,
die sich dem Nahen des Zuges widersetzte. Die Schienen verschwanden immer wieder hinter Kurven, und die
Bergkämme rückten immer näher heran, als ob die Ebenen sich zusammenfalteten. Die steil in den Himmel
schießenden Felswände Colorados rückten dicht an die Gleise heran – und die ferne Weite des Himmels versank
in einem Meer bläulicher Berge.
Weit vor sich sah sie einen Rauchnebel über Fabrikschornsteinen – dann ein Elektrizitätswerk und einen
schlanken, hochaufragenden Stahlbau. Sie näherten sich Denver.
Sie beobachtete Pat Logan. Er beugte sich ein wenig weiter vor; seine Finger strafften sich, und seine Augen
wurden beinahe starr. Er wußte wie sie, wie gefährlich es war, eine Stadt in einem solchen Tempo zu
durchqueren.
Es dauerte mehrere Minuten, aber für sie war es wie ein einziger Augenblick. Zuerst sahen sie einsam
stehende Fabrikgebäude an den Fenstern vorbeifliegen, dann die verschwommenen Bilder von Straßen,
schließlich ein sich vor ihnen ausbreitendes Schienendreieck, das sie wie die Öffnung eines Trichters in den
Taggart-Bahnhof hineinzog, wobei die kleinen grünen Lichter auf der Erde ihren einzigen Schutz bildeten. Von
der Höhe des Führerstands sahen sie Güterwagen auf Nebengleisen wie flache Bänder aus Dächern
vorübergleiten – die schwarze Höhle des Lokomotivschuppens flog ihnen entgegen – sie rasten durch einen
Höllenlärm, die Räder ließen die Glasscheiben eines Gewölbes erklirren, und Jubelschreie erschallten aus einer
Menge, die wie eine Flüssigkeit im Dunkel zwischen Stahlsäulen auf und ab schwappte – sie flogen auf einen
glühenden Bogen zu, und die grünen Lichter, die in der Weite des Himmels dahinter hingen, waren wie Klinken
von Türen, die eine nach der anderen vor ihnen aufgerissen wurden. Dann ließen sie die belebten Straßen, die
offenen Fenster, an denen sich Menschen drängten, die kreischenden Sirenen hinter sich, und vom Dach eines
fernen Wolkenkratzers wirbelte durch die Luft eine Wolke von Papierschneeflocken.
Dann fuhren sie wieder durch ein Felsengebiet; unheimlich jäh ragten die Berge dicht vor ihnen auf, als ob die
Stadt sie unmittelbar auf einen Granitwall zugeschleudert hätte. Aber ein schmaler Felsvorsprung fing sie noch
rechtzeitig auf. Sie klebten am Hang eines steil aufragenden Felsens, und riesige Felsblöcke türmten sich auf und
verdunkelten die Sonne, ließen sie ohne einen Ausblick auf Erde oder Himmel durch ein blaues Zwielicht rasen.
Die Kurven der Schienen schlängelten sich durch die Felswände, die näher kamen, um sie zu zermalmen.
Aber das Gleis fand immer wieder eine Lücke, und die Berge traten zurück und öffneten sich wie zwei Flügel,
wenn eben noch das Ende der Strecke erreicht zu sein schien – ein grüner Flügel aus den senkrecht stehenden
Wipfeln hoher Fichten, die wie der Flor eines dichten Teppichs aussahen, und ein rötlich-brauner aus nackten
Felsen.
Dagny blickte durch das offene Fenster und sah die über einem Abgrund hängende silberne Flanke der
Lokomotive. Tief unten sah sie den dünnen Faden eines von Felsen zu Felsen herabschießenden Sturzbaches,
und wie zum Wasser geneigte Farne die schimmernden Wipfel von Birken. Sie sah die sich an einer Granitwand
entlangwindende Reihe der Güterwagen, und sie sah das hinter den Felsenschründen in der Tiefe auslaufende
Band grünblauer Schienen.
Eine Felsenwand reckte sich vor ihnen auf, beschattete die Windschutzscheibe des Führerstands, kam so dicht
auf sie zu, daß es schien, als ob sie ihr nicht mehr ausweichen könnten. Dagny hörte das Kreischen der Räder in
der Kurve. Dann wurde es wieder hell, und sie sah ein Stück Schienenstrang auf einem schmalen Felsgrat, der
sich im Raum verlor. Die Spitze der Lokomotive war steil zum Himmel gerichtet. Nur zwei Streifen grünblauen
Metalls, die sich in einer Kurve um den Grat schlangen, bewahrten sie vor dem Absturz.
Zwei Metallstreifen, die nicht breiter als ihr Arm waren, vollbrachten das schier Unmö gliche, dachte sie, die
donnernde Gewalt von vier Lokomotiven, den Druck von siebentausend Tonnen Stahl und Fracht auszuhalten,
ihm zu widerstehen, ihn zu packen und ihn um eine Kurve zu schwingen. Wie war das möglich? Welche Macht
hatte einer unsichtbaren Verbindung von Molekülen die Kraft gegeben, von der ihr Leben abhing und das Leben
all der Menschen, die auf die achtzig Wagen warteten? Sie sah Gesicht und Hände eines Mannes im Schein eines
Laborofens über der weißen Flüssigkeit einer Metallprobe. Sie fühlte eine Erregung in sich aufsteigen, die sie
nicht eindämmen konnte. Etwas brach in ihr auf. Sie drehte sich zur Tür der Motorenkammer um. Sie riß sie auf,
ein wilder Lärm erscholl, und sie flüchtete in das wild hämmernde, dröhnende Herz der Lokomotive.
Einen Augenblick lang war es, als hätte sie nur noch einen Sinn; das Gehör, und was sie vernahm, war nur ein
langer ansteigender und wieder leiser werdender und von neuem ansteigender Schrei. Sie stand in einer
schwankenden, geschlossenen Metallkammer und blickte auf die riesigen Generatoren. Sie hatte sie sehen
wollen, weil ihr Triumphgefühl mit ihnen verbunden war, mit ihrer Liebe zu ihnen, mit dem Lebenswerk, für das
sie sich entschieden hatte. In der unnatürlichen Klarheit eines ungestümen Gefühls war es ihr, als begriffe sie
etwas, von dem sie nie etwas gewußt hatte und das sie unbedingt wissen mußte. Sie lachte laut, aber sie hörte es
nicht. Der brüllende Lärm verschluckte jedes andere Geräusch. »Die John-Galt-Linie«, schrie sie.
Langsam ging sie an den Motoren entlang, einen schmalen Gang zwischen ihnen und der Wand hinunter. Sie
kam sich wie ein dreister Eindringling vor, als wäre sie in ein lebendes Geschöpf hineingeschlüpft, unter seine
silberne Haut, und beobachtete, wie sein Herz in grauen Metallzylindern, in Drahtspulen, in verschlossenen
Röhren, im zuckenden Wirbel von Propellern in Drahtkäfigen schlug.
Warum hatte sie beim Anblick von Maschinen immer diese freudige Zuversicht gespürt? fragte sie sich. Es
gab bei ihnen nicht die beängstigende Unmenschlichkeit des Sinn- und Zwecklosen. Jeder Teil der Motoren war
die gestaltgewordene Antwort auf das Warum und das Wozu – so wie die einzelnen Schritte in der
Lebensführung rational handelnder Menschen, der Menschen, die ihrem Ideal entsprachen. Die Motoren waren
ein in Stahl gegossenes Moralgesetz.
Sie leben, dachte sie, weil sie der körperliche Ausdruck der Arbeit einer lebendigen Macht sind – des Geistes,
der diese ganze Komplexität erfassen, ihren Zweck bestimmen, ihr die Form geben konnte. Einen Augenblick
lang schienen ihr die Motoren durchsichtig zu sein, und sie sah das Flechtwerk ihres Nervensystems. Es war ein
Netz von Verbindungen, viel weiter verzweigt und bedeutungsvoller als das tatsächliche Netz der Drähte und
Stromkreise; es waren vom menschlichen Intellekt, der jeden einzelnen Teil geschaffen hatte, hergestellte
rationale Verbindungen.
Sie leben, dachte sie, aber ihre Seele wirkt durch Fernsteuerung auf sie ein. Ihre Seele ist in jedem Menschen,
dessen Fähigkeit ihnen ebenbürtig ist. Verschwände die Seele aus der Welt, dann würden die Motoren
stillstehen, denn die Seele ist die Kraft, die sie in Gang hält – nicht das Öl unter der Erde, das wieder wie einst
versickern würde – nicht die Stahlzylinder, die zu Rostflecken an den Wänden der Höhlen frierender
Urmenschen werden würden. Sie werden angetrieben durch die Kraft eines lebendigen Geistes, die Macht des
Gedankens, des Entschlusses und des Zwecks.
Dagny wollte wieder in den Führerstand zurückkehren. Sie hätte am liebsten gelacht, sich hingekniet oder die
Arme gehoben, in dem Verlangen, das, was sie fühlte, laut auszusprechen, obwohl sie wußte, daß es sich nicht
ausdrücken ließ.
Sie blieb stehen. Rearden stand neben den Stufen zum Führerstand. Er blickte sie an, als ob er wüßte, warum
sie geflüchtet war und was sie empfand. Sie standen still und sahen sich über den schmalen Durchgang hinweg
in die Augen. Das Hämmern des Blutes in ihr war eins mit dem Stampfen der Motoren – und es war ihr, als
käme beides von ihm; der hämmernde Rhythmus löschte ihren Willen aus. Sie kehrten beide stumm in den
Führerstand zurück, sie brauchten einander über diesen Augenblick nichts zu sagen.
Die Felsen vor ihnen leuchteten wie flüssiges Gold. In den Tälern darunter wurden die Schatten länger. Die
Sonne stieg zu den Gipfeln im Westen hinunter. Sie fuhren westwärts bergauf, der Sonne entgegen.
Der sich allmählich verdunkelnde Himmel hatte die grünblaue Farbe der Schienen. In einem fernen Tal
erkannten sie Schornsteine. Es war eine der neuen Städte Colorados, jener Städte, die im Schatten der Wyatt-
Ölfelder entstanden waren. Sie sah die rechteckigen, modernen Häuser, flache Dächer, große Fenster. Menschen
waren aus der Ferne nicht zu erkennen.
Sie dachte, daß man den Zug dort nicht erwarten würde. Im selben Augenblick stieg eine Rakete zwischen
den Häusern auf und zerplatzte hoch über der Stadt in einem sich vom Dunkel des Himmels abhebenden Regen
goldener Sterne. Menschen, die sie nicht sehen konnte, sahen den Zug am Berghang entlangfahren und schickten
einen Gruß, eine zuckende Flamme in der Dämmerung, als Symbol der Freude oder eines Hilferufs.
Hinter der nächsten Biegung sah sie plötzlich in der Ferne zwei Lichtpunkte tief am Himmel. Einen weißen
und einen roten. Es waren keine Flugzeuge. Sie sah die Metallgerüste, über denen sie leuchteten. Und in dem
Augenblick, als sie begriff, daß es die Bohrtürme der Wyatt-Ölfelder waren, wurde sie gewahr, daß die Strecke
bergab führte, daß die Erde sich ausdehnte, als ob die Berge zur Seite geschleudert würden. Und tief unten, am
Fuß des Wyattberges, sah sie die Brücke aus Rearden Metal, die sich über den finsteren Schlund einer Schlucht
spannte.
Sie rasten hinunter. Sie vergaß, daß die Strecke in großen Kurven allmählich hinunterführte; es kam ihr vor,
als würde der Zug kopfüber bergab stürzen. Sie sah die Brücke vor ihnen immer größer werden – ein kleiner
viereckiger Tunnel aus Metallspitzen, ein paar kreuzförmig in die Luft aufragende Pfeiler, grünblau und
funkelnd im Schein der untergehenden Sonne, deren Strahlen durch einen Spalt im Wall der Berge drangen. An
der Brücke wimmelte es von Menschen, aber sie nahm sie nur halbbewußt wahr. Sie hörte das lauter und
schneller werdende Rattern der Räder. Und sie hörte zum Rhythmus der Räder eine Melodie, deren Klänge in
ihrem Inneren immer mehr anschwollen. Plötzlich tönten die Klänge durch den Führerstand, aber sie wußte, es
war nur in ihr: das Fünfte Konzert. Hat Richard Halley es hierfür geschrieben? dachte sie. Hat er ein Gefühl wie
dieses gekannt? Sie fuhren immer schneller. Es war, als ob sie über dem Boden schwebten, als ob sie von den
Bergen wie von einem Sprungbrett hochgeschleudert würden. Sie glitten jetzt durch den Raum. Das ist kein
wirklicher Test, dachte sie. Wir werden die Brücke gar nicht berühren. Sie sah Reardens Ge sicht über sich, sie
hielt seinem Blick stand und lehnte den Kopf zurück, so daß ihr Gesicht in der Luft still unter seinem Gesicht
lag. Sie hörten ein schrilles Kreischen von Metall, sie hörten einen Trommelwirbel unter ihren Füßen, die
Diagonalen der Brücke verdeckten die Aussicht, und es klang, als ob ein Metallstab über die Eisenspitzen eines
Zaunes glitte. Dann sahen sie alles in einer unheimlich grellen Klarheit, und der Schwung ihrer Talfahrt trug sie
einen Berg hinauf. Die Bohrtürme der Wyatt-Ölfelder wichen vor ihnen zurück. Pat Logan drehte sich um,
blickte Rearden mit einem leisen Lächeln an, und Rearden sagte: »Es ist geschafft.« Auf dem Schild am Rand
eines Daches stand: Wyatt Junction. Sie starrte es verwundert an, bis sie begriff, was sie daran so überraschte.
Das Schild bewegte sich nicht. Der größte Schock dieser Fahrt war es, daß die Lokomotive plötzlich stillstand.
Sie hörte irgendwo Stimmen, blickte hinunter und sah, daß Menschen auf dem Bahnsteig standen. Dann
wurde die Tür des Führerstands aufgerissen. Sie wußte, daß sie als erste aussteigen mußte. Sie trat vor. Im
Windzug spürte sie für einen Augenblick die Zerbrechlichkeit und Leichtigkeit ihres Körpers. Sie hielt sich an
den Metallstangen fest und begann die Stufen hinunterzusteigen. Aber auf halbem Weg fühlte sie, wie zwei
Männerhände sich um ihre Rippen und ihre Taille preßten, sie wurde hochgehoben, flog durch die Luft und
wurde dann auf den Boden gestellt. Sie konnte es nicht glauben, daß der junge Mann, der sie anlachte, Ellis
Wyatt war. Das straffe, spöttische Gesicht, an das sie sich erinnerte, hatte jetzt die Reinheit, die Ungeduld, das
freudige Wohlwollen eines Kindes in jener Welt, für die er geschaffen war.
Sie lehnte sich an seine Schulter, weil sie sich auf dem festen Boden noch seltsam unsicher fühlte. Er legte
seinen Arm um sie, und sie lachte, hörte zu, was er sagte, und antwortete: »Aber wußten Sie denn nicht, daß wir
es schaffen würden?«
Auf einen Blick erkannte sie die Gesichter um sich herum. Es waren die Männer der John-Galt-Linie, die die
Obligationen gezeichnet hatten, die Männer, für die die Namen Nielsen Motors, Hammond Cars, Stockton
Foundry standen – und all die anderen. Sie schüttelte ihnen die Hände, aber niemand hielt eine Rede. Sie stand
immer noch an Ellis Wyatt gelehnt, ein wenig in sich zusammengesunken, strich sich das Haar aus den Augen,
und man sah die Rußflecke auf ihrer Stirn. Sie schüttelte allen, die zum Zugpersonal gehörten, die Hände.
Niemand sagte ein Wort, aber alle lächelten. Um sie herum flammt en Blitzlichter auf, und Menschen winkten
ihnen von den Gerüsten der Ölfelder an den Hängen der Berge zu. Über ihrem Kopf, über den Köpfen der
Menge fiel der letzte Strahl der untergehenden Sonne auf das silberne Schild mit den Buchstaben TT.
Als Ellis Wyatt ihr einen Weg durch die Menge bahnte, drängte sich einer der Männer mit den Kameras zu ihr
hindurch. »Miss Taggart«, sagte er, »wollen Sie uns nicht eine Botschaft an die Öffentlichkeit geben?« Ellis
Wyatt deutete auf die Güterwagen. »Das hat sie schon getan.«
Dann saß sie im Fond eines offenen Wagens, der eine kurvenreiche Gebirgsstraße hinauffuhr. Neben ihr saß
Rearden. Am Steuer saß Ellis Wyatt.
Sie hielten vor einem Haus, das am Rand eines Felsens stand. Man sah dort kein anderes Haus, nur die
Ölfelder, die sich an den Hängen darunter entlangzogen.
»Sie sind heute nacht natürlich meine Gäste«, sagte Ellis Wyatt, als sie hineingingen, »Ich wüßte nicht, wo
Sie sonst hinsollten?«
Sie lachte. »Ich auch nicht. Ich habe darüber überhaupt nicht nachgedacht.«
»Die nächste Stadt ist eine Autostunde entfernt. Dahin ist Ihr Zugpersonal gefahren: Ihre Leute auf dem
Bahnhof dort veranstalten Ihnen zu Ehren eine Feier. In der ganzen Stadt wird gefeiert. Aber ich habe Ted
Nielsen und den anderen gesagt, daß wir Ihnen Bankett und Festreden ersparen. Oder hätte Ihnen sowas Spaß
gemacht?«
»Um Gottes willen, nein«, sagte sie, »Ich danke Ihnen, Ellis.«
Es war schon dunkel, als sie sich in einem Zimmer mit großen Fenstern und wenigen kostbaren Möbeln zu
Tisch setzten. Das Essen wurde von einer stummen Gestalt in weißer Jacke serviert, dem einzigen weiteren
Bewohner des Hauses, einem älteren Indianer mit steinernem Gesicht und gepflegten Manieren. Der Raum
wurde von dem milden Licht erhellt, das die flackernden Kerzen, die La mpen der Bohrtürme und die Sterne
spendeten.
»Glauben Sie etwa, Sie können jetzt die Hände in den Schoß legen?« fragte Ellis Wyatt. »Geben Sie mir nur
ein Jahr, und ich werde Ihnen gehörig zu tun geben. Zwei Tankzüge täglich, Dagny? Es werden vier oder sechs
oder so viele Sie wollen.« Seine Hand deutete auf die Lichter in den Bergen: »Das ist nichts im Vergleich zu
dem, was ich noch vorhabe.« Er zeigte nach Westen. »Der Buena-Esperanza-Paß. Fünf Meilen weit von hier.
Jeder fragt sich, was ich damit mache. Dort ist Ölschiefer. Wie viele Jahre ist es schon her, daß sie den Versuch
aufgegeben haben, Öl aus Schiefer zu gewinnen, weil es zu teuer war? Warten Sie die Ergebnisse des Verfahrens
ab, das ich entwickelt habe. Es wird das billigste Öl sein, das denen je ins Gesicht spritzte, und es gibt so viel
davon, daß das größte Ölbecken sich daneben wie eine Pfütze ausnimmt. Habe ich schon eine Pipeline in
Auftrag gegeben? Hank, Sie und ich werden Pipelines in alle Richtungen bauen müssen, um… Ach, ich bitte Sie
um Verzeihung. Ich glaube, ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt, als ich mit Ihnen auf dem Bahnhof
sprach. Ich habe Ihnen nicht einmal meinen Namen genannt.«
Rearden grinste. »Ich habe ihn allmählich erraten.«
»Es tut mir leid. Solche Nachlässigkeit ist mir zuwider, aber ich war zu aufgeregt.«
»Worüber waren Sie aufgeregt?« fragte Dagny mit spöttisch blinzelnden Augen.
Ellis Wyatt sah sie fest an. Lachend und dennoch seltsam feierlich antwortete er: »Über die schönste
Ohrfeige, die ich je bekommen und verdient habe.«
»Meinen Sie für unsere erste Begegnung?«
»Ja, für unsere erste Begegnung.«
»Unsinn. Sie hatten recht.«
»Ich habe alles richtig beurteilt, bloß Sie nicht. Dagny, eine Ausnahme zu finden nach Jahren der… Ach, was
scheren sie uns! Soll ich das Radio anstellen, damit wir hören, was man heute abend über Sie beide sagt?«
»Nein.«
»Gut. Ich will es auch gar nicht hören. Sollen die sich ihre Reden selbst anhören. Sie stellen sich heute alle auf
die Seite des Erfolgs. Wir sind der Erfolg.« Er blickte Rearden an: »Worüber lächeln Sie?«
»Ich habe immer gern wissen wollen, was für ein Mensch Sie sind.«
»Ich habe nie die Gelegenheit gehabt, der zu sein, der ich eigentlich bin, außer heute abend.«
»Leben Sie hier so ganz allein – Meilen fern von allem?«
Wyatt deutete auf das Fenster. »Ich lebe ein paar Schritte weit entfernt von – allem.«
»Und Leute?«
»Ich habe Gästezimmer für die, die mich geschäftlich aufsuchen. Aber von allen anderen halte ich mich so
weit wie möglich fern.« Er beugte sich vor, um die Weingläser wieder zu füllen. »Hank, warum ziehen Sie nicht
nach Colorado? Zur Hölle mit New York und der Ostküste! Dies ist die Hauptstadt der Renaissance. Der zweiten
Renaissance – nicht die der Ölgemälde und Kathedralen, sondern die der Bohrtürme, Kraftwerke und Motoren
aus Rearden Metal. Es hat die Steinzeit und die Eisenzeit gegeben, und jetzt beginnt das, was man die Rearden-
Metal-Zeit nennen wird, denn es gibt keine Grenze mehr für das, was Ihr Metall möglich gemacht hat.«
»Ich werde ein paar Quadratmeilen in Pennsylvania kaufen«, sagte Rearden. »Das ganze Land rings um mein
Werk. Es wäre billiger, hier ein Zweitwerk zu errichten, wie ich es eigentlich wollte. Aber Sie wissen, warum ich
es nicht kann. Trotzdem werde ich Sie schlagen. Ich werde mein Werk ausbauen, und wenn Dagny dreimal
wöchentlich Gütertransporte nach Colorado ermöglicht, dann wollen wir mal sehen, wo die Hauptstadt der
zweiten Renaissance liegen wird.«
»Lassen Sie erst ein Jahr lang Züge auf der John-Galt-Linie verkehren«, sagte Dagny. »Geben Sie mir die
Zeit, das Taggart-Netz wieder in Ordnung zu bringen – dann werde ich dreimal wöchentlich für Sie Frachten auf
Rearden-Metal-Schienen über den ganzen Kontinent von Ozean zu Ozean befördern.«
»Wer war es, der gesagt hat, gib mir einen festen Punkt?« fragte Ellis Wyatt. »Sie sollen mir freie Bahn
geben, und ich zeige ihnen, wie man die Erde bewegt!«
Sie fragte sich, was ihr an Wyatts Lachen so gefiel. Ihre Stimmen, selbst ihre eigene, hatten einen Klang, den
sie nie zuvor gehört hatte. Als sie sich vom Tisch erhoben, bemerkte sie zu ihrer Verwunderung, daß Kerzen die
einzige Beleuchtung des Raums waren: Es war ihr vorgekommen, als säße sie in hellstem Licht.
Ellis Wyatt erhob sein Glas, blickte sie beide an und sagte: »Auf die Welt, so wie sie im Augenblick zu sein
scheint!«
Er leerte sein Glas in einem Zug.
Sie hörte sein Glas an der Wand zersplittern, als sein Körper und der Arm, mit dem er es quer über den Tisch
geschleudert hatte, noch im vollen Schwung der Bewegung waren, die ihn wie einen Kreisel durch den Raum
wirbelte. Es war nicht die konventionelle Geste, mit der etwas gefeiert werden soll, es war die Geste eines
rebellischen Ärgers, eine Geste, in der sich wilder Zorn entlädt und die wie ein Schmerzensschrei ist.
»Ellis«, flüsterte sie, »was ist?«
Er drehte sich um und sah sie an. Mit der gleichen jähen Plötzlichkeit entspannte sich sein Gesicht. Und es
erschreckte sie, daß er leise lächelte. »Verzeihen Sie«, sagte er. »Sorgen wir uns nicht! Versuchen wir zu
glauben, daß es so bleiben wird!«
Draußen schien der Mond, als Wyatt sie über eine Außentreppe in den zweiten Stock des Hauses auf die
offene Galerie führte, an der die Gästezimmer lagen. Er wünschte ihnen gute Nacht, und sie hörten ihn wieder
hinuntersteigen. Das Mondlicht schien jedes Geräusch ebenso wie jede Farbe zu dämpfen. Die Schritte
verhallten in der Ferne, und in dem Schweigen war es ihr, als wären Rearden und sie schon lange allein und fern
von allen Menschen.
Sie wandte sich nicht der Tür ihres Zimmers zu. Er bewegte sich nicht. Zu ihren Füßen war nur ein schmales
Geländer und die Weite der Landschaft. Das Stahlgewirr der Bohrtürme warf Schatten auf die steilen Felsen, und
scharf gezeichnete schwarze Linien zogen sich wie ein Gespinst über glitzernde Steinblöcke. Weiße und rote
Lichter zitterten in der klaren Luft wie an Stahlträgern glitzernde Regentropfen. Ganz in der Ferne sah man
kleine grüne Tropfen längs der Taggart-Strecke wie auf eine Schnur gereiht. Dahinter, am Horizont, am Fuß
einer weißen Kurve, spannte sich ein gradliniges Netz: die Brücke.
Sie spürte einen Rhythmus ohne Laut oder Bewegung, ein Hämmern und Stampfen, als ob sich die Räder des
Zuges immer noch drehten. Langsam drehte sie sich um und sah ihn an.
Was sie in seinem Gesicht fand, machte ihr zum ersten Mal bewußt, daß sie geahnt hatte, was am Ende dieser
Reise stand. Es war nicht der Blick seelenloser Begierde. Straffe, klare Züge gaben seinem Gesicht eine
besondere Reinheit, eine wie gemeißelte Form, ließen es hell und jung erscheinen. Er hatte den Mund fest
geschlossen, die Lippen waren ein wenig einwärts gezogen, was die Form des Mundes noch unterstrich. Nur
seine Augen waren verschleiert und die Unterlider geschwollen. Etwas wie Haß und Schmerz sprach aus diesen
Augen. Der Schock ließ sie am ganzen Leibe erstarren – sie spürte einen quälenden Druck in Kehle und Magen –
, es war wie ein Krampf, der es ihr unmöglich machte zu atmen. Und trotzdem sagte ihr Inneres: Ja, Hank, ja –
jetzt, wenn ich es auch nicht mit Worten sagen kann, es ist ein Teil des gleichen Kampfes, es sind wir gegen
sie… Unsere große Fähigkeit, derentwegen sie uns quälen, die Fähigkeit zum Glück… so wie dies jetzt, ohne
Worte oder Fragen… denn wir wollen es…
Es war wie ein Akt des Hasses, wie der schmerzende Hieb einer Peitsche, die sich um ihren Körper schlang:
Sie fühlte, wie seine Arme sie packten, wie er sie an sich zog, wie sie unter seinem Druck ihren Oberkörper
zurückbog, wie sein Mund sich auf ihren preßte.
Ihre Hände glitten von seinen Schultern zu seinen Hüften und Beinen hinunter, und sie gab so dem
uneingestandenen Verlangen nach, das sie bei jeder Begegnung mit ihm empfunden hatte. Als sie ihren Mund
von seinem losriß, lachte sie lautlos triumphierend, als ob sie sagen wollte: Hank Rearden, der strenge,
unnahbare Hank Rearden des asketischen Büros, der geschäftlichen Besprechungen, des harten Feilschens –
erinnerst du dich jetzt an das alles? Ich denke daran in der Freude des Wissens, daß ich dich dazu gebracht habe!
Er lächelte nicht. Sein Gesicht war hart. Es war das Gesicht eines Feindes. Er warf ihren Kopf zurück und preßte
seine Lippen von neuem auf ihre, als wollte er ihr eine Wunde zufügen.
Sie fühlte, wie er zitterte, und dachte, daß dies der Schrei war, den sie ihm hatte entlocken wollen – diese
Kapitulation, nachdem sein verzweifelter Widerstand gebrochen war. Dennoch wußte sie im gleichen
Augenblick, daß es sein Triumph war, daß ihr Lachen ihr Tribut an ihn war, daß ihre Herausforderung
Unterwerfung war, daß ihre ungestüme Kraft nur dazu diente, seinen Sieg größer zu machen – er preßte ihren
Körper an den seinen, als wollte er ihr noch deutlicher zeigen, daß sie jetzt nur ein Mittel zur Befriedigung seiner
Begierde war – und sein Sieg war ihr Wunsch, daß er sie dazu machen sollte. Was immer ich bin, dachte sie, wie
stolz ich auch sein mag, stolz auf meinen Mut, auf mein Werk, auf meinem Verstand und meine Freiheit – dies
biete ich dir zur Lust deines Körpers, dies ist es, was du gebrauchen sollst – und daß du es gebrauchen willst, ist
der größte Lohn, der ich erhoffen kann.
In den beiden Zimmern hinter ihnen brannten Lampen. Er packte sie am Handgelenk und zog sie in sein
Zimmer, womit er ihr zu verstehen gab, daß es ihm gleich war, ob sie einwilligte oder sich wehrte. Er schloß die
Tür ab und musterte ihr Gesicht. Sie stand ihm aufrecht Auge in Auge gegenüber, streckte den Arm zu der
Lampe auf dem Tisch aus und löschte das Licht. Er trat zu ihr und knipste mit einer verächtlichen Bewegung die
Lampe wieder an. Sie sah ihn zum ersten Mal lächeln. Es war ein leises, spöttisches, sinnliches Lächeln, das
unterstrich, warum er das getan hatte.
Er warf sie quer auf das Bett und riß ihr die Kleider vom Leib. Ihr Gesicht suchte seinen Körper. Ihr Mund
glitt an seinem Hals und seiner Schulter hinunter. Sie wußte, daß jedes Zeichen ihrer Begierde ihn wie ein
Schlag traf, der ihn innerlich schauderte und ärgerte, weil er es nicht glauben konnte – daß dennoch nichts sein
Verlangen nach jedem Beweis ihrer Begierde befriedigen konnte.
Er sah auf ihren nackten Körper hinunter, beugte sich über sie, und sie hörte ihn sagen – es war mehr ein
Triumphschrei als eine Frage – : »Willst du es?«
Mit geschlossenen Augen und offenem Mund hauchte sie: »Ja.«
Sie wußte: Was sie an der Haut ihrer Arme spürte, war der Stoff seines Hemdes. Sie wußte: Die Lippen, die
sie auf ihrem Munde fühlte, waren seine. Dennoch war es ihr, als wären sie zu einem Wesen verschmolzen, als
gäbe es keine Trennung zwischen Körper und Geist. In all den Jahren, die hinter ihnen lagen, bei jedem Schritt
auf einem Weg, den sie mutig gewählt hatten und den nur eines bestimmte: ihre Liebe zum Leben – gewählt in
dem Wissen, daß einem nichts geschenkt wird, daß man sich seine Träume und jede Form ihrer Erfüllung selbst
schaffen muß –, auf diesem Weg waren sie angetrieben worden von der Kraft des Gedankens, daß man die Welt
zu seiner Freude neu erschafft, daß der menschliche Geist die gefühllose Materie formt und ihr Sinn gibt, indem
er sie seinen Zwecken dienstbar macht. Der Weg hatte sie zu dem Augenblick geführt, wo der Geist den Körper
unterwirft, ihn – als Beweis, als Bestätigung, als Lohn – in ein einziges Gefühl so tiefer Freude verwandelt, daß
das Dasein eines Menschen keiner anderen Bestätigung bedarf. Er hörte ihr Stöhnen im gleichen Augenblick, in
dem sie sein Zittern spürte.

IX. Das Heilige und das Profane

Dagny betrachtete die Streifen auf der Haut ihres Arms, die sich wie Armbänder in gleichen Abständen vom
Handgelenk zur Schulter zogen. Es waren Sonnenstreifen, die durch die Jalousie am Fenster eines ihr fremden
Raums fielen. Sie sah über ihrem Ellbogen eine kleine Wunde mit angetrockneten dunklen Blutstropfen. Ihr Arm
lag auf der Decke, die ihren Körper verhüllte. Sie spürte ihre Beine und Hüften, aber der übrige Körper war so
leicht, als schwebe er in einem Käfig aus Sonnenstrahlen in der Luft.
Als Dagny sich zu Hank umdrehte, dachte sie: Der sonst so über den Dingen stehende, wie von einem
Glasgehäuse umschlossene Hank Rearden, der so stolz darauf war, nie etwas fühlen zu müssen, lag jetzt im Bett
neben ihr, nach Stunden einer Leidenschaft, die sie im Licht des Tages nicht mit Worten benennen konnten, die
aber in ihren Augen war, als sie einander ansahen, und die der eine im Gesicht des anderen lesen wollte.
Hank sah das Gesicht einer jungen Frau, deren Mund ein von innerem Glanz erfülltes entspanntes Lächeln
zeigte. Er sah eine Locke ihres Haares, die über ihre Wange auf die runde, nackte Schulter fiel. Dagny blickte
ihn an, als wäre sie bereit, alles anzuhören, was er sagen, alles mit sich geschehen zu lassen, was er tun wollte.
Er streckte die Hand aus und strich die Locke so behutsam von ihrer Wange, als wäre sie zerbrechlich. Er hielt
die Haare mit den Fingerspitzen und betrachtete Dagnys Ge sicht. Dann griffen seine Finger plötzlich in ihr Haar,
und er führte die Locke an seine Lippen. Er preßte seinen Mund voll Zärtlichkeit auf sie, aber seine Finger
hielten sie in Verzweiflung fest.
Er sank auf das Kissen zurück und lag still, mit geschlossenen Augen. Sein Gesicht wirkte jung und friedlich.
Sein für einen Augenblick entspannter Ausdruck ließ Dagny jäh erkennen, wie unglücklich er gewesen war.
Aber das ist jetzt vorüber, dachte sie. Es ist vorüber. Er ist glücklich.
Ohne sie anzusehen, stand er auf. Sein Gesicht war wieder ausdruckslos und verschlossen. Er nahm seine
Kleidungsstücke vom Boden auf und begann, sich mitten im Zimmer und halb von ihr abgewandt anzuziehen. Er
tat es nicht, als ob sie nicht anwesend wäre, sondern als wäre es ihm gle ichgültig, daß sie dort lag. Als erfüllte er
schnell und exakt eine Pflicht, knöpfte er sein Hemd zu und schloß den Gürtel seiner Hose. Ohne sich
aufzurichten, beobachtete sie ihn und genoß den Anblick seiner Bewegungen. Sie liebte die graue Hose und das
Hemd – der sachkundige Mechaniker der John-Galt-Linie, dachte sie, in den Streifen von Sonne und Schatten
wie ein Verurteilter hinter Gittern. Aber es waren keine Gitter mehr, es waren die Risse einer Wand, die die
John-Galt-Linie durchbrochen hatte, die Andeutung dessen, was sie draußen hinter der Jalousie erwartete. Dagny
dachte an die Rückreise auf der neuen Strecke, mit dem ersten Zug, der von Wyatt Junction abging, die Fahrt
zurück in ihr Büro im Taggart-Gebäude und zu all dem, wohin jetzt der Weg für sie frei war, aber sie konnte es
warten lassen. Sie wollte nicht daran denken. Sie dachte nur daran, wie sein Mund den ihren zum ersten Mal
berührt hatte, und sie konnte sich diesem Gefühl eine Zeitlang ganz hingeben, da jetzt nichts anderes wichtig
war. Sie lächelte herausfordernd in den Himmel hinter den Jalousien. »Ich muß dir etwas sagen.«
Er stand angezogen neben dem Bett und blickte zu ihr hinunter. Er hatte es ruhig und nüchtern, ganz lässig
gesagt. Sie blickte gehorsam zu ihm auf.
»Ich fühle nur Verachtung für dich«, sagte er. »Aber diese Verachtung ist nichts im Vergleich zu der, die ich
mir gegenüber fühle. Ich liebe dich nicht. Ich habe nie einen Menschen geliebt. Vom ersten Augenblick an, da
ich dich sah, habe ich dich begehrt. Ich habe dich begehrt, wie man eine Hure begehrt - aus dem gleichen Grunde
und zu dem gleichen Zweck. Zwei Jahre bin ich mit mir ins Gericht gegangen, weil ich glaubte, du ständest über
so einer Begierde. Aber du stehst nicht darüber. Du bist genauso lüstern und animalisch wie ich. Ich müßte über
diese Entdeckung Ekel empfinden. Aber ich tue es nicht. Noch gestern hätte ich jeden umgebracht, der mir
gesagt hätte, du wärest fähig, das mitzumachen, was ich mit dir getan habe. Heute würde ich mein Leben dafür
geben, daß es nicht anders wäre, daß du nichts anderes wärest als die Hure, die du bist. All das Große, das ich in
dir sah - ich würde es nicht eintauschen für deine Fähigkeit, sinnliche Lust zu bereiten. Wir waren zwei große
Menschen, du und ich, stolz auf unsere Stärke, nicht wahr? Nun, dies ist alles, was von uns übriggeblieben ist -
und ich will mich nicht selbst darüber hinwegtäuschen.«
Er sprach langsam, als peitschte er sich selbst mit seinen Worten. Kein Gefühl schwang in seiner Stimme, nur
eine krampfhafte Anstrengung. Es war nicht die Stimme eines Mannes, den es danach verlangt, sich
auszusprechen, sondern der Ton dessen, der einer häßlichen Pflicht gehorcht.
»Es war für mich eine Ehre, nie jemand zu brauchen. Aber ich brauche dich. Es war mein Stolz, immer nach
meiner Überzeugung zu handeln. Aber ich habe einer Begierde nachgegeben, die ich verachte. Es war eine
Begierde, die meinen Geist, meinen Willen, mein ganzes Sein, meine Macht in eine hassenswerte Abhängigkeit
von dir gebracht hat - nicht einmal von der Dagny Taggart, die ich bewundert habe, sondern von deinem Körper,
deinen Händen, deinem Mund und den wenigen Sekunden deiner Hingabe. Ich habe nie ein Wort gebrochen.
Jetzt habe ich einen Eid gebrochen, den ich für alle Ewigkeit geschworen hatte. Ich habe nie etwas getan, das das
Licht scheuen mußte. Aber jetzt muß ich lügen, heucheln, mein Tun verbergen. Was ich auch immer wollte, ich
konnte es laut verkünden und vor den Augen der ganzen Welt tun. Jetzt habe ich nur eine Begierde, die mit
Namen zu nennen mich ekelt. Aber es ist meine einzige Begierde. Ich besitze dich - ich habe alles, was ich
besitze, dafür hingegeben, das Stahlwerk, das Metall, alles, was ich im Leben erreicht und geleistet habe. Ich
besitze dich für einen Preis, der größer ist als ich: für den Preis meiner Selbstachtung -und du sollst es wissen.
Ich will das, was wir getan haben, nicht mit schönen Worten verhüllen. Ich will nicht den Anschein erwecken,
als hätte es mit Liebe, Treue oder Achtung zu tun. Ich will mich nicht hinter dem Fetzen Ehre verstecken, der
uns noch geblieben ist. Ich habe nie um Gnade gebettelt. Dies war mein freiwilliger Entschluß - und ich nehme
alle Konsequenzen auf mich, auch die klare Erkenntnis, daß ich es bewußt getan habe. Es ist Verderbtheit - und
ich nehme es als solche hin -, und es gibt keine noch so hohe Tugend, die ich nicht dafür geben würde. Wenn du
mich jetzt ins Gesicht schlagen willst, dann tu es. Ich wünschte, du tätest es.«
Aufrecht sitzend und die Decke fest um ihre Brust gepreßt, hatte Dagny ihm zugehört. Hank hatte gesehen,
wie ihre Augen sich anfangs vor ungläubigem
Entsetzen verdunkelten. Dann schien es ihm, daß sie ihm mit größter Aufmerksamkeit zuhörte, dabei mehr
sah als sein Gesicht, obwohl ihre Augen nur darauf ruhten. Sie blickte ihn an, als ob sie über eine Enthüllung
nachgrübelte, die sie nie zuvor geahnt hatte. Es war ihm, als leuchtete sein Antlitz in einem Lichtschein auf, denn
er sah den Widerschein auf ihrem Gesicht, während sie ihn beobachtete - er sah, wie das Entsetzen von ihr wich
und ein Ausdruck der Verwunderung an seine Stelle trat - er sah, wie eine seltsame Heiterkeit, die still und
strahlend zugleich schien, ihrem Gesicht alle Strenge nahm.
Als er geendet hatte, brach sie in Gelächter aus.
Zu seiner Bestürzung klang kein Ärger aus ihrem Lachen. Sie lachte beglückt, fröhlich, wie befreit, nicht wie
jemand, der über die Lösung eines Problems lacht, sondern über die Entdeckung, daß es nie ein Problem
gegeben hat.
Mit einem Ruck warf sie die Decke zurück und stand auf. Sie sah ihre Kleidungsstücke auf dem Boden und trat
sie zur Seite. Sie stand ihm nackt gegenüber und sagte:
»Ich begehre dich, Hank. Ich bin viel lüsterner, als du denkst. Ich habe dich vom ersten Augenblick an
begehrt, da ich dich sah - und ich schäme mich bloß, daß ich es nicht wußte. Zwei Jahre lang wußte ich nicht,
warum die wunderbarsten Augenblicke, die ich erlebte, die waren, die ich in deinem Büro verbrachte, wo ich den
Kopf heben konnte, um zu dir aufzublicken. Ich wußte nicht, was ich eigentlich in deiner Gegenwart fühlte, und
ich kannte den Grund nicht. Jetzt weiß ich es. Das ist alles, was ich begehre, Hank: Du sollst in meinem Bett
neben mir liegen - und die ganze übrige Zeit brauchst du dich nicht um mich zu kümmern. Du brauchst mir
nichts vorzuspielen, denke nicht an mich, empfinde nichts für mich, mach dir keine Sorgen um mich. Ich will
nicht deinen Verstand, deinen Willen, dein Wesen oder deine Seele, wenn du nur um dieses niedrigsten deiner
Gefühle willen zu mir kommst. Ich bin ein animalisches Wesen, das nichts begehrt als das Lustgefühl, das du
verachtest - aber ich begehre es von dir. Du hast jede Tugend dafür hingegeben, während ich überhaupt keine
besitze, die ich hätte dafür hingeben können. Es gibt keine, die ich suche oder zu erreichen wünsche. Ich bin so
verworfen, daß ich den Anblick des Erhabensten in der Welt gegen den Anblick deines Körpers auf dem
Führerstand einer Lokomotive tauschen würde. Und wenn ich ihn sähe, könnte ich ihn nicht mit gleichgültigen
Augen betrachten. Du brauchst nicht zu furchten, daß du jetzt von mir abhängig bist. Ich dagegen werde von
jeder deiner Launen abhängig sein. Du kannst mich haben, wann immer und wo und unter welchen Bedingungen
du mich begehrst. Nanntest du es meine Fähigkeit zu sinnlicher Lust? Durch sie besitzt du mich mehr als sonst
irgend etwas, das dir gehört. Du magst über mich verfügen, wie es dir beliebt. Ich scheue mich nicht, das zu
gestehen. Ich habe nichts vor dir zu schützen und nichts zu verbergen. Du hältst dies für eine Bedrohung deiner
Lebensleistung, aber für meine ist es keine Bedrohung. Ich werde an meinem Schreibtisch sitzen und arbeiten,
und wenn ich alles rings um mich herum kaum noch zu ertragen vermag, werde ich denken, daß ich zum Lohn
dafür in der Nacht in deinem Bett liegen werde. Nanntest du es Verderbtheit? Ich bin viel verderbter als du. Du
empfindest es als Schuld, und mich macht es stolz. Ich bin viel stolzer darauf als auf irgend etwas, das ich
geleistet habe, viel stolzer als auf den Bau der Linie. Wenn mich jemand fragt, auf was ich von allem, das ich
erreicht habe, am stolzesten bin, antworte ich: Ich habe mit Hank Rearden geschlafen. Ich habe mir das
verdient.«
Als er sie auf das Bett warf, begegneten sich ihre Körper wie die beiden Laute, die sich im Räume aneinander
brachen: sein gequältes Stöhnen und ihr Lachen.
Der Regen war im Dunkel der Straßen unsichtbar, aber unter der Straßenlaterne an der Ecke hing er wie die
glitzernden Fransen eines Lampenschirms. James Taggart kramte in seinen Taschen und entdeckte, daß er sein
Taschentuch verloren hatte. Er fluchte halblaut vor sich hin, als ob der Verlust des Taschentuchs, der Regen und
sein Schnupfen eine Verschwörung gegen ihn wären.
Auf dem Pflaster lag Matsch; er fühlte klebrigen Schlamm unter seinen Schuhsohlen und feuchte Kälte am
Hals. Er hatte weder Lust weiterzugehen noch stehenzubleiben. Er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Als er
nach der Sitzung des Aufsichtsrats sein Büro verlassen hatte, war ihm plötzlich bewußt geworden, daß er keine
weiteren Verabredungen hatte, daß ein langer Abend vor ihm lag und niemand da war, der ihm helfen konnte,
ihn totzuschlagen. Die Titelseiten der Zeitungen verkündeten in großen Buchstaben den Triumph der John-Galt-
Linie, so wie die Rundfunksendungen ihn gestern und die ganze Nacht hindurch verkündet hatten. Der Name
Taggart Transcontinental erstreckte sich in Schlagzeilen über den Kontinent wie die Taggart-Transcontinental-
Schienen, und James Taggart hatte lächelnd die Glückwünsche entgegengenommen. Lächelnd hatte er an der
Spitze des langen Tisches gesessen, während die Aufsichtsratsmitglieder über das sprunghafte Steigen der
Taggart-Aktien an der Börse sprachen, ihn behutsam baten, ihnen die mit seiner Schwester getroffene
schriftliche Vereinbarung zu zeigen – nur für alle Fälle, sagten sie –, und erklärten, die Abmachung sei klipp und
klar und es bestehe kein Zweifel, daß Dagny die Linie sofort Taggart Transcontinental übereignen müsse. Sie
sprachen über ihre glänzende Zukunft und die Dankesschuld, die die Aktionäre James Taggart gegenüber hatten.
Während der ganzen Sitzung hatte er nur gewünscht, sie möge endlich vorüber sein, damit er nach Hause
konnte. Dann war er auf die Straße hinausgegangen, und es war ihm bewußt geworden, daß seine Wohnung der
einzige Ort war, wohin er heute abend nicht zu gehen wagte. Er konnte in den nächsten Stunden nicht allein sein.
Dennoch wußte er nicht, wen er hätte aufsuchen sollen. Er wollte niemand sehen. Er sah immer noch die Augen
der Aufsichtsratsmitglieder vor sich, als sie über seine Größe sprachen: listig verschleierte Blicke, aus denen
Verachtung für ihn und, noch erschreckender, für sie selbst sprach.

Er ging mit gesenktem Kopf und fühlte immer wieder den Regen wie eine stechende Nadel im Nacken. Er sah
weg, wenn er an einem Zeitungsstand vorbeikam. Die Zeitungen schienen ihm den Namen John-Galt-Linie
entgegenzuschreien und noch einen anderen Namen, den er nicht hören wollte: Ragnar Danneskjöld. Ein für den
Volksstaat Norwegen bestimmtes Schiff mit einer Geschenkladung Werkzeugmaschinen war in der letzten Nacht
von Ragnar Danneskjöld gekapert worden. Dieses Ereignis ging ihm seltsam nahe, ohne daß er sich erklären
konnte, warum. Es war ein Gefühl, das etwas mit dem zu tun hatte, was er hinsichtlich der John-Galt-Linie
empfand.
Es kommt von meinem Schnupfen, dachte er. Wäre ich nicht erkältet, würde ich das mit anderen Augen
sehen. Man konnte von einem erkälteten Mann nicht erwarten, daß er in Form war. Er konnte nichts dafür. Was
erwartete man heute abend von ihm? Sollte er singen und tanzen? Er schleuderte diese Fragen ärgerlich den
unbekannten Richtern über seinen durch keine Beweise belegten Mißmut zu. Er kramte wieder nach seinem
Taschentuch, fluchte und beschloß, irgendwo Papiertaschentücher zu kaufen.
Jenseits eines Platzes, der einmal sehr belebt gewesen war, sah er die erleuchteten Schaufenster eines
armseligen Geschäfts, das trotz der späten Stunde noch hoffnungsvoll geöffnet war. Das wird auch bald Pleite
gehen, dachte er, als er den Platz überquerte. Der Gedanke heiterte ihn auf.
In dem Geschäft brannten grelle Lampen, ein paar müde Verkäuferinnen standen hinter den Theken, und man
hörte das Kreischen einer Schallplatte, die für einen einsamen gelangweilten Kunden in einer Ecke gespielt
wurde. Die Musik übertönte Taggarts Stimme. Er verlangte Papiertaschentücher in einem Ton, als wäre die
Verkäuferin an seinem Schnupfen schuld. Sie drehte sich zu dem Regal hinter ihr um, wandte dann aber sofort
wieder den Kopf, um ihn kurz zu mustern. Sie ergriff eine Packung, hielt jedoch zögernd inne und betrachtete
ihn mit seltsamer Neugier.
»Sind Sie James Taggart?« fragte sie.
»Ja«, sagte er grob. »Warum?«
»Ach!«
Sie stöhnte bewundernd wie ein Kind über ein Feuerwerk. Sie sah ihn mit einem schmachtenden Blick an, von
dem er geglaubt hatte, daß er Filmstars vorbehalten war.
»Ich habe Ihr Bild heute morgen in der Zeitung gesehen, Mr. Taggart«, sagte sie hastig, und eine leise Röte
stieg ihr ins Gesicht und verschwand. »Es stand darunter, was für eine große Leistung es ist und daß Sie sie ganz
allein vollbracht haben, aber Sie wollten nicht, daß es bekannt wird.«
»Oh«, sagte Taggart lächelnd.
»Sie sehen genauso aus wie auf dem Bild«, sagte sie verwundert und fügte hinzu: »Nein, und so etwas, da
kommen Sie hier herein!«
»Hätte ich es nicht tun sollen?« fragte er belustigt.
»Ich meine, jeder spricht davon, das ganze Land, und Sie, der Mann, der das getan hat, Sie stehen plötzlich
hier leibhaftig vor mir. Ich habe noch nie eine bedeutende Persönlichkeit gesehen.«
Er hatte es noch nie erlebt, daß seine Anwesenheit einen Ort, den er betrat, verwandelte: Die Verkäuferin
schien plötzlich gar nicht mehr müde zu sein.
»Mr. Taggart, ist das wahr, was man über Sie in der Zeitung schreibt?«
»Was schreibt man denn?«
»Über Ihr Geheimnis.«
»Was für ein Geheimnis?«
»Man schreibt, als alle sich in den Haaren lagen, ob Ihre Brücke halten würde oder nicht, hätten Sie sich gar
nicht in den Streit eingemischt, sondern einfach weitergemacht, weil Sie wußten, daß sie halten würde, auch
wenn die ganze Welt es bezweifelte. Und die Linie sei ein Taggart-Vorhaben, und Sie seien der führende Kopf
hinter der Szene. Aber Sie hielten es geheim, weil es Ihnen gleichgültig war, ob Sie Anerkennung dafür ernten
würden oder nicht.«
Er hatte den vervielfältigten Artikel seiner Public-Relations-Abteilung gesehen. »Ja«, sagte er, »das stimmt.«
Die Art, wie sie ihn anblickte, ließ es ihm wahr erscheinen.
»Das war wunderbar von Ihnen, Mr. Taggart.«
»Merken Sie sich alles, was Sie in den Zeitungen lesen, immer so genau bis in jede Einzelheit?«
»Ja, alles Interessante, glaube ich. Das Große. Ich lese so gern darüber. Ich selbst erlebe so gar nichts
Großes.«
Sie sagte das heiter, ohne Selbstmitleid. In ihrer Stimme und ihren Bewegungen war etwas Jugendlich-
Entschlossenes. Sie hatte rötlichbraune Locken, weit auseinander stehende Augen und am Ansatz ihrer
Stupsnase ein paar Sommersprossen. Wenn jemand ihr Gesicht auffiel, dachte er, würde er es gewiß als attraktiv
bezeichnen, aber es gab keinen besonderen Grund dafür, daß es einem auffiel. Es war ein ganz durchschnittliches
Gesicht, bis auf den wachen, interessierten Blick, einen Blick, der hinter jeder Ecke ein erregendes Geheimnis
witterte.
»Mr. Taggart, wie fühlt man sich als großer Mann?«
»Wie fühlt man sich als kleines Mädchen?«
Sie lachte. »Herrlich.«
»Dann sind Sie besser dran als ich.«
»Ach, wie können Sie so etwas…«
»Vielleicht sind Sie glücklich, weil Sie nichts mit den großen Ereignissen zu tun haben, über die die
Zeitungen schreiben. Was nennen Sie übrigens groß?«
»Das Bedeutende.«
»Was ist bedeutend?«
»Sie sind der einzige, der mir das sagen könnte, Mr. Taggart.«
»Nichts ist bedeutend.«
Sie sah ihn ungläubig an. »Gerade Sie sagen das? Gerade an diesem Abend?«
»Wenn Sie es wissen wollen, mir ist gar nicht besonders gut. Nie in meinem Leben habe ich mich weniger
wohl gefühlt.«
Es wunderte ihn, daß sie ihn so besorgt musterte, wie es noch nie jemand getan hatte. »Sie sind erschöpft, Mr.
Taggart«, sagte sie ernst. »Sagen Sie den Leuten, sie sollen sich zum Teufel scheren.«
»Wem?«
»Allen, die Sie so kaputt machen. Das ist unrecht.«
»Was ist unrecht?«
»Daß Sie sich nicht wohl fühlen. Sie haben eine schwere Zeit hinter sich, aber Sie haben alle überrundet, und
darum sollten Sie sich jetzt etwas Entspannung gönnen. Sie haben es verdient.«
»Und wie soll ich das Ihrer Meinung nach tun?«
»Ach, ich weiß es nicht. Ich dachte, Sie würden heute abend feiern, ein Fest mit all den Prominenten und
Champagner und Geschenken, die man Ihnen macht, ein richtig rauschendes Fest, statt allein herumzulaufen und
Papiertaschentücher zu kaufen.«
»Geben Sie mir mal die Taschentücher, sonst vergessen Sie es noch«, sagte er und reichte ihr ein Geldstück.
»Und was das rauschende Fest betrifft. Können Sie sich nicht vorstellen, daß ich heute abend niemand sehen
möchte?«
Sie dachte einen Augenblick lang darüber nach. »Nein«, sagte sie dann. »Der Gedanke war mir noch gar nicht
gekommen. Aber ich kann verstehen, warum Sie es nicht möchten.«
»Warum?« Es war eine Frage, auf die er selbst keine Antwort wußte.
»Niemand ist gut genug für Sie, Mr. Taggart«, sagte sie ganz schlicht, nicht um ihm zu schmeicheln, sondern
in nüchternem Ton.
»Glauben Sie das wirklich?«
»Ich glaube, ich liebe die Menschen nicht sehr, Mr. Taggart. Jedenfalls nur wenige.«
»Ich mag sie auch nicht. Nicht einen von ihnen.«
»Ich dachte, ein Mann wie Sie würde gar nicht wissen, wie niederträchtig sie sein können und wie sie
versuchen, einen zu treten und auszunutzen, wenn man sich nicht wehrt. Ich dachte, die großen Menschen in der
Welt könnten sich von ihnen fernhalten und müßten nicht immer eine Beute von Flöhen sein. Aber vielleicht war
das ein Irrtum.«
»Was meinen Sie mit Beute von Flöhen?«
»Ach, das sage ich nur so zu mir, wenn ich etwas nicht mehr ertragen kann. Ich muß irgendwohin, wo mich
die Flöhe mit all ihrer Niedertracht nicht unentwegt beißen. Aber vielleicht ist es überall dasselbe, und nur die
Flöhe sind größer.«
»Viel größer.«
Sie schwieg einen Augenblick lang, als würde sie nachdenken. »Es ist komisch«, sagte sie dann traurig, wie
zu sich selbst.
»Was ist komisch?«
»Ich habe einmal in einem Buch gelesen, daß bedeutende Menschen immer unglücklich sind, und je
bedeutender, desto unglücklicher. Ich konnte das nicht verstehen, aber vielleicht ist es wahr. Wie denken Sie
darüber Mr. Taggart?«
»Es ist wahrer, als Sie denken.«
Sie blickte verwirrt zur Seite.
»Warum machen Sie sich so viele Ge danken über die großen Menschen?« fragte er. »Sind Sie so eine Art
Heldenverehrerin?«
Sie wandte ihm ihr Gesicht wieder zu, und er sah darin den Widerschein eines inneren Lächelns, obwohl das
Gesicht ernst blieb. Ruhig, unpersönlich sagte sie: »Mr. Taggart, wozu sollte man sonst aufblicken?«
Plötzlich erklang mit nervenzerreißender Beharrlichkeit eine schrille Klingel.
Die Verkäuferin warf den Kopf zurück, als ob sie durch das Schrillen eines Weckers erwachte, seufzte dann
und sagte bedauernd: »Das Geschäft wird jetzt geschlossen, Mr. Taggart.«
»Holen Sie Ihren Hut, ich warte draußen auf Sie«, sagte er.
Sie starrte ihn an, als hätte sie trotz allem, was im Leben möglich ist, gerade dies für unvorstellbar gehalten.
»Ist das kein Scherz?« flüsterte sie.
»Nein, das ist kein Scherz.«
Sie drehte sich herum und sauste wie der Blitz zur Tür der Angestelltengarderobe, vergaß ihre Theke, ihre
Pflichten und daß eine Frau eigentlich nie zeigen durfte, wie gern sie die Einladung eines Mannes annahm.
James sah blinze lnd hinter ihr her. Er dachte nicht über seine Gefühle nach. Er versuchte nie, sich über seine
Gefühle klar zu werden. Das war sein einziger unerschütterlicher Grundsatz. Er spürte nur, daß seine Gefühle in
diesem Moment besonders angenehm waren. Das war das einzige, was er wissen wollte. Aber die Gefühle
entsprangen einem Gedanken, den er nicht äußern mochte. Er war oft mit Mädchen der unteren Schichten
zusammengewesen, die ihm etwas vorgegaukelt, die so getan hatten, als ob sie zu ihm aufblickten, die ihm aus
bewußter Berechnung plump schmeichelten; er hatte sie weder geliebt noch gehaßt; er hatte sich in ihrer
Gesellschaft mehr oder weniger gelangweilt, und er hatte sie in einem Spiel, das er für die beiden daran
Beteiligten als natürlich betrachtete, als seinesgleichen erachtet. Aber dieses Mädchen war anders. Und der
Gedanke, den er nicht aussprach, war: Die kleine Verrückte meint es ehrlich.
Daß er ungeduldig auf sie wartete, als er im Regen auf dem Bürgersteig stand, daß sie der einzige Mensch
war, den er an diesem Abend brauchte, störte ihn nicht und schien ihm kein Widerspruch zu sein. Er wollte sich
nicht eingestehen, was er brauchte, und darum konnte es auch keinen Widerspruch für ihn geben.
Als sie herauskam, fiel ihm auf, daß sie trotz ihrer Schüchternheit den Kopf hoch gereckt hielt. Sie trug einen
häßlichen Regenmantel, der durch eine billige Anstecknadel am Aufschlag noch scheußlicher wirkte, und einen
kleinen Hut aus Plüschblumen, den sie sich keck auf die Locken gesetzt hatte. Zu seiner Verwunderung gab der
stolz erhobene Kopf dieser kümmerlichen Aufmachung etwas Anziehendes. Er machte deutlich, wie gut sie
diesen Plunder zu tragen wußte.
»Hätten Sie Lust, mit zu mir zu kommen und einen Drink mit mir zu nehmen?« fragte er.
Sie nickte stumm und nachdenklich, als ob sie sich nicht zutraute, die richtigen Worte für ihre Bereitwilligkeit
zu finden. Dann sagte sie, ohne ihn anzusehen, wie zu sich selbst: »Sie wollten heute abend niemand sehen, aber
Sie wollen mich sehen…« Noch nie hatte er einen so feierlichen Stolz in der Stimme eines Menschen gehört.
Stumm saß sie neben ihm im Taxi. Sie blickte zu den Wolkenkratzern auf, an denen sie vorüberfuhren. Nach
einer Weile sagte sie: »Ich habe gehört, daß einem so etwas in New York passieren kann, aber ich hätte nie
geglaubt, daß es mir passieren könnte.«
»Woher kommen Sie?«
»Aus Buffalo.«
»Haben Sie Angehörige?«
Sie zögerte. »Ich nehme es an. In Buffalo.«
»Was soll das bedeuten: Ich nehme es an?«
»Ich bin ausgerissen.«
»Warum?«
»Ich glaubte, wenn ich es je zu etwas bringen wollte, mußte ich mich von ihnen trennen.«
»Warum? Was war passiert?«
»Nichts war passiert. Und es wäre auch nie etwas passiert. Und das konnte ich eben nicht aushalten.«
»Was meinen Sie?«
»Nun, sie… ach, es ist wohl das beste, ich sage Ihnen die Wahrheit, Mr. Taggart. Mein Vater hat nie etwas
getaugt, und meiner Mutter war das ganz gleich, und es hing mir schließlich zum Hals raus, daß ich die einzige
von uns sieben war, die stets eine Stellung hatte, während die anderen immer wieder so oder so Pech hatten. Ich
dachte, wenn ich bliebe, würde es mir schließlich genauso gehen – ich würde genauso verkommen wie sie alle.
Darum kaufte ich mir eines Tages eine Fahrkarte und fuhr weg, ohne mich zu verabschieden. Sie wußten nicht
einmal, daß ich wegfuhr.« Sie lachte plötzlich leise verwundert auf. »Mr. Taggart«, sagte sie, »es war ein
Taggart-Zug.«
»Wann sind Sie hergekommen?«
»Vor sechs Monaten.«
»Und Sie sind ganz allein?«
»Ja«, sagte sie glücklich.
»Was haben Sie vor?«
»Ich mö chte etwas aus mir machen und weiterkommen.«
»In welcher Richtung?«
»Ach, ich weiß es nicht, aber… aber die Menschen machen so vieles in der Welt. Ich habe Bilder von New
York gesehen, und ich dachte«, sie deutete auf die riesigen Gebäude hinter dem Taxifenster, an dem der Regen
herunterlief, »ich dachte, jemand hat diese Gebäude gebaut – er hat nicht die Hände in den Schoß gelegt und
gejammert, daß die Küche schmutzig und das Dach undicht und die Wasserleitung verstopft und daß es eine
verdammte Welt ist und… Mr. Taggart,« sie schüttelte sich und blickte ihn fest an, »wir waren lausearm, und
das war ihnen ganz schnuppe. Damit konnte ich mich nicht abfinden, daß es ihnen wirklich ganz schnuppe war.
Daß sie nicht einmal einen Finger rührten, daß sie nicht einmal den Mülleimer leerten. Und die Nachbarin sagte,
es sei meine Pflicht, ihnen zu helfen, ganz gleich, was aus mir, aus ihr oder irgendeinem von uns würde, denn
was konnte man schon tun?«
Hinter dem strahlenden Blick ihrer Augen sah er etwas Bitteres und Hartes. »Ach, ich will gar nicht von ihnen
reden«, sagte sie. »Nicht zu Ihnen. Dies – ich meine, die Begegnung mit Ihnen, so etwas würden sie nie erleben
können. Und das werde ich auch nicht mit ihnen teilen. Es gehört mir allein.«
»Wie alt sind Sie?« fragte er.
»Neunzehn.«
Als er sie in seinem hellerleuchteten Wohnzimmer sah, dachte er, sie könnte eine gute Figur haben, wenn sie
etwas mehr essen würde. Für ihre Größe und ihren Knochenbau erschien sie ihm zu dünn. Sie trug ein
festanliegendes, billiges schwarzes Kleid, dessen Kümmerlichkeit sie durch bunte, an ihrem Handgelenk
klappernde Armbänder zu verhüllen versuchte. Sie ließ die Augen durch das Zimmer schweifen, als wäre es ein
Museum, in dem sie nichts anrühren durfte und sich alles ehrfürchtig einprägen mußte.
»Wie heißen Sie?« fragte er.
»Cherryl Brooks.«
»Nehmen Sie Platz.«
Er mixte stumm die Drinks, während sie auf der Kante eines Sessels saß und stumm wartete. Als er ihr ihr
Glas reichte, nippte sie pflichtschuldig ein paarmal und hielt es dann in ihre Hand gepreßt. Er wußte, daß sie gar
nicht wußte, was sie trank, daß sie gar nicht darauf achtete, gar keine Zeit hatte, sich dafür zu interessieren.
Er nahm einen Schluck und stellte das Glas dann ärgerlich hin. Ihm war auch nicht nach Trinken zumute.
Mißmutig ging er im Zimmer auf und ab, fühlte, daß ihre Augen ihm folgten, und weidete sich daran, welch
gewaltige Bedeutung seine Bewegungen, seine Manschettenknöpfe, seine Schuhbänder und seine
Lampenschirme und Aschenbecher durch diesen sanften, ergebenen Blick bekamen.
»Mr. Taggart, was macht Sie so unglücklich?«
»Was kann es Sie interessieren, ob ich glücklich bin oder nicht?«
»Weil… wenn Sie nicht das Recht haben, glücklich und stolz zu sein, wer hat es dann?«
»Ja, das möchte ich auch wissen – wer hat es?« Er wandte sich ihr jäh zu. Seine Stimme klang wie der Knall
einer durchbrennenden Sicherung. »Er hat das Eisenerz und die Hochöfen nicht erfunden, nicht wahr?«
»Wer?«
»Rearden. Er hat das Schmelzen und die Chemie und den Luftdruck nicht erfunden. Ohne Tausende und
Abertausende anderer Menschen hätte er sein Metall nicht erfinden können. Sein Metall! Warum glaubt er, es sei
seines? Warum hält er es für seine Erfindung? Jeder macht sich das Werk eines anderen zunutze. Niemand
erfindet je etwas.«
Verwirrt sagte Cherryl: »Aber das Eisenerz und all das andere hat es doch schon immer gegeben. Warum hat
dann kein anderer dieses Metall hergestellt als Mr. Rearden?«
»Er hat es nicht in einer edlen Absicht, er hat es nur für seinen eigenen Profit getan. Noch nie hat er etwas aus
einem anderen Grunde getan.«
»Was ist daran so schlimm, Mr. Taggart?« Dann lachte sie leise, als ginge ihr plötzlich die Lösung des Rätsels
auf. »Das ist ja Unsinn, Mr. Taggart. Sie meinen das ja gar nicht so. Sie wissen, daß Mr. Rearden all seine
Gewinne verdient hat, genauso wie Sie. Sie sagen das nur aus Bescheidenheit, da jeder weiß, was für eine große
Leistung Sie alle vollbracht haben – Sie und Mr. Rearden und Ihre Schwester, die ein so wunderbarer Mensch
sein muß!«
»Glauben Sie das wirklich? Sie ist eine harte, gefühllose Frau, die schwer arbeitet, nicht um eines Ideals
willen, sondern nur, weil es ihr Freude macht. Und wenn es ihr Freude macht, was ist dann an ihrem Tun zu
bewundern? Ich bin nicht sicher, daß es etwas so Großartiges war, diese Linie für all die wohlhabenden
Industriellen in Colorado zu bauen, wo es so viele arme Menschen in Notstandsgebieten gibt, die Transportmittel
benötigen.«
»Aber, Mr. Taggart, Sie haben doch darum gekämpft, die Linie zu bauen.«
»Ja, weil es meine Pflicht war – der Gesellschaft, den Aktionären und unseren Angestellten gegenüber. Aber
verlangen Sie nicht, daß ich mich darüber freue. Ich bin gar nicht so sicher, daß es etwas so Großartiges war,
dieses komplexe Metall zu erfinden, wo so viele Nationen einfaches Eisen brauchen. Wußten Sie, daß der
Volksstaat China nicht genug Nägel auftreiben kann, daß jeder wenigstens ein Holzdach über dem Kopf hat?«
»Aber… aber das ist doch nicht Ihre Schuld.«
»Jemand sollte sich dessen annehmen. Jemand, der nicht nur an seine eigene Brieftasche denkt. Kein Mensch
mit Gefühl würde heutzutage, da so viel Leiden rings um uns ist, zehn Jahre seines Lebens dafür verwenden, alle
möglichen Metallegierungen zu erproben. Halten Sie das für groß? Das ist nicht eine überragende Begabung,
sondern nur Dickschädeligkeit! Es gibt viele bedeutend begabtere Menschen in der Welt, aber von denen lesen
Sie nichts in den Schlagzeilen, und niemand eilt zu den Bahnübergängen, um sie wie Wundertiere anzustarren –
denn sie erfinden keine einsturzsicheren Brücken in einer Zeit, in der das Leiden der Menschheit sie innerlich
belastet.«
Sie blickte ihn stumm und ehrfürchtig an. Ihr freudiger Eifer war plötzlich gedämpft, und ihre Augen hatten
allen Glanz verloren. James Taggart fühlte sich wohler.
Er ergriff sein Glas, nahm einen Schluck und mußte plötzlich laut lachen. »War das komisch«, sagte er
ungezwungener, lebhafter, so wie man einem Freund etwas anvertraut. »Sie hätten gestern Orren Boyle sehen
sollen, als die erste Meldung von Wyatt Junction durch den Rundfunk kam! Er wurde ganz grün – richtig grün
wie ein Fisch, der schon halb verwest ist. Wissen Sie, was er gestern abend gemacht hat, als er die schlechte
Nachricht bekam? Er hat sich eine Suite im Valhalla Hotel gemietet. Sie wissen, was das bedeutet. Und das
letzte, was ich hörte, war, daß er immer noch dort ist und sich mit ein paar Freunden und der Hälfte der
weiblichen Bevölkerung der oberen Amsterdam Avenue besäuft.«
»Wer ist Mr. Boyle?« fragte sie bestürzt.
»Ach, ein fetter Kerl, der dazu neigt, sich selbst zu überschätzen. Ein gerissener Bursche, der manchmal zu
gerissen ist. Sie hätten sein Gesicht gestern sehen sollen! Ich habe mich köstlich darüber amüsiert. Darüber – und
über Dr. Floyd Ferris. Dieser aalglatte, durchgestylte Dr. Ferris vom State Science Institute mit seinem lackierten
Wortschatz – der Diener des Volkes! – war völlig fertig mit den Nerven. Aber er zog sich recht elegant aus der
Affäre, das muß ich schon sagen. Man konnte nur sehen, wie er sich bei jedem Satz wand – ich meine, in dem
Interview, das er heute morgen gab und in dem er sagte: ‘Das Land hat Rearden das Metall gegeben, und wir
erwarten nun von ihm, daß auch er dem Land etwas gibt.’ Das war flott gesagt, wenn man bedenkt, wer hier die
Trittbrettfahrer sind und… Es war jedenfalls besser als Bertram Scudders ‘Kein Kommentar’. Mr. Scudder fiel
zu den Fragen seiner Kollegen von der Presse tatsächlich nicht mehr ein als ‘Kein Kommentar’. ‘Kein
Kommentar’ – von Bertram Scudder, der vom Tage seiner Geburt an nie die Klappe halten konnte, ob man ihn
fragte oder nicht fragte, über was es auch sei, abessinische Dichtkunst oder den Zustand der Damentoiletten in
der Textilindustrie. Und Dr. Pritchett, der alte Schwachkopf, läuft herum und sagt, er wisse genau, daß Rearden
das Metall nicht erfunden hat. Er habe aus nicht genannter, verläßlicher Quelle gehört, daß Rearden die Formel
einem bettelarmen Erfinder gestohlen und ihn dann ermordet hat.«
Er lachte beglückt. Sie lauschte seinen Worten wie einem Vortrag über höhere Mathematik, ohne etwas zu
begreifen. Sie begriff nicht einmal die Ausdrucksweise, die das Geheimnis nur noch größer machte. Cherryl war
davon überzeugt, daß sie in seinem Mund nicht das bedeuten konnte, was sie bei jedem anderen bedeutet hätte.
Er füllte sein Glas wieder und leerte es in einem Zug. Aber seine gute Stimmung war plötzlich verflogen. Er
ließ sich Cherryl gegenüber in einen Sessel fallen und blickte sie mit verschwommenen Augen unter seiner
gewölbten Stirn hervor an.
»Sie kommt morgen wieder«, sagte er. Es klang wie ein bitteres Lachen.
»Wer?«
»Meine Schwester. Meine geliebte Schwester. Ach, wie toll wird sie sich jetzt vorkommen!«
»Mögen Sie Ihre Schwester nicht, Mr. Taggart?« Er lachte wieder bitter, ein Lachen, das alles sagte. »Warum
nicht?« fragte sie.
»Weil sie sich für so gut hält. Was berechtigt sie dazu? Was berechtigt überhaupt jemand, sich für gut zu
halten? Kein Mensch ist gut.«
»Das ist doch nicht Ihre wirkliche Meinung, Mr. Taggart.«
»Ich meine, wir sind nur Menschen – und was ist ein Mensch? Eine schwache, häßliche, sündige Kreatur, die
schon schwach, häßlich und sündig geboren wird und die bis in die Knochen verderbt ist – darum ist Demut die
einzige Tugend, in der man sich üben sollte. Der Mensch sollte seine Tage auf den Knien verbringen und für sein
schmutziges Dasein um Vergebung bitten. Wenn ein Mensch glaubt, er sei gut, dann ist er verderbt bis in die
Knochen. Stolz ist die schlimmste aller Sünden, ganz gleich, was ein Mensch geleistet hat.«
»Aber wenn ein Mensch weiß, daß das gut ist, was er getan hat?«
»Dann sollte er sich dafür entschuldigen.«
»Bei wem?«
»Bei denen, die es nicht getan haben.«
»Ich… ich verstehe nicht…«
»Natürlich verstehen Sie das nicht. Um es zu verstehen, braucht man ein jahrelanges Studium der höheren
geistigen Sphären. Haben Sie schon mal von den Metaphysischen Widersprüchen des Universums von Dr.
Simon Pritchett gehört?« Sie schüttelte erschrocken den Kopf. »Wie wollen Sie überhaupt wissen, was gut ist?
Wer weiß, was gut ist? Wer kann es je wissen? Es gibt nichts Absolutes, wie Dr. Pritchett unwiderleglich
bewiesen hat. Nichts ist absolut. Alles ist Ansichtssache. Woher wissen Sie, daß die Brücke nicht eingestürzt ist?
Sie glauben es nur. Woher wissen Sie, daß da überhaupt eine Brücke steht? Glauben Sie, daß ein philosophisches
System wie das Dr. Pritchetts nur etwas Akademisches, Weitabliegendes, Lebensfernes ist? O nein, das ist es
nicht. Das ist es ganz und gar nicht! «
»Aber Mr. Taggart, die Strecke, die Sie gebaut haben…«
»Ach, was ist das schon, diese Strecke! Es ist nur eine materielle Leistung. Hat die irgendeine Bedeutung? Ist
im Materiellen irgend etwas Großes? Nur ein niederes Tier kann diese Brücke bewundernd anstarren – wo es so
viel Höheres im Leben gibt. Aber wird das Höhere jemals anerkannt? O nein. Sehen Sie sich die Leute an. All
dieser Lärm und dieses Geschrei und lange Berichte auf den ersten Seiten über eine Nichtigkeit. Kümmert man
sich um irgendeine edlere Leistung? Stellt man die Titelseiten je einem Phänomen des Geistes zur Verfügung?
Nimmt man von einem Menschen mit feinerem Empfindungsvermögen Notiz oder schätzt ihn gar? Und da
fragen Sie sich noch, ob es wahr ist, daß ein großer Mensch in dieser verderbten Welt dazu verdammt ist,
unglücklich zu sein!« Er beugte sich vor und blickte sie durchdringend an. »Ich will Ihnen mal etwas sagen…
Unglück ist das Kennzeichen der Tugend. Wenn ein Mensch unglücklich ist, wirklich und wahrhaftig
unglücklich, dann beweist das, daß er über den anderen steht.«
Er bemerkte ihren verwirrten, ängstlichen Ausdruck. »Aber, Mr. Taggart, Sie haben alles, was Sie sich
wünschen konnten. Sie haben jetzt die beste Eisenbahn im Land. Die Zeitungen nennen Sie den größten
Unternehmer des Jahrhunderts. Sie schreiben, die Aktien Ihrer Gesellschaft hätten Ihnen über Nacht ein
Vermögen eingebracht. Sie haben alles erreicht, was Sie erwarten konnten – freuen Sie sich nicht darüber?«
»Nein«, erwiderte er, und voll Schreck fühlte sie in diesem einen Wort plötzlich seine Angst.
Sie wußte nicht, warum sich ihre Stimme zu einem Flüstern senkte. »Wäre es Ihnen lieber gewesen, die
Brücke wäre eingestürzt?«
»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete er scharf. Dann zuckte er die Achseln und machte eine wegwerfende
Bewegung mit der Hand. »Sie verstehen das nicht.«
»Verzeihen Sie… Ich weiß, ich muß noch unendlich viel lernen.«
»Ich spreche von einem Hunger nach etwas, das gar nichts mit dieser Brücke zu tun hat, einem Hunger, den
nichts Materielles je stillen wird.«
»Aber was denn, Mr. Taggart? «
»Ach, da haben Sie’s. In dem Augenblick, in dem Sie das fragen, versinken Sie wieder in der rohen
materiellen Welt, in der alles etikettiert und abgemessen werden muß. Ich spreche von Dingen, die sich mit
materialistischen Worten nicht bezeichnen lassen… den höheren Sphären des Geistes, die der Mensch nie
erreichen kann… Was ist schon eine menschliche Leistung? Die Erde ist nur ein im Weltall wirbelndes Atom.
Was bedeutet diese Brücke gegenüber dem Sonnensystem?«
Ihre Augen leuchteten plötzlich auf. Sie hatte ihn verstanden. »Es ist groß von Ihnen, Mr. Taggart, zu denken,
Ihre eigene Leistung sei nicht gut genug für Sie. Wie weit Sie auch gekommen sein mögen, Sie möchten noch
weiter kommen. Sie sind ehrgeizig. Das bewundere ich am meisten: Ehrgeiz. Ich meine, etwas tun, nicht
stehenbleiben und aufgeben, nur etwas tun. Ich verstehe, Mr. Taggart… Selbst wenn ich all die großen Gedanken
nicht verstehe.«
»Sie werden es noch lernen.«
»Ach, ich werde fleißig arbeiten, um es zu lernen.«
Sie sah ihn immer noch bewundernd an. Er ging durch den Raum und bewegte sich im Glanz dieses Blicks
wie im Licht eines Scheinwerfers. Dann füllte er sein Glas wieder. In der Nische über der fahrbaren Bar hing ein
Spiegel. Er betrachtete sich einen Augenblick lang darin: die schlaksige Haltung zu seiner großen Gestalt, die
jede menschliche Anmut bewußt zu leugnen schien, das dünner werdende Haar, den weichen, mürrischen Mund.
Dabei erkannte er plötzlich, daß sie ihn gar nicht richtig sah, sie sah nur die heroische Gestalt eines Schöpfers
mit stolz gestrafften Schultern und im Wind wehendem Haar. Er lachte laut, weil er fand, daß das ein guter
Scherz war, und fühlte dabei dennoch eine Befriedigung wie über einen Sieg: die Freude darüber, daß es ihm
gelungen war, sich vor ihr in Szene zu setzen.
Er nippte an seinem Drink und warf einen Blick auf die Tür seines Schlafzimmers. Er dachte an das übliche
Ende eines solchen Abends. Er dachte, daß es leicht sein würde. Das Mädchen war zu ehrfürchtig, um
Widerstand zu leisten. Er sah den Glanz ihres Haars – wie sie dort mit gebeugtem Kopf im Schein einer Lampe
saß – und die weiche, schimmernde Haut ihrer Schulter. Er wandte den Blick ab. Wozu? dachte er.
Die leise Begierde, die er empfand, war nicht mehr als ein Gefühl körperlichen Unbehagens. Das, was ihn am
stärksten zum Handeln antrieb, war nicht der Gedanke an das Mädchen, sondern an all die Männer, die eine
solche Gelegenheit nicht ungenutzt lassen würden. Er gestand sich ein, daß das Mädchen viel besser war als
Betty Pope, vielleicht das beste, dem er je begegnet war. Aber das ließ ihn kalt. Er empfand nicht mehr für sie,
als er für Betty Pope empfand. Er empfand überhaupt nichts. Die Aussicht auf ein lustvolles Erlebnis war die
Mühe nicht wert. Er hatte kein Verlangen, Lust zu erleben.
»Es ist schon spät«, sagte er. »Wo wohnen Sie? Ich mache Ihnen noch einen Drink, dann bringe ich Sie nach
Hause.«
Als er sich vor der Tür eines schäbigen Mietshauses in einem Slum-Viertel von ihr verabschiedete, zögerte
sie, krampfhaft bemüht, ihm die Frage zu stellen, die sie ihm leidenschaftlich gern gestellt hätte. »Werde ich…«,
begann sie und hielt inne.
»Was?«
»Nein, nichts, nichts.«
Er wußte, was sie ihn hatte fragen wollen: Werde ich Sie wiedersehen? Es bereitete ihm Genuß, nicht darauf
zu antworten, obwohl er wußte, daß sie ihn wiedersehen würde. Sie blickte noch einmal zu ihm auf, als wäre es
vielleicht zum letzten Mal. Dann sagte sie ernst, mit leiser Stimme: »Mr. Taggart, ich bin Ihnen sehr dankbar,
weil Sie… ich meine, jeder andere Mann hätte versucht… ich meine, er hätte nur das gewollt, aber Sie sind so
viel besser, ach, so viel besser.«
Mit einem dünnen, glitschigen Lächeln trat er näher an sie heran. »Hätten Sie es getan?« fragte er. Sie wich in
jähem Erschrecken über ihre eigenen Worte zurück. »Ach, so habe ich es nicht gemeint«, stöhnte sie. »Ach Gott,
das sollte kein Wink sein oder… oder…« Sie wurde dunkelrot, drehte sich um, rannte die steilen Stufen zu dem
Mietshaus hinauf.
Er stand auf dem Bürgersteig und spürte eine seltsame Genugtuung. Es war ihm, als hätte er etwas
Tugendhaftes getan und sich an jedem gerächt, der an der dreihundert Meilen langen Strecke der John-Galt-Linie
dem Zuge zugejubelt hatte.
Bei Einfahrt des Zuges in Philadelphia verließ Rearden Dagny ohne ein Wort, als ob die Nächte ihrer
Rückreise in der nüchternen Wirklichkeit des Tages mit den überfüllten Bahnsteigen und den ein- und
ausfahrenden Lokomotiven keine Erwähnung mehr verdienten. Dagny fuhr allein nach New York weiter. Aber
spät am Abend klingelte es an ihrer Wohnungstür, und sie wußte, daß sie darauf gewartet hatte.
Hank sagte nichts, als er eintrat, er blickte sie nur an, doch diese stumme Begrüßung sagte mehr als Worte. In
seinem Gesicht war ein leises, spöttisches Lächeln, mit dem er eingestand und sich zugleich darüber lustig
machte, daß sie beide voll Ungeduld auf diese Stunde gewartet hatten. Er stand in der Mitte ihres Wohnzimmers
und ließ die Augen langsam durch den Raum schweifen. Dies war ihre Wohnung, der Ort in der Stadt, der zwei
Jahre lang der Brennpunkt seiner Qual gewesen war, weil er nicht an ihn denken durfte und es doch tat. Nie hatte
er hierherkommen können. Und jetzt kam er unangemeldet und so selbstverständlich herein, als ob ihm diese
Wohnung gehörte. Er setzte sich in einen Sessel, streckte die Beine aus, und sie stand vor ihm, fast als ob sie
seine Erlaubnis brauchte, sich zu setzen, und als ob es ihr Genuß bereitete, darauf zu warten.
»Soll ich dir sagen, daß du mit dem Bau dieser Strecke eine großartige Leistung vollbracht hast?« fragte er.
Sie sah ihn erstaunt an; so offene Komplimente hatte er ihr nie gemacht; der bewundernde Ton, in dem er das
sagte, war echt, aber in seinem Gesicht blieb der leise Spott, und es war ihr, als verfolgte er mit seinen Worten
einen bestimmten Zweck, den sie nicht erriet. »Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, Fragen über dich und
die Linie zu beantworten, über das Metall und die Zukunft, und die Aufträge für das Metall zu zählen. Stündlich
werden Tausende von Tonnen bestellt. Ist es wirklich erst neun Monate her, daß ich nicht einen einzigen Auftrag
bekommen konnte? Heute mußte ich mein Telefon abstellen, um nicht mit allen Leuten reden zu müssen, die
mich persönlich sprechen wollten, weil sie dringend Rearden Metal brauchen. Was hast du heute gemacht?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe versucht, Eddies Berichten zuzuhören, mir die Menschen vom Leibe zu halten
und rollendes Material aufzutreiben, um mehr Züge auf der John-Galt-Linie einzusetzen. Der von mir
aufgestellte Plan reicht für all die Transporte nicht aus, die sich in den letzten Tagen angesammelt haben.«
»Es wollten dich wohl sehr viele Leute sehen?«
»Ja.«
»Sie hätten etwas darum gegeben, wenn sie nur ein Wort mit dir hätten sprechen können, nicht wahr?«
»Ich… ich vermute es.«
»Die Reporter haben mich immer wieder gefragt, was für ein Mensch du bist. Ein junger Mann von einem
Lokalblatt erklärte immer von neuem, du seist eine großartige Frau. Er sagte, er würde Angst haben, mit dir zu
sprechen, wenn er je die Gelegenheit dazu hätte. Er hat recht. Die Zukunft, von der sie alle erregt reden, wird
dein Werk sein, denn du hast einen Mut gehabt, den sich keiner von ihnen vorstellen konnte. All die Wege zum
Wohlstand, zu denen sie sich jetzt drängen, hat nur deine Kraft ihnen geöffnet. Die Kraft, jedem zu widerstehen.
Die Kraft, keinen Willen anzuerkennen als deinen eigenen.«
Es verschlug ihr den Atem: Jetzt wußte sie, welchen Zweck er verfolgte. Sie stand aufrecht, mit
herabhängenden Armen und ernstem Gesicht, als nähme sie, ohne mit der Wimper zu zucken, seine lobenden
Worte wie Peitschenhiebe hin.
»Sie haben auch dir immer wieder Fragen gestellt, nicht wahr?« sagte er leidenschaftlich und beugte sich vor.
»Und sie haben dich bewundernd angeblickt, als ständest du auf einem Berggipfel und sie könnten nur über eine
große Entfernung hinweg den Hut vor dir ziehen. Stimmt’s?«
»Ja«, flüsterte sie.
»Sie haben dich angebückt, als ob sie wüßten, daß man sich dir nicht nahen oder in deiner Gegenwart
sprechen oder eine Falte deines Kleides berühren darf. Sie wußten es, und es ist die Wahrheit. Sie haben dich
voll Ehrfurcht angesehen, nicht wahr? Sie haben zu dir aufgeblickt?«
Er ergriff ihren Arm, zog sie zu seinen Knien herunter, preßte ihren Körper an seine Beine und bückte sich,
um sie auf den Mund zu küssen. Sie lachte lautlos, es war ein spöttisches Lachen, aber ihre halbgeschlossenen
Augen verhehlten nur schlecht die Lust, die sie empfand.
Stunden später, als sie zusammen im Bett lagen und seine Hand über ihren Körper strich, fragte er über sie
gebeugt plötzlich: »Wer waren die anderen Männer, die du gehabt hast?« Sie bemerkte an dem
leidenschaftlichen Ausdruck seines Gesichtes, an dem Stöhnen, das in seiner Stimme mitschwang, obwohl sie
leise und fest klang, daß die Frage aus ihm herausbrach, als ob sie ihn schon stundenlang gequält hätte.
Er blickte sie an, als sähe er das, was er fragte, in jeder Einzelheit vor sich, als haßte er den Anblick, wollte
aber nicht die Augen davon abwenden. Sie hörte die Verachtung in seiner Stimme, den Haß, das Leiden – und
ein seltsames Verlangen, das zu der Qual nicht paßte. Er stellte die Frage, während er ihren Körper an sich
preßte.
Sie antwortete ruhig, aber er sah ein gefährliches Flackern in ihren Augen, das ihm sagte, daß sie nur allzu gut
verstand. »Es war nur einer, Hank.«
»Wann?«
»Als ich siebzehn war.«
»Hat das lange gedauert?«
»Ein paar Jahre.«
»Wer war es?«
Sie entwand sich ihm, aber er beugte sich noch dichter über sie. Sein Blick bohrte sich in sie hinein, doch sie
hielt ihm stand. »Auf diese Frage antworte ich nicht.«
»Hast du ihn geliebt?«
»Darauf antworte ich nicht.«
»Hast du mit ihm geschlafen?«
»Ja.«
Ihre lachenden Augen ließen dieses Ja wie einen Schlag klingen, der ihn ins Gesicht traf. Ihre Augen lachten,
weil sie wußte, daß dies die Antwort war, die er gefürchtet hatte und dennoch hören wollte.
Er hielt ihr die Arme im Rücken fest, so daß sie sich nicht bewegen konnte, ihre Brüste preßten sich an ihn,
und sie fühlte den Schmerz in ihren Schultern. Sie hörte die Wut in seinen Worten und das heisere Stöhnen der
Lust in seiner Stimme: »Wer war es?«
Sie antwortete nicht. Sie blickte ihn mit dunklen und seltsam glänzenden Augen an, und er sah, daß ihr vor
Schmerz verzerrter Mund höhnisch lächelte.
Als seine Lippen sie berührten, fühlte er, wie der Hohn sich in Hingabe verwandelte. Er drückte sie so
leidenschaftlich an sich, als ob er damit seinen unbekannten Rivalen aus dem Feld schlagen, aus ihrer
Vergangenheit herausreißen könnte, ja mehr noch: als ob er alles, was zu ihr gehörte, sogar den Rivalen, in ein
Instrument seiner Lust verwandeln könnte. An der glühenden Gier, mit der ihre Arme ihn umschlossen, merkte
er, daß sie so genommen werden wollte.
Die Silhouette eines Förderbandes, das Kohle zur Spitze eines Turms hinauftrug, bewegte sich vor den
feurigen Streifen am Himmel, als ob eine unerschöpfliche Anzahl von kleinen schwarzen Eimern in einer
diagonalen Linie von der Erde der untergehenden Sonne entgegenstieg. Das laute, ferne Klappern mischte sich in
das Rasseln der Ketten, mit denen ein junger Mann im blauen Arbeitsanzug Maschinen auf Plattformwagen
befestigte, die auf einem Nebengleis der Quinn Ball Bearing Company in Connecticut standen.
Mr. Mowen von Amalgamated Switch and Signal jenseits der Straße sah ihm dabei zu. Er war auf dem
Heimweg von seiner eigenen Fabrik stehengeblieben. Er trug einen hellen Mantel, der seine kleine beleibte
Gestalt eng umspannte, und auf seinem graublonden Haar einen steifen Hut. Es war einer der ersten kühlen
Septembertage. Alle Tore bei Quinn standen weit offen, während Männer und Laufkatzen die Maschinen
hinausbeförderten. Es war, als würden sie die lebenswichtigen Organe entfernen und nur das Knochengerüst
zurücklassen, dachte Mr. Mowen.
»Wieder eine?« fragte er und deutete mit dem Daumen auf die Fabrik, obwohl er die Antwort bereits wußte.
»Was?« fragte der junge Mann, der Mr. Mowen gar nicht bemerkt hatte. »Zieht wieder eine Firma nach
Colorado?«
»Ja, ja.«
»Es ist die dritte aus Connecticut in den letzten vierzehn Tagen«, sagte Mr. Mowen. »Und wenn Sie sehen,
was in New Jersey, Rhode Island, Massachusetts und überall längs der Atlantikküste geschieht…« Der junge
Mann schien ihn gar nicht zu sehen und zu hören. »Es ist wie ein undichter Wasserhahn«, sagte Mr. Mowen,
»das ganze Wasser fließt nach Colorado. Und das Geld dazu.« Der junge Mann warf die Kette über die mit
Segeltuch bedeckte Maschine und kletterte dann behende hinauf. »Man sollte doch glauben, die Menschen
fühlten eine gewisse Anhänglichkeit für ihren Heimatstaat… aber sie laufen weg. Ich weiß nicht, was mit den
Leuten los ist.«
»Es ist das Gesetz«, sagte der junge Mann.
»Welches Gesetz?«
»Das Chancenausgleichsgesetz.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich habe gehört, daß Mr. Quinn schon vor einem Jahr plante, eine Zweigfirma in Colorado zu eröffnen, aber
das Gesetz erlaubt das nicht. Und darum hat er nun beschlossen, die ganze Fabrik dorthin zu verlegen.«
»Ich verstehe nicht, wieso das richtig sein soll. Das Gesetz war notwendig. Es ist eine Schande – alte Firmen,
die seit Generationen hier ansässig waren… Es müßte ein Gesetz geben…«
Der junge Mann arbeitete geschickt und sachverständig, als ob es ihm Freude machte. Das Förderband hinter
ihm bewegte sich immer wieder klappernd aufwärts. Vor dem rötlich glühenden Abendhimmel standen in der
Ferne vier Fabrikschlote, um die sich leise im Wind wehende Rauchschwaden wanden. Die Schlote sahen aus
wie halbmast beflaggte Fahnenstangen.
Mr. Mowen war mit den Fabrikschloten der Gegend aufgewachsen. Sie stammten alle noch aus den Tagen
seines Vaters und Großvaters. Dreißig Jahre lang hatte er das Förderband von seinem Bürofenster aus gesehen.
Daß Quinn Ball Bearing jenseits der Straße verschwinden sollte, war ihm unvorstellbar erschienen. Er hatte von
Quinns Entschluß erfahren und nicht daran geglaubt; oder richtiger, er hatte daran geglaubt, wie er alles glaubte,
was er hörte oder sagte, als wäre es etwas, das in keiner Beziehung zur Wirklichkeit stand. Aber jetzt wußte er,
daß es wirklich so war. Er stand neben den Plattformwagen auf dem Nebengleis, als ob er noch eine Möglichkeit
hätte, sie aufzuhalten.
»Es ist nicht recht«, sagte er. Er sprach in Richtung der Schlote am Horizont. Aber der junge Mann oben auf
dem Wagen war der einzige, der ihn hören konnte. »Zur Zeit meines Vaters gab es so etwas nicht. Ich bin kein
großes Tier. Ich will gegen niemand kämpfen. Was ist nur mit der Welt los?« Aber er erhielt keine Antwort. »Sie
zum Beispiel, nimmt man Sie mit nach Colorado?«
»Mich? Nein. Ich gehöre nicht zum Fabrikpersonal, ich arbeite hier nur vorübergehend. Ich helfe, das Zeug
auf den Weg zu bringen.«
»Wohin gehen Sie denn, wenn die wegziehen?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Was werden Sie tun, wenn noch mehr wegziehen?«
»Das wird sich zeigen.«
Mr. Mowen blickte zweifelnd auf. Er überlegte, ob das eine Antwort sein sollte oder die Verweigerung einer
Antwort. Aber der junge Mann achtete nur auf seine Arbeit; er blickte nicht zu ihm hinunter. Er ging zu der
zugedeckten Maschine auf dem nächsten Wagen, und Mr. Mowen folgte ihmund blickte zu ihm hinauf, wobei er
ins Leere weitersprach. »Ich habe doch wohlerworbene Rechte. Ich bin hier geboren. Als ich aufwuchs, war es
für mich selbstverständlich, daß die alten Firmen hier waren. Es war für mich selbstverständlich, daß ich eines
Tages die Firma leiten würde, so wie vor mir mein Vater. Ein Mann ist ein Glied seiner Gemeinde. Er hat das
Recht, auf sie zu zählen… Es müßte da etwas getan werden.«
»In welcher Hinsicht?«
»Ach? Ich weiß, Sie halten es für großartig, nicht wahr, die Taggart-Hochkonjunktur und das Rearden Metal
und die Jagd nach Gold in Colorado und den Rausch, von dem die alle da unten ergriffen sind, Wyatt und der
ganze Klüngel, und ihre Produktion, die sich immer weiter ausdehnt, als kochten Kessel über. Jeder hält das für
großartig – wohin Sie auch gehen, überall hören Sie nichts anderes –, die Menschen sind sorglos glücklich,
machen Pläne wie Sechsjährige für Ferien – man könnte meinen, es wären nationale Flitterwochen oder ein
dauernder Nationalfeiertag.« Der junge Mann blieb stumm.
»Nun, ich sehe das anders«, sagte Mr. Mowen. Er senkte die Stimme. »Die Zeitungen schreiben das ganz
anders, oder, richtiger, sie sagen überhaupt nichts darüber.«
Mr. Mowen vernahm keine Antwort, nur das Rasseln der Ketten. »Warum ziehen alle nach Colorado?« fragte
er. »Was haben die da unten, was wir nicht haben?«
Der junge Mann grinste. »Vielleicht ist es etwas, was Sie haben und die nicht.«
»Was?« Der junge Mann antwortete nicht. »Ich verstehe das nicht. Es ist ein ganz rückständiger primitiver
Staat. Es gibt dort nicht einmal eine moderne Regierung. Es ist die schlechteste Regierung, die irgendein Staat
hat. Und die faulste. Sie tut nichts – sie unterhält nur Gerichte und eine Polizei. Sie tut nichts für das Volk. Sie
hilft niemand. Ich verstehe nicht, warum alle unsere besten Firmen dorthin übersiedeln wollen.«
Der junge Mann sah zu ihm hinunter, sagte aber kein Wort.
Mr. Mowen seufzte. »Es geht alles nicht mit rechten Dingen zu«, sagte er. »Das Chancenausgleichsgesetz war
eine gesunde Idee. Jeder muß seine Chance haben. Es ist eine Schande, wenn Leute wie Quinn einen
ungerechten Vorteil daraus ziehen. Warum läßt er nicht jemand anderen in Colorado mit der Produktion von
Kugellagern beginnen? Ich wünschte, die Leute in Colorado ließen uns in Ruhe. Die Stockton Foundry dort hat
kein Recht, jetzt auch Weichen und Signalanlagen herzustellen. Jahrelang ist das mein Geschäft gewesen. Ich
habe das ältere Recht. Es ist nicht fair, es ist Verdrängungswettbewerb; neuen Firmen dürfte es nicht erlaubt sein,
sich in dieses Geschäft einzudrängen. An wen soll ich zukünftig Weichen und Signale verkaufen? Es gab in
Colorado zwei große Eisenbahngesellschaften. Jetzt hat Phoenix-Durango den Betrieb eingestellt, und es ist nur
noch Taggart Transcontinental übriggeblieben. Es ist nicht fair – daß sie Dan Conway hinausgedrängt haben. Es
muß Raum für einen gesunden Wettbewerb geben… Sechs Monate lang habe ich auf eine Stahllieferung von
Orren Boyle gewartet, aber jetzt sagt er, er könne mir nichts versprechen, weil Rearden Metal ihm den Markt
völlig versperrt. Es herrscht ein richtiger Ansturm auf dieses Metall, und Boyle muß darum seine Produktion
einschränken. Es ist nicht gerecht, daß Rearden auf diese Weise die Märkte anderer Leute ruinieren darf… Und
ich möchte auch ein bißchen Rearden Metal bekommen, denn ich brauche es – aber versuchen Sie das mal!
Wenn man die Anwärter darauf in eine Reihe stellte, würde die sich über drei Staaten erstrecken – niemand kann
auch nur ein Krümelchen davon bekommen, außer seinen alten Freunden, Leuten wie Wyatt und Danagger
und… Es ist nicht gerecht, es ist eine Benachteiligung. Ich bin genauso gut wie jeder andere. Ich habe ein Recht
auf meinen Anteil an diesem Metall.«
Der junge Mann sah auf. »Ich war in der letzten Woche in Pennsylvania. Ich habe das Rearden-Werk gesehen.
Da ist was los! Sie bauen vier neue Hochöfen, und der Bau von sechs weiteren ist geplant. Neue Hochöfen!«,
sagte er und blickte nach Süden. »In den letzten fünf Jahren hat niemand an der Atlantikküste einen neuen
Hochofen gebaut…« Er stand gegen den Himmel oben auf einem mit einer Plane bedeckten Motor und blickte
mit einem leisen sehnsüchtigen Lächeln in die Dämmerung wie ein Verliebter. »Die haben zu tun…«, sagte er.
Dann verschwand sein Lächeln plötzlich. Zum ersten Mal zog er in einer Art, die nicht seiner geschmeidigen
Geschicklichkeit entsprach, an der Kette. Es sah aus, als ob er seine Wut an ihr auslassen wollte.
Mr. Mowens Blick wanderte zu den Schloten, dem Förderband, den Rädern, dem Rauch – dem Rauch, der
bewegungslos friedlich in der Abendluft hing und in einen Dunst überging, der sich bis nach New York
erstreckte, das irgendwo hinter der untergehenden Sonne lag. Und der Gedanke an New York und dessen Ring
von heiligen Feuern, von Schornsteinen, Gasometern, Kränen und Hochspannungsleitungen beruhigte ihn. Es
war ihm, als ob ein elektrischer Strom durch jedes finstere Gebäude seiner ihm vertrauten Straße flutete. Der
junge Mann, der dort über ihm stand, war ihm sympathisch. Die Art, wie er arbeitete, hatte etwas Beruhigendes,
etwas, das sich harmonisch dem Hintergrund einfügte… Dennoch fragte sich Mr. Mowen verwundert, warum er
das Gefühl hatte, daß sich irgendwo ein Riß vergrößerte und sich in die festen, ewigen Mauern hineinfraß.
»Es müßte etwas getan werden«, sagte Mr. Mowen. »Ein Freund von mir hat in der letzten Woche Konkurs
angemeldet. Er besaß ein paar Ölquellen in Oklahoma, konnte aber mit Ellis Wyatt nicht mehr konkurrieren. Das
ist nicht gerecht. Sie sollten dem kleinen Mann eine Chance lassen. Sie sollten Wyatts Förderung eine Grenze
setzen. Er dürfte nicht so viel erzeugen, daß er jeden anderen vom Markt verdrängt… Ich bin gestern in New
York steckengeblieben. Ich mußte meinen Wagen dort lassen und in einem verdammten Bummelzug
zurückfahren. Ich konnte kein Benzin für den Wagen bekommen. Es hieß, die Stadt leide unter Ölknappheit…
Etwas geht nicht mit rechten Dingen zu. Es sollte etwas dagegen getan werden…« Mr. Mowen blickte um sich
und fragte sich, welche anonyme Macht alles hier bedrohte und zerstörte.
»Was wollen Sie dagegen tun?« fragte der junge Mann.
»Ich?« sagte Mr. Mowen. »Ich wüßte es nicht. Ich bin kein großes Tier. Ich kann nationale Probleme nicht
lösen. Ich möchte nur so viel verdienen, daß ich leben kann. Ich weiß nur, daß jemand etwas dagegen tun
sollte… Es geht nicht mit rechten Dingen zu… Wie heißen Sie übrigens?«
»Owen Kellogg.«
»Hören Sie, Kellogg, was ist Ihrer Meinung nach mit der Welt los?«
»Meine Meinung kann Sie doch nicht interessieren.«
Auf einem fernen Turm ertönte eine Sirene, das Zeichen, daß die Nachtschicht begann, und Mr. Mowen
erkannte daran, wie spät es schon geworden war. Er seufzte, knöpfte seinen Mantel zu und wandte sich zum
Gehen.
»Nun, es wird etwas getan«, sagte er, »etwas Konstruktives. Das Parlament hat ein Gesetz angenommen, das
dem Büro für Wirtschaftsplanung und Nationale Bodenschätze größere Befugnisse gibt. Man hat einen äußerst
fähigen Mann zum Spitzenkoordinator ernannt. Ich habe zwar noch nie von ihm gehört, aber die Zeitungen
schreiben, er sei ein Mann, der Beachtung verdient. Sein Name ist Wesley Mouch.«
Dagny stand am Fenster ihres Wohnzimmers und sah auf die Stadt. Es war spät, und die Lichter waren wie die
letzten Funken eines abgebrannten Freudenfeuers.
Ein Gefühl des Friedens erfüllte sie, und sie wünschte, diese innere Gelassenheit würde anhalten, damit sie
jeden Augenblick des Monats, der an ihr vorübergejagt war, noch einmal überdenken konnte. Sie hatte gar nicht
die Zeit gehabt, zu begreifen, daß sie wieder in ihrem eigenen Büro im Gebäude von Taggart Transcontinental
war. Es hatte dort so viel zu tun gegeben, daß sie vergessen hatte, daß es eine Rückkehr aus der Verbannung war.
Sie hatte gar nicht auf das geachtet, was Jim bei ihrer Rückkehr gesagt hatte. Sie wußte nicht einmal, ob er
überhaupt etwas gesagt hatte. Es hatte nur einen Menschen gegeben, von dem sie gern gehört hätte, was er zu
ihrer Rückkehr sagte. Sie hatte das Wayne-Falkland-Hotel angerufen, aber man hatte ihr gesagt, Señor Francisco
d’Anconia sei nach Buenos Aires zurückgekehrt.
Sie erinnerte sich an den Augenblick, als sie ihren Namen unter ein langes Dokument setzte. Es war der
Augenblick, von dem an die John-Galt-Linie der Vergangenheit angehörte. Sie war jetzt wieder die Rio-Norte-
Linie von Taggart Transcontinental, wenn auch das Zugpersonal sich weigerte, den alten Namen aufzugeben.
Auch sie brachte es kaum fertig. Sie mußte sich zwingen, nicht weiter von der John-Galt -Linie zu sprechen, und
sie fragte sich, warum sie das Anstrengung kostete und warum sie dabei leise Trauer empfand.
Eines Abends war sie in einem jähen Impuls um die Ecke des Taggart-Gebäudes gebogen, um einen letzten
Blick in das Büro der John-Galt-Linie in der Nebenstraße zu werfen. Sie wußte nicht, was sie dort wollte – es
nur sehen, dachte sie. Eine Holzschranke versperrte den Gehsteig: das alte Haus wurde abgerissen; es hatte den
Kampf schließlich doch aufgegeben. Sie war über die Schranke gestiegen, und im Licht der Straßenlaterne, die
einst den Schatten eines Fremden auf das Pflaster geworfen hatte, hatte sie durch das Fenster ihres Büros
gespäht. Alle Wände im Erdgeschoß waren bereits eingerissen, von der Decke hingen zerbrochene Rohre herab,
und auf dem Boden türmte sich ein Haufen Schutt. Weiter gab es nichts zu sehen.
Sie hatte Rearden gefragt, ob er im letzten Frühling eines Abends dorthin gekommen war, sein Verlangen
einzutreten bekämpft und draußen vor dem Fenster gestanden hatte. Aber noch ehe er ihre Frage beantwortete,
wußte sie, daß er es nicht gewesen war. Sie sagte ihm nicht, warum sie ihn danach fragte. Sie wußte nicht,
warum diese Erinnerung sie noch immer verwirrte.
Hinter dem Fenster ihres Wohnzimmers hing das erleuchtete Viereck des Kalenders wie ein kleiner
Gepäckanhänger am schwarzen Himmel. 2. September stand darauf. Sie lächelte herausfordernd im Gedanken an
ihren Wettlauf mit den Blättern des Kalenders. Es gab jetzt keine Termine mehr, dachte sie, keine Schranken,
keine Drohungen, keine Grenzen.
Sie hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloß der Wohnungstür drehte. Dies war das Geräusch, auf das sie
gewartet hatte, das sie heute abend hatte hören wollen. Rearden kam herein, wie er schon oft hereingekommen
war, mit dem Schlüssel, den sie ihm gegeben hatte, als einziger Ankündigung. Er legte Hut und Mantel mit einer
schon ganz selbstverständlichen Geste auf einen Stuhl. Er trug einen förmlichen schwarzen Abendanzug.
»Hallo«, sagte Dagny.
»Ich warte immer noch auf den Abend, an dem ich dich nicht hier vorfinde«, antwortete er.
»Dann mußt du im Büro von Taggart Transcontinental anrufen.«
»Keinen Abend anderswo?«
»Eifersüchtig, Hank?«
»Nein. Es würde mich aber interessieren, es einmal am eigenen Leibe zu spüren.« Er stand ein wenig von ihr
entfernt, sah sie an, ging jedoch nicht auf sie zu, sondern kostete bewußt den Genuß aus, zu wissen, daß er es tun
konnte, wann immer er wollte. Sie hatte den engen grauen Rock eines Kostüms an und eine wie ein
Männerhemd geschnittene Bluse aus durchsichtigem weißen Stoff. Die Bluse bauschte sich über ihrer Taille und
betonte die Schmalheit ihrer Hüften. Im Schein einer Lampe sah er die schlanke Silhouette ihres Körpers.
»Wie war das Bankett?« fragte sie.
»Ganz nett. Ich habe mich so früh wie möglich davongemacht. Warum bist du nicht gekommen? Du warst
doch auch eingeladen.«
»Ich wollte dich nicht in der Öffentlichkeit sehen.«
Er sah sie an, wie um zu betonen, daß er die volle Bedeutung ihrer Antwort verstand. Dann verzog sich sein
Gesicht zu einem vergnügten Lächeln. »Du hast eine Menge versäumt. Das National Council of Metal Industries
wird die harte Prüfung, mich als Ehrengast zu haben, nicht noch einmal auf sich nehmen. Jedenfalls nicht
freiwillig.«
»Was ist denn geschehen?«
»Nichts. Es wurden nur ein paar Reden gehalten.«
»War es eine Qual für dich?«
»Nein… Ja, in gewisser Weise… Ich hatte es wirklich genießen wollen.«
»Soll ich etwas zu trinken holen?«
»Ja, bitte.«
Als sie hinausgehen wollte, packte er sie von hinten an den Schultern und hielt sie fest; er beugte ihren Kopf
zurück und küßte sie auf den Mund. Als er den Kopf hob, zog sie, wie um ihm zu zeigen, daß sie dazu berechtigt
war, seinen Kopf mit einer herrischen Besitzergeste wieder zu sich herunter. Dann wandte sie sich zum Gehen.
»Ach, ich will doch nichts trinken«, sagte er. »Ich wollte nur sehen, wie du mich bedienst.«
»Nun, dann laß mich dich bedienen.«
»Nein.«
Er lächelte, legte sich lang auf die Couch und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er fühlte sich hier zu
Hause. Es war das erste Zuhause, das er je gefunden hatte.
»Weißt du, das Schlimmste an dem Bankett war, daß alle Anwesenden sich nur wünschten, es schon hinter
sich zu haben«, sagte er. »Ich kann nicht verstehen, warum sie es überhaupt veranstaltet haben. Sie waren nicht
dazu verpflichtet. Bestimmt nicht um meinetwillen.«
Sie ergriff eine Zigarettenschachtel und reichte sie ihm. Dann hielt sie die Flamme eines Feuerzeugs an seine
Zigarette, als ob sie damit betonen wollte, daß sie seine Dienerin war. Sie beantwortete sein Lachen mit einem
Lächeln und setzte sich auf die Armlehne eines Sessels am anderen Ende des Zimmers.
»Warum hast du ihre Einladung angenommen, Hank?« fragte sie. »Du hast dich immer geweigert, dem
Council beizutreten.«
»Ich wollte ein Friedensangebot nicht ablehnen. Ich habe sie geschlagen, und sie wissen es. Ich werde dem
Council nie beitreten, aber eine Einladung, als Ehrengast zu erscheinen… Nun, ich glaubte, sie seien gute
Verlierer. Ich hielt es für eine großzügige Geste von ihnen.«
»Von ihnen?«
»Dachtest du von mir?«
»Hank, nach allem, was sie getan haben, um dir in den Arm zu fallen…«
»Habe ich nicht gesiegt? Darum glaubte ich… Weißt du, ich habe es ihnen nicht übelgenommen, daß sie den
Wert des Metalls nicht früher erkannt haben. Die Hauptsache ist, daß sie ihn schließlich doch erkannt haben.
Jeder lernt auf seine Art und in seinem Tempo. Sicherlich, ich weiß, es war da viel Feigheit und Neid und
Heuchelei im Spiel. Aber ich glaubte, das sei nur die Oberfläche. Jetzt, nachdem ich den Wert meiner Erfindung
so sichtbar bewiesen habe, glaubte ich, ihr wahrer Beweggrund, mich einzuladen, sei ihre Anerkennung des
Metalls und…«
Als er einen Augenblick verstummte, lächelte sie; sie wußte, wie er den Satz hatte vollenden wollen: »…und
darum wollte ich allen alles vergeben.«
»Aber es war nicht so«, sagte er. »Und ich konnte nicht dahinterkommen, was ihr Beweggrund war, Dagny.
Ich glaube, sie hatten überhaupt keinen. Sie haben das Bankett nicht veranstaltet, um mir zu schmeicheln oder
um etwas von mir zu erreichen oder um der Öffentlichkeit gegenüber das Gesicht zu wahren. Es hatte weder
einen Zweck noch einen Sinn. Sie haben sich nichts dabei gedacht, als sie das Metall schlechtmachten. Und sie
machen sich auch jetzt keine Gedanken darüber. Es ängstigt sie nicht, daß ich sie aus dem Markt drücken werde.
Selbst darüber machen sie sich keine Gedanken. Es war, als würden sie das Bankett geben, weil sie gehört
hatten, daß man eine Leistung ehren muß und daß man sie auf diese Weise ehrt – so hatte das Ganze etwas
Gespenstisches, war gleichsam der Widerhall einer fernen, besseren Zeit. Ich… ich konnte das nicht ertragen.«
Mit hartem Gesicht sagte sie: »Und da glaubst du, du seist nicht großzügig?« Er blickte zu ihr auf; seine
Augen funkelten belustigt. »Warum ärgerst du dich so über sie?« Leise, damit er nicht den zärtlichen Klang in
ihrer Stimme hörte, antwortete sie: »Du wolltest es genießen!«
»Es ist mir wahrscheinlich recht geschehen. Ich hätte nichts erwarten dürfen. Ich weiß auch gar nicht, was ich
mir eigentlich davon erhofft hatte.«
»Ich weiß es.«
»Ich habe solche Veranstaltungen nie gemocht. Ich weiß nicht, warum ich erwartete, daß es diesmal anders
sein würde. Ich hatte mir eingebildet, das Metall hätte alles und sogar die Menschen verändert.«
»O ja, Hank, ich weiß.«
»Aber was konnte ich dort schon erwarten? Erinnerst du dich, daß du einmal sagtest, solche Feiern seien nur
etwas für jene, die etwas zu feiern haben?«
Der glühende Punkt ihrer Zigarette bewegte sich nicht mehr. Sie saß reglos da. Sie hatte nie mit ihm über die
Party oder etwas, das sich auf sein Zuhause bezog, gesprochen. Nach einer Weile antwortete sie ruhig: »Ich
erinnere mich.«
»Ich wußte, was du meintest. Ich wußte es damals schon.« Er blickte sie fest an. Sie senkte die Augen.
Er schwieg eine Zeitlang. Dann fuhr er in gutgelauntem Tonfall fort: »Das Schlimmste an den Menschen sind
nicht die Beleidigungen, die sie austeilen, sondern die Komplimente. Ich konnte ihre Lobreden heute abend nicht
ertragen. Am wenigsten, daß sie immer wieder sagten, wie sehr mich jeder braucht – sie, die Stadt, das Land und
die ganze Welt vermutlich. Für sie steht man anscheinend auf der Höhe des Ruhms, wenn die Menschen einen
brauchen. Ich kann Menschen nicht ertragen, die mich brauchen.« Er blickte sie an: »Brauchst du mich?«
Mit ernster Stimme antwortete sie: »Sehr.«
Er lachte. »Nein, nicht so, wie ich es meinte. Du hast es auch nicht so gesagt, wie sie es sagen.«
»Wie habe ich es denn gesagt?«
»Wie ein Händler, der für das bezahlt, was er haben will. Sie sagen es wie Bettler, die einem für Almosen
einen Blechbecher hinhalten.«
»Ich… bezahle dafür, Hank?«
»Setz nicht so eine Unschuldsmiene auf. Du weißt genau, was ich meine.«
»Ja«, flüsterte sie lächelnd.
»Ach, sie sollen zum Teufel gehen«, sagte er und streckte sich wohlig entspannt auf der Couch aus. »Ich eigne
mich nicht zur öffentlichen Figur. Im übrigen ist das jetzt auch gleichgültig. Wir brauchen uns nicht darum zu
kümmern, was sie begreifen oder nicht begreifen. Sie werden uns fortan in Ruhe lassen. Die Bahn ist frei. Was
planen Sie als nächstes, Herr Stellvertretender Vorstandsvorsitzender?«
»Eine transkontinentale Strecke aus Rearden Metal.«
»Wie bald wollen Sie die haben?«
»Gleich morgen früh. In drei Jahren wird die ganze Strecke Rearden-Metal-Schienen haben.«
»Glaubst du, das in drei Jahren schaffen zu können?«
»Wenn es mit der John-Galt… der Rio-Norte-Linie so gut weitergeht wie jetzt.«
»Es wird noch besser werden. Dies ist erst der Anfang.«
»Ich habe einen Plan ausgearbeitet. Je nachdem, wie das Geld hereinkommt, werde ich einen Abschnitt nach
dem anderen auf der Hauptstrecke mit Rearden-Metal-Schienen erneuern.«
»Schön. Du kannst jederzeit damit anfangen.«
»Ich werde die alten Schienen für die Nebenstrecken verwenden. Sie halten nicht mehr lange, wenn ich es
nicht tue. In drei Jahren fährst du auf deinem eigenen Metall nach San Francisco, wenn jemand dir dort ein
Bankett geben will.«
»In drei Jahren habe ich Rearden-Metal-Werke in Colorado, in Michigan und in Idaho. Das ist mein Plan.«
»Deine eigenen Werke? Zweigwerke?«
»Klar.«
»Und was ist mit dem Chancenausgleichsges etz?«
»Du glaubst doch wohl nicht, daß es in drei Jahren noch besteht? Wir haben ihnen einen so eindeutigen
Beweis geliefert, daß dieser ganze Unsinn weggefegt werden wird. Das ganze Land steht auf unserer Seite. Wer
kann jetzt noch die Bremse ziehen? Wer wird auf den Quatsch hören? Jetzt gerade sind einflußreiche Lobbyisten
der besseren Art in Washington am Werk. Sie werden dafür sorgen, daß das Chancenausgleichsgesetz in der
nächsten Sitzungsperiode zum alten Eisen geworfen wird.«
»Ich… ich hoffe, es wird so kommen.«
»Die letzten Wochen waren für mich eine furchtbare Zeit, aber jetzt ist alles klar: Die neuen Hochöfen werden
gebaut. Ich kann mich auf meinen Lorbeeren ausruhen und das Leben genießen. Ich kann an meinem
Schreibtisch sitzen, im Geld wühlen, bummeln, zusehen, wie das bestellte Metall gegossen wird, und überall den
großen Gönner spielen… Sag, wann fährt dein erster Zug morgen früh nach Philadelphia?«
»Das weiß ich nicht.«
»Du weißt es nicht? Wozu ist denn ein Betriebsleiter da? Ich muß um sieben im Werk sein. Geht gegen sechs
ein Zug?«
»Der erste geht, glaube ich, um halb sechs.«
»Wirst du mich rechtzeitig wecken, oder willst du lieber den Zug auf mich warten lassen?«
»Ich werde dich wecken.«
Als er schwieg, blickte sie ihn prüfend an. Er hatte müde ausgesehen, als er gekommen war, aber jetzt war
seinem Gesicht nichts mehr von Erschöpfung anzumerken.
»Dagny«, fragte er plötzlich in einem veränderten, ernsten Ton, »warum wolltest du mich nicht in der
Öffentlichkeit sehen?«
»Ich will nicht zu deinem… offiziellen Leben gehören.«
Er antwortete nicht gleich. Nach einer Weile fragte er sie wie nebenbei: »Wann hast du zum letzten Mal
Urlaub genommen?«
»Ich glaube vor zwei… nein, vor drei Jahren.«
»Was hast du da gemacht?«
»Ich bin einen Monat ins Adirondack-Gebirge gefahren, aber schon nach einer Woche zurückgekommen.«
»Ich habe das vor fünf Jahren so gemacht. Nur war es Oregon.« Er lag flach auf dem Rücken und blickte zur
Decke. »Dagny, laß uns zusammen in Urlaub fahren! Wir nehmen meinen Wagen und fahren auf ein paar
Wochen irgendwohin, wo uns niemand kennt. Wir hinterlassen keine Adresse. Wir lesen keine Zeitung. Wir
rühren kein Telefon an. Wir leben mal ganz privat.«
Sie stand auf, ging zu ihm, stellte sich neben die Couch und blickte zu ihm hinunter. Ihr Rücken verdeckte
den Schein der Lampe. Sie wollte nicht, daß er ihr Gesicht sah und bemerkte, daß sie sich krampfhaft bemühte,
nicht zu lächeln.
»Du kannst dich doch wohl jetzt für ein paar Wochen freimachen«, sagte er. »Es geht alles seinen Gang. Es ist
nichts zu befürchten. Wir werden in den nächsten drei Jahren eine solche Gelegenheit nicht wieder haben.«
»Gut, Hank«, sagte sie mit gewollt ruhiger Stimme.
»Kommst du mit?«
»Wann möchtest du fahren?«
»Montag morgen.«
»Schön.«
Als sie wieder zu ihrem Sessel gehen wollte, ergriff er ihr Handgelenk, zog sie herunter und warf sie so auf
die Couch, daß sie auf ihm lag. Er hielt sie in der unbequemen Stellung fest, vergrub eine Hand in ihrem Haar,
preßte ihren Mund auf seinen und ließ seine andere Hand von ihren Schulterblättern über der dünnen Bluse zu
ihrer Taille und ihren Beinen gleiten.
Sie flüsterte: »Und da sagst du, ich brauche dich nicht…!« Sie machte sich von ihm los, stand auf und strich
sich das Haar aus dem Gesicht. Er blieb still liegen und blinzelte zu ihr auf. In seinen Augen spiegelten sich
Leidenschaft und leiser Spott. Sie sah hinunter: Ein Träger ihres Unterrocks war verrutscht und hing diagonal
von der einen Schulter herab. Er blickte auf ihre Brust unter dem durchsichtigen Stoff ihrer Bluse. Sie hob die
Hand, um den Träger hochzuziehen. Aber er schlug sie herunter. Sie lächelte verstehend und spöttisch.
Absichtlich langsam ging sie durch das Zimmer und lehnte sich an einen Tisch, stützte sich mit den Händen auf
die Tischkante, warf die Schultern zurück und sah ihn an. Es war der Kontrast, den er liebte – die Strenge ihrer
Kleidung und der halbnackte Körper. Der Stellvertretende Vorstandsvorsitzende, der eine Frau war, die ihm
gehörte. Er setzte sich auf, streckte die Beine aus, steckte die Hände in die Taschen und musterte sie von Kopf
bis Fuß.
»Sagten Sie, Sie wollten eine transkontinentale Strecke aus Rearden Metal, Herr Stellvertretender
Vorstandsvorsitzender?« fragte er. »Und wenn ich es Ihnen nicht gebe? Ich kann meine Kunden jetzt auswählen
und jeden Preis verlangen, der mir beliebt. Noch vor einem Jahr hätte ich von Ihnen verlangt, daß Sie zum
Entgelt dafür mit mir schlafen.«
»Schade, daß du es nicht getan hast.«
»Wärst du dazu bereit gewesen?«
»Natürlich.«
»Als Handelsobjekt?«
»Mit dir als Käufer! Du hättest das gern gehabt, nicht wahr?«
»Und du?«
»Ja…«, flüsterte sie.
Er ging auf sie zu, ergriff ihre Schultern und preßte seinen Mund auf ihre Brust unter dem dünnen Stoff. Dann
hielt er sie fest umschlungen und blickte sie lange stumm an. »Was hast du mit dem Armband gemacht?« fragte
er.
Sie hatten nie darüber gesprochen. Sie brauchte einen Augenblick, um die Festigkeit ihrer Stimme
wiederzugewinnen.
»Ich habe es noch«, antwortete sie.
»Ich möchte, daß du es trägst.«
»Wenn jemand dahinterkommt, wird es für dich schlimmer sein als für mich.«
»Trag es.«
Sie holte das Armband aus Rearden Metal. Sie sah ihm tief in die Augen und hielt ihm die glitzernde
grünblaue Kette auf der Handfläche hin. Er erwiderte ihren Blick, als er ihr das Armband um das Handgelenk
legte. In dem Moment, als das Schloß unter seinen Fingern zuschnappte, beugte sie den Kopf und küßte seine
Hand.
Die Erde flog unter dem Wagen dahin, und die kurvenreiche Straße durch die Berge Wisconsins war der
einzige sichtbare Beweis menschlichen Schaffens, eine unsichere Brücke, die sich durch ein Meer von Gräsern,
Büschen und Bäumen erstreckte. Das Meer wogte sanft in gelben und orangenen Wellen, aus denen an den
Hängen hier und dort etwas Rotes auffunkelte und zwischen denen grüne Inseln unter einem strahlend blauen
Himmel schwammen. In diesen bunten Ansichtskartenfarben wirkte die Motorhaube des Wagens mit der auf
ihrem Chrom blitzenden Sonne und dem schwarzen Lack, in dem sich der Himmel spiegelte, wie ein
Schmuckstück.
Dagny hatte die Beine ausgestreckt und lehnte sich an das Seitenfenster; sie genoß die Geräumigkeit des
Wagens und die Wärme der Sonne auf ihrer Schulter. Wie schön ist das Land, dachte sie.
»Ich würde gern einmal ein Reklameschild sehen«, sagte Rearden.
Sie lachte. Er hatte ausgesprochen, was sie gedacht hatte.
»Was soll es anpreisen und wem? Seit einer Stunde haben wir keinen Wagen und kein Haus gesehen.«
»Das gefällt mir hier nicht.« Er beugte sich ein wenig vor, die Hände auf dem Lenkrad, und runzelte die
Brauen. »Sieh dir die Straße an.«
Der lange Betonstreifen hatte die graue bleiche Farbe eines in der Wüste liegenden Knochens angenommen,
als ob Sonne und Schnee jede Spur von Autorädern, Öl und Kohle weggefressen hätten, die glänzende Politur,
die Fahrzeuge hinterlassen. In den eckigen Rissen des Betons wuchs grünes Unkraut. Seit vielen Jahren hatte
niemand die Straße benutzt oder repariert. Aber es waren nur wenige Risse.
»Es is t eine gute Straße«, sagte Rearden. »Man hat sie für die Ewigkeit gebaut. Die Erbauer müssen aus
gutem Grund erwartet haben, daß sie starken Verkehr zu bewältigen haben würde.«
»Ja…«
»Ich mag diesen Anblick nicht.«
»Ich auch nicht.« Dann lachte Dagny. »Aber denke doch, wie oft wir Menschen haben klagen hören, daß
Reklameschilder die Landschaft verschandeln. Nun, hier könnten sie eine nicht verschandelte Landschaft
bewundern. Aber das sind die Leute, die ich hasse.«
Sie wollte das Unbehagen nicht fühlen, daß sie wie einen dünnen Riß in der Freude dieses Tages spürte. Sie
hatte dieses Unbehagen in den letzten drei Wochen beim Anblick der vorüberfliegenden Landschaft oft
empfunden. Sie lächelte: Die Motorhaube war der unbewegliche Punkt in ihrem Gesichtsfeld gewesen, während
die Erde vorüberglitt. Die Motorhaube war das Zentrum, der Brennpunkt, die Sicherheit in einer verwischten,
sich auflösenden Welt gewesen… die Motorhaube vor ihr und Reardens Hände auf dem Lenkrad neben ihr… Sie
lächelte bei dem Gedanken, daß dies jetzt ihre Welt war und daß sie sich an ihr freute.
Nach der ersten Woche ihres ziellosen Umherfahrens hatte Hank eines Morgens, ehe sie weiterfuhren, zu ihr
gesagt: »Dagny, darf man, wenn man ausspannt, an nichts anderes denken?«
Sie hatte lachend erwidert: »Nein. Welche Fabrik möchtest du sehen?«
Er hatte gelächelt – weil er sich nicht schuldig zu fühlen und keine Erklärung zu geben brauchte – und hatte
geantwortet: »Es ist eine verlassene Erzgrube in der Nähe der Saginaw Bay, von der ich gehört habe. Sie soll
erschöpft sein.«
Sie waren durch Michigan zu der Erzgrube gefahren. Sie waren durch eine leere Grube gewandert, in der die
Reste eines Krans wie ein Skelett über ihnen zum Himmel aufragten und sie eine verrostete Frühstücksdose mit
den Füßen beiseite stießen. Dagny hatte ein Unbehagen gefühlt, das mehr war als Trauer. Aber Rearden hatte
fröhlich gesagt: »Erschöpft! Ich werde ihnen zeigen, wie viele Tonnen und Dollar ich hier noch rausholen kann.«
Auf dem Rückweg zum Wagen hatte er hinzugefügt: »Wenn ich den richtigen Mann finden könnte, würde ich
diese Grube gleich morgen früh für ihn kaufen und sie wieder in Gang bringen lassen!«
Am nächsten Tage, als sie in südwestlicher Richtung den Ebenen von Illinois entgegenfuhren, hatte er
plötzlich nach langem Schweigen gesagt: »Nein, ich werde warten müssen, bis das Gesetz aufgehoben wird. Der
Mann, der diese Grube wieder in Gang setzen könnte, brauchte von mir nicht erst belehrt zu werden. Der Mann,
der mich brauchen würde, wäre keinen Pfifferling wert.«
Sie konnten von ihrer Arbeit sprechen, wie sie es immer getan hatten, weil sie wußten, daß sie einander
verstanden. Aber sie sprachen nie von sich selbst. Sie taten so, als ob die Leidenschaft, die sie miteinander
verband, etwas rein Physisches wäre, das mit ihrer geistigen Gemeinschaft nicht gleichgesetzt werden durfte.
Jede Nacht war es ihr, als ob sie in den Armen eines Fremden läge, der sie seine äußere Lust sehen ließ, aber nie
zulassen wollte, daß sie erfuhr, ob diese Lust auch seinem innersten Gefühl entsprach. Sie lag nackt neben ihm,
aber an ihrem Handgelenk trug sie das Armband aus Rearden Metal.
Sie wußte, daß es ihm zuwider war, sie als Mr. und Mrs. Smith auf den Meldezetteln in den armseligen
Motels einzutragen. An manchen Abenden sah sie, wie sich sein harter Mund ärgerlich verzog, wenn er diese
falschen Namen einschrieb. Er war wütend auf die, die diesen Schwindel notwendig machten. Gleichgültig nahm
sie das verstohlene Zwinkern in den Mienen der Hotelangestellten wahr, das zu sagen schien, daß Gäste und
Angestellte gleichsam Komplizen waren. Aber sobald sie allein waren und er sie einen Augenblick lang an sich
drückte und sie seinen Blick sah, aus dem kein Schuldgefühl sprach, wußte sie, daß ihn das alles nicht mehr
berührte.
Sie fuhren durch kleine Städte, durch dunkle Nebenstraßen, durch Orte, wie sie sie seit Jahren nicht gesehen
hatte. Sie empfand ein Unbehagen beim Anblick dieser Städte. Tage vergingen, bevor ihr klar wurde, was sie am
meisten vermißte: das Leuchten frischer Farbe. Die Häuser standen da wie Menschen in ungebügelten Kleidern,
die nicht mehr das Bedürfnis verspüren, gerade zu stehen. Die Simse waren wie herabfallende Schultern, die
ausgetretenen Treppenstufen wie aufgerissene Kleidersäume, die zerbrochenen, mit Pappe vernagelten
Fensterscheiben wie Flicken. Die Leute auf den Straßen starrten den neuen Wagen an, nicht wie etwas, das man
selten sieht, sondern als ob das funkelnde schwarze Ungetüm aus einer anderen Welt käme. In den Straßen sah
man nur wenige Fahrzeuge, und die meisten davon wurden von Pferden gezogen. Dagny hatte vergessen, daß
Pferdestärke wörtlich die Stärke eines Pferdes war, die man in ihrer Urform verwenden konnte, und sie schätzte
es nicht, sie wieder vor sich zu sehen.
Sie lachte nicht an jenem Tage an der Bahnüberführung, als Rearden mit der Hand auf etwas deutete und in
schallendes Gelächter ausbrach: eine Kleinbahn kam hinter einem Berge angekeucht, gezogen von einer alten
Lokomotive, die durch einen hohen Schornstein schwarzen Rauch ausstieß.
»Ach Gott, Hank, das ist nicht komisch.«
»Ich weiß«, sagte er.
Siebzig Meilen weit davon entfernt und eine Stunde später sagte sie: »Hank, könntest du dir den Taggart
Comet von einer solchen Lokomotive gezogen vorstellen?«
»Was hast du? Reiß dich zusammen.«
»Verzeih… ich muß nur immerzu daran denken, daß meine neue Strecke und all deine neuen Hochöfen zu
nichts nutze sind, wenn wir nicht jemand finden, der Diesellokomotiven herstellt. Wenn wir ihn nicht bald
finden…«
»Ted Nielsen in Colorado ist dein Mann.«
»Ja, wenn es ihm gelingt, seine neue Fabrik zu eröffnen. Er hat zuviel Geld in die John-Galt-Linie gesteckt.«
»Das hat sich doch wohl als eine ganz hübsch einträgliche Anlage erwiesen.«
»Ja. Aber es hat ihn aufgehalten. Jetzt könnte er weitermachen, doch er kann die richtigen Maschinen nicht
auftreiben. Es gibt nirgends und zu keinem Preis welche zu kaufen. Man hat ihn mit Versprechungen vertröstet.
Er durchkämmt das ganze Land, um in stillgelegten Fabriken alte Maschinen aufzutreiben. Wenn er nicht bald
anfängt…«
»Er wird es. Wer soll ihn jetzt noch daran hindern?«
»Hank«, sagte sie plötzlich, »könnten wir zu einem Ort fahren, den ich gern sehen möchte?«
»Gewiß, wir können überallhin fahren. Wohin möchtest du denn?«
»Es ist ein Ort in Wisconsin. Zur Zeit meines Vaters stand dort eine große Motorenfabrik. Wir hatten eine
Nebenlinie dorthin, aber wir haben die Linie vor sieben Jahren stillgelegt, als die Fabrik geschlossen wurde. Ich
glaube, es ist jetzt ein Notstandsgebiet. Vielleicht kann man dort ein paar Maschinen auftreiben, die Ted Nielsen
gebrauchen könnte. Man könnte sie übersehen haben. Der Ort ist vergessen, und es gibt keine Bahnverbindung
mehr dorthin.«
»Ich werde ihn schon finden. Wie war der Name der Fabrik?«
»Twentieth Century Motor Company.«
»Ach, natürlich, das war eine der besten Motorenfabriken in meiner Jugend, vielleicht sogar die beste. Ich
erinnere mich dunkel, daß sie unter irgendwelchen merkwürdigen Umständen in Konkurs gegangen ist… Ich
kann aber nicht mehr genau sagen, was es war.«
Drei Tage mußten sie danach suchen, aber dann fanden sie die seit langem nicht mehr benutzte Straße, und
jetzt fuhren sie durch ein Meer goldener Blätter, die wie Goldmünzen funkelten, zur Twentieth Century Motor
Company.
»Hank, was soll werden, wenn Ted Nielsen etwas geschieht?« fragte sie unvermittelt.
»Warum sollte ihm etwas geschehen?«
»Ich weiß nicht, aber… denke doch an Dwight Sanders, der plötzlich verschwunden ist. Mit United
Locomotives ist es seitdem aus, und die anderen Firmen sind nicht imstande, Dieselloks herzustellen. Ich habe es
aufgegeben, auf Versprechungen zu hören, und… und was nützt eine Eisenbahn ohne Antrieb?«
»Was nützt überhaupt etwas ohne Antrieb?«
Die Blätter wehten leuchtend im Wind. Sie breiteten sich meilenweit vom Gras zu den Büschen und Bäumen
aus, mit der Bewegung und allen Farben des Feuers; sie schienen in unberührtem Überfluß eine vollbrachte Tat
zu feiern.
Rearden lächelte. »Es ist schon etwas an der Wildnis. Ich fange an, sie zu lieben. Neuland, das niemand
entdeckt hat.« Dagny nickte glücklich.
»Es ist guter Boden – sieh nur, wie alles wächst. Ich würde das Land roden und eine Fabrik…«
Aber plötzlich hörten sie auf zu lächeln. Das, was sie im Grase am Straßenrand sahen, war ein verrosteter
Zylinder mit Glasscherben – die Überbleibsel einer Tankstelle. Das verkohlte Gestänge, der Betonboden und die
funkelnden Glassplitter – all das, was eine Tankstelle gewesen war, war vom Unkraut überwuchert, und man
nahm es nur wahr, wenn man genau hinsah.
Sie blickten weg. Sie fuhren weiter. Sie wollten nicht wissen, was sich sonst noch unter dem sich meilenweit
erstreckenden Unkraut verbarg. Sie stellten sich beide stumm die gleiche bedrückende Frage, wieviel anderes das
Unkraut noch verschluckt haben mochte.
Die Straße endete jäh hinter einer Bergkehre. Nur noch ein paar Betonstücke ragten aus dem Schmutz heraus.
Der Beton war von jemand herausgehauen und weggefahren worden. Nicht einmal Unkraut konnte auf dem
übriggebliebenen Erdstreifen wachsen. Auf dem Gipfel eines fernen Berges reckte sich wie ein Kreuz über
einem riesigen Grab eine einsame Telegraphenstange schräg gegen den Himmel.
Es kostete sie drei Stunden und einen geplatzten Reifen, um im ersten Gang durch unwegsames Gelände,
durch Gräben und von Karrenrädern hinterlassene Spuren zu dem Ort im Tal hinter dem Berg mit der
Telegraphenstange zu gelangen.
Ein paar Häuser standen noch in dem Skelett dessen, was einst eine Industriestadt gewesen war. Alles, was
sich bewegen konnte, war weg, aber ein paar Menschen waren noch geblieben. Die leeren Häuser waren
senkrechte Schutthaufen. Sie waren nicht von der Zeit, sondern von den Menschen zerstört worden: Bretter
waren herausgerissen, Dachziegel entfernt, und die Keller waren nur noch leere Löcher. Sie sahen aus, als ob
Hände sich blind all dessen bemächtigt hätten, was man gerade brauchte, ohne darüber nachzudenken, was am
nächsten Morgen noch vorhanden sein würde. Die bewohnten Häuser lagen zwischen den Ruinen verstreut, der
Rauch ihrer Schornsteine war die einzige sichtbare Bewegung in der toten Stadt. Ein Betongerippe, das einst eine
Schule gewesen war, ragte am Rande des Ortes auf. Mit den leeren Fensterhöhlen und den zerrissenen Drähten,
die wie Haarsträhnen darüberhingen, sah es wie ein Totenschädel aus.
Hinter der Stadt auf einem fernen Berg stand die Twentieth Century Motor Company. Ihre Mauern, Dächer
und Schornsteine wirkten undurchdringlich wie eine Festung. Man hätte glauben können, sie sei noch intakt, bis
auf den umgekippten, silbrig glänzenden Wassertank.
In dem Gewirr von Wald und Bergen sahen sie keine Spur einer zu der Fabrik führenden Straße. Sie fuhren
bis zur Tür des ersten Hauses. Über dem Haus stieg eine dünne Rauchsäule auf. Die Tür stand offen. Auf das
Brummen des Motors hin kam eine alte Frau herausgeschlurft. Sie war gebeugt und ungewöhnlich dick, barfuß,
und ihr Kleid war aus Mehlsäcken genäht. Ohne Erstaunen und ohne Neugier blickte sie auf den Wagen; es war
der tote Blick eines Menschen, der nur noch Erschöpfung fühlt.
»Können Sie mir den Weg zu der Fabrik sagen?« fragte Rearden.
Die Frau antwortete nicht sofort, als hätte sie nicht verstanden. Dann fragte sie: »Welche Fabrik?«
»Die dort«, sagte Rearden.
»Die ist geschlossen.«
»Ich weiß, daß sie geschlossen ist. Aber gibt es einen Weg, auf dem man dorthin gelangen kann?«
»Ich weiß es nicht.«
»Gibt es überhaupt eine Straße?«
»In den Wäldern sind Straßen.«
»Auch eine, auf der ein Auto fahren kann?«
»Vielleicht.«
»Nun, welche Straße nimmt man am besten?«
»Ich weiß es nicht.«
Durch die offene Tür konnten sie in das Innere des Hauses blicken. Ein nutzloser Gasofen stand dort, der jetzt
als Kommode diente und alle möglichen Lumpen enthielt. In einer Ecke stand ein aus Stein gebauter Ofen, in
dem ein paar Holzscheite unter einem alten Kessel brannten, und lange Rußstreifen zogen sich an der Wand
hinauf. An den Beinen eines Tisches lehnte etwas Weißes. Es war ein Porzellanwaschbecken, das man aus der
Wand irgendeines Badezimmers herausgerissen hatte. Es war mit welken Kohlblättern gefüllt. In einer Flasche
auf dem Tisch steckte eine Talgkerze. Der Fußboden hatte keinerlei Farbe mehr. Die Dielen waren zu einem
feuchten Grau geschrubbt, das wie der sichtbare Ausdruck des Schmerzes in den Knochen der Person war, die
sich gebückt und geschrubbt und den Kampf gegen den in das Holz eingedrungenen Schmutz verloren hatte.
Eine Schar zerlumpter Gören war stumm hinter der Frau an der Tür aufgetaucht. Sie musterten den Wagen
nicht mit der wachen Neugier von Kindern, sondern mit der Spannung von Wilden, die sich auf das erste
Anzeichen einer Gefahr hin eiligst verkriechen.
»Wie viele Meilen sind es bis zu der Fabrik?« fragte Rearden.
»Zwei Meilen«, sagte die Frau und fügte hinzu: » Vielleicht auch fünf.«
»Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt?«
»Es gibt hier keine nächste Stadt.«
»Aber es gibt doch andere Städte. Ich meine, wie weit sind sie entfernt?«
»Ja, ja, irgendwo, weit weg.«
In dem freien Raum an der Seite des Hauses sahen sie verblichene Lumpen an einer Wäscheleine hängen, die
in Wirklichkeit ein Stück Telegraphendraht war.
Drei Hühner pickten zwischen den Beeten eines kümmerlichen Gemüsegartens; ein viertes saß auf einer
Stange, einem Stück Wasserrohr. Zwei Schweine sulten sich in Schmutz und Abfall; die quer durch den Matsch
gelegten Steine waren Betonbrocken von der Autostraße.
In der Ferne hörten sie einen kreischenden Laut und sahen einen Mann, der mit einem Eimer an einem Seil
Wasser aus einem Brunnen schöpfte. Sie beobachteten ihn, als er langsam die Straße herunterkam. Die beiden
Eimer, die er trug, schienen für seine dünnen Arme zu schwer. Sein Alter war nicht zu bestimmen. Er kam heran,
blieb stehen und beäugte den Wagen. Er sah die Fremden fragend an, dann blickte er argwöhnisch und
verstohlen weg.
Rearden zog eine Zehndollarnote heraus und reichte sie ihm, wobei er fragte: »Würden Sie uns bitte den Weg
zu der Fabrik sagen?«
Der Mann starrte das Geld gleichgültig und mürrisch an, ohne sich zu rühren, ohne die Hand danach
auszustrecken. Immer noch hielt er seine beiden Eimer. Wenn man je einen aller Gier baren Menschen sehen
wollte, dachte Dagny, dies war einer.
»Wir brauchen hier kein Geld«, sagte er.
»Arbeiten Sie nicht für Ihren Lebensunterhalt?«
»Doch.«
»Nun, was bekommen Sie dann anstelle von Geld?«
Der Mann stellte die Eimer ab, als ob ihm plötzlich bewußt geworden wäre, daß er sich nicht mit ihrer Last
abzuquälen brauchte. »Wir brauchen kein Geld«, sagte er, »wir treiben untereinander Tauschhandel.«
»Wie handeln Sie mit Leuten aus anderen Städten?«
»Wir gehen nicht in andere Städte.«
»Sie scheinen es hier nicht leicht zu haben.«
»Was geht Sie das an?«
»Nichts. Ich frage nur aus Neugier. Warum bleiben Sie hier?«
»Mein Vater hatte hier einst ein Lebensmittelgeschäft. Aber dann ist die Fabrik geschlossen worden.«
»Warum sind Sie nicht weggezogen?«
»Wohin?«
»Irgendwohin.«
»Wozu?«
Dagny blickte auf die beiden Eimer. Es waren viereckige Blechgefäße mit Henkeln aus Stricken, ehemalige
Ölkanister.
»Hören Sie«, sagte Rearden, »können Sie uns sagen, ob es eine Straße zu der Fabrik gibt?«
»Da gibt es eine Menge von Straßen.«
»Ist eine darunter, auf der ein Wagen fahren kann?«
»Vermutlich.«
»Welche?«
Der Mann dachte ein paar Augenblicke lang ernst über das Problem nach. »Wenn Sie bei der Schule links
einbiegen«, sagte er, »und bis zu der knorrigen Eiche weiterfahren, dann kommen Sie auf eine Straße, die gut ist,
wenn es ein paar Wochen lang nicht geregnet hat.«
»Wann hat es zum letzten Mal geregnet?«
»Gestern.«
»Gibt es noch eine andere Straße?«
»Nun, Sie könnten auch über Hansens Weide und durch den Wald fahren, dann kommen Sie auf eine gute,
feste Straße, die zum Fluß hinunterführt.«
»Gibt es eine Brücke über den Fluß?«
»Nein.«
»Und welches sind die anderen Straßen?«
»Wenn Sie eine Autostraße suchen, da ist eine jenseits von Millers Feld. Sie ist gepflastert und die beste für
einen Wagen. Sie brauchen nur bei der Schule rechts einzubiegen und…«
»Aber die Straße führt doch nicht zu der Fabrik?«
»Nein, nicht zu der Fabrik.«
»Na schön«, sagte Rearden, »wir werden schon irgendwie hingelangen.«
Er hatte auf den Starter gedrückt, als ein Stein gegen die Windschutzscheibe flog. Das Glas war zwar
bruchsicher, aber nach allen Richtungen strahlten kleine Sprünge aus. Sie sahen einen in Lumpen gekleideten
Bengel laut lachend hinter einer Ecke verschwinden, und sie hörten Kinder hinter Fenstern und Mauerrissen
schrill in das Gelächter einstimmen.
Rearden unterdrückte einen Fluch. Der Mann bückte gleichgültig über die Straße und runzelte ein wenig die
Stirn. Die alte Frau machte ein teilnahmsloses Gesicht. Sie hatte stumm dagestanden und alles ohne Interesse mit
angehört.
Dagny hatte sie ein paar Minuten lang prüfend betrachtet. Die Unförmigkeit ihres Körpers schien nicht durch
Alters oder Vernachlässigung bedingt zu sein. Die Frau sah aus, als wäre sie schwanger. Das schien unmöglich.
Aber als Dagny ihr verstaubtes Haar genauer ansah, bemerkte sie, daß es nicht grau war und daß sie nur wenige
Falten im Gesicht hatte. Nur die leeren Augen, die herabfallenden Schultern und die schlurfenden Bewegungen
ließen sie greisenhaft erscheinen.
Dagny beugte sich aus dem Fenster und fragte: »Wie alt sind Sie?«
Die Frau warf ihr keinen gehässigen Blick zu, sondern sah sie an, als ob das eine sinnlose Frage wäre.
»Siebenunddreißig«, sagte sie dann.
Sie waren schon ein ganzes Stück weitergefahren, als Dagny sagte: »Hank, die Frau ist nur zwei Jahre älter
als ich.«
»Ja.«
»Gott, wie konnten die nur so verkommen?«
Er zuckte die Achseln. »Wer ist John Galt?«
Das letzte, was sie sahen, als sie die tote Stadt verließen, war ein Reklameschild. Auf der einst bunten,
abgeblätterten Fläche sah man noch die Umrisse einer Zeichnung: die Reklame für eine Waschmaschine.
Auf einem Feld in der Ferne sahen sie die durch übermenschliche Anstrengung häßlich verrenkte Gestalt
eines Mannes, der mit der Hand einen Pflug zog. Zwei Stunden später und mehrere Meilen weiter erreichten sie
die Twentieth Century Motor Company. Als sie den Berg hinauffuhren, erkannten sie, daß ihre Suche vergeblich
gewesen war. Am Haupttor hing ein verrostetes Schloß, aber die Scheiben der hohen Fenster waren zerbrochen,
und das Gelände stand jedem offen – Murmeltieren, Kaninchen und welken Blättern, die der Wind
hineingewirbelt hatte.
Die Fabrik war schon vor langer Zeit ausgeräumt worden. Die großen Maschinen hatte man ordnungsgemäß
abtransportiert. Im Betonfußboden sah man noch die Stellen, wo sie einst gestanden hatten. Das übrige war der
Raub zufälliger Plünderer geworden. Nur der Abfall war zurückgeblieben, den selbst der Bedürftigste für wertlos
gehalten hatte: Haufen von verrostetem, verbogenem alten Eisen, von Brettern, Gipsbrocken und Glasscherben –
und die Stahltreppen, die so stabil gebaut waren, daß sie alles überdauert hatten. In schwungvollen Spiralen
führten sie zum Dach hinauf.
Sie blieben in der großen Halle stehen, in die durch ein Loch in der Decke ein Sonnenstrahl schräg hereinfiel.
Das Echo ihrer Schritte hallte um sie herum und klang weit ab in langen Reihen leerer Räume aus. Ein Vogel
spähte zwischen den Stahlstreben zu ihnen hinunter, breitete dann die Flügel aus und flog davon.
»Es ist wohl besser, wir sehen sie uns für alle Fälle genau an«, sagte Dagny. »Du übernimmst die Werkräume
und ich das übrige. Wir wollen es so schnell wie möglich hinter uns bringen.«
»Ich lasse dich nicht gern allein hier herumwandern. Ich weiß nicht, ob die Böden oder Treppen noch sicher
sind.«
»Ach, Unsinn. Ich finde meinen Weg in einer Fabrik und in einem Trümmerhaufen. Wir machen, daß wir
fertig werden.«
Als Dagny durch die stummen Höfe ging, über denen noch Stahlbrücken hingen, die perfekte geometrische
Linien in den Himmel zeichneten, war ihr einziger Wunsch, von allem gar nichts zu sehen; dennoch zwang sie
sich, überall hinzusehen. Es war, als müßte sie eine Autopsie am Leichnam eines geliebten Menschen
durchführen. Ihr Blick ging hin und her wie ein automatischer Scheinwerfer. Sie ging schnell. Sie wollte sich
nirgends aufhalten.
In einem Raum blieb sie dennoch stehen. Ein Drahtgewirr hemmte ihren Schritt. Der Draht ragte aus einem
Schutthaufen heraus. Sie hatte nie ein so seltsames Drahtgebilde gesehen. Trotzdem erschien es ihr vertraut, als
ob es an eine ferne, verblaßte Erinnerung rührte. Sie griff nach dem Draht, konnte ihn aber nicht bewegen: Er
schien zu einem in dem Haufen begrabenen Gegenstand zu gehören.
Nach dem, was sie an den Wänden noch sah, war der Raum einmal ein Versuchslaboratorium gewesen. Das
jedenfalls dachte sie sofort beim Anblick der großen Zahl von Steckdosen, Kabelenden, Leitungen,
Glasröhrchen, eingebauten Schränken ohne Fächer oder Türen. Der Schutthaufen bestand aus Glasscherben,
Gummi, Kunststoff, Metall und dunkelgrauen Schiefersplittern, die eine Wandtafel gewesen waren. Über den
ganzen Boden waren knisternde Papierfetzen verstreut. Aber auch Dinge, die nicht hierhergehörten,
Puffmaistüten, eine Whiskyflasche und ein Sexheft, lagen herum. Sie versuchte, den Draht aus dem Haufen
herauszuziehen. Aber er rührte sich nicht. Sie kniete nieder und begann mit Händen in dem Schutt zu wühlen.
Als sie sich erhob, um den Gegenstand zu betrachten, den sie freigelegt hatte, waren ihre Hände aufgeschürft,
und sie war von oben bis unten mit Staub bedeckt. Sie hatte die Reste eines Motormodells vor sich. Das meiste
daran fehlte, aber es war doch noch so viel davon übrig, daß man sich eine Vorstellung von seiner einstigen
Form und seinem einstigen Zweck machen konnte.
Sie hatte nie einen Motor dieser Art oder etwas ihm Ähnliches gesehen und konnte den besonderen Zweck der
verschiedenen Teile und deren Funktionen nicht verstehen.
Sie untersuchte die beschmutzten Röhren und seltsam geformten Verbindungsstücke. Sie versuchte ihren
Zweck zu erraten. In Gedanken stellte sie sich jeden ihr bekannten Motor vor und jede mögliche Art von Arbeit,
die dessen Teile leisten konnten. Aber nichts entsprach diesem Modell. Er sah wie ein Generator aus, aber sie
konnte nicht sagen, welcher Brennstoff ihn antreiben sollte. Er war weder für Dampf noch Öl oder etwas
anderes, das sie kannte, bestimmt.
Wie von einem Magneten angezogen, kniete sie plötzlich wieder nieder, kroch über das Gerümpel, ergriff
jedes Stück Papier, das ihr in die Hände kam, warf es weg und suchte weiter. Ihre Hände zitterten.
Sie fand etwas von dem, was sie zu finden gehofft hatte. Es war ein dünnes Bündel zusammengeknüllter, mit
Schreibmaschine beschriebener Blätter: die Überreste eines Manuskripts. Anfang und Ende fehlten; die mit einer
Klammer zusammengehaltenen Blätter zeigten, wie umfangreich es einmal gewesen war. Das Papier war
vergilbt und mürbe. Das Manuskript war eine Beschreibung des Motors.
Aus dem leeren Raum hörte Rearden sie rufen: »Hank!« Es klang wie ein Entsetzensschrei.
Hank rannte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Er fand Dagny mit blutenden Händen,
zerrissenen Strümpfen und staubbedecktem Kostüm, ein Bündel Papiere in die Hand gepreßt, mitten in einem
Raum stehend.
»Hank, wofür hältst du das?« fragte sie und deutete auf einen grotesk verbogenen Gegenstand zu ihren Füßen.
Ihre Stimme klang wie die eines Menschen, der einen jähen Schock erlebt hat und sich noch nicht wieder in der
Wirklichkeit zurechtfindet. »Wofür hältst du das?«
»Bist du verletzt? Was ist geschehen?«
»Nein! – Ach, das spielt keine Rolle. Sieh mich nicht an. Mir ist nicht das geringste geschehen. Sieh dir das
an! Weißt du, was das ist?«
»Was hast du denn bloß gemacht?«
»Ich habe das da herausgewühlt, weiter nichts.«
»Aber du zitterst ja.«
»Du wirst auch gleich zittern. Hank, sieh dir das an! Sieh es dir an, und sag mir, wofür du es hältst.«
Er sah hinunter, sah genauer hin, setzte sich dann auf den Boden und prüfte den Gegenstand eingehend. »Es
ist ein merkwürdig zusammengesetzter Motor«, sagte er stirnrunzelnd.
»Lies das«, sagte sie und reichte ihm die Blätter.
Er las, sah auf und sagte: »Großer Gott!«
Sie hockte auf dem Fußboden neben ihm, und einen Augenblick lang konnten sie beide nichts anderes sagen.
»Es war der Draht«, sagte sie. Es war ihr, als ob ihr Geist dahinraste, als ob sie nicht alles fassen könnte, was
sie da plötzlich entdeckt hatte. Stammelnd sagte sie: »Zuerst habe ich den Draht bemerkt – weil ich vor Jahren,
als ich noch auf dem College war, ein ähnliches Modell gesehen habe. Es war in einem alten Buch, aber man
hatte es längst, längst wieder ad acta gelegt. Doch mir machte es Freude, alles über Eisenbahnmotoren zu lesen,
was ich in die Hände bekam. In dem Buch stand, sie hätten sich vor langer Zeit damit beschäftigt. Sie hätten
daran gearbeitet, jahrelang experimentiert, aber das Problem nicht lösen können. Sie hätten es darum wieder
aufgegeben. Viele Generationen hindurch dachte niemand mehr daran. Ich hätte nicht geglaubt, daß ein lebender
Wissenschaftler jetzt noch daran denken könnte. Aber jemand hat es getan, jemand hat das Problem gelöst, jetzt,
heute! Hank, verstehst du? Sie versuchten damals, einen Motor zu entwickeln, der statische Elektrizität aus der
Atmosphäre ziehen, sie umformen und dadurch Strom erzeugen sollte. Es gelang ihnen nicht. Sie gaben auf.« Sie
deutete auf das zerstörte Modell. »Aber da ist er!«
Hank nickte. Er lächelte nicht. Er starrte auf die Reste des Motors und hing einem Gedanken nach; es schien
kein glücklicher Gedanke zu sein.
»Hank! Verstehst du, was das bedeutet? Es ist die größte Revolution seit dem Verbrennungsmotor – eine noch
größere, als er es war. Es fegt alles weg und macht alles möglich. Was scheren uns noch Dwight Sanders und die
alle! Wer wird sich noch um einen Diesel bemühen! Wer wird sich noch Sorgen wegen Öl, Kohle oder
Tankstellen machen! Siehst du, was ich sehe? Eine funkelnagelneue Lokomotive, die halb so groß ist wie ein
einziger Dieselmotor, aber die zehnfache Zugkraft hat. Ein Generator, der mit ein paar Tropfen Brennstoff
arbeitet und dessen Leistungspotential unbegrenzt ist. Das sauberste, schnellste, billigste Antriebssystem, das je
erfunden wurde. Verstehst du, was das in etwa einem Jahr für unser Bahnnetz und das Land bedeuten wird?«
Ohne einen Funken von Begeisterung sagte Hank leise: »Wer hat das entworfen? Warum ist das
hiergeblieben?«
»Wir werden es herausbekommen.«
Er wog die Blätter nachdenklich in seiner Hand. »Dagny«, fragte er, »wenn du den Mann nicht ausfindig
machen kannst, der das geschaffen hat, könntest du dann diesen Motor an Hand dessen, was von ihm noch übrig
ist, rekonstruieren?«
Sie schwieg lange. Dann sagte sie gedämpft: »Nein.«
»Niemand wird es können. Er hat es geschafft. Der Motor hat, nach dem zu urteilen, was hier geschrieben
steht, funktioniert. Er ist das Größte, was mir je vor Augen gekommen ist. Aber was nützt uns das? Wir können
ihn nicht wieder in Gang bringen. Das ersetzen, was fehlt, kann nur ein Geist, der so groß ist wie der seines
Erfinders.«
»Ich werde ihn finden – und wenn ich alles andere darüber im Stich lassen muß.«
»Falls er noch lebt!«
Dagny hörte den Zweifel in seiner Stimme. »Warum sagst du das in so einem Ton?«
»Ich glaube nicht, daß er noch lebt. Würde er, wenn er noch lebte, eine solche Erfindung in einem
Schutthaufen verrosten lassen? Würde er eine Leistung von dieser Größe im Stich lassen? Wenn er noch lebte,
würde es schon seit Jahren Lokomotiven mit solchen Generatoren geben. Und du würdest ihn nicht erst zu
suchen brauchen, denn die ganze Welt würde längst seinen Namen kennen.«
»Ich glaube nicht, daß dieses Modell schon sehr alt ist.«
Er sah auf das Manuskript und auf den verrosteten Motor. »Etwa zehn Jahre, nehme ich an. Vielleicht ein
wenig älter.«
»Wir müssen ihn finden oder jemand, der ihn kennt. Das ist wichtiger…«
»… als alles, was irgend jemand heute besitzt oder herstellt. Ich glaube nicht, daß wir ihn finden werden. Und
wenn wir ihn nicht finden: Niemand wird seine Leistung wiederholen können. Niemand wird seinen Motor neu
bauen. Es ist nicht genug davon übriggeblieben. Es ist nur ein Fingerzeig, ein unschätzbarer Fingerzeig, aber ihn
neu schaffen könnte nur ein Geist, wie er nur einmal in einem Jahrhundert geboren wird. Kannst du dir
vorstellen, daß sich unsere heutigen Motorenkonstrukteure daran versuchen?«
»Nein.«
»Es gibt keinen einzigen erstklassigen Motorenkonstrukteur mehr. Seit Jahren hat es keine neuen Ideen für
Motoren gegeben. Das ist ein Beruf, der auszusterben scheint – oder schon ausgestorben ist.«
»Hank, ist dir klar, was dieser Motor bedeutet hätte, wenn er gebaut worden wäre?«
Er lachte kurz auf. »Ich würde sagen: Jeder Mensch in diesem Lande würde zehn Jahre länger leben – wenn
du bedenkst, wie vieles sich leichter und billiger erzeugen ließe, wie viele Stunden menschlicher Arbeit für
anderes Tun frei würden und wieviel mehr jeder mit seiner Arbeit verdienen könnte. Lokomotiven? Wie wäre es
mit Autos, Schiffen und Flugzeugen mit einem solchen Motor? Und Traktoren und Elektrizitätswerken? Sie
würden alle über einen unbegrenzten Vorrat an Strom verfügen, brauchten keinen Brennstoff zu bezahlen,
brauchten nur ein paar Cent auszugeben, um den Wandler in Gang zu halten. Dieser Motor hätte das ganze Land
mit Strom versorgen können. Er hätte elektrisches Licht in jede Höhle gebracht, selbst in die der Leute, die wir
in dem Tal dort unten gesehen haben.«
»Er hätte es? Er wird es! Ich werde den Mann ausfindig machen, der dies geschaffen hat.«
»Versuch es.«
Er erhob sich plötzlich, blickte aber noch einmal auf die Reste des Motors hinunter und sagte mit einem
Lachen, das nicht fröhlich klang: »Das war der Motor für die John-Galt-Linie.«
Dann sprach er im sachlich-kühlen Ton eines Fabrikleiters. »Zuerst werden wir versuchen, ob wir das
Personalbüro hier finden. Wir werden sehen, ob noch Akten vorhanden sind. Wir brauchen die Namen des
Forschungsstabes und der Ingenieure. Ich weiß nicht, wem diese Ruine jetzt gehört, und nehme an, die
Eigentümer werden schwer ausfindig zu machen sein, sonst hätten sie es nicht so weit kommen lassen. Dann
werden wir uns jeden Raum im Laboratorium vornehmen. Später werden wir ein paar Ingenieure herfliegen und
alles, was hier herumliegt, durchkämmen lassen.«
Sie gingen hinaus, aber Dagny blieb einen Augenblick lang auf der Schwelle stehen. »Hank, dieser Motor war
das Wertvollste in dieser Fabrik«, sagte sie leise. »Er war mehr wert als die ganze Fabrik und alles, was sie je
enthalten hat. Und doch hat man ihn in all dem Abfall zurückgelassen. Er war das einzige, was niemand
mitnehmen wollte.«
»Gerade das erschreckt mich so«, antwortete er.
Im Personalbüro brauchten sie sich nicht lange aufzuhalten. Sie fanden es durch das Schild, das noch an der
Tür hing, aber das Schild war alles, was davon übrig geblieben war. Kein Möbelstück, keine Papiere, nur die
Scherben der zerbrochenen Fensterscheiben.
Sie gingen in den Raum zurück, in dem sie den Motor entdeckt hatten. Auf Händen und Knien kriechend
untersuchten sie den ganzen Abfall auf dem Boden. Es war nicht viel darin zu finden. Sie legten die Papiere
beiseite, die Labornotizen zu enthalten schienen. Aber keines davon bezog sich auf den Motor. Und es war keine
Seite aus dem Manuskript darunter. Die Popcorntüten und die Whiskyflasche sagten deutlich genug, was für
Horden hier eingedrungen waren. Sie hatten den Raum wie Wogen überrollt, von denen die zerstörten Reste in
unbekannte Tiefen gespült worden waren.
Sie legten ein paar Metallstücke beiseite, die zu dem Motor gehört haben mochten. Der Motor selbst sah aus,
als ob Teile aus ihm herausgebrochen wären, vielleicht von jemand, der glaubte, sie verwenden zu können. Der
Rest war zu ungewöhnlich, um jemand zu interessieren.
Auf schmerzenden Knien, die Hände flach auf dem schmutzigen Boden, spürte Dagny, wie sie innerlich vor
Ärger zitterte, vor dem bedrückenden, hilflosen Ärger, den man beim Anblick einer Entweihung empfindet. Sie
fragte sich, ob Windeln an einer Wäscheleine aus den fehlenden Drähten des Motors hingen – ob aus seinen
Rädern ein Flaschenzug für einen öffentlichen Brunnen geworden war – ob sein Zylinder jetzt ein Topf war, in
dem eine Geranie auf der Fensterbank der Geliebten des Mannes mit der Whiskyflasche stand.
Auf dem Berg lag noch ein Lichtschein, aber ein blauer Nebel stieg aus den Tälern auf, und rotgoldene Blätter
hoben sich von dem im Sonnenuntergang glühenden Himmel ab.
Es war schon dunkel, als sie ihre Suche beendeten. Dagny stand auf und lehnte sich gegen den leeren Rahmen
des Fensters, um die Abendkühle im Gesicht zu spüren. Der Himmel war dunkelblau. »Er hätte das ganze Land
mit Strom versorgen können.« Sie ließ ihren Blick von dem Motor in das Land hinaus schweifen. Sie stöhnte in
jähem Erschauern, und der Kopf sank ihr auf den Arm, mit dem sie sich an den Fensterrahmen lehnte.
»Was hast du?« fragte Hank.
Sie gab keine Antwort.
Er sah hinaus. Tief unten im Tal zuckten im dichter werdenden Dunkel ein paar blasse Lichtpunkte:
brennende Talgkerzen.

X. Wyatts Fackel

»Gott erbarme sich«, sagte der Angestellte des Grundbuchamtes. »Kein Mensch weiß, wem diese Fabrik jetzt
gehört. Und wahrscheinlich wird es auch nie jemand herausbekommen. Es ist eine unlösbare Frage.«
Der Angestellte saß an einem Schreibtisch in einem Büro im Erdgeschoß, wo mit einer dicken Staubschicht
bedeckte Akten lagen; hierher kam kaum je ein Besucher. Er blickte auf das funkelnde Auto, das draußen vor
dem Fenster auf dem schmutzigen Platz parkte, dem einstigen Mittelpunkt einer blühenden Kreisstadt, und sah
dann seine beiden unbekannten Besucher mit leiser, sehnsüchtiger Verwunderung an.
»Warum?« fragte Dagny.
Er deutete hilflos auf die vielen Papiere, die er aus den Ordnern herausgenommen hatte. »Das Gericht wird
entscheiden müssen, wem die Fabrik gehört, aber ich glaube, kein Gericht wird das fertigbringen. Wenn sich
überhaupt ein Gericht damit befassen wird. Ich glaube das aber kaum.«
»Warum? Was ist geschehen?«
»Die Twentieth Century Motor Company ist zweimal verkauft worden, zur gleichen Zeit an zwei
verschiedene Gruppen. Das war vor zwei Jahren ein großer Skandal, und nun« – er deutete auf die Papiere –
»liegt all das Zeug hier herum und wartet auf eine gerichtliche Entscheidung. Ich kann mir nicht vorstellen, wie
ein Richter die ganzen Besitzrechte entwirren oder überhaupt eine klare Rechtslage herstellen soll.«
»Würden Sie mir bitte sagen, was passiert ist?«
»Nun, der letzte legale Eigentümer der Fabrik war The People’s Mortgage Company in Rome, Wisconsin.
Das ist die Stadt, die auf der anderen Seite der Fabrik, achtzig Meilen weit nördlich, liegt. Das war eine Firma,
die mit großem Tamtam riesige Reklame für unbürokratische Kredite machte. Mark Yonts war ihr Leiter.
Niemand weiß, woher er kam und wo er jetzt ist. Aber am Morgen, nachdem The People’s Mortgage Company
zusammengebrochen war, entdeckte man, daß Mark Yonts die Twentieth Century Motor Company an
irgendwelche Schwachköpfe in South Dakota verkauft und sie gleichzeitig als Sicherheit für eine Anleihe einer
Bank in Illinois übereignet hatte. Und als man die Fabrik in Augenschein nahm, stellte sich heraus, daß er alle
Maschinen abtransportiert und einzeln verkauft hatte. Gott allein weiß, wohin und an wen. So scheint die Fabrik
jedem und niemand zu gehören. Die Sache sieht im Augenblick so aus: Die Leute aus South Dakota und die
Bank und der Anwalt der Gläubiger der Mortgage Company haben sich alle gegenseitig verklagt, erheben alle
Anspruch auf die Fabrik, und niemand darf in ihr ein Rad bewegen – was ohnehin schwer fallen dürfte, da es
dort keine Räder mehr gibt.«
»Hat Mark Yonts die Fabrik in Betrieb genommen, bevor er sie verkaufte?«
»O Gott, nein. Der hat nie einen Finger krummgemacht. Er wollte kein Geld machen. Er wollte es nur haben.
Und wahrscheinlich hat er auch mehr aus der Fabrik herausgeholt, als es irgend jemand sonst fertiggebracht
hätte.«
Der Angestellte fragte sich, warum der blonde Mann mit dem harten Gesicht, der neben der Dame ihm
gegenübersaß, grimmig durch das Fenster auf den Wagen und einen in Segeltuch gewickelten und
festverschnürten Gegenstand blickte, der unter dem hochgestellten Deckel des Kofferraums stand. »Wo sind die
Akten der Firma geblieben?«
»Welche meinen Sie?«
»Die Produktionsberichte, die Arbeitsberichte, die Personalakten.«
»Davon ist natürlich nichts mehr da. Die Fabrik ist immer wieder geplündert worden. All die verschiedenen
Besitzer haben an Möbeln oder sonstigem herausgeholt, was sie konnten, selbst nachdem der Richter ein Schloß
an der Tür hatte anbringen lassen. Die Papiere sind wie alles ähnliche Zeug von den Leuten in Starnesville – das
ist der Ort unten im Tal – weggeholt worden. Die haben es augenblicklich sehr schwer. Sie haben es sicher als
Brennmaterial benutzt.«
»Ist hier noch jemand, der in der Fabrik gearbeitet hat?« fragte Rearden.
»Nein, hier nicht. Die lebten alle unten in Starnesville.«
»Alle?« flüsterte Dagny, die an die Ruinen denken mußte. »Die Ingenieure auch?«
»Ja. Das war die Fabrikstadt. Sie sind alle längst weggezogen.«
»Erinnern Sie sich zufällig an die Namen irgendwelcher Leute, die in der Fabrik gearbeitet haben?«
»Nein.«
»Welcher Besitzer hatte die Fabrik zuletzt in Betrieb?« fragte Rearden.
»Das kann ich nicht sagen. Es hat da ein solches Durcheinander gegeben, und die Fabrik hat so oft den
Eigentümer gewechselt, seit der alte Jed Starnes tot ist. Der hat die Fabrik erbaut. Er hat diesen ganzen Teil des
Landes erst erschlossen. Er ist vor zwölf Jahren gestorben.«
»Können Sie uns die Namen aller bisherigen Besitzer nennen?«
»Nein. Vor etwa drei Jahren hat es im alten Gerichtsgebäude gebrannt, und dabei sind alle alten Akten ein
Raub der Flammen geworden. Ich weiß nicht, wo Sie sie jetzt aufspüren könnten.«
»Wissen Sie nicht, wieso dieser Mark Yonts die Fabrik erworben hat?«
»Ja, das weiß ich. Er hat sie von Bürgermeister Bascom in Rome gekauft. Wie der Bürgermeister an die
Fabrik gekommen ist, weiß ich allerdings nicht.«
»Wo wohnt Bürgermeister Bascom jetzt?«
»Immer noch in Rome.«
»Ich danke Ihnen sehr«, sagte Rearden und erhob sich. »Wir werden ihn aufsuchen.«
Als sie schon an der Tür waren, fragte der Angestellte: »Was suchen Sie eigentlich?«
»Wir suchen einen Freund«, sagte Rearden. »Einen Freund, der in dieser Fabrik gearbeitet hat und den wir aus
den Augen verloren haben.«
Bascom, der Bürgermeister von Rome in Wisconsin, lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seine Brust und sein
Bauch bildeten unter seinem schmutzigen Hemd die Form einer Birne. Die staubige, heiße Luft lastete schwer
auf der Veranda seines Hauses. Er hob den Arm, und an einem Finger seiner Hand fiel ein Ring mit einem
großen, billigen Topas auf.
»Es hat keinen Zweck, Lady, absolut keinen Zweck«, sagte er. »Sie verschwenden nur Ihre Zeit, wenn Sie
versuchen, die Leute ringsherum zu befragen. Von den Fabrikangestellten ist niemand mehr da und ebenso
niemand, der sich genauer an sie erinnern könnte. Es sind so viele Familien weggezogen, und die, die
hiergeblieben sind, taugen überhaupt nichts, womit ich sagen will, daß ich der Bürgermeister einer Gemeinde
von Lumpen bin.«
Er hatte seinen beiden Besuchern Stühle angeboten, aber es war ihm gleichgültig, daß die Frau es vorzog, am
Geländer der Veranda stehen zu bleiben. Er lehnte sich zurück und musterte ihre schlanke Figur. Erstklassige
Ware, dachte er, aber kein Wunder, der Mann war offensichtlich reich.
Dagny blickte auf die Straße von Rome. Dort waren Häuser, Bürgersteige, Laternenpfähle, sogar ein
Reklameschild für Limonade. Aber das Ganze wirkte so, als ob die Stadt sehr bald ebenso verfallen sein würde
wie Starnesville.
»Nein, von den Fabrikakten ist nichts mehr da«, sagte Bürgermeister Bascom. »Wenn Sie danach suchen,
geben Sie es auf. Genauso könnten Sie Blättern im Sturm nachjagen. Ja, Blättern im Sturm. Wer interessiert sich
für Papiere? In einer Zeit wie dieser heben die Leute nur gute, solide Dinge auf. Man muß pra ktisch sein.«
Durch die verstaubten Fenster konnte man in das Wohnzimmer seines Hauses sehen: Auf einem sich
wellenden Fußboden lagen Perserteppiche, an einer Wand, durch die der Regen der letzten Jahre gesickert war,
standen eine fahrbare Bar mit Chrombeschlägen und ein teurer Radioapparat mit einer alten Petroleumlampe
darauf.
»Gewiß, ich habe die Fabrik an Mark Yonts verkauft. Mark war ein netter Kerl, ein netter, lebhafter,
energischer Bursche. Er hat zwar ein paar Dummheiten gemacht, aber wer tut das nicht? Das hatte ich allerdings
nicht erwartet. Ich glaubte, er sei klug genug, nicht gegen die Gesetze zu verstoßen, das heißt, gegen das, was
davon heute noch übrig ist.«
Bürgermeister Bascom lächelte und blickte die beiden dabei gelassen und freimütig an. Seine Augen waren
schlau, aber nicht intelligent, sein Lächeln gutmütig, aber nicht freundlich.
»Ich glaube nicht, daß Sie Detektive sind, aber selbst wenn Sie es wären, würde mir das nichts ausmachen.
Ich habe von Marks Schwindel nicht profitiert. Er hat mich in seine Geschäfte nicht hineinblicken lassen, und ich
habe keine Ahnung, wo er jetzt ist.« Er seufzte. »Ich habe den Burschen gern gemocht. Ich wünschte, er wäre
hiergeblieben. Vergessen Sie die Sonntagsreden. Er mußte schließlich leben. Er war nicht schlimmer als
irgendein anderer, nur schlauer. Einige werden geschnappt und andere nicht. Das ist der einzige Unterschied. –
Nee, ich weiß nicht, was er vorhatte, als er die Fabrik kaufte. Klar, er hat mir ein bißchen mehr dafür bezahlt, als
die alte Budike wert war. Klar, er hat mir einen Gefallen erwiesen, als er sie kaufte. Nee, ich habe keinen Druck
auf ihn ausgeübt. Das war nicht notwendig. Ich hatte ihm früher ein paarmal einen Gefallen getan. Es gibt genug
Gesetze, die sozusagen aus Gummi sind, und ein Bürgermeister ist in der Lage, sie für einen Freund ein bißchen
zu dehnen. Was ist schon dabei? Das ist die einzige Art, auf die jemand in dieser Welt reich werden kann« – er
sah zu dem luxuriösen schwarzen Wagen hinüber-, »wie Sie wissen dürften.«
»Sie erzählten uns von der Fabrik«, sagte Rearden und mußte sich krampfhaft beherrschen.
»Was ich nicht leiden kann«, sagte Bürgermeister Bascom, »sind Leute, die von Grundsätzen reden. Von
einem Grundsatz ist noch niemand satt geworden. Das einzige, worauf es im Leben ankommt, sind solide
materielle Werte. Es ist keine Zeit für Theorien, wenn alles rings um uns zerfällt. Nun, ich – ich habe nicht die
Absicht unterzugehen. Sollen sie ihre Ideen haben! Ich habe die Fabrik gekauft. Ich will keine Ideen. Ich will nur
täglich meine drei satten Mahlzeiten.«
»Warum haben Sie die Fabrik gekauft?«
»Warum kauft jemand ein Geschäft? Um herauszupressen, was sich herauspressen läßt. Wenn sich mir eine
gute Chance bietet, ergreife ich sie. Es war ein Konkursverkauf, und niemand wollte etwas für den alten Plunder
bieten. Und so habe ich sie für ‘n Ei und ‘n Butterbrot bekommen. Ich habe sie aber auch nicht lange am Hals
gehabt. Mark hat sie mir nach zwei, drei Monaten abgekauft. Klar, es war ein gutes Geschäft, wenn ich so sagen
darf. Kein großer Industriekapitän hätte es besser machen können.«
»War die Fabrik in Betrieb, als Sie sie übernahmen?«
»Nein. Sie war geschlossen.«
»Haben Sie versucht, sie wieder zu eröffnen?«
»Nein, ich nicht. Ich bin ein praktischer Mensch.«
»Erinnern Sie sich an die Namen von Leuten, die dort gearbeitet haben?«
»Nein. Ich habe nie einen kennengelernt.«
»Haben Sie etwas aus der Fabrik wegtransportiert?«
»Ich will Ihnen was sagen. Ich habe mir alles angesehen – und was mir gefiel, war der Schreibtisch des alten
Jed – des alten Jed Starnes. Er war in seiner Zeit ein echt großes Tier. Ein wundervoller Schreibtisch, solides
Mahagoni. Den habe ich mir geholt. Und einer der Direktoren, ich weiß nicht, welcher, hatte in seinem
Badezimmer eine Duschkabine, wie ich sie noch nicht gesehen hatte. Eine Glastür, in die das Bild einer
Meerjungfrau eingeritzt war, ein wirkliches Kunstwerk, bei dem einem heiß werden kann, heißer als bei jedem
Ölgemälde. Darum habe ich die Dusche auch hierhergebracht. Schließlich gehörte mir ja die Fabrik. Ich war
berechtigt, mir da ein paar gute Sachen herauszuholen.«
»Wer hatte Konkurs gemacht, als Sie die Fabrik kauften?«
»Das war der große Zusammenbruch der Community National Bank in Madison. Junge, war das ein
Zusammenbruch! Der ganze Staat Wisconsin, mindestens dieser Teil davon, ist dabei draufgegangen. Manche
behaupten, die Motorenfabrik habe die Bank kaputtgemacht, aber andere sagen, es sei nur der letzte Tropfen in
einem lecken Eimer gewesen, denn die Community National hatte in drei oder vier Staaten völlig idiotische
Investitionen gemacht. Eugene Lawson war ihr Leiter. Den Bankier mit dem Herzen nannten sie ihn.«
»Hat Lawson die Fabrik in Betrieb genommen?«
»Nein. Er hat nur einen Riesenkredit dafür locker gemacht, viel mehr, als er hoffen konnte, je aus dem alten
Kasten herauszuholen. Als die Fabrik Pleite machte, war das der Anfang vom Ende für Gene Lawson. Die Bank
machte drei Monate später Pleite.« Er seufzte. »Und das war für die Leute hier auch ein harter Schlag. Sie hatten
dort all ihre Ersparnisse angelegt.« Bürgermeister Bascom blickte bedauernd über das Verandageländer hinweg
auf die Stadt. Er deutete mit dem Daumen auf eine Gestalt auf der anderen Seite der Straße: eine weißhaarige
Putzfrau, die mühsam auf den Knien hin und her rutschte und die zu einem Hause hinaufführende Treppe
schrubbte.
»Sehen Sie sich zum Beispiel die Frau an. Das waren solide, respektable Leute. Ihrem Mann gehörte das
Kurzwarengeschäft. Er arbeitete sein Leben lang, damit sie im Alter versorgt wäre. Und als er starb, war sie es
auch – nur hatte er alle Ersparnisse bei der Community National angelegt.«
»Wem gehörte die Fabrik, als sie Pleite machte?«
»Das war eine kurzlebige Aktiengesellschaft. Eine Seifenblase. Kam aus dem Nichts und verschwand wieder
im Nichts.«
»Wo sind ihre Teilhaber?«
»Wo sind die Stücke einer Seifenblase, wenn sie platzt? Sie können in den ganzen Vereinigten Staaten nach
ihnen suchen. Versuchen Sie’s nur!«
»Wo ist Eugene Lawson?«
»Ach der? Dem geht es gut. Der hat eine Stellung in Washington – im Büro für Wirtschaftsplanung und
Nationale Bodenschätze.«
Rearden stand zu schnell auf. Seine Wut riß ihn vom Stuhl. Dann sagte er beherrscht: »Ich danke Ihnen für die
Auskunft.«
»Bitte sehr«, sagte Bürgermeister Bascom. »Ich weiß nicht, was Sie eigentlich wollen, aber lassen Sie sich
von mir sagen, geben Sie’s auf! Aus der Fabrik ist nichts mehr rauszuholen.«
»Ich sagte Ihnen ja, daß wir einen Freund suchen.«
»Nun, meinetwegen. Muß ja ein sehr guter Freund sein, wenn Sie sich so viel Mühe machen, ihn zu finden,
Sie und die charmante Lady, die nicht Ihre Frau ist.«
Dagny sah, wie Reardens Gesicht kreideweiß wurde, so daß selbst seine Lippen alle Farbe verloren. »Halten
Sie Ihr schmutziges…«, begann er, aber sie trat zwischen die beiden.
»Warum glauben Sie, daß ich nicht seine Frau bin?« fragte sie ruhig.
Bürgermeister Bascom war über Reardens unerwartete Reaktion verblüfft. Er hatte die Bemerkung ohne
Bosheit gemacht – mehr wie ein Gauner, der seinem Komplizen zeigen will, wie gerissen er ist.
»Lady«, sagte er gutmütig, »ich habe eine Menge in meinem Leben gesehen. Eheleute sehen nicht so aus, als
würden sie ans Schlafzimmer denken, wenn sie sich angucken. In dieser Welt ist man entweder tugendhaft, oder
man genießt sein Leben. Beides zusammen geht nicht. Beides zusammen nicht.«
»Ich habe ihm eine Frage gestellt«, sagte sie zu Rearden, gerade noch rechtzeitig, um ihn am Sprechen zu
hindern. »Er hat mir eine aufschlußreiche Erklärung gegeben.«
»Wenn ich Ihnen einen Tip geben darf«, sagte Bürgermeister Bascom, »dann kaufen Sie sich irgendwo
Trauringe, und tragen Sie sie. Das ist zwar auch keine Garantie, aber es hilft.«
»Danke«, sagte sie. »Auf Wiedersehen.«
Die betont strenge Ruhe ihres Verhaltens war wie ein Befehl an Rearden, ihr stumm zum Wagen zu folgen.
Sie waren schon meilenweit hinter der Stadt, als er, ohne sie anzublicken, mit leiser, verzweifelter Stimme
sagte: »Dagny… es tut mir so leid.«
»Mir nicht.«
Ein paar Augenblicke später, als sie sah, daß er sich wieder in der Gewalt hatte, sagte sie: »Ärgere dich nie
über einen Mann, der die Wahrheit sagt.«
»Diese besondere Wahrheit ging ihn nichts an.«
»Daß er es so einschätzte, ging weder dich noch mich etwas an.«
Durch die Zähne sagte er, nicht als Antwort, sondern als ob der eine Gedanke, der sein Hirn marterte, sich
gegen seinen Willen in Worte verwandelte: »Ich konnte dich nicht vor diesem Lumpen schützen.«
»Ich brauche keinen Schutz.«
Er blieb stumm und sah sie nicht an.
»Hank, wenn du morgen oder in der nächsten Woche deine Wut überwunden hast, dann denke einmal über
die Erklärung dieses Mannes nach, und überlege, ob du sie nicht zum Teil anerkennen mußt.«
Er warf den Kopf zurück, um sie anzusehen, sagte aber nichts.
Erst lange danach sagte er müde und lässig: »Wir können New York nicht anrufen und unsere Ingenieure
herbeordern, damit sie die Fabrik durchsuchen. Wir können sie nicht hier treffen. Sie dürfen nicht wissen, daß
wir den Motor gemeinsam gefunden haben… Ich hatte das alles vergessen… dort… in dem Laboratorium.«
»Laß mich Eddie anrufen, wenn wir ein Telefon finden. Ich werde ihn bitten, zwei Taggart-Ingenieure zu
schicken. Ich bin für sie hier allein auf Urlaub.«
Sie mußten zweihundert Meilen weit fahren, bis sie ein Telefon fanden. Als sie Eddie Willers anrief, stöhnte
er: »Dagny, um Gottes willen, wo bist du?«
»In Wisconsin. Warum?«
»Ich wußte nicht, wo ich dich erreichen konnte. Es wäre besser, du würdest sofort zurückkommen. So schnell
du kannst.«
»Was ist los?«
»Noch nichts… aber es ist etwas im Gange, das… Mach am besten sofort was, wenn du es kannst, wenn es
überhaupt jemand kann.«
»Was ist im Gange?«
»Hast du keine Zeitungen gelesen?«
»Nein.«
»Ich kann es dir nicht am Telefon sagen. Du wirst denken, ich bin verrückt. Aber ich glaube, sie wollen
Colorado den Garaus machen.«
»Ich komme sofort zurück«, sagte sie.
In den Granitfelsen von Manhattan, unter dem Taggart Terminal, waren Tunnel eingehauen, die einst als
Abstellgleise benutzt worden waren, als zu jeder Stunde des Tages der Verkehrsstrom durch jede Ader des
Terminals rann. Aber je mehr der Verkehr im Laufe der Jahre geschrumpft war, desto weniger Raum hatte man
gebraucht, und die Nebentunnel waren gleichsam zu ausgetrockneten Flußbetten geworden. Über den allmählich
auf dem Boden verrostenden Schienen sah man nur noch ein paar blaue Lichtflecke auf dem Granit.
Dagny stellte die Reste des Motors in eine Stahlkammer in einem der Tunnel, die Stahlkammer hatte einmal
einen Hilfsgenerator enthalten, der aber schon vor langer Zeit weggeschafft worden war. Sie hatte kein
Vertrauen zu den nichtsnutzigen jungen Leuten des Taggart-Forschungsstabes. Es waren nur zwei begabte
Ingenieure unter ihnen, die ihre Entdeckung richtig einschätzen konnten. Sie hatte die beiden in ihr Geheimnis
eingeweiht und sie zu weiterer Suche in die Fabrik nach Wisconsin geschickt. Dann hatte sie den Motor so
versteckt, daß niemand etwas von seinem Vorhandensein erfahren konnte.
Als die Arbeiter den Motor in die Stahlkammer hinuntergetragen hatten und wieder gingen, war sie nahe
daran, ihnen zu folgen und die Stahltür abzuschließen, aber dann blieb sie mit dem Schlüssel in der Hand stehen,
als ob sie sich in der Stille und der Einsamkeit plötzlich wieder dem Problem gegenübersähe, das sie schon seit
Tagen beschäftigte, und als ob dies der Augenblick wäre, die Entscheidung zu treffen.
Dir Salonwagen wartete auf einem der Bahnsteige, an einen Zug angehängt, der in wenigen Minuten nach
Washington abfahren sollte. Sie hatte sich bei Eugene Lawson angemeldet, dann aber doch daran gedacht, die
Besprechung zu vertagen, falls ihr etwas einfiele, mit dem sie gegen das angehen konnte was sie bei ihrer
Rückkehr nach New York vorgefunden hatte; das, wogegen anzukämpfen Eddie sie gebeten hatte.
Sie hatte überlegt, wußte jedoch nicht, wie und nach welchen Kampfregeln und mit welchen Waffen sie
kämpfen sollte. Hilflosigkeit war ihr ganz neu. Es war ihr nie schwergefallen, den Dingen ins Auge zu sehen und
Entscheidungen zu fällen. Aber hier hatte sie es nicht mit etwas Greifbarem zu tun – es war wie ein formloser
Nebel, der sich immer wieder zu etwas zusammenballte und dann verschwand wie Klümpchen in einer
halbflüssigen Masse – es war, als ob sie mit den Augen nur noch zur Seite sehen könnte; als ob sie Anzeichen
einer Katastrophe auf sich zukommen fühlte, die Augen aber nicht darauf richten könnte.
Die Gewerkschaft der Lokomotivführer forderte die Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf der John-
Galt-Linie auf sechzig Meilen in der Stunde. Die Gewerkschaft der Zugführer und Schaffner forderte, daß kein
Güterzug auf der John-Galt-Linie mehr als sechzig Wagen haben dürfte.
Die Staaten Wyoming, New Mexiko, Utah und Arizona forderten eine zahlenmäßige Begrenzung der in
Colorado eingesetzten Züge auf die Höchstzahl der in jedem einzelnen dieser Nachbarstaaten eingesetzten Züge.
Eine von Orren Boyle angeführte Gruppe forderte ein Gesetz zum Schutz der Existenz, das die Herstellung
von Rearden Metal auf ein Maß einschränken sollte, das dem Ausstoß jedes anderen Stahlwerks von gleicher
Produktionskapazität entsprach.
Eine von Mr. Mowen angeführte Gruppe forderte ein Verteilungsgerechtigkeitsgesetz, damit jeder Kunde, der
Rearden Metal brauchte, die gleiche Menge erhielt.
Eine von Bertram Scudder angeführte Gruppe forderte ein Gesetz gegen die Freizügigkeit, das Firmen im
Osten verbot, ihren Standort in einen anderen Staat zu verlegen.
Wesley Mouch, der Spitzenkoordinator des Büros für Wirtschaftsplanung und Nationale Bodenschätze, gab
eine große Anzahl Erklärungen heraus, deren Inhalt und Zweck nicht klar waren, außer daß in jeder fünften Zeile
die Worte »Notstand« und »unausgeglichene Wirtschaft« erschienen.
»Dagny, mit welchem Recht tun sie das«, hatte Eddie Willers sie ruhig gefragt. Seine Stimme klang dennoch
wie ein Schrei. »Mit welchem Recht tun sie das? Mit welchem Recht?«
Sie war zu James Taggart gegangen und hatte gesagt: »Jim, dies ist dein Kampf. Ich habe meinen gekä mpft.
Du giltst ja als Experte im Umgang mit den Plünderern. Stopp sie!«
Ohne sie anzusehen, hatte Taggart geantwortet: »Du kannst nicht erwarten, daß sich die nationale Wirtschaft
nach deinen Wünschen richtet.«
»Das will ich auch gar nicht. Ich will, daß die Führer deiner nationalen Wirtschaft mich in Ruhe lassen. Ich
leite eine Eisenbahngesellschaft. Und ich weiß, was mit deiner nationalen Wirtschaft passiert, wenn meine
Eisenbahn zusammenbricht.«
»Ich sehe keinen Grund zur Panik.«
»Jim, muß ich dir erklären, daß die Einnahmen aus unser Rio -Norte-Linie das einzige sind, was uns vor dem
Zusammenbruch bewahrt? Daß wir jeden Cent, den uns die Fahrkarten und die Gütertransporte einbringen,
dringend brauchen?« Er hatte nicht geantwortet. »Wenn wir schon unsere alten Dieselloks einsetzen müssen und
wir nicht genug von ihnen haben, um in Colorado so viele Züge fahren zu lassen, wie dort gebraucht werden:
Was soll dann werden, wenn wir die Geschwindigkeit und die Länge der Züge begrenzen?«
»Man muß das auch vom Standpunkt der Gewerkschaften aus betrachten. Da so viele Strecken stillgelegt und
so viele Eisenbahner arbeitslos sind, halten sie die von dir festgesetzte Spitzengeschwindigkeit auf der Rio-
Norte-Linie für unfair. Sie meinen, daß dort statt dessen mehr Züge fahren sollten, damit sich die Arbeit verteilt.
Sie halten es nicht für gerecht, daß wir den ganzen Nutzen aus der Strecke ziehen. Sie wollen auch einen Anteil
daran haben.«
»Wer will einen Anteil daran haben? Für welche Gegenleistung?« Er hatte nicht geantwortet. »Wer wird die
Kosten für zwei Züge tragen, die die Arbeit von einem leisten?« Er hatte nicht geantwortet. »Woher willst du die
Wagen und Lokomotiven nehmen?« Er hatte nicht geantwortet. »Was werden diese Männer tun, wenn sie
Taggart Transcontinental vernichtet haben?«
»Ich bin fest entschlossen, die Interessen von Taggart Transcontinental zu schützen.«
»Wie?« Er hatte nicht geantwortet. »Wie – wenn du Colorado vernichtest?«
»Bevor wir daran denken, ein paar Leuten eine Chance zu geben, sich auszubreiten, sollten wir uns über die
Menschen Gedanken machen, die nichts weiter als eine Chance zum nackten Überleben brauchen.«
»Wenn du Colorado vernichtest, was bleibt dann deinen verdammten Plünderern zum Überleben übrig?«
»Du hast dich immer jeder fortschrittlichen sozialen Maßnahme widersetzt. Ich möchte dich daran erinnern,
daß du beim Abschluß des Abkommens gegen den Verdrängungswettbewerb eine Katastrophe vorausgesagt
hast. Aber die Katastrophe ist nicht eingetreten.«
»Weil ich euch gerettet habe, ihr verfluchten Idioten! Aber diesmal kann ich euch nicht retten.« Er hatte die
Achseln gezuckt, ohne sie anzusehen. »Und wenn ich es nicht kann, wer dann?« Er hatte nicht geantwortet.
Hier unten in dem Tunnel erschien ihr das alles unwirklich. Sie konnte sich an Jims Kampf nicht beteiligen.
Es gab nichts, was sie gegen die Männer mit den unklaren Gedanken, den nicht genannten Motiven, den nicht
ausgesprochenen Zielen, den nicht umschriebenen moralischen Vorstellungen unternehmen konnte. Es gab
nichts, was sie ihnen sagen konnte – nichts, auf das sie hören oder antworten würden. Was sind die Waffen,
dachte sie, wo die Vernunft keine Waffe mehr ist? Es war ein Bereich, zu dem sie keinen Zugang hatte. Sie
mußte es Jim überlassen und auf seinen Eigennutz zählen. Dunkel spürte sie, daß Eigennutz nicht Jims
Beweggrund war.
Sie blickte auf den Gegenstand vor ihr, einen Glaskasten, der die Reste des Motors enthielt. Der Mann, der
den Motor gebaut hat, dachte sie plötzlich. Wie ein Schrei der Verzweiflung kam dieser Gedanke über sie. Sie
fühlte einen Augenblick das hilflose Verlangen, ihn zu finden, sich an ihn zu lehnen und von ihm zu hören, was
sie tun sollte. Ein solcher Geist würde wissen, wie man diesen Kampf gewann.
Sie blickte um sich. In der klaren rationalen Welt der unterirdischen Tunnel war nichts so dringlich und
wichtig wie die Aufgabe, den Mann ausfindig zu machen, der den Motor gebaut hatte. Durfte sie diese Aufgabe
hinausschieben, um mit Orren Boyle zu streiten, um sich mit Mr. Mowen auseinanderzusetzen, um mit Bertram
Scudder zu verhandeln? Sie sah den fertigen Motor in eine Lokomotive eingebaut, die einen Zug von
zweihundert Wagen mit einer Geschwindigkeit von zweihundert Meilen in der Stunde auf Gleisen aus Rearden
Metal zog. Wenn diese Vision im Bereich des Möglichen lag, durfte sie dann die Suche aufgeben und ihre Zeit
damit verbringen, um sechzig Meilen und sechzig Wagen zu feilschen? Sie konnte sich nicht so weit erniedrigen,
ein Leben zu führen, in dem ihr Gehirn unter dem Druck des Zwangs bersten würde, sich der Unfähigkeit der
anderen anzugleichen. Sie konnte nicht nach dem Grundsatz handeln: Bremse, halte dich zurück, reduziere dein
Tempo, tu nicht dein Bestes es ist nicht erwünscht. Sie drehte sich entschlossen um und verließ die
Stahlkammer, um in den Zug nach Washington zu steigen. Als sie die Stahltür abschloß, glaubte sie das leise
Echo von Schritten zu hören. Sie blickte die dunkle Kurve des Tunnels hinauf und hinunter. Aber es war
niemand zu sehen. Nur eine Kette blauer Lichter glitzerte an den feuchten Granitmauern.
Rearden konnte nicht gegen die Cliquen kämpfen, die die Gesetze forderten. Er stand vor der Alternative: sie
zu bekämpfen oder sein Werk zu führen. Er bekam die ihm zustehenden Eisenerzlieferungen nicht mehr. Er
mußte sich für den einen oder den anderen Kampf entscheiden. Für beide war keine Zeit.
Bei seiner Rückkehr hatte er erfahren, daß eine zugesagte Erzlieferung nicht eingetroffen war. Larkin hatte
nichts von sich hören lassen. Als er in Reardens Büro bestellt wurde, erschien er erst drei Tage nach dem
vereinbarten Termin, ohne sich zu entschuldigen. Er wich Reardens Blick aus und sagte mit boshafter Würde:
»Du kannst einen schließlich nicht zu jeder Zeit, die dir beliebt, in dein Büro bestellen.«
Langsam und bedächtig antwortete Rearden: »Warum ist das Erz nicht geliefert worden?«
»Ich habe keine Lust, mich für etwas beschimpfen zu lassen, für das ich nichts kann. Ich kann ein
Erzbergwerk genauso gut leiten wie du. Ich habe alles getan, was du getan hast. Ich weiß nicht, warum immer
wieder unerwartet etwas schiefgeht. Man kann mir deswegen keinen Vorwurf machen.«
»Wem hast du im letzten Monat dein Erz geliefert?«
»Ich wollte dir deinen Anteil liefern. Ich war fest dazu entschlossen, aber was kann ich dafür, wenn wir im
letzten Monat infolge des anhaltenden Regens in ganz North Minnesota zehn Tage lang nichts fördern konnten.
Ich wollte dir das Erz liefern. Und du kannst mir darum keinen Vorwurf machen. Es war meine ehrliche
Absicht.«
»Wenn einer meiner Hochöfen ausgeht, kriege ich ihn dann mit deinen guten Absichten wieder in Gang?«
»Darum kann niemand mit dir umgehen oder sprechen – weil du unmenschlich bist.«
»Ich habe erfahren, daß du in den letzten drei Monaten dein Erz nicht mit Schiffen, sondern mit der Eisenbahn
befördert hast. Warum?«
»Ich kann schließlich meinen Betrieb so führen, wie ich es für richtig halte.«
»Warum willst du die Extrakosten zahlen?«
»Was kümmert dich das? Es geht nicht zu deinen Lasten.«
»Was wirst du tun, wenn dir klar wird, daß du die Eisenbahntarife nicht bezahlen kannst und daß du die
Schiffahrtslinie ruiniert hast?«
»Ich weiß, du kannst an nichts anderes denken als an Dollar und Cent. Aber manche Menschen denken an ihre
soziale und patriotische Verantwortung.«
»Was für eine Verantwortung?«
»Ich glaube, eine Eisenbahn wie Taggart Transcontinental ist wesentlich für das Wohl des Staates, und es ist
eine öffentliche Pflicht, Jims Minnesota-Linie zu unterstützen, die nur mit Defizit verkehrt.«
Rearden beugte sich über den Schreibtisch vor. Er begann einen Zusammenhang zu begreifen, den er nie
verstanden hatte.
»Wem hast du im letzten Monat dein Erz geliefert?« fragte er ruhig.
»Das ist meine private Angelegenheit, die…«
»Orren Boyle, nicht wahr?«
»Du kannst nicht erwarten, daß die Nation die ganze Stahlindustrie deinen eigennützigen Interessen opfert
und…«
»Raus«, sagte Rearden ohne jede Erregung. Der Zusammenhang war ihm jetzt klar.
»Mißversteh mich nicht. Ich meinte nicht…«
»Raus.«
Larkin ging.
Es folgten dann die Tage und Nächte der Suche auf dem ganzen Kontinent mit Telefon, mit Telegraph, mit
Flugzeug – der Suche nach stillgelegten oder vor dem Konkurs stehenden Bergwerken –, eilige Besprechungen
an Tischen in finsteren Ecken zweifelhafter Restaurants. Rearden mußte dabei entscheiden, wieviel er allein auf
die Vertrauenswürdigkeit des Gesichts des Mannes ihm gegenüber, seines Benehmens und des Tons, in dem er
sprach, zu investieren wagen konnte. Er haßte es, auf Anständigkeit oder Gefälligkeiten hoffen zu müssen, aber
er riskierte es. Er steckte Unbekannten Geld in die Hand und erhielt dafür unbestimmte Versprechungen, er gab
ohne beglaubigte Unterschriften Anleihen an angebliche Besitzer bankrotter Gruben – das Geld ging verstohlen
von einer Hand in die andere, wie bei Verbrechern, die sich die Beute teilen; das Geld wurde in nicht einklagbare
Verträge gesteckt – beide Partner wußten, daß im Fall eines Betruges der Betrogene und nicht der Betrüger
bestraft werden würde –, dennoch gab Rearden das Geld, damit der Strom von Erz weiter in die Hochöfen floß,
damit die Hochöfen weiter einen Strom weißen Metalls ausstoßen konnten.
»Mr. Rearden«, fragte der Leiter der Einkaufsabteilung seines Werkes, »wenn Sie so weitermachen, wo bleibt
dann Ihr Gewinn?«
»Die Masse wird ihn bringen«, erwiderte Rearden ärgerlich. »Wir haben einen unbegrenzten Markt für
Rearden Metal.«
Der Leiter der Einkaufsabteilung war ein älterer Mann mit ergrauendem Haar, einem knochigen, dürren
Gesicht und einem Herzen, das, wie es hieß, sich ausschließlich der Aufgabe hingab, jedes letzte Atom des
Wertes aus einem Cent herauszupressen. Er stand vor Reardens Schreibtisch, sagte nichts weiter, sondern sah
Rearden nur fest mit seinen kalten, blinzelnden, grimmigen Augen an.
Es war ein Blick der tiefsten Sympathie, die Rearden je gesehen hatte.
Es gibt keinen anderen Weg, dachte Rearden, wie er es in all den Tagen und Nächten gedacht hatte. Er kannte
keine andere Waffe, als für das zu bezahlen, was er haben wollte, Wert gegen Wert zu geben, von der Natur
nichts zu fordern, ohne sich dafür abzuplagen, nichts von den Menschen zu fordern, ohne dagegen das Ergebnis
seiner Bemühungen einzutauschen. Was sind die Waffen, dachte er, wenn Werte keine Waffen mehr sind?
»Einen unbegrenzten Markt, Mr. Rearden?« fragte der Leiter der Einkaufsabteilung trocken.
Rearden sah zu ihm auf. »Ich bin wohl nicht gerissen genug, um so zu handeln, wie es heute nötig ist«, sagte
er als Antwort auf die unausgesprochenen Gedanken des anderen.
Der Leiter der Einkaufsabteilung schüttelte den Kopf. »Nein, Mr. Rearden, entweder das eine oder das andere.
Dasselbe Gehirn kann nicht beides tun. Entweder verstehen Sie es, das Werk zu leiten, oder Sie verstehen es, mit
den Leuten in Washington umzugehen.«
»Vielleicht sollte ich deren Methoden lernen.«
»Sie könnten sie nicht lernen, und es würde Ihnen auch nichts nützen. Sie würden dabei nur den kürzeren
ziehen. Verstehen Sie nicht? Sie sind der einzige, der noch etwas hat, das man ihm wegnehmen kann.«
Als er wieder allein war, spürte Rearden, schmerzhaft wie einen elektrischen Schock, eine jähe blinde Wut,
wie schon manchmal zuvor – die Wut brach aus der Erkenntnis hervor, daß man nicht mit dem absolut Bösen
umgehen kann, mit dem nackten, bewußten Bösen, das weder eine Rechtfertigung hat noch sucht. Aber als ihn
der Wunsch überkam, in gerechter Selbstverteidigung zu kämpfen und zu vernichten, sah er das fette, grinsende
Gesicht des Bürgermeisters Bascom vor sich und hörte ihn sagen: »… Sie und die charmante Lady, die nicht Ihre
Frau ist.«
Da war von der gerechten Sache nichts mehr übrig, und der Schmerz der Wut verwandelte sich in den
schändlichen Schmerz der Unterwerfung. Er hatte nicht das Recht, jemand zu verurteilen, dachte er, jemand
anzuprangern, unter Berufung auf die Tugend freudig zu kämpfen und zu sterben. Die gebrochenen Versprechen,
die uneingestandenen Begierden, der Betrug, der Verrat, die Lügen, der Schwindel – all das war seine Schuld.
Über welche Verderbtheit konnte er sich erheben? Auf das Ausmaß kommt es nicht an, dachte er. Man feilscht
nicht um das Maß des Bösen.
Er wußte nicht – als er zusammengesunken an seinem Schreibtisch saß und an die Rechtschaffenheit dachte,
die er nicht mehr für sich in Anspruch nehmen konnte, an das Rechtsgefühl, das er verloren hatte –, daß seine
strenge Rechtschaffenheit und sein überstarkes Rechtsgefühl ihm jetzt seine einzige Waffe aus der Hand
schlugen. Er wollte gegen die Plünderer kämpfen, aber der Zorn und die Leidenschaft waren ihm vergangen. Er
wollte kämpfen, aber nur als ein armseliger Schuldiger gegen die anderen. Er sprach die Worte nicht aus, aber
der scheußliche Schmerz, den er empfand, sagte: Wie kann ich den ersten Stein werfen?
Er ließ seinen Körper auf den Schreibtisch fallen. Dagny, dachte er, Dagny, wenn dies der Preis ist, den ich
zahlen muß, dann zahle ich ihn… Er war immer noch der Kaufmann, für den es selbstverständlich ist, das zu
bezahlen, was er haben will.
Es war schon spät, als er nach Hause kam und lautlos die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf schlich. Es
war ihm zuwider, aber er hatte es schon seit Monaten fast jeden Abend getan. Der Anblick seiner Familie war
ihm unerträglich geworden; er konnte nicht sagen, warum. Hasse sie nicht um deiner eigenen Schuld willen,
hatte er sich gesagt, aber er spürte dunkel, daß seine Schuld nicht die Wurzel seines Hasses war.
Er schloß die Tür seines Schlafzimmers hinter sich wie ein Flüchtling, dem eine kurze Atempause vergönnt
ist. Er zog sich behutsam aus. Kein Geräusch sollte den Seinen seine Anwesenheit verraten. Er wünschte keine
Verbindung mit ihnen, nicht einmal in ihren Gedanken. Er hatte seinen Pyjama angezogen und sich eine
Zigarette angezündet, als sich die Tür öffnete. Der einzige Mensch, der berechtigt war, ohne Anklopfen diesen
Raum zu betreten, hatte nie von diesem Recht Gebrauch gemacht. Darum starrte er einen Augenblick verblüfft
auf die Tür, eh er begriff, daß tatsächlich Lillian hereinkam.
Sie trug ein Empiregewand aus blaßgrüner Seide. Der faltige Rock floß elegant von der hohen Taille herab; es
ließ sich auf den ersten Blick nicht sagen, ob es ein Abendkleid oder ein Negligé war; aber es war ein Negligé.
Lillian blieb im Türrahmen stehen, und ihre Gestalt bildete eine graziöse Silhouette im Licht.
»Ich weiß, ich sollte mich nicht selbst einem Fremden vorstellen«, sagte sie leise, »aber ich muß es: Mein
Name ist Mrs. Rearden.« Er wußte nicht, ob sie das aus Hohn oder aus Verlegenheit sagte.
Sie trat ein und warf die Tür mit einer selbstverständlichen, herrischen Geste zu, der Geste einer
unumschränkten Besitzerin.
»Was ist, Lillian?« fragte er ruhig.
»Mein Lieber, du solltest nicht so plump so viel eingestehen« – sie bewegte sich an dem Bett vorüber lässig
durch den Raum und setzte sich in einen Sessel – »und auf eine so wenig schmeichelhafte Weise. Du zeigst
damit nur allzu deutlich, daß ich einen besonderen Grund haben muß, um dir deine Zeit zu nehmen. Müßte ich
mich durch deine Sekretärin bei dir anmelden lassen?«
Die Zigarette im Mund, stand er in der Mitte des Zimmers und blickte sie an, wobei er ihre Frage absichtlich
überhörte. Sie lachte. »Mein Grund ist so ungewöhnlich, daß ich weiß, du wirst von dir aus nie darauf kommen:
Einsamkeit, mein Lieber. Macht es dir etwas aus, einem Bettler ein paar Krumen von deiner kostbaren
Aufmerksamkeit zuzuwerfen? Macht es dir etwas aus, wenn ich hierbleibe, ohne einen eigentlichen Grund?«
»Nein«, sagte er, »nicht, wenn du es willst.«
»Ich habe nichts Wichtiges zu besprechen. Keine Millionenaufträge, keine transkontinentalen Geschäfte,
keine Schienen, keine Brücken. Nicht ein mal die politische Situation. Ich möchte nur wie eine Frau über völlig
unwichtige Dinge plaudern.«
»Dann tu es.«
»Henry, besser könntest du mich gar nicht daran hindern«, sagte sie hilflos-aufrichtig. »Was soll ich da noch
sagen? Nimm einmal an, ich möchte mit dir über den neuen Roman von Balph Eubank sprechen – er hat ihn mir
gewidmet –, würde dich das interessieren?«
»Wenn du die Wahrheit hören willst – nicht im geringsten.«
Sie lachte. »Und wenn ich nicht die Wahrheit hören will?«
»Dann wüßte ich nicht, was ich sagen sollte«, antwortete er – und fühlte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg, als
hätte ihm jemand einen Schlag versetzt, als er sich plötzlich der doppelten Lüge bewußt wurde, die er in
Beteuerung der Wahrheit ausgesprochen hatte; er hatte es ehrlich gesagt, aber es schloß einen Stolz ein, zu dem
er nicht mehr berechtigt war.
»Warum möchtest du es hören, wenn es nicht die Wahrheit ist?« fragte er. »Wozu?«
»Siehst du, das ist eben die Grausamkeit der Gewissenhaften. Du würdest es nicht verstehen, nicht wahr,
wenn ich dir antwortete, daß wirkliche Liebe bereit sein muß, zu schwindeln und zu lügen, um einen anderen
glücklich zu machen – um für ihn die Wirklichkeit zu schaffen, die er sich wünscht, wenn er die wirkliche nicht
mag?«
»Nein«, sagte er leise, »ich würde es nicht verstehen.«
»Es ist im Grunde sehr einfach. Wenn du einer schönen Frau sagst, daß sie schön ist, was hast du ihr dann
gegeben? Es ist nicht mehr als eine Tatsache, und es hat dich nichts gekostet. Aber wenn du einer häßlichen Frau
sagst, sie sei schön, erweist du ihr die große Huldigung, dadurch daß du den Begriff der Schönheit für sie
verfälschst. Eine Frau um ihrer Tugend willen zu lieben, bedeutet nichts. Sie hat es verdient. Es ist eine
Bezahlung, nicht ein Geschenk. Aber sie um ihrer Laster willen zu lieben ist ein wirkliches, unverdientes
Geschenk. Sie um ihrer Laster willen zu lieben, heißt jede Tugend um ihretwillen beschmutzen. Und das ist ein
wirklicher Liebestribut, weil du damit dein Gewissen, deine Vernunft, deine Unbescholtenheit und deine
unschätzbare Selbstachtung opferst.« Er blickte sie verblüfft an. Es klang so verderbt, daß er sich nicht einmal
fragen mochte, ob es ernst gemeint sein könnte; er fragte sich nur, worauf sie damit hinauswollte.
»Was ist Liebe, wenn man sich nicht selber dabei opfert?« fuhr sie im leichten Ton einer Salonunterhaltung
fort. »Und wie kann man sich selbst opfern, wenn man nicht das Kostbarste und Wichtigste opfert? Aber ich
erwarte nicht, daß du das verstehst. Nicht ein so makelloser, eherner Puritaner wie du. Das ist die ungeheure
Eigennützigkeit des Puritaners. Du würdest lieber die ganze Welt zugrunde gehen lassen, als dein makelloses
Selbst mit etwas zu beflecken, dessen du dich schämen müßtest.«
Seltsam gezwungen und feierlich antwortete er: »Ich habe nie behauptet, makellos zu sein.«
Sie lachte. »Und was bist du jetzt im Augenblick? Du wirst mir eine ehrliche Antwort geben, nicht wahr?« Sie
zuckte die nackten Schultern. »Ach, mein Lieber, nimm mich nicht ernst. Ich rede nur so dahin.«
Er drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher aus; er antwortete nicht.
»Liebster«, sagte sie, »ich bin eigentlich nur hergekommen, weil ich glaubte, ich hätte einen Ehemann, und
einmal sehen wollte, wie er aussieht.«
Sie musterte ihn, wie er dort in dem Zimmer stand, die große, straffe Gestalt, die durch die dunkelblaue Farbe
des Pyjamas besonders betont wurde.
»Du bist sehr attraktiv«, sagte sie. »Du siehst seit einigen Monaten so viel besser aus, jünger. Sollte ich sagen,
glücklicher? Du wirkst entspannter. Ach, ich weiß, du hast mehr zu tun denn je, und du gleichst dem
Kommandeur eines Luftangriffs. Aber das ist nur die Oberfläche. Du bist entspannter – innerlich.«
Er blickte sie erstaunt an. Es stimmte. Er hatte es selbst nicht gewußt, hatte es sich nicht eingestanden. Er
wunderte sich über ihre Beobachtungsgabe. Sie hatte ihn in den letzten Monaten nur selten gesehen. Seit seiner
Rückkehr aus Colorado hatte er ihr Schlafzimmer nicht betreten. Er hatte geglaubt, daß sie diese äußere
Trennung nur begrüßen würde. Jetzt fragte er sich, was sie so feinfühlig gemacht hatte, daß sie die Veränderung
in ihm wahrnahm – wenn es nicht ein viel größeres Gefühl war, als er je in ihr vermutet hatte.
»Mir ist das gar nicht bewußt geworden«, sagte er.
»Es steht dir gut, mein Lieber, und es ist erstaunlich, da du eine so furchtbar schwere Zeit gehabt hast.«
Er fragte sich, ob das eine Frage sein sollte. Sie schwieg einen Augenblick, als ob sie auf eine Antwort
wartete, aber sie forderte sie nicht und fuhr munter fort: »Ich weiß, du hast alle Arten von Schwierigkeiten im
Werk – und die politische Lage wird auch immer unheilvoller. Wenn die Gesetze angenommen werden, von
denen die Rede ist, wird es hart werden.«
»Ja, das wird es. Aber das ist doch eine Sache, die dich nicht interessieren kann, Lillian.«
»O doch, sie interessiert mich!« Sie hob den Kopf und blickte ihn fest an; ihre Augen hatten den
verschleierten Blick, den er schon einmal an ihr gesehen hatte, einen gewollt geheimnisvollen Blick, aus dem
zugleich die Gewißheit sprach, daß er nicht hinter dieses Geheimnis kommen würde. »Es interessiert mich
sehr… wenn auch nicht wegen möglicher finanzieller Verluste«, fügte sie leise hinzu.
Zum ersten Mal fragte er sich, ob ihr Groll, ihr Sarkasmus, die feige Art, Beleidigungen im Schutz eines
Lächelns auszustoßen, nicht das Gegenteil von dem waren, wofür er das alles immer gehalten hatte – nicht eine
Methode des Quälens, sondern eine verzerrte Form der Verzweiflung; nicht der Wunsch, ihm ein Leid
zuzufügen, sondern ein Geständnis ihres eigenen Schmerzes, die Verteidigung des Stolzes einer ungeliebten
Frau, eine geheime Bitte –, so daß das Versteckte und Ausweichende in ihrem Verhalten, das, was in ihr um
Verständnis bat, nicht offene Bosheit, sondern verborgene Liebe war. Dieser Gedanke bestürzte ihn. Er fühlte
sich dadurch schuldiger denn je.
»Da wir gerade von Politik sprechen, Henry, mir ist da ein amüsanter Gedanke gekommen. Das, was du
vertrittst… Wie heißt der Slogan, den ihr alle so viel im Munde führt, das Motto, für das ihr angeblich einsteht?
‘Die Heiligkeit der Verträge’? Ist es das?«
Sie sah seinen raschen Blick, die gespannte Aufmerksamkeit in seinen Augen, die erste Antwort auf etwas,
das sie geäußert hatte, und sie lachte laut.
»Fahr fort«, sagte er leise, drohend.
»Wozu, mein Lieber – du hast mich ja recht gut verstanden.«
»Was wolltest du sagen?« Seine Stimme klang sehr bestimmt, ohne einen Hauch von Gefühl.
»Möchtest du mich wirklich so weit demütigen, daß ich mich beklage? Es ist eine so abgegriffene und
gewöhnliche Klage – obwohl ich glaubte, ich hätte einen Mann, der stolz darauf war, sich von niederen Männern
zu unterscheiden. Soll ich dich daran erinnern, daß du einst geschworen hast, mein Glück zum Ziel deines
Lebens zu machen? Und daß du in aller Ehrlichkeit wirklich nicht sagen kannst, ob ich glücklich oder
unglücklich bin, weil du nicht einmal von mir Notiz genommen hast?«
Er empfand all das, was – unbegreiflich – gleichzeitig an ihm zerrte, als einen physischen Schmerz. Ihre
Worte waren eine Bitte, dachte er – und er spürte die dunkle heiße Flut der Schuld. Er spürte Mitleid – das kalte
häßliche Mitleid ohne Liebe. Er spürte dumpf eine Wut, wie eine Stimme, die er zu ersticken versuchte, eine
Stimme, die voll Ekel schrie: Warum soll ich mich mit ihren elenden Lügen abgeben? Warum soll ich mich um
des Mitleids willen martern lassen? Warum soll gerade ich die hoffnungslose Last auf mich nehmen, ein Gefühl
zu schonen, das sie nicht zugeben will, ein Gefühl, das ich nicht kenne oder verstehe oder auch nur zu erraten
versuche? Wenn sie mich liebt, warum ist sie dann zu feige, es zu sagen, damit wir beide dem offen ins Gesicht
sehen können? Er hörte eine andere lautere Stimme, die ruhig sagte: Wälze die Schuld nicht auf sie ab. Das ist
der älteste Trick aller Feiglinge – du bist schuldig – ganz gleich, was sie tut, es ist nichts im Vergleich zu deiner
Schuld – sie ist im Recht – es macht dich krank, nicht wahr, zu wissen, daß sie im Recht ist? – Laß es dich krank
machen, du verdammter Ehebrecher – sie ist im Recht.
»Was würde dich glücklich machen, Lillian?« fragte er tonlos.
Sie lächelte und lehnte sich entspannt im Sessel zurück. Sie hatte sein Gesicht genau beobachtet.
»Ach, Schatz«, sagte sie mit müder Heiterkeit, »das ist eine raffinierte Frage, eine Ausflucht.«
Sie stand auf, zuckte die Achseln, ließ die Arme sinken und streckte sich in einer weichen, eleganten
Bewegung, die Hilflosigkeit ausdrückte.
»Was mich glücklich machen würde, Henry? Das müßtest du mir sagen. Das solltest du für mich entdeckt
haben. Ich weiß es nicht. Du hättest es schaffen und mir bieten müssen. Das war deine Aufgabe, deine
Verpflichtung, deine Verantwortung. Aber du bist nicht der erste Mann, der dieses Versprechen gebrochen hat.
Von allen Pflichten läßt sich diese am leichtesten abschütteln. Du würdest die Bezahlung einer dir gelieferten
Ladung Eisenerz nie verweigern, nur die eines Lebens verweigerst du.«
Sie bewegte sich ziellos durch den Raum, wobei die grüngelben Falten ihres Kleids sie umflatterten.
»Ich weiß, solche Ansprüche sind sinnlos. Ich habe keine Hypothek auf dich, keine Sicherheit, ich habe keine
Gewehre, keine Ketten. Ich habe überhaupt keine Gewalt über dich, Henry. Ich kann dich nur an deiner Ehre
packen.«
Er blickte sie an, als ob er alle Kraft zusammennehmen müßte, um ihr ins Gesicht zu sehen, um ihren Anblick
zu ertragen. »Was willst du?«
»Es gibt so vieles, was du von dir aus erraten könntest, wenn du wirklich wissen wolltest, was ich will. Würde
ich nicht zum Beispiel gern den Grund wissen, warum du mir seit Monaten so bewußt aus dem Wege gehst?«
»Ich hatte sehr viel zu tun.«
Sie zuckte die Achseln. »Eine Frau erwartet, das Wichtigste im Leben ihres Mannes zu sein. Als du das
schworst, wußte ich nicht, daß es deine Hochöfen nicht einschloß.«
Sie trat zu ihm, und mit einem amüsierten Lächeln, in dem Spott für sie beide lag, schlang sie die Arme um
ihn. Mit der raschen, instinktiven, heftigen Geste eines jungen Bräutigams, der eine sich an ihn drängende Hure
abschüttelt, befreite er sich aus ihrer Umarmung und stieß sie von sich weg.
Er stand wie erstarrt, erschrocken über die Brutalität seiner Reaktion. Sie sah ihn fassungslos an. Ihr Gesicht
war von allem Geheimnis, aller Verstellung, allem Schutz entblößt. Was immer sie erwartet hatte, dies hatte sie
nicht erwartet.
»Verzeih mir, Lillian…«, sagte er leise und ehrlich betrübt.
Sie antwortete nicht.
»Verzeih mir… Ich bin eben sehr erschöpft«, fügte er hinzu. Er war durch die dreifache Lüge bedrückt. Ein
Teil dieser Lüge war eine Untreue, der ins Gesicht zu sehen er nicht ertragen konnte. Es war nicht die Untreue
Lillian gegenüber.
Sie lachte kurz auf. »Wenn sich deine Arbeit so auf dich auswirkt, dann werde ich sie vielleicht doch billigen.
Vergib mir. Ich habe nur versucht, meine Pflicht zu tun. Ich hielt dich für einen Menschen, der sich nie über die
Triebe eines Tieres in der Gosse erhebt. Ich bin keine jener Huren, die dorthin gehören.« Sie sagte die Worte
trocken, wie abwesend, ohne Überlegung. In ihrem Innern stellte sie sich eine Frage, auf die es keine Antwort
gab.
Was sie zuletzt gesagt hatte, ließ ihn sie plötzlich ansehen, offen und ohne Scheu, nicht wie jemand, der sich
noch verteidigen muß. »Lillian, wofür lebst du?« fragte er.
»Was für eine plumpe Frage! Kein gebildeter Mensch würde je so etwas fragen.«
»Was machen denn gebildete Menschen mit ihrem Leben?«
»Vielleicht versuchen sie gar nicht, etwas damit zu machen. Das ist ihre Bildung.«
»Was tun sie mit ihrer Zeit?«
»Sicherlich verbringen sie sie nicht damit, Abwasserrohre herzustellen.«
»Warum machst du immer wieder solche bissigen Bemerkungen? Ich weiß, daß du Abwasserrohre verachtest.
Du hast das schon vor langer Zeit deutlich gesagt. Deine Verachtung berührt mich nicht. Warum wiederholst du
es immer von neuem?«
Er fragte sich, warum diese Worte sie trafen; er wußte nicht, wie, aber er wußte, daß sie sie trafen. Er fragte
sich, warum er sich so völlig sicher war, daß es die richtigen Worte gewesen waren.
Kühl fragte sie: »Was bezweckst du mit diesem plötzlichen Verhör, welchen Sinn hat das?«
»Ich wollte nur wissen«, antwortete er, »ob es etwas gibt, was dir wirklich etwas bedeutet. Und wenn es das
gibt, würde ich es dir gern geben, falls ich es kann.«
»Du möchtest es kaufen? Das ist alles, was du verstehst – für Dinge bezahlen. Da kommst du billig davon,
nicht wahr? Nein, so einfach ist es nicht. Das, was mir etwas bedeutet, ist etwas Immaterielles.«
»Und zwar?«
»Du.«
»Wie meinst du das, Lillian? Das meinst du doch nicht im Sinne von…?«
»Nein, ganz gewiß nicht.«
»Wie denn?«
Sie stand an der Tür, drehte sich noch einmal um, hob den Kopf, um ihn anzusehen, und lächelte kalt.
»Du würdest es doch nicht begreifen«, sagte sie und ging hinaus.
Die Qual, die ihm blieb, war das Wissen, daß sie ihn nie würde verlassen wollen und daß er nie das Recht
haben würde, sie zu verlassen – der Gedanke, daß er ihr zumindest eine gewisse Sympathie schuldete, den
Respekt vor einem Gefühl, das er weder verstand noch erwidern konnte – das Wissen, daß er nur Verachtung für
sie empfinden konnte, eine seltsame, völlig unbegründete Verachtung, an der jedes Mitleid, jeder Vorwurf, ja
sein eigener Gerechtigkeitssinn abprallte und, am schwersten zu ertragen, daß sein Stolz dagegen aufbegehrte,
daß er sich selbst verurteilte, daß er von sich gefordert hatte, sich für niedriger zu halten als die Frau, die er
verachtete.
Aber dann wurde ihm das alles gleichgültig. Es verschwand in einer nebelhaften Ferne, ließ nur den
Gedanken in ihm zurück, daß er bereit war, alles zu ertragen – ließ ihn in einer gespannten und zugleich gelösten
Verfassung –, denn er lag im Bett, hatte das Gesicht in das Kissen gepreßt und dachte an Dagny, an ihren
schlanken, empfindsamen Körper, der, unter der Berührung seiner Finger zitternd, ausgestreckt neben ihm lag.
Er wünschte, sie wäre wieder in New York. Dann wäre er sofort, mitten in der Nacht, zu ihr gefahren.
Eugene Lawson saß an seinem Schreibtisch, als säße er im Cockpit eines Bombers, der einen Kontinent unter
sich in Schach hält. Aber hin und wieder vergaß er sich, und seine Muskeln erschlafften, als sei ihm alles egal.
Sein Mund war das einzige an ihm, was er niemals stillhalten konnte. Dieser Mund ragte aus seinem mageren
Gesicht häßlich heraus und zog die Augen jedes Zuhörers an: Wenn Lawson sprach, bewegte sich seine feuchte
Unterlippe und verrenkte sich merkwürdig.
»Ich schäme mich dessen nicht«, sagte Eugene Lawson. »Ich möchte, daß Sie davon Kenntnis nehmen, daß
ich mich meiner einstigen Stellung als Geschäftsführer der Community National Bank von Madison nicht
schäme.«
»Ich habe nichts von Schämen gesagt«, erwiderte Dagny kalt.
»Mir kann keine moralische Schuld in die Schuhe geschoben werden. Ich habe beim Zusammenbruch der
Bank alles verloren, was ich besaß. Ich habe wohl das Recht, auf so ein Opfer stolz zu sein.«
»Ich wollte Ihnen nur einige Fragen über die Twentieth Century Motor Company stellen, die…«
»Ich will Ihnen gern die Fragen beantworten. Ich habe nichts zu verbergen.
Mein Gewissen ist rein.«
»Ich wollte mich nach den Männern erkundigen, denen die Fabrik zu jener Zeit gehörte, als Sie eine
Anleihe…«
»Es waren ausgezeichnete Männer. Man riskierte bei ihnen nicht das geringste. Obwohl ich das natürlich rein
menschlich und nicht in der kalten Geschäftssprache sage, die Sie von Bankiers zu hören gewohnt sind. Ich habe
ihnen die Anleihe für den Kauf der Fabrik bewilligt, weil sie das Geld benötigten. Wenn Menschen Geld
brauchten, genügte mir das. Bedürftigkeit war mein Maßstab, Miss Taggart. Bedürftigkeit, nicht Gier. Mein
Großvater und mein Vater haben die Bank aufgebaut, nur um selbst ein Vermögen zu scheffeln. Ich habe ihr
Vermögen in den Dienst eines höheren Ideals gestellt. Ich habe nicht auf dem Geld gesessen und Sicherheiten
von armen Leuten gefordert, die Anleihen benötigten. Mein Herz war die Sicherheit. Natürlich erwarte ich nicht,
daß mich in diesem Materialistischen Land jemand versteht. Der Lohn, den ich dafür erhielt, war nicht von der
Art, auf die Menschen Ihrer Klasse, Miss Taggart, aus sind. Die Menschen, die mir in der Bank an meinem
Schreibtisch gegenübersaßen, saßen nicht so da wie Sie, Miss Taggart. Sie waren demütig, unsicher, von Sorge
zerfressen, brachten vor Angst kaum ein Wort heraus. Mein Lohn waren die Tränen der Dankbarkeit in ihren
Augen, die zitternden Stimmen, das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben, die Frau, die mir die Hand küßte, als
ich ihr eine Anleihe bewilligte, um die sie überall anderswo vergeblich gebettelt hatte.«
»Würden Sie mir, bitte, die Namen der Männer nennen, denen die Motorenfabrik gehört hat?«
»Diese Fabrik war wichtig für die Gegend, äußerst wichtig. Ich war vollauf berechtigt, die Anleihe zu
gewähren. Tausende von Arbeitern, die keine anderen Verdienstmöglichkeiten hatten, bekamen dadurch Arbeit.«
»Kannten Sie jemand von den Leuten, die in der Motorenfabrik arbeiteten?«
»Freilich. Ich kannte sie alle. Die Menschen interessierten mich und nicht die Maschinen. Mich interessierte
die menschliche Seite der Industrie und nicht die geschäftliche.«
Sie beugte sich ein wenig vor. »Kannten Sie einen der Ingenieure, die dort arbeiteten?«
»Die Ingenieure? Nein, nein. Dafür war ich zu demokratisch. Die wirklichen Arbeiter interessierten mich. Die
kleinen Leute. Sie kannten mich alle vom Sehen. Ich ging öfter in die Fabrikhallen, und dann winkten sie mir zu
und riefen: ‘Hallo, Gene.’ Sie nannten mich nämlich Gene. Aber ich bin sicher, das interessiert Sie nicht. Wenn
Sie wirklich nach Washington gekommen sind, um mit mir über Ihre Eisenbahn zu sprechen«, er straffte sich
plötzlich, die Bomberpose kehrte wieder, »weiß ich nicht, ob ich Ihnen irgendwie entgegenkommen kann, da ich
das Wohl des Staates über alle privaten Vorrechte und Interessen stellen muß, die… «
»Ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen über meine Eisenbahn zu sprechen«, sagte sie und blickte ihn
verwundert an. »Ich habe keinen Anlaß, mit Ihnen darüber zu sprechen.«
»Nein?« Seine Stimme klang enttäuscht.
»Nein. Ich bin gekommen, um mich nach der Motorenfabrik zu erkundigen. Können Sie sich vielleicht an
einige Namen von Ingenieuren erinnern, die dort gearbeitet haben?«
»Ich habe mich, glaube ich, nie nach ihren Namen erkundigt. Ich hatte mit den Büro- und
Laboratoriumsschmarotzern nichts im Sinn. Mich interessierten nur die wirklichen Arbeiter, die Männer mit den
schwieligen Händen, die eine Fabrik in Gang halten. Sie waren meine Freunde.«
»Können Sie mir die Namen von einigen nennen? Irgendwelche Namen?«
»Meine liebe Miss Taggart, es ist so lange her, und es haben dort Tausende gearbeitet – wie soll ich mich da
noch an Namen erinnern?«
»Können Sie sich nicht wenigstens auf einen, irgendeinen besinnen?«
»Nein, das kann ich wirklich nicht. Mir sind in meinem Leben so viele Menschen begegnet, daß ich mich
unmöglich an die einzelnen Tropfen in diesem Ozean erinnern kann.«
»Waren Sie mit der Produktion der Fabrik vertraut? Mit der Art von Arbeit, die dort getan oder geplant
wurde?«
»Natürlich. Ich habe mich stets für die Unternehmen persönlich interessiert, in die ich Geld investierte. Ich
habe die Fabrik sehr oft besichtigt. Es wurde dort hervorragende Arbeit geleistet. Es wurden wahre Wunder
vollbracht. Die Wohnverhältnisse der Arbeiter waren die besten im Land. Ich sah an jedem Fenster
Spitzengardinen und auf den Fensterbänken Blumen. Zu jedem Haus gehörte ein Stück Gartenland. Man hatte
auch eine neue Schule für die Kinder gebaut.«
»Wissen Sie etwas über die Arbeit des Forschungslaboratoriums der Fabrik?«
»O ja, sie hatten ein prächtiges Forschungslaboratorium, sehr fortschrittlich, sehr dynamisch, sie blickten weit
voraus und hatten große Pläne.«
»Erinnern Sie sich…. etwas von Plänen für die Herstellung eines neuen Motorentyps gehört zu haben?«
»Motor? Was für ein Motor, Miss Taggart? Ich hatte keine Zeit, mich um Einzelheiten zu kü mmern. Mir ging
es nur um den sozialen Fortschritt, den allgemeinen Wohlstand, die menschliche Brüderlichkeit und Liebe.
Liebe, das ist der Schlüssel zu allem. Wenn die Menschen lernten, einander zu lieben, wären alle ihre Probleme
gelöst.«
Sie wandte den Blick ab, um seinen feuchten, sich verrenkenden Mund nicht zu sehen.
Ein Steinbrocken mit ägyptischen Hieroglyphen lag auf einem Sockel in der Ecke des Büros. Die Statue einer
Hindu-Gottheit mit sechs spindeldürren Armen stand in einer Nische. Und ein riesiges Diagramm mit einem
undurchschaubaren Zahlengewirr, das an die Verkaufstabellen eines Postversandhauses erinnerte, hing an der
Wand.
»Wenn Sie also an Ihre Eisenbahn denken, Miss Taggart, wie Sie es bestimmt im Hinblick auf gewisse
mögliche Entwicklungen tun, dann muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß ich noch nie meine Ohren einer
Bitte um Gnade verschlossen habe, obwohl es mir vor allem um das Wohl des Landes geht, für das ich ohne
Zögern den Gewinn jedes einzelnen opfern würde, und…«
Sie blickte ihn an und verstand, was er von ihr wollte.
»Ich möchte nicht von meiner Eisenbahn reden«, sagte sie, krampfhaft bemüht, ruhig zu sprechen, obwohl sie
am liebsten empört aufgeschrien hätte. »Alles, was Sie darüber zu sagen haben, sagen Sie bitte meinem Bruder,
Mr. James Taggart.«
»Ich hätte gedacht, daß Sie in einer Zeit wie dieser sich die seltene Gelegenheit nicht entgegen lassen wollten,
Ihre Sache zu vertreten…«
»Haben Sie irgendwelche Akten von der Motorenfabrik aufgehoben?« Sie saß aufrecht, die Hände fest
ineinander verschränkt.
»Was für Akten? Ich glaube, ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich bei dem Zusammenbruch der Bank alles
verloren habe, was ich besaß.« Seine Haltung war wieder schlaff, und sein Interesse war erloschen. »Aber ich
trauere dem nicht nach. Was ich verloren habe, waren nur materielle Güter. Ich bin nicht der erste Mensch in der
Geschichte, der für ein Ideal leidet. Ich bin durch die eigennützige Gier der Leute um mich herum zu Fall
gebracht worden. Ich konnte nicht eine Welt der Brüderlichkeit und Liebe in einem nur kleinen Staat
verwirklichen, inmitten einer Nation von Profit- und Dollarjägern. Es war nicht meine Schuld. Aber ich lasse mir
von solchen Typen nicht den Garaus machen. Man kann mich nicht aufhalten. Ich kämpfe in einem größeren
Rahmen für das Vorrecht, meinen Mitmenschen zu dienen. Akten, Miss Taggart? Die Akten, die ich
zurückgelassen habe, als ich von Madison wegging, sind in die Herzen der Armen eingeschrieben, die nie zuvor
eine Chance hatten.«
Sie wollte kein einziges unnötiges Wort sagen, aber sie konnte sich nicht zurückhalten; immer wieder sah sie
die alte Putzfrau vor sich, die die Treppe schrubbte. »Haben Sie den Teil des Landes seitdem wiedergesehen?«
fragte sie.
»Es ist nicht meine Schuld«, rief er. »Es ist die Schuld der Reichen, die noch Geld hatten, es aber nicht opfern
wollten, um meine Bank und die Bevölkerung von Wisconsin zu retten! Sie können mir keinen Vorwurf
machen! Ich habe alles verloren.«
»Mr. Lawson«, sagte sie mühsam, »erinnern Sie sich vielleicht an den Namen des Mannes, der die
Gesellschaft leitete, der die Fabrik gehörte? Die Gesellschaft, der Sie das Geld geliehen haben? Wer war ihr
Generaldirektor?«
»Ach, der? Ja, ich erinnere mich an ihn. Er hieß Lee Hunsacker. Ein sehr wertvoller junger Mann, den ein
furchtbarer Schlag getroffen hat.«
»Wo lebt er jetzt? Kennen Sie seine Adresse?«
»Ich glaube, er lebt irgendwo in Oregon. In Grangeville. Meine Sekretärin kann Ihnen seine Adresse geben.
Aber ich wüßte nicht, wieso… Miss Taggart, wenn Sie vorhaben, Mr. Wesley Mouch aufzusuchen, dann lassen
Sie sich sagen, daß Mr. Mouch auf meine Meinung über Eisenbahnen und derlei großen Wert legt.«
»Ich habe nicht den Wunsch, Mr. Mouch zu sehen«, sagte sie und stand auf.
»Aber dann kann ich nicht verstehen… Waru m sind Sie eigentlich hergekommen?«
»Ich versuche, einen Mann zu finden, der für die Twentieth Century Motor Company gearbeitet hat.«
»Warum wollen Sie ihn finden?«
»Ich möchte, daß er für meine Eisenbahn arbeitet.«
Er breitete die Arme aus und sah sie ungläubig und leicht entrüstet an. »In so einem Augenblick, da so
entscheidende Fragen in der Schwebe sind, verschwenden Sie Ihre Zeit damit, einen Angestellten zu suchen?
Glauben Sie mir, das Schicksal Ihrer Eisenbahn hängt mehr von Mr. Mouch ab als von jedem Angestellten, den
Sie je finden.«
»Guten Tag«, sagte sie.
Sie hatte sich schon zum Gehen gewandt, als er mit schriller, hoher Stimme sagte: »Sie haben kein Recht,
mich zu verachten.«
Sie blieb stehen und blickte ihn an. »Ich habe keine Meinung geäußert.«
»Ich bin völlig unschuldig. Ich habe mein Geld verloren. Mein ganzes eigenes Geld für eine gute Sache.
Meine Beweggründe waren rein. Ich wollte nichts für mich selbst. Ich habe nie etwas für mich selbst gewollt,
Miss Taggart. Ich kann voll Stolz sagen, daß ich in meinem ganzen Leben nie einen Profit gemacht habe.«
Ihre Stimme klang ruhig, bestimmt und ernst: »Mr. Lawson, ich glaube, ich muß Ihnen sagen, daß ein Mensch
sich meiner Meinung nach mit keiner Äußerung verächtlicher machen kann als mit dieser.«
»Ich habe nie eine Chance gehabt«, sagte Lee Hunsacker. Er saß mitten in der Küche an einem mit Papieren
bedeckten Tisch. Er hätte sich rasieren und sein Hemd einmal bügeln müssen. Sein Alter war schwer zu
bestimmen. Sein feistes Gesicht wirkte glatt und ausdruckslos, unberührt von jeder Lebenserfahrung. Das
ergrauende Haar und die verschleierten Augen sprachen von Erschöpfung. Er war zweiundvierzig.
»Niemand hat mir je eine Chance gegeben. Ich hoffe, man ist zufrieden mit dem, was man aus mir gemacht
hat. Aber glauben Sie nicht, daß ich es nicht weiß. Ich weiß, ich bin um mein Erstrecht betrogen worden. Lassen
Sie sich von den Leuten nicht vormachen, wie gütig sie sind. Sie sind eine stinkende Bande von Heuchlern.«
»Wer?« fragte Dagny.
»Alle«, sagte Lee Hunsacker. »Die Menschen sind Lumpen, und es hat keinen Sinn, sich darüber
hinwegzutäuschen. Gerechtigkeit? Pah! Sehen Sie sich das an!« Sein Arm machte eine kreisende Bewegung.
»Ein Mann wie ich muß so jämmerlich leben.«
Hinter dem Fenster wirkte das Mittagslicht wie ein grauer Dunst zwischen den traurigen Dächern und den
kahlen Bäumen eines Ortes, der kein Dorf war und nie ganz eine Stadt werden konnte. Dunst und Feuchtigkeit
schienen in die Wände der Küche eingedrungen zu sein. Ein Stapel Frühstücksgeschirr stand im Spülstein. Aus
einem Topf mit Gemüse auf dem Herd stiegen Dampf und ein fetter Geruch billigen Fleisches. Eine staubige
Schreibmaschine stand zwischen den Papieren auf dem Tisch.
»Die Twentieth Century Motor Company«, sagte Lee Hunsacker, »gehörte zu den bedeutendsten in der
Geschichte der amerikanischen Industrie. Ich war ihr Vorstandsvorsitzender. Mir gehörte diese Fabrik, aber sie
wollten mir keine Chance geben.«
»Sie waren doch nicht der Vorstandsvorsitzende der Twentieth Century Motor Company? Soviel ich weiß,
waren Sie der Leiter einer Firma, die Amalgamated Service hieß.«
»Ja, ja. Aber das ist das gleiche. Wir haben die Fabrik übernommen. Wir haben sie genauso gut geleitet wie
der alte Besitzer, sogar besser. Wir waren genauso bedeutend. Wer war Jed Starnes schon! Nur ein
Hinterwäldler, nur ein Garagenmechaniker, der aus ganz armen Verhältnissen stammte. Wußten Sie, daß er so
angefangen hat? Meine Familie gehörte einmal zu den New Yorker Vierhundert. Mein Großvater war
Parlamentsmitglied. Es ist nicht meine Schuld, daß mein Vater es sich nicht leisten konnte, mir ein Auto zu
kaufen, als er mich auf die Schule schickte. Alle anderen Jungen hatten Autos. Der Name meiner Familie war
genauso gut wie jeder der ihren. Als ich aufs College kam…« Er hielt plötzlich inne. »Von welcher Zeitung,
sagen Sie, kommen Sie?«
Sie hatte ihm ihren Namen genannt. Sie wußte nicht, warum sie jetzt froh war, daß er sie nicht erkannt hatte,
und warum sie es vorzog, ihn nicht darüber aufzuklären. »Ich habe nicht gesagt, daß ich von einer Zeitung
komme«, antwortete sie. »Ich brauche eine Auskunft über die Motorenfabrik für einen ganz persönlichen Zweck.
Nicht für eine Veröffentlichung.«
»Ach.« Er blickte sie enttäuscht an.
Dann fuhr er mürrisch fort, als ob sie ihn absichtlich beleidigt hätte. »Ich dachte, Sie wollten mich
interviewen, weil ich gerade meine Autobiographie schreibe.« Er deutete auf die Papiere auf dem Tisch. »Und
ich habe vor, viel zu berichten. Ich habe vor – ach zum Teufel«, sagte er plötzlich und sprang auf.
Er stürzte an den Herd, hob den Topfdeckel und rührte gelangweilt in der Gemüsesuppe. Dann warf er den
nassen Löffel auf den Herd, wobei das Fett in den Gasbrenner tropfte, und kehrte an den Tisch zurück.
»Ja, ich werde meine Autobiographie schreiben, wenn jemand mir eine Chance gibt«, sagte er. »Aber wie
kann ich mich auf eine ernste Arbeit konzentrieren, wenn ich so etwas tun muß?« Er deutete mit dem Kopf auf
den Herd. »Freunde, pah! Die Leute denken, weil sie mich aufgenommen haben, können sie mich wie einen
Chinesenkuli ausbeuten. Nur weil ich keine andere Bleibe habe. Sie haben es leicht, meine guten alten Freunde.
Er rührt hier im Haus nie einen Finger, sitzt den ganzen Tag bloß in seinem Laden, einem lausigen kleinen
Papierladen. Kann sich das an Bedeutung mit dem Buch messen, das ich schreibe? Und sie geht aus und macht
Einkäufe und läßt mich auf ihre verdammte Gemüsesuppe aufpassen. Sie weiß, daß ein Schriftsteller Ruhe und
Konzentration braucht. Aber interessiert sie das? Wissen Sie, was sie heute gemacht hat?« Er lehnte sich
vertraulich über den Tisch und deutete auf das Geschirr im Spülstein. »Sie ist auf den Markt gegangen, hat das
ganze Frühstücksgeschirr dort stehenlassen und gesagt, sie würde es später abwaschen. Ich weiß, was sie wollte.
Sie hoffte, ich würde es für sie tun. Aber ich werde mich hüten. Ich lasse es so stehen, wie es ist.«
»Würden Sie mir erlauben, Ihnen ein paar Fragen über die Motorenfabrik zu stellen?«
»Glauben Sie nicht, daß die Motorenfabrik das einzige in meinem Leben war! Ich hatte vorher schon viele
bedeutende Stellungen. Ich hatte zu verschiedenen Zeiten bedeutende Verbindungen zu Firmen, die chirurgische
Instrumente, Herrenhüte, Papierbehälter und Staubsauger herstellten. Das alles gab mir natürlich keine großen
Möglichkeiten, aber die Motorenfabrik – das war meine große Chance. Das war das, worauf ich gewartet hatte.«
»Wie kam es, daß Sie sie kaufen konnten?«
»Sie war für mich bestimmt. Es war die Erfüllung meines Traums. Die Fabrik war pleite. Jed Starnes’ Erben
hatten sie schnell heruntergewirtschaftet. Ich weiß nicht genau, was es war. Aber da ist irgend etwas Dummes
passiert, und so brach die Firma zusammen. Die Eisenbahnleute legten ihre Nebenlinie still. Niemand wollte die
Fabrik mit der ganzen Ausrüstung, all den Maschinen, all den Dingen, die Jed Starnes Millionen eingebracht
hatten. Das war das, was ich mir wünschte, der Glücksfall, auf den ich einen Anspruch hatte. Und so trommelte
ich ein paar Freunde zusammen, und wir bildeten eine Gesellschaft und kratzten ein bißchen Geld zusammen.
Aber wir hatten nicht genug. Wir brauchten eine Anleihe als Starthilfe. Es war eine völlig sichere Sache. Wir
waren junge Männer, die am Anfang großer Laufbahnen standen, voll Eifer und Hoffnung auf die Zukunft. Aber
denken Sie, daß uns jemand ermutigt hätte? Niemand tat es. Nicht diese gierigen, sich hinter ihren Privilegien
verschanzenden Aasgeier. Wie sollten wir’s im Leben zu einem Erfolg bringen, wenn niemand uns eine Fabrik
geben wollte? Wir konnten doch nicht mit den Rotznasen konkurrieren, die ganze Ketten von Fabriken erben.
Hatten wir nicht ein Anrecht auf die gleiche Chance? Ach, reden Sie nicht von Gerechtigkeit! Ich habe wie ein
Pferd gearbeitet, habe versucht, jemand aufzutreiben, der uns das Geld lieh, aber der Lump Midas Mulligan hat
mich durch die Mühle gedreht.« Sie richtete sich unwillkürlich auf: »Midas Mulligan?«
»Ja, der Bankier, der wie ein Lastwagenfahrer aussah und sich auch so benahm.«
»Kannten Sie Midas Mulligan?«
»Ob ich ihn kannte? Ich bin der einzige Mensch, der ihn jemals geschlagen hat. Aber das hat mir auch nichts
genützt.«
In seltenen Augenblicken hatte sie sich mit einem jähen Gefühl des Unbehagens gefragt, weshalb Midas
Mulligan verschwunden sein mochte. Es ging ihr wie bei den Geschichten von verlassenen Schiffen, die man auf
dem Meer treibend gefunden hatte, oder von am Himmel aufblitzenden Lichtern, von denen niemand wußte,
woher sie kamen. Es gab keinen Grund für das Gefühl, diese Rätsel lösen zu müssen. Außer daß sie zu den
Geheimnissen gehörten, die eigentlich keine Geheimnisse sein konnten: Es mußte eine Erklärung dafür geben,
aber sie konnte keine vernünftige Erklärung finden.
Midas Mulligan war einst der reichste und infolgedessen der am häufigsten angegriffene Mann im Land
gewesen. Bei keiner seiner Investitionen hatte er jemals einen Verlust erlitten. Alles, was er anfaßte, verwandelte
sich in Gold. »Das liegt daran, daß ich weiß, was ich anfasse«, sagte er. Niemand konnte das Prinzip seiner
Geldanlagen verstehen. Er lehnte Geschäfte ab, die als todsicher galten, und steckte enorme Summen in
Unternehmen, mit denen kein anderer Bankier etwas zu tun haben wollte. Jahrelang war er der Treibsatz
gewesen, der im ganzen Land neue Unternehmen raketengleich zu unerwarteten und spektakulären Erfolgen
aufsteigen ließ. Er hatte in Rearden-Stahl bei dessen Start Geld investiert und damit Rearden geholfen, das
verlassene Stahlwerk in Pennsylvania zu kaufen. Als ein Volkswirtschaftler ihn einmal als kühnen Spieler
bezeichnete, sagte Mulligan: »Der Grund, warum Sie es nie zu Reichtum bringen werden, ist, daß Sie das, was
ich tue, für ein Spiel halten.«
Es ging das Gerücht um, daß man ein gewisses ungeschriebenes Gesetz beachten mußte, wenn man mit Midas
Mulligan zu tun hatte. Wenn jemand, der sich um eine Anleihe bewarb, je seine persönliche Bedürftigkeit oder
ein persönliches Gefühl erwähnte, war die Unterredung sofort beendet, und er erhielt nie wieder eine
Gelegenheit, mit Mr. Mulligan zu sprechen.
»Ja, gewiß, das kann ich«, sagte Midas Mulligan, als man ihn fragte, ob er einen noch schlechteren Menschen
nennen könne als den, der sein Herz dem Mitleid verschließt. »Den, der das Mitleid eines anderen für sich als
Waffe benutzt.«
In seiner langen Laufbahn hatte er mit einer Ausnahme alle öffentlichen Angriffe ignoriert. Sein Vorname war
Michael gewesen. Als ein Journalist von der »humanitären« Clique ihm den Spitznamen Midas Mulligan gab,
der wie eine Beleidigung an ihm haften blieb, erschien Mulligan vor Gericht und beantragte die gesetzliche
Änderung seines Vornamens in Midas. Dem Antrag wurde stattgegeben.
In den Augen seiner Zeitgenossen war er ein Mensch, der die einzige unverzeihliche Sünde begangen hatte:
Er war stolz auf seinen Reichtum. Dies alles hatte Dagny über Midas Mulligan gehört. Sie hatte ihn selbst nie
kennengelernt. Vor sieben Jahren war Midas Mulligan verschwunden. Er hatte eines Morgens sein Haus
verlassen, und man hatte nie wieder etwas von ihm gehört. Am nächsten Tage erhielten die Kunden der
Mulligan-Bank in Chicago eine Mitteilung, in der sie aufgefordert wurden, ihr Geld abzuheben, weil die Bank
geschlossen würde. Die Nachforschungen ergaben, daß Mulligan die Schließung bis in jede Einzelheit
vorbereitet hatte. Seine Angestellten führten nur seine Anweisungen aus. Es war die korrekteste Schließung einer
Bank, die das Land je erlebt hatte. Jeder Kunde erhielt sein Geld mitsamt allen Zinsen zurück. Der ganze Besitz
der Bank war an verschiedene Finanzinstitute verkauft worden. Als die Bilanz gemacht wurde, stellte sich
heraus, daß alles bis auf den letzten Cent stimmte. Nichts blieb übrig. Die Mulligan-Bank war ausgelöscht.
Nie fand man einen Hinweis auf Mulligans Beweggrund, auf sein persönliches Schicksal oder die vielen
Millionen seines persönlichen Vermögens. Der Mann und das Vermögen waren verschwunden, als ob es sie nie
gegeben hätte. Niemand hatte etwas von seiner Entscheidung geahnt, und es war nichts geschehen, wodurch sie
sich hätte erklären lassen. Wenn er sich aus dem Geschäft hatte zurückziehen wollen, fragten sich die Leute,
warum hatte er dann nicht seine Bank zu riesigem Profit verkauft, wie er es hätte tun können, statt sie zu
zerstören? Niemand wußte eine Antwort darauf. Er hatte keine Familie und keine Freunde. Seine
Hausangestellten wußten nichts. Er hatte an dem Morgen wie jeden Tag sein Haus verlassen und war nicht
zurückgekommen. Das war alles.
Mulligans Verschwinden, hatte Dagny jahrelang mit einem gewis sen Unbehagen gedacht, hatte etwas
Unwirkliches, Unmögliches. Es war, als ob ein New Yorker Wolkenkratzer über Nacht verschwunden wäre und
nichts als eine Lücke an einer Straßenecke zurückgelassen hätte. Ein Mann wie Mulligan und ein so großes
Vermögen, wie er es mitgenommen hatte, konnten nicht irgendwo unentdeckt bleiben. Ein Wolkenkratzer konnte
nicht verlorengehen. Man würde ihn sehen, wie er sich über einer Ebene oder einem als Versteck gewählten
Wald erhob, und wäre er zerstört, würden immerhin seine Trümmer bleiben. Aber Mulligan war verschwunden –
und in den sieben Jahren seitdem, in der Fülle der Gerüchte, Vermutungen, Theorien, in Zeitungsberichten und
Berichten von Augenzeugen, die ihn angeblich in allen Erdteilen gesehen hatten, hatte sich nie etwas entdecken
lassen, was vielleicht einen Fingerzeig für eine plausible Erklärung bot.
Unter all den Geschichten war eine so absurd, daß Dagny sie gerade darum für wahr hielt. Sie paßte so
haargenau zu Mulligans Wesen, daß sie nicht erfunden sein konnte. Es hieß, der letzte Mensch, der ihn an jenem
Frühlingsmorgen gesehen hatte, als er verschwand, sei eine alte Frau gewesen, die Blumen an einer Straßenecke
in der Nähe der Mulligan-Bank in Chicago verkaufte. Sie berichtete, er sei stehengeblieben und habe einen
Strauß blaue Hyazinthen gekauft. Nie in ihrem Leben habe sie ein so glückliches Gesicht gesehen. Er sah wie ein
Jüngling aus, dem noch das ganze Leben offenstand. All das, was ein Menschengesicht im Laufe der Jahre
zeichnet, Schmerz, Mühe und Qual, war wie weggewischt, und nur freudiger Eifer und Friede waren
zurückgeblieben. Wie in einem plötzlichen Impuls ergriff er die Blumen und winkte der alten Frau zu, als
verbände sie eine geheime Freude. »Wissen Sie, wie glücklich ich immer war zu leben?« sagte er. Sie starrte ihn
verwundert an. Er warf die Blumen wie einen Ball in die Luft, fing sie wieder auf und machte sich auf den Weg
– eine breite, straffe Gestalt in einem dunklen, teuren Mantel. Er verschwand in der Ferne im Schatten der
Geschäftsgebäude, in deren Fenstern die Frühlingssonne funkelte.
»Midas Mulligan war ein Lump mit einem in sein Herz eingeprägten Dollarzeichen«, sagte Lee Hunsacker in
den beißenden Suppendampf. »Meine ganze Zukunft hing von einer elenden halben Million Dollar ab, die für
ihn nichts bedeutete. Aber als ich ihn um eine Anleihe bat, lehnte er glattweg ab – aus keinem anderen Grunde
als dem, daß ich ihm keine Sicherheit zu bieten hatte. Wie konnte ich eine Sicherheit bieten, wenn mir nie
jemand die Chance zu etwas Großem gegeben hatte? Warum lieh er anderen Geld, aber nicht mir? Es war pure
Ungerechtigkeit. Meine Gefühle waren ihm völlig gleichgültig. Er sagte, meine lange Reihe von Fehlschlägen
mache mich untauglich für den Besitz eines Gemüsekarrens, vom Besitz einer Motorenfabrik gar nicht zu reden.
Welche Fehlschläge? Ich konnte nichts dafür, daß ein Haufen ignoranter Krämer sich weigerte, meine
Papiertüten zu kaufen. Mit welchem Recht äußerte er ein Urteil über meine Fähigkeiten? Warum hingen meine
eigenen Zukunftspläne von der willkürlichen Meinung eines eigennützigen Monopolisten ab? Das habe ich nicht
einfach hingenommen. Ich habe ihn verklagt.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Ja, freilich«, sagte er stolz. »Ich habe ihn verklagt. In einem Ihrer engherzigen östlichen Staaten würde das
gewiß peinliches Aufsehen erregen, aber der Staat Illinois hat ein sehr menschliches, sehr fortschrittliches
Gesetz, aufgrund dessen ich ihn verklagen konnte. Ich muß sagen, es war der erste Fall dieser Art. Aber ich hatte
einen sehr geschickten, liberalen Anwalt, der eine Möglichkeit sah, diese Klage mit Erfolg anzustrengen. Es war
ein Notstandsgesetz, das verbot, Menschen so zu benachteiligen, daß es ihren Lebensunterhalt bedrohte. Es sollte
die Arbeiter schützen, aber es ließ sich ebenso auch auf mich und meine Partner anwenden. Und so gingen wir
vor Gericht und sagten über den Mangel an Chancen aus, den wir in der Vergangenheit gehabt hatten, und ich
zitierte Mulligans Worte, daß ich nicht einmal für den Besitz eines Gemüsekarrens taugte, und wir bewiesen, daß
alle Mitglieder unserer Gesellschaft kein Prestige und keinen Kredit hatten, keine Möglichkeit, sich ihren
Lebensunterhalt zu verdienen, und daß darum der Kauf der Motorenfabrik unsere einzige Chance war und Midas
Mulligan nicht das Recht hatte, uns zu benachteiligen, und wir deshalb nach dem Gesetz mit Fug und Recht eine
Anleihe von ihm fordern konnten. Ach, es stand alles sehr gut für uns, aber der Gerichtsvorsitzende war Richter
Narragansett, einer von dieser altmodischen Sorte, einer, der wie ein Mathematiker denkt und kein Verständnis
für die menschliche Seite eines Falles hat. Während der ganzen Verhandlung saß er da wie eine Marmorstatue,
wie eine dieser Marmorstatuen mit den verbundenen Augen. Am Ende der Sitzung beantragte er, die Klage
zugunsten von Midas Mulligan abzuweisen, und sagte ein paar harte Worte über mich und meine Partner. Aber
wir legten Berufung ein, und die höhere Instanz hob das Urteil auf und wies Mulligan an, uns die Anleihe zu
unseren Bedingungen zu geben. Er hatte drei Monate Zeit dafür, aber bevor die drei Monate um waren, geschah
etwas, das sich niemand erklären kann: Er und seine Bank gingen gleichsam in Luft auf. Nicht ein Cent war noch
da, um unseren gesetzlichen Anspruch zu erfüllen. Wie alle damals engagierten wir für viel Geld Detektive, die
versuchen sollten, ihn ausfindig zu machen. Aber wir haben es dann schließlich aufgegeben.«
Nein, dachte Dagny, nein. Abgesehen von dem bedrückenden Gefühl, das sie dabei empfand – dieser Fall war
nicht viel schlimmer als all das andere, das Midas Mulligan jahrelang erduldet hatte. Er hatte große Verluste
durch ähnliche Gesetze einstecken müssen, durch Vorschriften und Verordnungen, die ihn viel größere Summen
gekostet hatten; er hatte sie hingenommen und gekämpft und nur noch mehr gearbeitet. Es war
unwahrscheinlich, daß dieser Fall ihn zerbrochen hatte.
»Was ist aus Richter Narragansett geworden?« fragte sie unwillkürlich und wunderte sich, wie sie auf diese
Frage kam. Sie wußte wenig von Richter Narragansett, aber sie hatte seinen Namen gehört und behalten, denn es
war ein Name, der so typisch für den nordamerikanischen Kontinent war. Plötzlich wurde ihr jetzt bewußt, daß
sie seit Jahren nichts über ihn gehört hatte.
»Ach, er ist in den Ruhestand getreten«, sagte Lee Hunsacker.
»In den Ruhestand?« Die Frage war fast ein Stöhnen.
»Ja.«
»Wann?«
»Sechs Monate später.«
»Was hat er nach seiner Pensionierung gemacht?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, daß jemand seitdem etwas von ihm gehört hat.«
Er fragte sich, warum sie ein so erschrockenes Gesicht machte. Ein Teil ihres Erschreckens war, daß sie den
Grund dafür nicht sagen konnte.
»Erzählen Sie mir bitte von der Motorenfabrik«, sagte sie mühsam.
»Nun, Eugene Lawson von der Community National Bank in Madison gab uns schließlich eine Anleihe,
damit wir die Fabrik kaufen konnten. Aber es war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Er hatte nicht genug
Geld, um uns durchzubringen. Er konnte uns nicht helfen, als wir in Konkurs gingen. Es war nicht unsere
Schuld. Von Anfang an war alles gegen uns. Wie sollten wir eine Fabrik in Gang halten, wenn wir keine
Eisenbahn hatten? Hatten wir nicht einen Anspruch auf eine Eisenbahn? Ich versuchte zu erreichen, daß die
Nebenlinie wiedereröffnet wurde, aber diese verdammten Leute von Taggart Trans…« Er hielt plötzlich inne
und sah sie mißtrauisch an: »Sagen Sie, sind Sie zufällig eine von diesen Taggarts?«
»Ich bin die Stellvertretende Vorstandsvorsitzende von Taggart Transcontinental.« Einen Augenblick starrte
er sie bestürzt an. Sie sah, wie in seinen verschleierten Augen Furcht, Unterwürfigkeit und Haß miteinander
rangen. Das Ergebnis war ein veränderter Ton in seiner Stimme. »Ich brauche euch große Tiere nicht«, knurrte
er. »Glauben Sie nur nicht, daß ich mich vor Ihnen fürchte! Erwarten Sie nicht, daß ich Sie um eine Stellung
bitte! Ich bitte niemand um Gefälligkeiten. Ich wette, Sie sind es nicht gewohnt, Leute so zu Ihnen reden zu
hören, nicht wahr?«
»Mr. Hunsacker, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir die Auskunft über die Fabrik geben würden, die
ich brauche.«
»Sie interessieren sich recht spät dafür. Was ist los? Quält Sie Ihr Gewissen? Sie und Ihresgleichen haben Jed
Starnes durch diese Fabrik lausig reich werden lassen, aber uns wollten Sie keine Chance geben. Es war die
gleiche Fabrik. Wir haben alles getan, was er tat. Wir setzten sogleich die Herstellung des besonderen Motortyps
fort, an dem er am meisten verdient hatte. Und dann kam da so ein Emporkömmling, von dem nie jemand etwas
gehört hatte, und eröffnete unter dem Namen Nielsen Motors eine kleine Fabrik in Colorado und brachte zum
halben Preis einen kleinen Motor heraus, der eine genaue Kopie des Starnesmodells war. Wir konnten nicht
dagegen an. Jed Starnes hatte es leicht gehabt. Zu seiner Zeit war kein gefährlicher Konkurrent aufgetaucht, aber
was konnten wir tun? Wie konnten wir diesen Nielsen bekämpfen? Niemand gab uns einen Motor, der mit
seinem konkurrieren konnte.«
»Haben Sie das Starnes-Forschungslaboratorium übernommen?«
»Ja, das auch. Alles dort.«
»Seine Leute ebenfalls?«
»Ach, nur ein paar davon. Viele waren in der Zeit gegangen, als die Fabrik geschlossen war.«
»Sein Forschungsteam?«
»Die waren alle weg.«
»Haben Sie selbst Forscher angestellt?«
»Ja, ein paar – aber wissen Sie, ich hatte nicht viel Geld für so etwas wie Laboratorien. Ich konnte nicht
einmal die Rechnungen für die äußerst notwendige Modernisierung und Instandsetzung bezahlen, die ich
vornehmen mußte – die Fabrik war beschämend altmodisch. Die Büros der Direktoren hatten kahle Gipswände
und einen winzigen Waschraum. Jeder moderne Psychologe wird Ihnen sagen, daß niemand in einer so
deprimierenden Umgebung sein Bestes tun kann. Ich brauchte in meinem Büro leuchtendere Farben und ein
anständiges modernes Badezimmer mit einem Duschraum. Außerdem brauchten wir eine neue Kantine und ein
Spielzimmer und einen Ruheraum für die Arbeiter. Wir brauchten einen inneren Halt. Jeder Gebildete weiß, daß
der Mensch von den materiellen Faktoren seiner Umwelt geformt wird und der Geist des Menschen durch seine
Arbeitsgeräte. Aber die Leute wollten das Resultat dieser unzweifelhaften ökonomischen Gesetze nicht
abwarten. Wir hatten nie zuvor eine Motorenfabrik besessen. Wir mußten uns erst mit den Maschinen vertraut
machen, aber niemand gab uns die Zeit.«
»Können Sie mir etwas über die Arbeit Ihres Forschungsteams sagen?«
»Ich hatte eine Gruppe von vielversprechenden jungen Männern, die alle Diplome von den besten
Universitäten besaßen. Aber das nützte mir nichts. Ich weiß nicht, was sie taten. Ich glaube, sie saßen nur herum
und warteten auf den nächsten Zahltag.«
»Wer leitete Ihr Laboratorium?«
»Wie soll ich mich daran jetzt noch erinnern?«
»Haben Sie noch einen der Namen Ihrer Leute vom Forschungsteam im Kopf?«
»Glauben Sie, ich hätte die Zeit gehabt, jeden Angestellten persönlich kennenzulernen?«
»Hat einer davon Ihnen gegenüber je etwas von Experimenten mit… mit einer ganz neuen Art von Motor
erwähnt?«
»Was für ein Motor? Ein Mann in meiner Stellung treibt sich nicht in Laboratorien herum. Ich habe die meiste
Zeit in New York und Chicago verbracht und versucht, Geld für unseren Betrieb aufzutreiben.«
»Wer war der Betriebsleiter der Fabrik?«
»Ein sehr fähiger Bursche namens Cunningham. Er ist im letzten Jahr bei einem Autounfall umgekommen.
Trunkenheit am Steuer, hieß es. Es war sehr schade um ihn.«
»Können Sie mir die Namen und Adressen aller Ihrer Teilhaber nennen?«
»Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich war nicht in der Verfassung, die Verbindung
aufrechtzuerhalten.«
»Haben Sie irgendwelche Fabrikakten aufbewahrt?«
»Natürlich.«
»Würden Sie mir einen Einblick gestatten?«
»Selbstverständlich.«
Er schien sehr gern bereit. Er stand sofort auf und eilte aus der Küche. Als er zurückkam, legte er ein dickes
Album vor sie hin; es enthielt seine Presseinterviews und die Veröffentlichungen seiner Presseagenten.
»Ich war ein Großindustrieller«, sagte er stolz. »Ich war eine bekannte Persönlichkeit, wie Sie sehen können.
Meine Autobiographie wird zu einem Buch von tiefer menschlicher Bedeutung werden. Ich hätte es längst
geschrieben, wenn ich eine ordentliche Schreibmaschine hätte.« Er schlug ärgerlich auf die Tasten seiner
Schreibmaschine. »Ich kann auf dem verdammten Ding nicht arbeiten. Sie funktioniert nicht richtig. Wie soll ich
eine Inspiration bekommen und einen Bestseller schreiben, wenn ich eine Schreibmaschine habe, die nicht
richtig funktioniert?«
»Ich danke Ihnen, Mr. Hunsacker«, sagte sie. »Ich glaube, Sie haben mir alles gesagt, was Sie mir sagen
konnten.« Sie erhob sich. »Wissen Sie zufällig, was aus den Starnes-Erben geworden ist?«
»Ach, die haben sich schnell aus dem Staub gemacht, nachdem sie die Fabrik zugrunde gerichtet hatten. Es
sind drei, zwei Söhne und eine Tochter. Kürzlich habe ich gehört, daß sie sich in Durance in Louisiana versteckt
halten.«
Das letzte, was sie von Lee Hunsacker sah, als sie sich zum Gehen wandte, war, daß er plötzlich aufsprang
und zum Herd lief. Er ergriff den Topfdeckel und ließ ihn auf den Boden fallen, wobei er sich die Finger
verbrannte und fluchte. Die Suppe war angebrannt.
Wenig war vom Starnes-Vermögen übriggeblieben und noch weniger von den Starnes-Erben.
»Der Anblick würde Ihnen wenig gefallen, Miss Taggart«, sagte der Polizeichef von Durance in Louisiana. Er
war ein älterer Mann, bedächtig und energisch zugleich, und mit einem bitteren Blick. Nicht blinde Entrüstung
sprach aus ihm, sondern die Treue zu festumrissenen Grundsätzen. »Man findet in der Welt alle Arten von
Menschen, Mörder und Verbrecher – aber diese Starnes sind so, daß anständige Leute sie gar nicht zu Gesicht
bekommen sollten. Sie sind eine schlimme Sorte, Miss Taggart. Klebrig und übel. – Ja, sie leben noch hier in der
Stadt – das heißt zwei von ihnen. Der dritte ist tot. Selbstmord. Das war vor vier Jahren. Es ist eine scheußliche
Geschichte. Er war der jüngste der drei, Eric Starnes, einer dieser ewig jungen Männer, die, wenn sie schon über
die Vierzig hinaus sind, immer noch allen mit ihren Seelenschmerzen in den Ohren liegen. Er brauchte Liebe,
behauptete er. Wenn er sie finden konnte, wurde er von älteren Frauen ausgehalten. Dann begann er einem
sechzehnjährigen Mädchen nachzulaufen, einem hübschen Ding, das nichts mit ihm zu tun haben wollte. Sie
heiratete einen jungen Mann, mit dem sie schon verlobt war. An ihrem Hochzeitstag schlich Eric Starnes in ihr
Haus, und als das Paar nach der Trauung aus der Kirche zurückkam, fanden sie ihn in ihrem Schlafzimmer mit
aufgeschnittenen Pulsadern – tot. Jemand, der sich in aller Stille das Leben nimmt, kann man vielleicht
vergeben. Wer wagt, über das Leiden eines anderen Menschen und über die Grenze dessen, was er ertragen
kann, zu urteilen? Aber ein Mann, der sich umbringt und aus seinem Tod eine Schaustellung macht, um anderen
Kummer zuzufügen, einer, der sich nur aus Bosheit umbringt – für den gibt es keine Vergebung, keine
Entschuldigung. Er ist durch und durch verderbt, und er verdient es, daß die Leute auf sein Andenken spucken,
statt ihn zu bedauern und sich zu grämen, wie er es sich gewünscht hat… Nun, das war Eric Starnes. Wenn Sie
wollen, kann ich Ihnen sagen, wo die beiden anderen wohnen.«
Dagny fand Gerald Starnes im Schlafsaal eines Obdachlosenasyls. Er kauerte auf einer Pritsche. Sein Haar
war noch schwarz, aber die Stoppeln an seinem Kinn waren schon weiß. Er war sternhagelvoll.
»Die große Fabrik ist bankrott. Bankrott ist sie. Wie ein Gummiballon zerplatzt. Betrübt Sie das? Die Fabrik
war Scheiße. Alles ist Scheiße. Ich soll um Verzeihung bitten? Ich denke nicht daran. Mir ist alles völlig
schnuppe. Die Menschen stellen Gott weiß was an, damit alles nach was aussieht, und dabei ist es doch Scheiße,
die Autos, die Häuser, die Seelen, und es läuft so oder so auf das gleiche raus. Sie hätten das Geschmeiß sehen
sollen, als ich noch Geld hatte, wie sie Purzelbäume schlugen, wenn ich bloß pfiff. Die Professoren, die Dichter,
die Intellektuellen, die Weltretter und die mit dem sozialen Gewissen. Jedenfalls, ich pfiff. Es machte mir einen
Heidenspaß. Ich wollte Gutes tun, aber jetzt will ich’s nicht mehr. Es gibt nichts Gutes. Nicht ein bißchen Gutes
in der ganzen verdammten Welt. Ich sage nicht, ich will ein Bad nehmen, wenn ich keine Lust dazu habe. Und so
ist es. Wenn Sie etwas über die Fabrik wissen wollen, fragen Sie meine Schwester, meine süße Schwester, die
Geld hatte, an das sie nicht herankonnten. Sie ist ganz gut davongekommen, auch wenn sie jetzt Hamburger frißt
und nicht mehr Filet Mignon à la Sauce Bearnaise. Aber denken Sie, sie würde ihrem Bruder auch nur einen
Cent abgeben? Der edle Plan, aus dem nichts wurde, war ihre Idee ebenso wie meine. Aber denken Sie, sie
würde mir auch nur einen Cent geben? Ha! Sehen Sie sich die Herzogin mal an! Sehen Sie sie sich mal an! Was
interessiert mich die Fabrik? Das war bloß ein Haufen von verschmierten Maschinen. Ich verkaufe Ihnen all
meine Rechte und Ansprüche für einen Schnaps. Ich bin der letzte Starnes. Das war einmal ein großer Name –
Starnes. Den verkaufe ich Ihnen auch. Sie halten mich für einen stinkenden Penner. Aber das sind alle anderen
genauso und auch reiche Damen wie Sie. Ich wollte der Menschheit etwas Gutes tun. Ha! Man sollte sie alle in
kochendes Öl schmeißen. Das wär’n Riesenspaß. Man sollte sie erwürgen. Aber was soll’s? Was soll überhaupt
das Ganze?«
Auf der Pritsche daneben wälzte sich ein weißhaariger, runzliger Landstreicher stöhnend im Schlaf, wobei ein
Fünfcentstück aus seinen Lumpen auf den Boden fiel. Gerald Starnes hob es auf und steckte es in seine Tasche.
Er beugte sich vor und blickte Dagny tückisch lächelnd ins Gesicht.
»Wollen Sie ihn wecken und mir Schwierigkeiten machen?« fragte er. »Wenn Sie’s tun, werde ich sagen, Sie
lügen.«
Das übelriechende Haus, in dem sie Ivy Starnes fand, stand am Stadtrand unweit des Mississippi-Ufers.
Herunterhängende Strähnen von Flechten und die Büschel weicher Blätter wirkten in dem undurchdringlichen
Grün wie Sabber. Die allzu vielen Vorhänge, die in der stagnierenden Luft eines kleinen Zimmers hingen, sahen
genauso aus. Der Geruch kam aus verstaubten Ecken und von dem in Silberschüsseln zu Füßen verrenkter
orientalischer Gottheiten brennenden Weihrauch. Ivy Starnes saß auf einem Kissen wie ein dicker Buddha. Ihr
Mund war ein kleiner fester Halbmond, der schmollende Mund eines verwöhnten Kindes in dem schwammigen
blassen Gesicht einer Frau über Fünfzig. Ihre Augen waren zwei bewegungslose Wasserlachen. Ihre Stimme
klang wie das monotone Tröpfeln von Regen. »Die Fragen, die Sie mir stellen, kann ich nicht beantworten, mein
Kind. Das Forschungslaboratorium? Die Ingenieure? Wie sollte ich mich an einen von ihnen erinnern? Mein
Vater interessierte sich für sowas, nicht ich. Mein Vater war ein böser Mann, der bloß an sein Geschäft dachte.
Er hatte keine Zeit für Liebe, nur für Geld. Meine Brüder und ich lebten in einer anderen Welt. Unser Ziel war
nicht, Maschinen herzustellen, sondern Gutes zu tun. Wir stellten einen großen neuen Plan für die Fabrik auf.
Das war vor elf Jahren. Aber wir wurden durch die Gier, die Eigennützigkeit und die gemeine, tierische Natur
der Menschen zugrunde gerichtet. Es war der ewige Konflikt zwischen Geist und Materie, zwischen Seele und
Körper. Sie wollten ihre Körper nicht aufgeben – das einzige, was wir von ihnen verlangten. Ich erinnere mich
an keinen dieser Männer. Mir liegt auch gar nichts daran. – Die Ingenieure? Ich glaube, durch die begann das
Verbluten. – Ja, Sie haben richtig verstanden, das Verbluten, das langsame Ausbluten – der Blutverlust, dem
kein Einhalt geboten werden kann Sie liefen als erste davon. Sie ließen uns im Stich, einer nach dem anderen. –
Unser Plan? Wir setzten das erhabene historische Gebot in die Praxis um: Jeder mußte entsprechend seiner
Fähigkeit jedem entsprechend seiner Bedürftigkeit geben. Jeder in der Fabrik, von den Putzfrauen bis zum
Generaldirektor, erhielt den gleichen Lohn – das für seinen Lebensunterhalt notwendige Minimum. Zweimal im
Jahr beriefen wir eine Versammlung ein, in der jeder seine Bedürfnisse darlegte. Wir stimmten über jeden
Anspruch ab, und der Wille der Mehrheit stellte das Bedürfnis und die Fähigkeit jedes einzelnen fest. Der
Gewinn der Fabrik wurde entsprechend verteilt. Der Lohn wurde nach dem Bedürfnis und die Strafe nach der
Fähigkeit bemessen. Jene, deren Bedürfnisse durch eine Abstimmung als die größten anerkannt wurden,
erhielten das meiste. Jene, die nicht soviel produziert hatten, wie sie aufgrund des Mehrheitsbeschlusses hätten
produzieren können, wurden zu einer Geldstrafe verurteilt und mußten sie mit Überstunden bezahlen, für die sie
keinen Lohn bekamen. Das war unser Plan, dem das Prinzip der Selbstlosigkeit zugrunde lag. Er forderte, daß
die Menschen sich nicht von persönlichem Gewinn, sondern von ihrer Liebe zu ihren Nächsten leiten lassen
sollten.«
Dagny hörte eine kalte, unerbittliche Stimme in sich sagen: Präge es dir ein, präge es dir ein. Es bietet sich
einem nicht oft die Gelegenheit, das nackte Böse zu sehen. Sieh es dir an. Präge es dir ein, und eines Tages wirst
du die Worte finden, mit denen du sein Wesen bezeichnen kannst. – Sie hörte diese Stimme aus anderen heraus,
die in hilfloser Leidenschaft schrien: Es ist nichts! Ich habe das schon früher gehört. Ich höre es überall. Es ist
nichts als der gleiche alte Unsinn. Warum kann ich es nicht ertragen? Ich kann es nicht ertragen, ich kann es
nicht ertragen!
»Was haben Sie, mein Kind? Warum sind Sie so zusammengezuckt? Warum zittern Sie? – Was? Sprechen
Sie lauter, ich kann Sie nicht verstehen. – Wie der Plan funktionierte? Darüber möchte ich nicht sprechen. Es
wurde alles sehr übel und mit jedem Jahr schlimmer. Es hat mich meinen Glauben an die Menschen gekostet.
Nach vier Jahren fand ein nicht von der kalt berechnenden Vernunft, sondern von der reinen Liebe des Herzens
erdachter Plan ein trübes Ende mit Polizisten, Anwälten und Konkursverfahren. Aber ich habe meinen Irrtum
eingesehen, und ich bin jetzt frei von ihm. Ich bin fertig mit der Welt der Maschinen, der Fabrikanten, des
Geldes, mit der von der Materie versklavten Welt. Ich habe die Emanzipation des Geistes gelernt, wie sie in den
großen Mysterien Indiens offenbart ist. Die Befreiung von den Fesseln des Fleisches, den Sieg über die
physische Natur, den Triumph des Geistes über die Materie.«
Durch die sie blendende Wut hindurch sah Dagny einen langen Betonstreifen, der eine Straße gewesen war,
mit Unkraut, das zwischen den Rissen wuchs, und die gekrümmte Gestalt eines Mannes, der einen Pflug zog.
»Aber, mein Kind, ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich mich nicht erinnere. – Nein, ich weiß ihre Namen nicht.
Ich weiß keinen einzigen Namen. Ich weiß nicht, welche Art von Abenteurern mein Vater in jenem
Laboratorium gehabt haben mag. Verstehen Sie mich nicht? Ich bin es nicht gewohnt, in solcher Weise verhört
zu werden und… – Wiederholen Sie es nicht immer von neuem. Wissen Sie kein anderes Wort als ‘Ingenieur’? –
Verstehen Sie mich denn gar nicht? – Was ist mit Ihnen? Ich… ich mag Ihr Gesicht nicht. Sie sind… Lassen Sie
mich allein. Ich weiß nicht, wer Sie sind. Ich habe Sie niemals verletzt. Ich bin eine alte Frau. Sehen Sie mich
nicht so an! Ich… Bleiben Sie stehen. Kommen Sie keinen Schritt näher, oder ich rufe um Hilfe. Ich werde…
Ach, ja. Den einen kenne ich! Den Chefingenieur. Ja. Er war der Leiter des Laboratoriums. Ja. William Hastings.
So hieß er: William Hastings. Er ist nach Brandon in Wyoming gegangen. Einen Tag nachdem wir den Plan
eingeführt hatten, verließ er uns. Er war der zweite, der uns verließ. – Nein. Nein, ich erinnere mich nicht, wer
der erste war. Der war nicht wichtig.«
Die Frau, die die Tür öffnete, hatte graues Haar und wirkte sehr vornehm und gepflegt. Es dauerte ein paar
Sekunden, bis Dagny bemerkte, daß ihr Gewand nur ein baumwollenes Hauskleid war.
»Kann ich Mr. William Hastings sprechen?« fragte Dagny. Die Frau sah sie einen Augenblick forschend an.
»Darf ich um Ihren Namen bitten?«
»Ich bin Dagny Taggart von Taggart Transcontinental.«
»Ach, bitte, kommen Sie herein, Miss Taggart. Ich bin Mrs. William Hastings«, sagte sie ernst und gemessen.
Sie war höflich, aber sie lächelte nicht.
Es war ein bescheidenes Haus am Rand einer Industriestadt. Kahle Baumäste ragten in das leuchtende kalte
Blau des Himmels, hoch über dem steilen Weg, der zu dem Haus hinaufführte. Die Wände des Wohnzimmers
waren silbergrau. Die Sonne funkelte auf dem Kristallfuß einer Lampe mit weißem Schirm. Hinter einer offenen
Tür sah man eine rotweiß tapezierte Eßnische.
»Standen Sie mit meinem Mann in geschäftlichen Beziehungen, Miss Taggart?«
»Nein. Ich bin ihm nie begegnet. Aber ich möchte mit ihm über eine äußerst wichtige geschäftliche
Angelegenheit sprechen.«
»Mein Mann ist vor fünf Jahren gestorben, Miss Taggart.«
Dagny schloß die Augen. Sie wußte, was dieser Schock für sie bedeutete: Das war der Mann gewesen, den sie
suchte, und Rearden hatte recht gehabt. Darum war der Motor auf einem Abfallhaufen liegengeblieben, ohne daß
jemand Anspruch darauf erhoben hatte.
»Es tut mir leid«, sagte sie zu Mrs. Hastings und zu sich selbst zugleich.
Ein leises, trauriges Lächeln huschte über Mrs. Hastings’ Gesicht, aber das Gesicht hatte nichts Tragisches.
Innere Festigkeit, Ergebung in das Schicksal und sine stille Heiterkeit sprachen daraus.
»Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Mrs. Hastings?«
»Gewiß. Bitte, nehmen Sie Platz.«
»Wissen Sie etwas vom wissenschaftlichen Werk Ihres Mannes?«
»Sehr wenig. Eigentlich gar nichts. Er sprach zu Hause nie darüber.«
»Er war doch der Chefingenieur der Twentieth Century Motor Company?«
»Ja. Er hat dort achtzehn Jahre lang gearbeitet.«
»Ich wollte ihn nach seinem Werk fragen und nach dem Grund, warum er es aufgegeben hat. Wenn Sie es mir
sagen können, würde ich gern wissen, was in der Fabrik geschehen ist.«
Das heiter-traurige Lächeln zog sich jetzt über Mrs. Hastings’ ganzes Gesicht. »Ich möchte das gern selber
wissen«, sagte sie, »aber ich fürchte, ich werde es nun nie mehr erfahren. Ich weiß, warum er die Fabrik
verlassen hat. Es war wegen des unerhörten Plans, den die Erben von Jed Starnes dort eingeführt hatten. Er
wollte nicht unter solchen Bedingungen oder für solche Leute arbeiten. Aber es war da noch etwas anderes. Ich
habe immer gefühlt, daß etwas in der Fabrik geschehen war, das er mir nicht erzählen wollte.«
»Mrs. Hastings, ich wäre Ihnen für jeden, auch schon für den geringsten Hinweis dankbar.«
»Ich habe selbst keinen Hinweis. Ich habe versucht zu erraten, was geschehen war, habe es dann aber
aufgegeben. Ich kann es nicht verstehen oder erklären, aber ich weiß, daß etwas geschehen ist. Als mein Mann
seine Stellung dort aufgab, zogen wir hierher, und er wurde technischer Betriebsleiter bei Acme Motors. Das war
damals ein aufstrebender, erfolgreicher Konzern. Mein Mann fand hier die Arbeit, die er liebte. Er litt nicht unter
inneren Konflikten. Er war immer stolz auf seine Arbeit gewesen und hatte stets in Frieden mit sich gelebt. Aber
ein ganzes Jahr lang, nachdem wir Wisconsin verlassen hatten, war es, als ob ihn etwas quälte. Am Ende dieses
Jahres kam er eines Morgens zu mir und sagte, er habe seine Stellung aufgegeben und werde von nun an im
Ruhestand leben. Er liebte seine Arbeit. Sie war sein ganzes Leben. Dennoch wirkte er ruhig, zuversichtlich und
glücklich, zum ersten Mal, seit wir hierhergezogen waren. Er bat mich, ihn nicht nach dem Grund für seine
Entscheidung zu fragen. Und ich fragte ihn auch nicht und machte keine Einwände. Wir hatten dieses Haus, wir
hatten unsere Ersparnisse, wir hatten genug, um für den Rest unserer Tage bescheiden leben zu können. Ich habe
seinen Grund nie erfahren. Wir lebten hier still und glücklich weiter. Er wirkte entspannt und zufrieden, war von
einer seltsamen inneren Heiterkeit, wie ich sie nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte. Es war nichts
Merkwürdiges in seinem Verhalten oder Tun – außer daß er manchmal, wenn auch sehr selten, wegging, ohne
mir zu sagen, wohin er ging und wen er traf. In den letzten beiden Jahren seines Lebens fuhr er jeden Sommer
auf einen Monat fort; er sagte mir nicht, wohin. Im übrigen lebte er so, wie er immer gelebt hatte. Er las viel,
verbrachte seine Zeit mit seinen eigenen technischen Forschungen und hatte sich eine kleine Werkstatt im Keller
unseres Hauses eingerichtet. Ich weiß nicht, was er mit seinen Aufzeichnungen und Versuchsmodellen gemacht
hat. Ich habe nach seinem Tode nicht das geringste davon im Keller gefunden. Er starb vor fünf Jahren an einem
Herzleiden, an dem er schon eine Zeitlang laboriert hatte.«
Ohne viel Hoffnung fragte Dagny: »Wußten Sie, welcher Art seine Experimente waren?«
»Nein, ich verstehe sehr wenig von Technik.«
»Kannten Sie einen seiner beruflichen Freunde oder Mitarbeiter, die er vielleicht in seine Forschungsarbeiten
eingeweiht hatte?«
»Nein. Als er bei Twentieth Century war, arbeitete er so viel, daß wir sehr wenig Zeit für uns selbst hatten,
und diese Zeit verbrachten wir allein, ohne Gäste. Wir führten kein geselliges Leben. Er brachte seine Kollegen
nie mit nach Hause.«
»Hat er Ihnen, als er noch bei Twentieth Century war, je etwas davon gesagt, daß er einen neuen Motor
entworfen hatte, einen ganz neuen Typ, der den ganzen Lauf der Industrie hätte verändern können?«
»Einen Motor? Ja, er hat mehrmals davon gesprochen. Er sagte, es sei eine Erfindung von epochemachender
Bedeutung. Aber nicht er hatte ihn entworfen. Es war die Erfindung eines seiner jungen Assistenten.« Sie sah
den Ausdruck in Dagnys Gesicht und fügte leise spöttisch, ohne Vorwurf, nur traurig belustigt hinzu: »Ach, ich
verstehe.«
»Oh, verzeihen Sie«, sagte Dagny, der bewußt wurde, daß ihr Gesicht ihr Gefühl verraten hatte und ihr
Lächeln ein Schrei der Erleichterung gewesen war.
»Aber ich bitte Sie. Ich verstehe das. Sie sind an dem Erfinder des Motors interessiert. Ich weiß nicht, ob er
noch lebt, aber ich habe eigentlich keinen Grund anzunehmen, daß er tot ist.«
»Ich würde mein halbes Leben dafür geben zu erfahren, ob er noch lebt, und ihn zu finden. So wichtig ist es,
Mrs. Hastings. Wer ist er?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß weder seinen Namen noch sonst etwas von ihm. Ich habe nie einen der
Mitarbeiter meines Mannes kennengelernt. Er erzählte mir nur, daß er einen jungen Ingenieur hatte, der eines
Tages die Welt auf den Kopf stellen würde. Meinen Mann interessierte an den Menschen allein ihre Begabung.
Ich glaube, dies war der einzige Mann, den er geliebt hat. Er hat das nicht gesagt, aber an der Art, wie er über
diesen jungen Assistenten sprach, konnte ich es deutlich spüren. Ich erinnere mich noch an den Klang seiner
Stimme, als er mir an dem Tag, an dem der Motor fertig war, sagte: ‘Und er ist erst sechsundzwanzig!’ Das war
etwa einen Monat vor dem Tod von Jed Starnes. Danach hat er weder den Motor noch den jungen Ingenieur je
wieder erwähnt.«
»Wissen Sie nicht, was aus dem jungen Ingenieur geworden ist?«
»Nein.«
»Können Sie mir nicht raten, wie ich ihn vielleicht finden könnte?«
»Nein.«
»Können Sie mir keinen Tip geben, wie ich seinen Namen erfahren könnte?«
»Nein. Sagen Sie, war dieser Motor so besonders wertvoll?«
»Wertvoller, als es sich mit Worten sagen läßt.«
»Es ist seltsam, wissen Sie. Einige Jahre nachdem wir Wisconsin verlassen hatten, habe ich einmal daran
gedacht, und ich habe meinen Mann gefragt, was aus der Erfindung geworden war, die er als so großartig
bezeichnet hatte, und was man mit ihr machte. Er sah mich sehr merkwürdig an und sagte: ‘Nichts.’«
»Weshalb nichts?«
»Er wollte es mir nicht sagen.«
»Erinnern Sie sich an irgendeinen Angestellten von Twentieth Century?«
»Nein.«
»Irgendeinen, der den jungen Ingenieur kannte? Einen Freund von ihm?«
»Nein, ich… Warten Sie… Ich glaube, ich kann Ihnen einen Hinweis geben. Ich kann Ihnen sagen, wo Sie
einen Freund von ihm finden. Ich weiß nicht einmal den Namen dieses Freundes, aber ich weiß seine Adresse.
Es ist eine seltsame Geschichte. Es ist wohl das beste, ich erzähle es Ihnen genauer. Als wir etwa zwei Jahre hier
wohnten, ging mein Mann eines Abends aus, und da ich an dem Abend den Wagen brauchte, bat er mich, ihn
nach dem Essen im Bahnhofsrestaurant abzuholen. Er sagte mir nicht, mit wem er aß. Als ich vor dem Bahnhof
hielt, sah ich ihn mit zwei Männern vor dem Restaurant stehen. Der eine der beiden war hochgewachsen. Der
andere, der schon älter war, sah sehr vornehm aus. Noch heute würde ich sie überall sofort wiedererkennen; sie
hatten Gesichter, die sich einem unvergeßlich einprägen. Mein Mann sah mich und verabschiedete sich von
ihnen. Sie gingen auf den Bahnsteig, wo gerade ein Zug ankam. Mein Mann deutete auf den jungen Mann und
sagte: ‘Hast du ihn gesehen? Das ist der Junge, von dem ich dir erzählt habe.’ – ‘Der, der den Motor erfunden
hat?’ – ‘Ja, der.’«
»Und sonst hat er Ihnen nichts gesagt?«
»Nein, sonst nichts. Das war vor neun Jahren. Im letzten Frühling besuchte ich meinen Bruder, der in
Cheyenne lebt. Eines Nachmittags machte er mit uns einen Ausflug. Wir fuhren in das dort recht wilde Gebirge
hinauf und hielten vor einem Diner an der Straße. Hinter der Theke stand ein vornehmer grauhaariger Mann. Ich
mußte ihn immerzu ansehen, während er die Brötchen und den Kaffee für uns bereitete. Ich wußte, ich hatte sein
Gesicht schon einmal gesehen, konnte mich aber nicht erinnern, wo. Wir fuhren weiter, und erst als der Diner
schon Meilen hinter uns lag, fiel es mir ein. – Das beste wäre, Sie würden da mal hinfahren. Er steht an der
Straße 86 im Gebirge, westlich von Cheyenne, in der Nähe der kleinen Industriesiedlung von Lennox Copper. Es
mag seltsam klingen, aber ich bin mir ganz sicher: Der Wirt dort hinter der Theke war der Mann, den ich mit
dem jungen Idol meines Mannes vor dem Bahnhof gesehen hatte.«
Der Diner stand hoch oben an einer steil bergauf führenden Straße. Seine Glaswände breiteten eine glänzende
Hülle über das Panorama von Felsen und Tannen, auf die jetzt die Strahlen der untergehenden Sonne fielen.
Tief unten war es dunkel, aber in dem Diner funkelte noch ein rötlicher Schein wie ein kleiner Teich, den die
zurückweichende Flut übrig gelassen hat.
Dagny saß am Ende der Theke und aß einen Hamburger. Nie hatte sie etwas so Wohlschmeckendes gegessen
wie diesen mit einfachen Zutaten, aber ungewöhnlicher Kochkunst zubereiteten Imbiß. Zwei Arbeiter waren fast
mit dem Essen fertig. Sie wartete darauf, daß sie gingen.
Sie musterte den Mann hinter der Theke. Er war schlank und groß und hatte eine vornehme Art, die besser in
ein altes Schloß oder in die Direktionsräume einer Bank gepaßt hätte. Aber das Besondere daran war, daß er
diese vornehme Haltung der Umgebung hier anzupassen wußte. Er trug eine weiße Kochjacke, als wäre es ein
Abendanzug. In der Art, wie er das Essen bereitete, verriet sich das Können eines Fachmanns, und seine
Bewegungen waren lässig und überlegt sparsam. Er hatte ein schmales Gesicht, graues Haar, das sich
harmonisch dem kalten Blau seiner Augen einfügte. Hinter seinem höflich-strengen Blick verbarg sich ein leiser
Humor, der aber sofort verschwand, wenn man ihn genauer ansah. Die beiden Arbeiter zahlten und gingen und
ließen jeder ein Zehncentstück zurück. Sie beobachtete den Mann, wie er das Geschirr vom Tisch räumte, die
beiden Zehncentstücke in die Tasche seiner weißen Jacke steckte und mit präziser Sorgfalt die Theke abwischte.
Dann drehte er sich um und sah sie an. Es war ein unpersönlicher Blick, der nicht zu einem Gespräch auffordern
wollte, aber sie war sich bewußt, daß er längst ihr New Yorker Kostüm und ihre Schuhe mit den hohen Absätzen
bemerkt hatte und wußte, daß sie keine Zeit vergeuden wollte. Seine kalten, durchdringenden Augen schienen zu
sagen, daß sie nicht hierher gehörte und daß er daraufwartete, den Grund ihres Besuchs zu erfahren. »Wie läuft
das Geschäft?« fragte sie.
»Ziemlich schlecht. In der nächsten Woche schließt Lennox, Und ich werde dann auch bald schließen und
wegziehen müssen.« Er sagte das in einem kühlen, aber nicht unfreundlichen Ton. »Wohin wollen sie ziehen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Was haben Sie vor?«
»Das weiß ich auch noch nicht. Ich denke daran, eine Autowerkstatt zu eröffnen, falls ich in irgendeiner Stadt
ein geeignetes Grundstück finden kann.«
»Ach nein. Sie verstehen so viel von Ihrem Beruf, daß Sie ihn nicht aufgeben dürfen. Sie sollten weiterhin
Koch bleiben.« Sein Mund verzog sich zu einem seltsamen Lächeln. »Nein?« fragte er höflich.
»Nein! Wie wäre es mit einer Stellung in New York?« Er blickte sie erstaunt an. »Ich meine das ganz ernst.
Ich kann Ihnen eine Stellung bei einer großen Eisenbahngesellschaft bieten, als Leiter der
Speisewagenabteilung.«
»Darf ich vielleicht fragen, warum Sie das möchten?« Sie hielt den auf der Papierserviette liegenden
Hamburger hoch. »Das ist einer der Gründe.«
»Danke schön. Und die anderen?«
»Sie haben wahrscheinlich noch nie in einer Großstadt gelebt, sonst würden Sie wissen, wie entsetzlich
schwer es ist, fähige Männer für Stellungen jeder Art zu finden.«
»Doch, das weiß ich.«
»Nun, wie ist es dann? Würde Ihnen eine Stellung in New York mit einem Jahreseinkommen von zehntausend
Dollar zusagen?«
»Nein.«
Sie hatte sich von der Freude über die seltene Begegnung mit einem fähigen Menschen fortreißen lassen.
»Ich glaube, Sie haben mich nicht verstanden«, sagte sie.
»Doch, ich habe Sie verstanden.«
»Und Sie schlagen so eine Chance aus?«
»Ja.«
»Aber warum?«
»Das hat einen persönlichen Grund.«
»Warum lehnen Sie eine bessere Stellung ab?«
»Ich suche keine bessere Stellung.«
»Wollen Sie denn nicht vorwärtskommen und Geld verdienen?«
»Nein. Warum bestehen Sie durchaus darauf?«
»Weil ich es nicht leiden kann, wenn Können sinnlos verschwendet wird.«
Jedes Wort betonend, antwortete er: »Ich kann das auch nicht leiden.«
Etwas in der Art, wie er das sagte, ließ sie spüren, daß das gleiche tiefe Gefühl sie beide verband. Es brach die
Disziplin, die es ihr verbot, jemals um Hilfe zu rufen. »Ich habe sie alle so satt!« Ihre Stimme wunderte sie
selbst. Es war ein ungewollter Schrei. »Ich habe mich schon immer danach gesehnt, einen Menschen zu sehen,
der das, was er tut, auch wirklich versteht.«
Sie legte die Hand vor die Augen und versuchte, dem Ausbruch der Verzweiflung Einhalt zu gebieten, die sie
sich selbst nie hatte zugeben wollen; sie hatte nicht gewußt, wie groß ihre Verzweiflung war und wie sehr ihre
Suche sie erschöpft hatte.
»Es tut mir leid«, sagte er mit leiser Stimme. Es klang nicht wie eine Entschuldigung, sondern mitleidig.
Sie blickte zu ihm auf. Er lächelte, und sie wußte, dieses Lächeln sollte das Band zwischen ihnen zerreißen,
das auch er gespürt hatte: Das Lächeln hatte einen Anflug von höflichem Spott. »Aber ich kann nicht glauben«,
sagte er, »daß Sie die weite Reise von New York hierher nur darum gemacht haben, um in den Bergen nach
Köchen zu jagen.«
»Nein. Ich bin aus einem anderen Grund gekommen.« Sie beugte sich vor, stemmte die Unterarme fest auf die
Theke, hatte sich wieder ganz in der Gewalt, weil sie fühlte, daß sie einem gefährlichen Gegner gegenüberstand.
»Haben Sie vor ungefähr zehn Jahren einen jungen Ingenieur gekannt, der bei Twentieth Century arbeitete?«
Sie zählte die Sekunden, die er schwieg. Sie konnte seinen Blick nicht deuten. Sie spürte nur, daß er sie
besonders aufmerksam ansah.
»Ja«, antwortete er.
»Könnten Sie mir seinen Namen und seine Adresse nennen?«
»Wozu?«
»Es ist ungeheuer wichtig, daß ich ihn finde.«
»Diesen Mann? Ist er so bedeutend?«
»Er ist der bedeutendste Mann der Welt.«
»Wirklich? Warum?«
»Wissen Sie etwas über seine Arbeit?«
»Ja.«
»Wissen Sie, daß er auf etwas gekommen ist, das die gewaltigsten Folgen hat?« Er schwieg einen Augenblick
lang. Dann sagte er: »Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Dagny Taggart. Ich bin… «
»Ja, Miss Taggart, ich weiß, wer Sie sind.«
Er sagte das mit unpersönlicher Hochachtung. Aber er machte dabei ein Gesicht, als hätte er die Antwort auf
eine besondere Frage gefunden, die er sich innerlich gestellt hatte, und wäre nicht mehr verwundert.
»Dann wissen Sie, daß mein Interesse nicht unbegründet ist«, sagte sie. »Ich bin in der Lage, ihm die Chance
zu geben, die er braucht, und ich bin bereit, ihm jede Summe zu zahlen, die er fordert.«
»Darf ich fragen, was Ihr Interesse an ihm geweckt hat?«
»Sein Motor.«
»Wieso wissen Sie etwas von seinem Motor?«
»Ich habe Reste davon in den Ruinen der Twentieth Century Motor Company gefunden. Sie genügen zwar
nicht, um ihn zu rekonstruieren oder herauszubekommen, wie er funktioniert hat, aber sie zeigen, daß er
funktioniert hat und daß es eine Erfindung ist, die meine Eisenbahn, das Land und die Wirtschaft der ganzen
Welt retten kann. Fragen Sie mich bitte jetzt nicht, welchen Weg ich gegangen bin, um diesen Motor und seinen
Erfinder aufzuspüren. Das ist völlig unwichtig, sogar mein Leben und meine Arbeit sind mir in diesem
Augenblick unwichtig. Nur das eine ist wichtig, daß ich ihn finde. Fragen Sie mich nicht, wie ich zu Ihnen
gelangt bin. Sie sind das Ende des Weges. Sagen Sie mir seinen Namen.«
Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er ihr zugehört. Er schien sich jedes Wort einzuprägen, verriet aber
durch nichts, zu welchem Zweck. Eine lange Zeit rührte er sich nicht. Dann sagte er: »Geben Sie es auf, Miss
Taggart, Sie werden ihn nicht finden.«
»Wie heißt er?«
»Ich kann Ihnen nichts über ihn sagen.«
»Lebt er noch?«
»Ich kann Ihnen nichts sagen.«
»Und wie heißen Sie?«
»Hugh Akston.«
Während sie ihrer Verwirrung Herr zu werden versuchte, sagte sie sich immer wieder: Du bist hysterisch…
sei nicht lächerlich… es ist nur zufällig der gleiche Name… Aber dabei wußte sie in unerklärlichem Entsetzen,
daß er der Hugh Akston war.
»Hugh Akston?« stammelte sie. »Der Philosoph? Der letzte Anwalt der Vernunft?«
»Das könnte man sagen«, antwortete er freundlich. »Oder der erste, der zurückkommt.«
Ihr Erschrecken schien ihn nicht zu verwundern, aber er schien es für unnötig zu halten. Er benahm sich so
natürlich, als ob er kein Verlangen danach hätte, seine Identität zu verbergen, und als ob ihn ihre Entdeckung
nicht ärgerte.
»Ich glaubte nicht, daß irgendein junger Mensch heutzutage meinen Namen kennen oder ihm irgendeine
Bedeutung beimessen würde«, sagte er.
»Aber… aber, was tun Sie hier?« Sie deutete auf den Raum. »Das ist doch einfach unbegreiflich.«
»Wirklich?«
»Was bedeutet das? Ist es ein Trick? Ein Experiment? Eine geheime Mission? Studieren Sie etwas für einen
besonderen Zweck?«
»Nein, Miss Taggart. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt.« Die Worte und seine Stimme klangen ebenso
schlicht wie ehrlich.
»Dr. Akston, ich… es ist unvorstellbar, es ist… Sie sind… Sie sind ein Philosoph… der größte lebende
Philosoph… ein unsterblicher Name… Warum tun Sie das hier?«
»Weil ich Philosoph bin, Miss Taggart.«
Dagny wußte – obwohl sie das Gefühl hatte, nichts mehr verstehen und begreifen zu können –, daß sie keine
Hilfe von ihm erhalten würde, daß jede Frage nutzlos war, daß er ihr weder über das Schicksal des Erfinders
noch über sein eigenes etwas sagen würde.
»Geben Sie es auf, Miss Taggart«, sagte er ruhig, wie um zu beweisen, daß er ihre Gedanken erriet. »Es ist
eine hoffnungslose Suche, die hoffnungsloseste, weil Sie nicht ahnen können, welche unmögliche Aufgabe Sie
sich da vorgenommen haben. Ich möchte Ihnen die Mühe ersparen zu versuchen, mich durch ein Argument,
einen Trick oder eine Bitte dazu zu bringen, Ihnen die gewünschte Auskunft zu geben. Glauben Sie mir, es ist
unmöglich. Sie sagten, ich sei das Ende Ihres Weges. Es ist eine Sackgasse, Miss Taggart. Versuchen Sie nicht,
Ihr Geld zu verschwenden und auf die übliche Art Nachforschungen anzustellen. Nehmen Sie sich keine
Detektive. Die werden auch nichts herausbekommen. Sie werden vielleicht meine Warnung außer acht lassen,
aber ich glaube, Sie sind ein Mensch von hoher Intelligenz, der begreifen kann, daß ich weiß, was ich sage.
Geben Sie es auf! Das Geheimnis, das Sie lüften wollen, schließt etwas viel Größeres ein als die Erfindung eines
von atmosphärischer Elektrizität angetriebenen Motors. Ich kann Ihnen nur das eine sagen, was Ihnen vielleicht
hilft: Dem Wesen und der Natur des Lebens nach kann es Widersprüche nicht geben. Wenn es Ihnen
unbegreiflich erscheint, daß eine geniale Erfindung auf einen Schutthaufen geworfen worden ist und daß ein
Philosoph als Koch in einem Diner arbeitet – dann prüfen Sie Ihre Prämissen. Sie werden entdecken, daß eine
davon falsch ist.«
Sie zuckte zusammen: Sie erinnerte sich, daß sie dies schon einmal gehört, daß Francisco es ihr gesagt hatte.
Und dann fiel ihr ein, daß dieser Mann einer von Franciscos Lehrern gewesen war.
»Wie Sie wollen, Dr. Akston«, sagte sie. »Ich werde Ihnen keine weitere Frage mehr danach stellen. Aber
würden Sie mir gestatten, Sie nach etwas ganz anderem zu fragen?«
»Gern.«
»Dr. Robert Stadler hat mir einmal gesagt, daß Sie, als Sie an der Patrick-Henry-Universität waren, drei
Studenten hatten, die seine und Ihre Lieblingsschüler waren, drei glänzende Begabungen, denen Sie eine große
Zukunft voraussagten. Der eine der drei war Francisco d’Anconia.«
»Ja. Der zweite war Ragnar Danneskjöld.«
»Und der dritte? Aber das ist nicht das, was ich Sie fragen wollte.«
»Sein Name würde Ihnen auch nichts sagen. Er ist nicht berühmt.«
»Dr. Stadler sagte, Sie und er seien dieser drei Studenten wegen Rivalen gewesen, weil Sie beide sie als Ihre
Söhne betrachteten.«
»Rivalen? Er hat sie verloren.«
»Sagen Sie, sind Sie stolz darauf, wie sich diese drei entwickelt haben?« Er blickte in die Weite, auf das
erlöschende Licht der Sonne auf dem fernsten Felsen; sein Gesicht sah aus wie das eines Vaters, der seine Söhne
auf einem Schlachtfeld verbluten sieht. Er antwortete: »Stolzer, als ich es je zu hoffen gewagt hätte.«
Es war inzwischen fast dunkel geworden. Er zog eine Zigarettenschachtel aus seiner Tasche, nahm eine
Zigarette heraus, hielt dann aber inne, als hätte er einen Augenblick lang vergessen, daß sie da war, und als fiele
es ihm plötzlich wieder ein, hielt er ihr die Schachtel hin. Sie nahm eine Zigarette. Er entzündete ein Streichholz,
gab ihr Feuer und löschte mit einer Handbewegung die Flamme. Nur zwei kleine glühende Punkte blieben im
Dunkel des Raums mit den Glaswänden und der riesigen Bergkette dahinter.
Sie erhob sich, bezahlte und sagte: »Ich danke Ihnen, Dr. Akston. Ich werde Sie nicht mit Tricks oder Bitten
belästigen. Ich werde keine Detektive anstellen.
Aber ich möchte Ihnen doch sagen, daß ich es nicht aufgeben werde. Ich muß den Erfinder des Motors finden,
und ich werde ihn finden.«
»Erst an dem Tag, an dem er beschließt, Sie zu finden – was er über kurz oder lang tun wird.«
Als sie zu ihrem Wagen ging, knipste er die Lampen in dem Diner an. Sie sah den Briefkasten am Straßenrand
und bemerkte das Unglaubliche, daß der Name »Hugh Akston« offen darauf stand.
Sie fuhr die Serpentinenstraße hinunter, und die Lichter des Diners waren längst außer Sicht, als ihr bewußt
wurde, mit welchem Genuß sie die Zigarette rauchte, die er ihr gegeben hatte: Sie schmeckte ganz anders als
alles, was sie je zuvor geraucht hatte. Sie hielt den kleinen Stummel ins Licht des Armaturenbretts, um zu sehen,
was für eine Marke es war. Es stand kein Name darauf, nur ein Warenzeichen. Auf das dünne weiße Papier war
in Gold das Dollarzeichen gedruckt.
Sie musterte es neugierig: Sie hatte noch nie etwas von dieser Marke gehört. Dann erinnerte sie sich an den
alten Mann an dem Zeitungsstand des Taggart Terminals und lächelte bei dem Gedanken, daß dies etwas für
seine Sammlung war. Sie drückte die Zigarette aus und steckte den Stummel in ihre Handtasche.
Der Zug Nr. 57 stand zur Abfahrt nach Wyatt Junction bereit, als sie Cheyenne erreichte, ihren Wagen in die
Garage brachte, wo sie ihn gemietet hatte, und auf den Bahnsteig des Taggart-Bahnhofs ging. Sie mußte eine
halbe Stunde warten, bis der Zug nach New York kam. Sie ging ans Ende des Bahnsteigs und lehnte sich müde
an einen Laternenpfahl. Sie wollte von den Bahnhofsangestellten nicht gesehen und erkannt werden. Sie wollte
mit niemand sprechen, sie brauchte Ruhe. In Gruppen standen einige wenige Fahrgäste auf dem ansonsten leeren
Bahnsteig. Sie schienen sich lebhaft zu unterhalten, und man sah mehr Zeitungen als gewöhnlich.
Dagny blickte auf die erleuchteten Fenster des Zuges Nr. 57 und fühlte sich bei dem Gedanken an eine allen
Widerständen zum Trotz vollbrachte Leistung einen Augenblick lang erleichtert. Der Zug Nr. 57 würde gleich
die Strecke der John-Galt-Linie hinunterfahren, durch die Städte, zwischen den Bergen hindurch, an den grünen
Signalen vorüber, wo jubelnde Menschen gestanden hatten, und durch die Täler, in denen Raketen zum
sommerlichen Himmel aufgestiegen waren. Welke Blätter hingen an den Ästen, die über den Wagendächern
aufragten, und die einsteigenden Fahrgäste trugen Pelze und Schals. Sie bewegten sich, als wäre dies alles nichts
Ungewöhnliches, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, daß es diese neue Strecke gab… Wir haben
es geschafft, dachte s ie, dies wenigstens haben wir geschafft.
Das Gespräch zweier Männer hinter ihr riß sie plötzlich aus ihren Gedanken.
»Aber Gesetze sollten nicht so schnell verabschiedet werden.«
»Es sind keine Gesetze, es sind Verordnungen.«
»Dann ist es ungesetzlich.«
»Es ist nicht ungesetzlich, denn das Parlament hat im letzten Monat ein Gesetz angenommen, das ihn dazu
befugt, Verordnungen zu erlassen.«
»Ich finde, Verordnungen sollten nicht so wie der Blitz aus heiterem Himmel kommen.«
»Wenn es sich um einen nationalen Notstand handelt, ist keine Zeit für langes Gerede.«
»Aber ich finde, es ist nicht richtig, und man kann dem nicht zustimmen. Wie soll Rearden es schaffen, wenn
es hier heißt…«
»Warum machen Sie sich Reardens wegen Gedanken? Er ist reich genug. Ihm stehen alle Wege offen.«
Dagny rannte zum nächsten Zeitungsstand und kaufte eine Abendzeitung.
Es stand auf der Titelseite. Wesley Mouch, Spitzenkoordinator des Büros für Wirtschaftsplanung und
Nationale Bodenschätze, schrieb die Zeitung, hatte »ganz überraschend auf Grund des nationalen Notstands«
eine Reihe von Verordnungen erlassen. Die Liste war lang:
Die Eisenbahngesellschaften des Landes wurden angewiesen, die Höchstgeschwindigkeit aller Züge auf
sechzig Meilen in der Stunde herabzusetzen, die Höchstlänge aller Züge auf sechzig Wagen zu beschränken und
in den Zonen, in die das ganze Land zu diesem Zweck eingeteilt worden war und die aus jeweils fünf aneinander
grenzenden Staaten bestanden, pro Staat die gleiche Anzahl Züge einzusetzen.
Jedes Stahlwerk durfte fortan nur noch so viel Stahl erzeugen wie jedes andere mit der gleichen
Produktionskapazität und war verpflichtet, jedem Kunden, der Metall zu kaufen wünschte, die gleiche Menge zu
liefern.
Allen Fabriken jeder Art und Größe im ganzen Lande war es verboten, ihren augenblicklichen Sitz ohne
Sondergenehmigung des Büros für Wirtschaftsplanung und Nationale Bodenschätze zu verlegen.
Um die Eisenbahnen des Landes für die dadurch entstehenden Mehrkosten zu entschädigen und um ihnen
»die Umstellung zu erleichtern«, wurde für Eisenbahnobligationen ein Moratorium verfügt, das – zunächst auf
fünf Jahre begrenzt – alle Zins- und Rückzahlungsverpflichtungen aussetzte.
Die notwendigen Geldmittel für die Unterhaltung des Personals, das diese Verordnungen durchzuführen hatte,
sollten durch eine Sondersteuer beschafft werden, die dem Staat Colorado auferlegt wurde »als dem Staat, der
am besten in der Lage ist, den weniger begünstigten Staaten zu helfen, die Last des Notstandes zu tragen«, und
zwar eine Steuer in Höhe von fünf Prozent des Umsatzes der Industriebetriebe Colorados.
Der Schrei, den Dagny ausstieß, wäre ihr nie zuvor über die Lippen gekommen. Es war immer ihr Stolz
gewesen, auf jede Frage selbst die Antwort zu finden. Aber sie sah einen Mann ein paar Schritte entfernt stehen.
Sie hatte nicht bemerkt, daß es ein zerlumpter Penner war. Sie konnte den Schrei nicht unterdrücken. Schließlich
war es die Vernunft, die Einspruch erhob, und er war ein Mensch:
»Wohin soll das führen?«
Der Penner grinste gleichgültig und zuckte die Achseln:
»Wer ist John Galt?«
Ihre größte Sorge war nicht Taggart Transcontinental, nicht Hank Rearden, der auf andere Weise darunter
leiden mußte, sondern Ellis Wyatt. Alles andere in ihrem Bewußtsein war ausgelöscht. Ohne Raum für Worte,
ohne Zeit für Fragen standen zwei Bilder vor ihrem inneren Auge: Ellis Wyatts strenges Gesicht, als er vor ihrem
Schreibtisch stand und sagte: »Es liegt jetzt in Ihrer Macht, mich zu vernichten. Ich muß vielleicht gehen, aber
wenn ich gehe, werde ich dafür sorgen, daß ich Sie alle mit in den Abgrund ziehe« – und die leidenschaftliche
Geste, mit der er sein Glas an die Wand geschleudert hatte.
Das einzige, was sie beim Anblick dieser Bilder empfand, war das Nahen einer unausdenkbaren Katastrophe
und das Gefühl, daß sie ihr zuvorkommen mußte. Sie mußte Ellis Wyatt erreichen und ihn aufhalten. Sie wußte
nicht, was sie verhindern mußte. Sie wußte nur, daß sie ihn aufhalten mußte.
Und weil sie wissen würde, selbst wenn sie unter den Ruinen eines Gebäudes zermalmt läge, wenn die Bombe
eines Flugzeugs sie zerrissen hätte, solange noch ein Hauch Leben in ihr war, daß Handeln die erste Pflicht des
Menschen ist, ohne Rücksicht auf seine Gefühle – eilte sie den Bahnsteig hinunter und befahl dem
Fahrdienstleiter: »Lassen Sie den Zug Nr. 57 auf mich warten.« Dann stürzte sie in eine Telefonzelle am Ende
des dunklen Bahnsteigs und nannte dem Fernamt die Privatnummer von Ellis Wyatt.
Mit geschlossenen Augen stand sie in der kleinen Zelle und lauschte auf das ferne Klingeln in der Leitung.
Aber niemand meldete sich. Immer wieder vernahm sie – wie das Geräusch eines Bohrers in ihrem Ohr – das
schrille Klingeln. Es ging ihr durch Mark und Bein. Sie umklammerte den Hörer, sie wünschte, es klingelte noch
lauter, sie vergaß, daß der Laut, den sie hörte, nicht das Klingeln in seinem Hause war. Sie bemerkte nicht, daß
sie schrie: »Ellis, tun Sie es nicht! Tun Sie es nicht! Tun Sie es nicht!« – bis sie eine kalte, tadelnde Stimme
sagen hörte: »Der Teilnehmer antwortet nicht.«
Sie saß am Fenster eines Wagens des Zuges Nr. 57 und hörte das Rattern der Räder, die auf den Schienen aus
Rearden Metal dahinrollten. Sie ließ sich widerstandslos vom Rhythmus des Zuges tragen. Der glänzende
schwarze Vorhang vor dem Fenster verbarg die Landschaft, die sie nicht sehen wollte. Es war ihre zweite Fahrt
auf der John-Galt-Linie, und sie bemühte sich, nicht an die erste zu denken.
Die Männer, dachte sie, die die Obligationen der John-Galt-Linie gezeichnet hatten – ihr hatten sie ihr Geld
anvertraut, die Ersparnisse und die Frucht von Jahren der Arbeit. Weil sie an ihr Können glaubten, hatten sie es
aufs Spiel gesetzt – auf ihr und ihr eigenes Werk hatten sie gebaut –, und sie hatte sie in eine Plündererfalle
gelockt: Es würde keine Züge und keine Fracht mehr geben. Die John-Galt-Linie war nur eine Kanüle gewesen,
die es Jim Taggart ermöglicht hatte, ihnen ihren Reichtum auszusaugen und ihn in seine Tasche zu stecken als
Entgelt dafür, daß andere seine Eisenbahn aussaugten. Die Obligationen der John-Galt-Linie, die noch an diesem
Morgen die stolzen Hüter der Sicherheit und Zukunft ihrer Besitzer gewesen waren, waren binnen einer Stunde
Papierfetzen geworden, die niemand kaufen würde – ohne Wert, ohne Zukunft, ohne eine andere Macht als die,
die Tore zu schließen und die Räder der letzten Hoffnung des Landes anzuhalten. Und Taggart Transcontinental
war keine von selbstproduzierten Lebenssäften genährte Pflanze mehr, sondern ein Kannibale, der die
ungeborenen Kinder der Größe verschlang.
Die Steuer für Colorado, dachte sie, die Ellis Wyatt auferlegte Steuer, die den Lebensunterhalt jener bezahlen
sollte, deren Aufgabe es war, ihn zu fesseln und zu würgen, jener, die darüber wachen würden, daß er keine
Züge, keine Tankwagen, keine Pipeline aus Rearden Metal bekam; Ellis Wyatt, dem das Recht zur
Selbstverteidigung genommen war, der keine Stimme, keine Waffen mehr hatte und, was noch schlimmer war,
zum Werkzeug seiner eigenen Zerstörung gemacht wurde, zum Helfer seiner eigenen Zerstörer, der ihnen die
Nahrung und die Waffen lieferte; Ellis Wyatt, der von seiner eigenen strahlenden Kraft, die sich gegen ihn kehrte
und sich wie eine Schlinge um seinen Hals legte, erwürgt wurde; Ellis Wyatt, der eine unerschöpfliche Quelle
von Schieferöl erschließen wollte und von einer zweiten Renaissance sprach…
Sie saß vornübergebeugt, den Kopf auf den Armen, die auf dem Klapptisch vor dem Fenster lagen – während
draußen im Dunkel, ohne daß sie sie sah, die großen Kurven der grünblauen Schienen, die Berge, die Täler, die
neuen Städte von Colorado vorüberflogen.
Als der Zug plötzlich bremste, richtete sie sich auf. Es war kein planmäßiger Halt, und der Bahnsteig des
kleinen Bahnhofs war mit Leuten überfüllt, die alle in die gleiche Richtung blickten. Die Reisenden im Zug
drängten sich an den Fenstern und spähten hinaus. Dagny erhob sich, lief den Gang und dann die Stufen
hinunter, in den kalten Wind hinaus, der über den Bahnsteig fegte.
Noch ehe sie es sah und ehe ihr Schrei die Stimmen der Menge übertönte, wußte sie, daß sie erwartet hatte,
was sie jetzt sah. In einer Lücke zwischen den Bergen sah man die Wyatt-Ölfelder in Flammen stehen, die den
ganzen Himmel erleuchteten und deren Schein über den Bahnhof zuckte.
Als man ihr später berichtete, daß Ellis Wyatt verschwunden war und nichts als ein an einen Pfosten am Fuß
des Hügels genageltes Brett hinterlassen hatte, war es ihr fast, als hätte sie gewußt, was darauf stand:
»Ich lasse es so zurück, wie ich es vorgefunden habe. Nehmt es. Es gehört euch.«
ENTWEDER - ODER
I. Der Mann, der in die Welt gehörte

Dr. Robert Stadler ging in seinem Büro auf und ab und ärgerte sich über die Kälte.
Der Frühling war in diesem Jahr erst spät gekommen. Das tote Grau der Berge hinter dem Fenster bildete
gleichsam einen Übergang vom schmutzigen Weiß des Himmels zum bleiernen Schwarz des Flusses. Hin und
wieder leuchtete es an einem fernen Hang silbergelb oder gelbgrün auf, aber der Farbfleck verschwand sofort.
Die Wolkendecke riß auf, ließ einen einzelnen Sonnenstrahl durch und schloß sich gleich wieder. Es war im
Büro nicht kalt, dachte Dr. Stadler, es war dieser Ausblick, der ihm das Kältegefühl verursachte.
Es war wirklich nicht kalt. Die Kälte steckte in seinen Knochen, dachte er, die aufgespeicherte Kälte der
Wintermonate, in denen er immer wieder von seiner Arbeit abgelenkt worden war, weil er sich mit etwas so
Nebensächlichem wie der unzureichenden Heizung hatte beschäftigen müssen und die Leute von
Brennstoffersparnis gesprochen hatten. Es war lächerlich, überlegte er, daß das Leben des Menschen immer
mehr von den Launen der Natur abhing: Es hatte früher nie etwas ausgemacht, wenn ein Winter ungewöhnlich
streng gewesen war. Wenn eine Flut einen Streckenabschnitt der Eisenbahn überspülte, hatte man nicht zwei
Wochen lang von Konserven leben müssen. Wenn ein Blitz ein Elektrizitätswerk traf, war das State Science
Institute nicht fünf Tage lang ohne Strom geblieben. Fünf Tage lang hatten in diesem Winter die großen Motoren
des Laboratoriums stillgestanden, und unwiederbringliche Stunden waren zu einer Zeit verlorengegangen, da
seine Mitarbeiter an Problemen gearbeitet hatten, bei denen es um das Wesen des Universums ging. Dr. Stadler
wandte sich ärgerlich vom Fenster ab – blieb aber stehen und kehrte sich ihm dann wieder zu. Er wollte das
Buch nicht sehen, das auf seinem Schreibtisch lag. Wenn doch Dr. Ferris endlich käme! Er sah auf seine Uhr:
Dr. Ferris kam – wie seltsam! – zu spät zu der Verabredung mit ihm. Dr. Floyd Ferris, der Diener der
Wissenschaft, der sich ih m gegenüber immer so benahm, als ob er den Hut gar nicht tief genug ziehen könnte.
Für Mai war dies ein geradezu unerhörtes Wetter, dachte Dr. Stadler, als er zum Fluß hinunterblickte. Sicherlich
war nicht das Buch, sondern das Wetter der Grund, daß ihn so fröstelte. Er hatte das Buch sichtbar auf seinen
Schreibtisch gelegt, als ihm bewußt geworden war, daß sein Widerwille, es nur zu sehen, mehr bedeutete als
Ablehnung, daß sich ein tieferes Gefühl dahinter verbarg, das er sich nie eingestehen durfte. Er sagte sich, nicht
weil das Buch dort lag, war er vom Schreibtisch aufgestanden, sondern nur, weil es ihn gefroren hatte und er
durch Bewegung warm werden wollte. Zwischen Schreibtisch und Fenster gefangen, ging er in dem Zimmer auf
und ab. Sobald er mit Dr. Ferris gesprochen hätte, würde er das Buch in den Mülleimer werfen, wohin es
gehörte.
Er beobachtete den von der Sonne beschienenen grünen Fleck auf dem fernen Berg. Die Verheißung des
Frühlings in einer Welt, die aussah, als ob nie wieder Gras oder eine Knospe in ihr sprießen würden! Er lächelte
erwartungsvoll – und als der Fleck verschwand, fühlte er sich fast gedemütigt von seinem Verlangen, von
seinem verzweifelten Bemühen, den Fleck festzuhalten. Er erinnerte sich an das Gespräch mit dem bedeutenden
Schriftsteller im letzten Winter. Der Schriftsteller war aus Europa gekommen, um einen Artikel über ihn zu
schreiben – und er, der früher Interviews immer verabscheut hatte, hatte übereifrig und allzu ausführlich
gesprochen, weil er im Gesicht des Schriftstellers Verständnis zu erkennen gemeint hatte und grundlos das
verzweifelte Bedürfnis spürte, verstanden zu werden. Der Artikel war zu einer großen Lobhudelei geworden,
hatte aber jeden seiner Gedanken entstellt. Als er die Zeitschrift zuschlug, hatte er das gleiche gefühlt wie jetzt,
da der Sonnenstrahl ihn schnöde im Stich ließ.
Nun gut, dachte er und wandte sich wieder vom Fenster ab; er mußte zugeben, daß ihn jetzt hin und wieder
die Einsamkeit überfiel. Aber es war eine Einsamkeit, auf die er einen Anspruch hatte, es war das Verlangen
nach dem Echo eines lebendigen, denkenden Geistes. Er hatte alle diese Menschen so satt, dachte er in zorniger
Bitterkeit. Er befaßte sich mit kosmischen Strahlen, während sie nicht einmal mit einem Blitzschlag fertig
wurden.
Er spürte, wie sich sein Mund plötzlich verzerrte, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt, um ihn von
solchen Gedanken abzubringen. Er blickte auf das Buch auf seinem Schreibtisch. Der Schutzumschlag war
funkelnagelneu – das Buch war erst vor vierzehn Tagen erschienen. Aber ich hatte nichts damit zu tun, schrie er.
Der Schrei schien in einem erbarmungslosen Schweigen zu verhallen. Nichts antwortete darauf, kein Echo der
Vergebung. Der Titel des Buches lautete: Warum denken Sie, Sie denken?
Kein Laut drang durch diese Kirchhofsstille in ihm, kein Mitleid, keine Stimme der Verteidigung – nichts als
die einzelnen Abschnitte, die er sich dank seinem guten Gedächtnis eingeprägt hatte:
»Denken ist ein primitiver Aberglaube. Die Vernunft ist eine irrationale Idee. Die kindische Annahme, wir
könnten denken, ist der kostspieligste Irrtum der Menschheit geworden.
Was man für Denken hält, ist eine von den Drüsen, den Gefühlen und vom Mageninhalt hervorgerufene
Illusion.
Diese grauen Zellen, auf die man so stolz is t, gleichen einem Spiegel im Lachkabinett eines
Vergnügungsparks. Sie vermitteln nur verzerrte Zeichen aus einer Wirklichkeit, die sich dem Verständnis für
immer verschließt.
Je sicherer man seiner rationalen Schlüsse ist, desto sicherer ist man auf dem Ho lzweg. Da der Verstand ein
Instrument der Verzerrung ist, wird die Verzerrung desto größer, je aktiver der Verstand ist.
Die Geistesriesen, die man so sehr bewundert, haben einst gelehrt, daß die Erde flach und das Atom der
kleinste Teil der Materie ist. Die ganze Geschichte der Wissenschaft ist eine Folge von Irrtümern. Je mehr wir
wissen, desto mehr erkennen wir, daß wir nichts wissen.
Nur der krasseste Ignorant kann an der altmodischen Vorstellung festhalten, Sehen sei Wissen. Das, was man
sieht, ist das erste, was man bezweifeln muß.
Ein Wissenschaftler weiß, daß ein Stein überhaupt kein Stein ist. In Wirklichkeit ist er identisch mit einem
Federkissen. Beide sind nur ein Wolkengebilde aus den gleichen unsichtbar wirbelnden Teilchen. Aber, sagen
Sie, man kann einen Stein nicht als Kissen benutzen. Nun, das beweist nur die Hilflosigkeit des Menschen
gegenüber der wahren Wirklichkeit.
Die neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen – wie die erregenden Forschungsergebnisse Dr. Robert
Stadlers – haben schlüssig bewiesen, daß unsere Vernunft in das Wesen des Universums nicht eindringen kann.
Diese Entdeckungen haben Wissenschaftler zu Widersprüchen geführt, die dem menschlichen Geist nach
unmöglich sind, die es aber dennoch in der Wirklichkeit gibt. Falls Sie es noch nicht gehört haben sollten, meine
lieben Freunde von vorgestern, es ist jetzt bewiesen, daß Vernunft Wahnsinn ist.
Man erwarte keine Folgerichtigkeit. Alles widerspricht allem. Es gibt nur Widersprüche.
Der ‘gesunde Menschenverstand’ ist der größte aller Irrtümer. Die Welt verstehen zu wollen, ist der beste
Beweis für Unverstand. Die Welt hat keinen Sinn. Nichts hat einen Sinn. Die einzigen Kreuzfahrer auf der Suche
nach dem Sinn sind die blaustrümpfigen Jungfern, die niemand in ihr Bett locken können, und die altmodischen
Krämer, die glauben, das Universum sei so einfach wie ihr kleines sauberes Inventar und ihre geliebte
Registrierkasse.
Lassen Sie uns die Ketten des Logik genannten Vorurteils brechen! Sollen wir uns von einem Syllogismus
hemmen lassen?
Sie glauben, Sie seien Ihrer Überzeugungen sicher? Es gibt nichts, dessen Sie sicher sein können. Wollen Sie
um einer Illusion willen die Harmonie Ihres Gemeinwesens, Ihre Freundschaft mit Ihren Nachbarn, Ihre
Stellung, Ihren Ruf, Ihren guten Namen und Ihre finanzielle Sicherheit gefährden? Um der Selbsttäuschung
willen zu denken, daß Sie denken? Wollen Sie Risiken auf sich nehmen und Katastrophen in einer so
gefährlichen Zeit wie der unseren dadurch heraufbeschwören, daß Sie sich der bestehenden sozialen Ordnung
auf Grund irgendwelcher imaginären Erkenntnisse widersetzen, die Sie Ihre Überzeugungen nennen? Sie sagen,
Sie seien sicher, daß Sie recht haben. Niemand hat recht oder kann es haben. Sie fühlen, daß die Welt rings um
Sie in Unordnung ist. Sie haben keine Mittel, es zu erkennen. In den Augen des Menschen ist alles verkehrt –
warum es also bekämpfen? Streiten Sie nicht, nehmen Sie es hin, passen Sie sich an, gehorchen Sie!« Der
Verfasser des Buches war Dr. Floyd Ferris. Es war vom State Science Institute veröffentlicht worden.
»Ich habe nichts damit zu tun«, sagte Dr. Robert Stadler. Er stand immer noch mit dem unbehaglichen Gefühl
an seinem Schreibtisch, sich in der Zeit zu irren oder nicht zu wissen, wie lange der vorhergehende Augenblick
gedauert hatte. Er hatte die Worte laut, in bitterem Sarkasmus ausgesprochen – gerichtet gegen den
Unbekannten, der ihn dies hatte sagen lassen.
Er zuckte die Achseln. Selbstironie war für ihn eine Tugend. Sein Achselzucken stellte das Gefühlsäquivalent
des Satzes dar: Du bist Robert Stadler, benimm dich nicht wie ein neurotischer Schüler. Er setzte sich an seinen
Schreibtisch und schob das Buch mit dem Handrücken beiseite.
Eine halbe Stunde später erschien Dr. Floyd Ferris. »Es tut mir leid«, sagte er, »aber ich hatte auf der Fahrt
von Washington wieder eine Panne mit meinem Wagen, und es dauerte eine Ewigkeit, bis ich jemand fand, der
sie beheben konnte. Es fahren so verdammt wenig Wagen, daß die Hälfte der Reparaturwerkstätten geschlossen
ist.« Seine Stimme klang mehr ärgerlich als entschuldigend. Er setzte sich, ohne die Aufforderung dazu
abzuwarten. In jedem anderen Beruf wäre Dr. Floyd Ferris nicht besonders aufgefallen. Aber in dem Beruf, den
er sich ausgesucht hatte, wurde er immer als ‘der gutaussehende Wissenschaftler’ bezeichnet. Er war ein Meter
achtzig groß und fünfundvierzig Jahre alt. Aber es gelang ihm, noch größer und jünger zu wirken. Er sah immer
äußerst gepflegt aus und bewegte sich wie ein Tänzer; aber seine Kleidung war streng. Seine Anzüge waren für
gewöhnlich schwarz oder mitternachtsblau. Er hatte einen sorgfältig gestutzten Schnauzbart, und sein Haar war
so schwarz und glänzend, daß die Bürodiener des Instituts immer sagten, er gebrauche oben und unten die
gleiche Schuhwichse. In einem Ton der Selbstironie erzählte er öfter, daß ein Filmproduzent einmal gesagt habe,
er würde ihn am liebsten für die Rolle eines adligen europäischen Gigolos engagieren. Er hatte seine Laufbahn
als Biologe begonnen, aber das war schon längst vergessen; er war allgemein bekannt als der Koordinator des
State Science Institute.
Dr. Stadler blickte ihn erstaunt an – es war noch nie vorgekommen, daß Dr. Ferris sich nicht entschuldigt
hatte – und sagte trocken: »Es scheint mir, daß Sie einen sehr großen Teil Ihrer Zeit in Washington verbringen.«
»Aber, Dr. Stadler, Sie haben mir einmal das Kompliment gemacht, mich den Wachhund dieses Instituts zu
nennen!« sagte Dr. Ferris freundlich. »Ist das nicht meine wesentlichste Pflicht?«
»Ich glaube, Sie haben auch hier einige nicht unwichtige Pflichten. Bevor ich es vergesse – würden Sie so gut
sein, mir zu erklären, welche Versager für die Ölknappheit verantwortlich sind?«
Er konnte nicht verstehen, warum Dr. Ferris eine beleidigte Miene aufsetzte. »Gestatten Sie mir zu sagen, daß
ich diese Bemerkung nicht erwartet habe und daß sie völlig unberechtigt ist«, sagte Dr. Ferris mit der
vorgetäuschten Förmlichkeit, die verletzte Gefühle verbergen und ein Martyrium zur Schau stellen soll. »Keine
der zuständigen Behörden hat Grund zu einer Kritik gefunden. Wir haben gerade dem Büro für
Wirtschaftsplanung und Nationale Bodenschätze einen ausführlichen Bericht über den Fortschritt der Arbeit bis
zum heutigen Tage eingereicht, und Mr. Wesley Mouch hat sich sehr befriedigt darüber ausgesprochen. Wir
haben unser Bestes getan. Niemand sonst hat von Versagern gesprochen. In Anbetracht der Schwierigkeiten des
Geländes, der Feuergefahr und der Tatsache, daß erst sechs Monate vergangen sind, seit wir…«
»Wovon sprechen Sie?« fragte Dr. Stadler.
»Vom Wyatt-Rückgewinnungsvorhaben. Sie haben mich doch danach gefragt?«
»Nein«, sagte Dr. Stadler, »nein, ich… einen Augenblick, lassen Sie mich nachdenken. Ja, ich glaube mich zu
erinnern, daß davon die Rede war, daß unser Institut sich mit einem Rückgewinnungsvorhaben befaßt. Was
wollen Sie zurückgewinnen?«
»Öl«, sagte Dr. Ferris. »Die Wyatt-Ölfelder.«
»Dort war ein Brand, nicht wahr? In Colorado? Da hat doch jemand seine eigenen Ölfelder angezündet?«
»Ich nehme eher an, daß dieses Gerücht der allgemeinen Hysterie entsprungen ist«, sagte Dr. Ferris kühl. »Ein
Gerücht mit einigen unerwünschten, unpatriotischen Folgerungen. Ich würde den Zeitungsberichten nicht zuviel
Gewicht beimessen. Ich persönlich glaube, daß es ein Unfall war und daß Ellis Wyatt bei dem Brand
umgekommen ist.«
»Und wem gehören die Felder jetzt?«
»Im Augenblick niemand. Da kein Testament und keine Erben vorhanden sind, hat die Regierung die Felder –
als Notmaßnahme – auf sieben Jahre übernommen. Wenn Ellis Wyatt binnen dieser Zeit nicht zurückkehrt, wird
er offiziell für tot erklärt.«
»Und warum hat man sich mit einem so ungewöhnlichen Auftrag wie Ölbohrungen an Sie, an uns gewandt?«
»Weil es ein äußerst schwieriges technisches Problem ist, dessen Lösung den Einsatz der besten
wissenschaftlichen Talente erfordert. Es geht darum, die besondere Methode der Ölgewinnung, die Wyatt
angewandt hat, zu rekonstruieren. Die Anlagen sind noch vorhanden, wenn auch in fürchterlichem Zustand;
einige seiner Verfahren sind bekannt, aber es fehlen wichtige Anhaltspunkte, und man ist sich über das
Grundprinzip nicht ganz im klaren. Das sollen wir nun herausfinden.«
»Und was haben Sie bis jetzt erreicht?«
»Es geht alles sehr erfreulich voran. Es sind uns gerade neue und größere Mittel zur Verfügung gestellt
worden. Mr. Wesley Mouch ist mit unserer Arbeit zufrieden, ebenso Mr. Balch von der Notstandskommission,
Mr. Anderson vom Amt für wichtige Versorgungsgüter und Mr. Pettibone vom Verbraucherschutz. Ich wüßte
nicht, was man noch mehr von uns hätte erwarten können. Das Projekt ist ein voller Erfolg.«
»Haben Sie Öl gewonnen?«
»Nein, aber es ist uns immerhin gelungen, einen der Bohrtürme so weit in Gang zu bringen, daß wir etwa
dreißig Liter Öl haben herauspumpen können. Das ist natürlich nur von experimenteller Bedeutung, aber Sie
müssen bedenken, daß es uns drei volle Monate gekostet hat, des Feuers Herr zu werden, das jetzt völlig – fast
völlig – gelöscht ist. Wir stehen einem viel schwierigeren Problem gegenüber als Wyatt damals, als er ganz neu
anfing, weil wir uns mit einem Trümmerhaufen abplagen müssen, der die Folge eines schändlichen antisozialen
Sabotageakts ist, der… Es ist ein schwieriges Problem, das wir in absehbarer Zeit lösen werden.«
»Wonach ich Sie eigentlich fragen wollte, war die Heizölknappheit hier im Institut. Die Temperatur in diesem
Gebäude war den ganzen Winter hindurch skandalös niedrig. Man sagte mir, es müsse Öl gespart werden. Hätten
Sie nicht dafür sorgen können, daß die Versorgung des Instituts mit Öl besser klappt?«
»Ach, das meinten Sie, Dr. Stadler? Das tut mir leid!« sagte Dr. Ferris mit einem erleichterten Lächeln und
war wieder ganz der höflich Ergebene. »Wollen Sie sagen, daß die Temperatur so niedrig war, daß sie Ihnen
Unbehagen verursachte?«
»Ja, ich will sagen, daß ich mich fast totgefroren habe.«
»Aber das ist ja unverzeihlich. Warum wurde mir das nicht gesagt? Bitte, nehmen Sie meine Entschuldigung
an, Dr. Stadler, und seien Sie versichert, daß es nie wieder vorkommen wird. Ich kann die Hausverwaltung bloß
damit entschuldigen, daß die Brennstoffknappheit nicht eine Folge von Nachlässigkeit ist. Sie war – ach, ich
sehe, daß Sie gar nichts davon gewußt haben, und Sie sollten auch gar nicht mit solchen Dingen behelligt werden
– aber, wissen Sie, die Ölknappheit im letzten Winter hat das ganze Land in eine kritische Lage gebracht.«
»Warum? Erzählen Sie mir doch nicht, daß die Wyatt-Ölfelder die einzige Ölquelle im Lande waren!«
»Nein, nein, aber der plötzliche Ausfall eines Hauptlieferanten hat sich auf den ganzen Ölmarkt verheerend
ausgewirkt. Die Regierung mußte darum das Öl im Lande rationieren, um die wichtigen Unternehmen zu
schützen. Ich erhielt eine ungewöhnlich große Zuteilung für das Institut – und das nur dank einigen besonders
guten Verbindungen –, aber ich fühle mich äußerst schuldig, wenn sie sich als ungenügend erwiesen hat. Seien
Sie jedoch noch einmal versichert, es wird nicht wieder vorkommen. Es ist nur eine vorübergehende Knappheit.
Im nächsten Winter werden wir die Wyatt-Ölfelder wieder in Gang gebracht haben, und die Verhältnisse werden
sich dann wieder normalisieren. Außerdem habe ich, was das Institut betrifft, alle Vorbereitungen getroffen, die
Ölheizung auf Kohlenfeuerung umzustellen, und das sollte im nächsten Monat geschehen. Aber Stockton in
Colorado hat plötzlich den Betrieb eingestellt – Stockton sollte uns Teile für unsere Öfen liefern. Andrew
Stockton hat sich ganz unerwartet aus dem Geschäft zurückgezogen, und wir müssen jetzt warten, bis sein Neffe
die Firma wieder eröffnet.«
»Ich verstehe. Ich bin davon überzeugt, daß Sie sich dieser Sache wie aller anderen in Ihrem Tätigkeitsbereich
annehmen werden.« Dr. Stadler zuckte ärgerlich die Achseln. »Es ist nachgerade ein bißchen lächerlich, wie
viele technische Unternehmen ein wissenschaftliches Institut für die Regierung leiten muß.«
»Aber, Dr. Stadler…«
»Ich weiß, ich weiß, es läßt sich nicht vermeiden. Übrigens, was ist mit dem Projekt X?«
Dr. Ferris warf ihm einen raschen Blick zu – einen seltsamen, forschenden Blick, der verwundert, aber nicht
erschrocken wirkte. »Woher wissen Sie etwas von Projekt X, Dr. Stadler?«
»Ach, ich habe ein paar Ihrer jungen Leute so geheimnisvoll wie Amateurdetektive davon reden hören. Sie
sagten mir, es sei etwas ganz Geheimes.«
»Das stimmt, Dr. Stadler. Es ist ein streng geheimes Forschungsvorhaben, mit dem die Regierung uns betraut
hat. Und es ist äußerst wichtig, daß die Zeitungen kein Wort darüber bringen.«
»Was bedeutet das X?«
»Xylophon, Projekt Xylophon. Es ist natürlich nur eine Code-Bezeichnung. Es hat etwas mit Schall zu tun.
Aber ich bin sicher, daß es Sie nicht interessiert. Es ist eine rein technische Aufgabe.«
»Ja, ersparen Sie mir die Einzelheiten. Ich habe keine Zeit für Ihre technischen Aufgaben.«
»Darf ich darauf aufmerksam machen, daß Projekt X möglichst niemand gegenüber erwähnt werden sollte,
Dr. Stadler?«
»Gewiß, gewiß. Ich muß sagen, Diskussionen dieser Art sind mir nicht angenehm.«
»Natürlich nicht. Und ich würde es mir nie erlauben, Ihnen mit so etwas Ihre Zeit zu stehlen. Sie können das
wirklich ohne Sorgen mir überlassen.« Er machte Anstalten aufzustehen. »Nun, wenn das der Grund war, warum
Sie mich sprechen wollten, dann glauben Sie bitte, daß ich…«
»Nein«, sagte Dr. Stadler leise, »das war nicht der Grund, warum ich Sie sprechen wollte.«
Dr. Ferris stellte keine Frage, kam ihm nicht entgegen; er blieb sitzen und wartete nur.
Dr. Stadler griff mit einer abschätzigen Handbewegung nach dem Buch, das am Rand des Schreibtisches lag,
und zog es zu sich heran. »Würden Sie mir bitte sagen«, fragte er, »was diese Schweinerei soll?« Dr. Ferris
blickte nicht auf das Buch, sondern sah Dr. Stadler einen Augenblick lang unverwandt an. Dann lehnte er sich
zurück und sagte mit einem merkwürdigen Lächeln: »Ich fühle mich geehrt, daß Sie mir zuliebe eine solche
Ausnahme machen und ein populäres Buch lesen. Von diesem kleinen Werk sind in zwei Wochen
zwanzigtausend Exemplare verkauft worden.«
»Ich habe es tatsächlich gelesen.«
»Und?«
»Ich erwarte eine Erklärung.«
»Finden Sie den Text verwirrend?«
Dr. Stadler blickte ihn verblüfft an. »Ist Ihnen klar, welches Thema Sie behandelt haben und wie? Der Stil
allein, dieser ordinäre Stil – bei einem solchen Thema!«
»Glauben Sie denn, daß der Inhalt eine würdigere Darstellungsform verdient?« Die Stimme klang so
unschuldig milde, daß Dr. Stadler nicht wußte, ob das Spott sein sollte oder nicht.
»Ist Ihnen klar, was Sie in diesem Buch predigen?«
»Da Sie es nicht zu billigen scheinen, Dr. Stadler, wäre es mir lieber, Sie glaubten, ich hätte es völlig arglos
geschrieben.«
Dies war, dachte Dr. Stadler, dies war das Unbegreifliche in Ferris’ Verhalten: Er hatte vermutet, daß seine
deutlich gezeigte Mißbilligung genügen würde, aber Ferris schien davon unberührt zu bleiben.
»Wenn ein betrunkener Prolet fähig wäre, seine Gedanken zu Papier zu bringen«, sagte Dr. Stadler, »wenn er
seinem Wesen Ausdruck geben könnte – dem ewig Primitiven, das voll Haß nach dem Verstand schielt –, dann
würde ich erwarten, daß er ein Buch wie dieses schreibt. Aber daß es aus der Feder eines Wissenschaftlers
stammt und das Impressum dieses Instituts trägt!«
»Aber, Dr. Stadler, dieses Buch war nicht dazu bestimmt, von Wissenschaftlern gelesen zu werden. Es ist für
die betrunkenen Proleten geschrieben.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Für die breite Masse.«
»Mein Gott! Der größte Dummkopf müßte die auffallenden Widersprüche in jeder Ihrer Behauptungen
erkennen können.«
»Sagen wir lieber so, Dr. Stadler: Der Mann, der das nicht erkennt, verdient es, all meine Feststellungen zu
glauben.«
»Aber Sie haben diesem Unfug Ihr Ansehen geopfert. Lassen Sie von mir aus eine mediokre Kreatur wie
Simon Pritchett solchen mystischen Quatsch in die Welt lallen. Niemand hört auf ihn. Aber Sie haben den
Leuten vorgegaukelt, es sei Wissenschaft. Wissenschaft! Mit welchem Recht haben Sie sich meines Werks
bedient, um einen unberechtigten, lächerlichen Sprung in ein anderes Gebiet zu tun, um ein Zerrbild daraus zu
machen und etwas ungeheuerlich zu verallgemeinern, das lediglich ein mathematisches Problem ist? Mit
welchem Recht haben Sie so getan, als ob ich – ich – dieses Buch gutgeheißen hätte?«
Dr. Ferris blickte Dr. Stadler nur ruhig an, aber diese Ruhe ließ ihn fast gönnerhaft aussehen. »Hören Sie, Dr.
Stadler, Sie sprechen von diesem Buch, als richte es sich an eine denkende Leserschaft. Wenn es das täte, hätte
man an Genauigkeit, Richtigkeit, Logik und das Ansehen der Wissenschaft denken müssen. Aber das tut es
nicht. Es wendet sich an die breite Masse. Und Sie sind immer der erste gewesen, der geglaubt hat, daß die breite
Masse nicht denkt.« Er hielt inne, aber Dr. Stadler schwieg. »Dieses Buch«, fuhr Dr. Ferris fort, »hat vielleicht
keinerlei philosophischen, aber einen großen psychologischen Wert.«
»Und was verstehen Sie darunter?«
»Die Menschen wollen nicht denken, Dr. Stadler. Und in je größere Schwierigkeiten sie geraten, desto
weniger wollen sie denken. Aber ein gewisser Instinkt sagt ihnen, daß sie es müßten, und läßt sie sich schuldig
fühlen. Darum sind sie jedem dankbar, der ihr Nichtdenken rechtfertigt, und hören auf ihn. Jedem, der aus ihrer
Sünde, ihrer Schwäche und ihrer Schuld eine Tugend macht.«
»Und Sie wollen dem Vorschub leisten?«
»Das ist der Weg zur Popularität.«
»Warum suchen Sie die?«
Dr. Ferris blickte Dr. Stadler wie zufällig ins Gesicht. »Wir sind eine öffentliche Institution«, antwortete er
ruhig, »die durch öffentliche Mittel erhalten wird.«
»Und darum sagen Sie den Leuten, die Wissenschaft sei Lug und Trug, dem ein Ende gemacht werden
müßte?«
»Das ist ein Schluß, der logischerweise aus meinem Buch gezogen werden könnte. Aber diesen Schluß
werden sie nicht ziehen.«
»Und wie steht es mit der Schande, die Sie dem Institut in den Augen intelligenter Menschen bereiten, soweit
es solche noch gibt?«
»Warum sollten wir uns ihretwegen Gedanken machen?«
Dr. Stadler hätte diese Bemerkung noch hingenommen, wäre sie mit Haß, Neid oder Bosheit geäußert worden,
aber das Fehlen jedes dieser Gefühle, der lässige Ton, der fast einem Lachen gleichkam, gewährten ihm einen
kurzen Einblick in etwas, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. In seinem Inneren spürte er kaltes
Entsetzen.
»Haben Sie die Reaktion auf mein Buch verfolgt? Es ist äußerst beifällig aufgenommen worden.«
»Ja – und das kann ich einfach nicht glauben.« Er mußte sprechen, als wäre dies eine Unterhaltung zwischen
Gebildeten; er durfte sich nicht die Zeit nehmen, darüber nachzudenken, was er einen Augenblick lang gefühlt
hatte. »Ich kann wirklich nicht begreifen, daß sich alle angesehenen akademischen Zeitschriften mit Ihrem Buch
ernsthaft auseinandergesetzt haben. Wenn Hugh Akston noch da wäre, hätte es keine akademische Zeitschrift
gewagt, dieses Buch als philosophisches Werk zu betrachten.«
»Akston ist nicht mehr da.«
Dr. Stadler fühlte, daß ihm Worte auf der Zunge lagen, die er aussprechen mußte – und er wollte dieses
Gespräch beenden, ehe er wußte, welche Worte es waren.
»Andererseits«, sagte Dr. Ferris, »die Werbetexte für mein Buch – ach, ich bin sicher, Sie nehmen Werbetexte
nicht zur Kenntnis – zitieren einen äußerst lobenden Brief an mich von Mr. Wesley Mouch.«
»Wer, zum Teufel, ist Mr. Mouch?«
Dr. Ferris lächelte. »Im nächsten Jahr werden selbst Sie diese Frage nicht mehr stellen, Dr. Stadler. Sagen wir:
Mr. Mouch ist der Mann, der augenblicklich das Öl rationiert.«
»Dann schlage ich Ihnen vor, bleiben Sie bei Ihrer Arbeit! Arbeiten Sie mit Mr. Mouch und überlassen Sie
ihm die Ölheizungen. Aber überlassen Sie mir die Ideen.«
»Es wäre interessant zu versuchen, die Demarkationslinie zu ziehen«, sagte Dr. Ferris in eitlem,
akademischem Ton. »Aber wenn wir von meinem Buch sprechen, dann sprechen wir von Public Relations.« Er
drehte sich um und deutete höflich auf die mit Kreide auf die schwarze Tafel geschriebenen mathematischen
Formeln. »Dr. Stadler, es wäre katastrophal, wenn Sie den PR-Problemen erlauben würden, Sie von der Arbeit
abzulenken, die nur Sie allein tun können.«
Er sagte das mit unterwürfiger Hochachtung, und Dr. Stadler wußte nicht, warum er aus diesen Worten
heraushörte: Bleiben Sie bei Ihrer Tafel! Er war innerlich auf sich wütend, denn er sagte sich, daß er sich von
solchen Verdächtigungen freimachen müßte.
»Public Relations?« sagte er wegwerfend. »Ich sehe keinen praktischen Zweck in Ihrem Buch, ich verstehe
nicht, was es soll.«
»Nein?« Dr. Ferris warf ihm einen kurzen Blick zu. Man hätte diesen Blick für unverschämt halten können,
aber er verschwand so schnell wieder, daß es sich nicht mit Sicherheit sagen ließ.
»Ich kann gewisse Dinge in einer zivilisierten Gesellschaft einfach nicht für möglich halten«, sagte Dr.
Stadler streng.
»Wie recht Sie haben«, sagte Dr. Ferris vergnügt. »Sie können es nicht.« Dr. Ferris erhob sich und gab damit
als erster zu verstehen, daß das Gespräch beendet war. »Bitte rufen Sie mich sofort, wenn irgend etwas in diesem
Institut Ihnen Unbehagen verursacht, Dr. Stadler«, sagte er. »Es ist mir stets ein Vergnügen, Ihnen zu dienen.«
Da Dr. Stadler begriff, daß er seine Autorität wahren mußte, sagte er gebieterisch, rauh und sarkastisch, wobei
er die beschämende Erkenntnis unterdrückte, daß dies nur ein kümmerlicher Ersatz war: »Das nächste Mal, wenn
ich Sie zu mir bitte, sorgen Sie dafür, daß Ihr Auto in Ordnung ist.«
»Ja, Dr. Stadler. Ich werde bestimmt nie wieder zu spät kommen, und ich bitte Sie, mir zu verzeihen«, sagte
Dr. Ferris, als stände er auf der Bühne und hätte gerade sein Stichwort bekommen; als freute er sich, daß Dr.
Stadler endlich begann, sich auf einen modernen Kommunikationsstil umzustellen. »Mein Wagen hat mir viel
Ärger verursacht. Er ist nur noch ein Wrack. Ich habe schon vor einiger Zeit einen neuen bestellt, den besten, der
augenblicklich auf dem Markt ist, einen Hammond Cabrio. Aber da Lawrence Hammond in der letzten Woche
ohne Grund oder Vorankündigung seine Firma geschlossen hat, sitze ich in der Patsche. Diese Lumpen scheinen
alle irgendwohin zu verschwinden. Es muß etwas dagegen getan werden!«
Als Ferris gegangen war, saß Dr. Stadler zusammengesunken an seinem Schreibtisch und hatte nur den einen
Wunsch, von niemand gesehen zu werden. In den ihm selbst unerklärlichen Schmerz mischte sich das
verzweifelte Gefühl, daß keiner von denen, die er schätzte, den Wunsch haben würde, ihn jemals wiederzusehen.
Er wußte, was er nicht gesagt hatte. Er hatte nicht gesagt, daß er das Buch in aller Öffentlichkeit anprangern
und es im Namen des Instituts verwerfen würde. Er hatte das nicht gesagt, weil er gefürchtet hatte, daß diese
Drohung Ferris völlig ungerührt lassen würde, daß Ferris sich sicher fühlte, daß ein Wort von Dr. Stadler keine
Macht mehr hatte. Und während er sich sagte, daß er später über die Frage der Veröffentlichung eines Protestes
nachdenken würde, wußte er, daß er es nie tun würde. Er nahm das Buch und warf es in den Papierkorb.
Plötzlich erinnerte er sich so deutlich an ein Gesicht, als sähe er es leibhaftig vor sich, ein junges Gesicht, an
das er sich jahrelang nicht hatte erinnern wollen. Nein, dachte er, er hat das Buch nicht gelesen. Er wird es nicht
sehen. Er ist tot. Er muß schon lange tot sein… Er fühlte einen Stich, so sehr erschrak er über die Entdeckung,
daß er sich nach diesem Menschen mehr sehnte als nach jedem anderen in der Welt und daß er zugleich hoffen
mußte, daß dieser Mensch tot war. Als das Telefon klingelte und seine Sekretärin ihm sagte, Miss Taggart sei am
Apparat, wußte er nicht, warum er den Hörer begierig ergriff. Er bemerkte, daß seine Hand zitterte. Sie würde
ihn nie wieder sehen wollen, hatte er mehr als ein Jahr lang gedacht. Er hörte ihre klare, unpersönliche Stimme.
Sie bat ihn um eine Unterredung. »Ja, Miss Taggart, gewiß, ja natürlich… Montag Vormittag? Ja. Hören Sie,
Miss Taggart, ich habe heute eine Besprechung in New York. Wenn Sie wollen, könnte ich am Nachmittag in
Ihrem Büro vorbeikommen… Nein, nein – es macht mir keine Umstände, es freut mich… Heute nachmittag,
Miss Taggart, gegen zwei – sagen wir lieber gegen vier. Ist Ihnen diese Zeit angenehm?«
Er hatte keine Besprechung in New York. Er dachte gar nicht darüber nach, wieso er dazu gekommen war,
das zu sagen. Er lächelte und blickte zu dem fernen Berg, auf dem ein Sonnenstreifen lag.
Dagny strich den Zug Nr. 93 aus dem Fahrplan, und sie empfand einen Augenblick lang eine traurige
Befriedigung darüber, daß sie es ohne Erregung tat. Es war etwas, das sie in den letzten sechs Monaten schon oft
hatte tun müssen. Anfangs war es ihr schwergefallen, aber jetzt wurde es schon leichter. Der Tag würde
kommen, dachte sie, da es ihr überhaupt nichts mehr ausmachen würde, einen solchen Strich zu ziehen. Der Zug
Nr. 93 war ein Güterzug, der Lebensmittel nach Hammondsville in Colorado transportiert hatte.
Sie wußte, was als nächstes an die Reihe kommen würde: erst die Einstellung der Eilgüterzüge, dann die
Verminderung der Zahl der für Hammondsville bestimmten Güterwagen, die wie arme Verwandte gleichsam an
den Rockschößen von Zügen hingen, die in andere Städte fuhren; darauf würden allmählich immer weniger
Personenzüge in Hammondsville halten, und schließlich würde der Tag kommen, an dem sie Hammondsville
ganz vom Fahrplan streichen mußte. So war es schon mit Wyatt Junction und der Stadt Stockton gewesen.
Sie wußte – seit die Nachricht gekommen war, daß Lawrence Hammond sich aus dem Geschäft
zurückgezogen hatte –, daß es sinnlos war zu warten, zu hoffen und sich zu fragen, ob sein Vetter, sein Anwalt
oder ein Komitee ortsansässiger Bürger die Firma wieder eröffnen würde. Es war Zeit, mit der Beschneidung der
Fahrpläne zu beginnen.
Die Periode nach Ellis Wyatts Verschwinden, die ein Journalist in Aufbruchstimmung »das Fest des kleinen
Mannes« genannt hatte, hatte nicht einmal ein halbes Jahr lang gedauert. Alle im Land, die drei Ölquellen
besaßen und darüber jammerten, daß Ellis Wyatt ihnen keine Chance ließ, ihr Brot zu verdienen, versuchten in
größter Eile, das Loch zu stopfen, das Wyatt weit offen gelassen hatte. Sie schlossen sich zu Verbänden,
Gesellschaften, Genossenschaften zusammen, sie legten ihre Ölquellen zusammen und bedienten sich des
gleichen Briefkopfes. »Ein Platz an der Sonne für alle«, hatte der Journalist geschrieben. Die Sonne, das waren
die Flammen gewesen, die aus den Wyatt-Bohrtürmen züngelten. In ihrem Schein verdienten sie die Vermögen,
von denen sie geträumt hatten, Vermögen, die zu erwerben es keiner Sachkenntnis oder Anstrengung bedurfte.
Dann begannen ihre größten Kunden, sich auf Kohle umzustellen. Die Kraftwerke, die das Öl tankzugweise
verheizten, nahmen keine Rücksicht auf menschliche Schwächen. Und die kleineren Kunden, die nachsichtiger
waren, begannen einer nach dem anderen, die Tore ihrer Firmen zu schließen. Die Politiker in Washington
führten eine Ölrationierung ein und legten den Arbeitgebern eine Notstandssteuer auf, aus der ein
Unterstützungsfond für die Arbeitslosen der erfordernden Industrie finanziert werden sollte. Dann schlossen ein
paar der größeren Ölfirmen, und da entdeckten die kleinen Leute, die sich in ihrem Glück gesonnt hatten, daß ein
Hundert-Dollar-Bohrkopf nun fünfhundert Dollar kostete. Die Hersteller mußten, was sie an fünf Bohrköpfen
verdient hatten, nun an einem verdienen oder zugrunde gehen. Dann wurden die Ölleitungen stillgelegt, da
niemand mehr die Kosten für ihre Instandhaltung aufbringen konnte, und danach erhielten die Eisenbahnen die
Genehmigung, ihre Frachttarife zu erhöhen, da sie nur noch wenig Öl beförderten und die Kosten der noch
verkehrenden Tankzüge schon zwei kleine Eisenbahngesellschaften vernichtet hatten. Und als die Sonne
unterging, sahen sie, daß die niedrigen Betriebskosten, die ihnen einst gestattet hatten, auf sechzig Morgen
großen Feldern zu bestehen, nur durch Wyatts riesige Ölfelder möglich gewesen und mit ihnen in Rauch
aufgegangen waren. Erst als ihre Vermögen dahin waren und ihre Pumpen stillstanden, erkannten die kleinen
Leute, daß keine Firma im Land es sich leisten konnte, Öl zu dem Preis zu kaufen, den es jetzt die Produzenten
selbst kostete. Die Politiker in Washington gewährten ihnen dann Subventionen, aber nicht alle hatten Freunde in
Washington, und es entstand eine Situation, die niemand allzu genau untersuchen oder diskutieren mochte.
Für Andrew Stockton ergab sich eine Lage, um die ihn die gesamte Industrie beneidete. Die Eile, mit der man
sich überall auf Kohle umstellte, wurde für ihn zu einer goldenen Last: Seine Fabrik arbeitete in Tag- und
Nachtschichten. Im Wettlauf mit den Schneestürmen des kommenden Winters goß er Öfen und Kessel in einem
Tempo wie nie zuvor. Es gab nicht mehr viele zuverlässige Gießereien. Seine war zu einer der Hauptstützen der
Heizkeller und der Küchen des Landes geworden. Aber dann stürzte die Säule plötzlich ein. Andrew Stockton
teilte mit, daß er sich aus dem Geschäftsleben zurückziehen wollte, schloß seine Firma und verschwand. Er
hinterließ keinerlei Anweisung, was mit der Firma geschehen sollte, und auch keine Erklärung, ob seine
Verwandten das Recht hatten, sie wieder zu eröffnen.
Es fuhren immer noch Autos auf den Straßen des Landes, aber sie glichen Reisenden in der Wüste, die an
warnenden, von der Sonne gebleichten Pferdeskeletten vorbeikommen: Sie kamen an den Überresten von Autos
vorbei, die während der Fahrt zusammengebrochen und in den Straßengräben liegengelassen worden waren. Die
Menschen kauften keine Autos mehr, und die Autofabriken wurden geschlossen. Aber es gab noch Leute, die mit
Hilfe von Freundschaften, die niemand näher ergründen wollte, Benzin bekamen. Diese Leute kauften Autos zu
jedem geforderten Preis. Die Berge von Colorado glänzten in dem Licht, das die großen Fenster der Fabrik
warfen, aus der die von den Fließbändern laufenden Hammond-Lastwagen und – Autos zu den Gleisen von
Taggart Transcontinental rollten. Die Nachricht, daß Lawrence Hammond sich zurückgezogen hatte, kam, als
man sie am wenigsten erwartete, kurz und plötzlich wie ein einziger Glockenschlag in einer lastenden Stille. Ein
Komitee von ortsansässigen Bürgern bat Lawrence Hammond, dessen Aufenthalt niemand kannte, durch den
Rundfunk um die Erlaubnis, seine Fabrik wieder zu eröffnen. Aber es kam keine Antwort.
Dagny hatte aufgeschrien, als Ellis Wyatt verschwunden war. Sie hatte gestöhnt, als Andrew Stockton sich
zurückzog. Als sie hörte, daß Lawrence Hammond auch weg war, fragte sie gleichgültig: Wer ist der nächste?
»Nein, Miss Taggart, ich kann es nicht erklären«, hatte Andrew Stocktons Schwester ihr auf ihrer letzten
Reise nach Colorado vor zwei Monaten gesagt. »Er hat mir nicht ein Wort davon gesagt, und ich weiß nicht
einmal, ob er tot ist oder noch lebt. Es ist das gleiche wie mit Ellis Wyatt. Nein, an dem Tag vor seinem
Verschwinden ist nichts Besonderes geschehen. Ich erinnere mich nur, daß ein Mann ihn am letzten Abend
aufsuchte. Ein Fremder, den ich nie zuvor gesehen hatte. Sie sprachen bis spät in die Nacht. Als ich schlafen
ging, brannte in Andrews Arbeitszimmer immer noch Licht.«
Die Menschen in den Städten von Colorado waren stumm. Dagny hatte beobachtet, wie sie durch die Straßen
gingen, an den kleinen Drugstores, den Eisenwarengeschäften, den Lebensmittelgeschäften vorüber: als ob sie
hofften, daß der Anblick dieser noch geöffneten Läden sie davor bewahrte, in die Zukunft blicken zu müssen.
Auch sie war durch diese Straßen gegangen und hatte sich bemüht, den Kopf nicht zu heben, um die mit Ruß
und verbogenem Stahl bedeckten Felsen nicht sehen zu müssen, die Wyatts Ölfelder gewesen waren. Man
konnte sie von vielen Städten aus sehen. Hätte sie geradeaus geblickt, sie hätte sie in der Ferne sehen können.
Eine Ölquelle auf dem Kamm des Berges brannte noch. Niemand konnte das Feuer löschen. Sie hatte es von
den Straßen aus gesehen: eine zum Himmel auflodernde riesige Feuersäule, die aussah, als ob sie sich losreißen
wollte. Sie hatte sie nachts aus hundert Meilen Entfernung vom Fenster eines Zuges aus gesehen: eine kleine
wilde Flamme, die im Wind flackerte. Die Leute nannten sie Wyatts Fackel.
Der längste Zug auf der John-Galt-Linie bestand aus vierzig Wagen. Der schnellste fuhr mit fünfzig Meilen in
der Stunde. Die Lokomotiven mußten geschont werden. Es waren mit Kohle geheizte Lokomotiven, die schon
längst auf den Schrotthaufen gehört hätten. Jim trieb irgendwie das Öl für die Dieselloks auf, die den Comet
zogen und ein paar der transkontinentalen Güterzüge. Der einzige Brennstofflieferant, auf den man noch zählen
konnte, war Ken Danagger von Danagger Coal in Pennsylvania.
Fast leere Züge ratterten durch die vier Staaten, die als Nachbarn zwangsweise an Colorado gebunden waren.
Sie beförderten ein paar Schafe, ein wenig Mais, einige Melonen und hin und wieder einen Farmer mit seiner
aufgeputzten Familie, der Freunde in Washington hatte. Jim erhielt einen Zuschuß aus Washington für jeden
Zug, den er nicht als gewinnorientierter Unternehmer, sondern zur Erfüllung des Anspruchs auf
»Gleichbehandlung« verkehren ließ.
Dagny mußte ihre letzte Energie einsetzen, um den Zugverkehr auf den Strecken aufrechtzuerhalten, wo er
noch gebraucht wurde, in den Gebieten, in denen die Produktion noch nicht lahmgelegt war. Aber in der Bilanz
von Taggart Transcontinental stellten die Zuschüsse, die Jim für seine leeren Züge erhielt, einen größeren Posten
dar als die Gewinne der besten Güterzüge in den produktivsten Industriegebieten.
Jim prahlte, dies seien die sechs einträglichsten Monate in der Taggart-Geschichte gewesen. In den Berichten
an seine Aktionäre fungierte das Geld, das er nicht verdient hatte, als Gewinn – die Zuschüsse für leere Züge;
und ebenso das Geld, das ihm nicht gehörte – die Summen, die für die Zinsen und die Rückzahlung der Taggart-
Obligationen hätten verwendet werden müssen, die Schulden, die er nach dem Willen von Wesley Mouch nicht
zu bezahlen brauchte. Er protzte mit der großen Menge der von Taggart-Zügen in Arizona beförderten Fracht,
wo Dan Conway die letzte Phoenix-Durango-Strecke stillgelegt hatte, und in Minnesota, wo Paul Larkin sein
Eisenerz mit der Bahn befördern ließ und das letzte der Erzs chiffe von den großen Seen verschwunden war.
»Du hast Geldmachen stets als eine so bedeutende Tugend angesehen«, sagte Jim mit einem seltsamen
Lächeln zu Dagny. »Ich scheine mich besser darauf zu verstehen als du.«
Niemand wagte zu behaupten, daß er das Einfrieren der Eisenbahnobligationen verstand. Vielleicht, weil jeder
es zu gut verstand. Anfangs hatte es Anzeichen einer Panik bei den Aktionären und einer gefährlichen
Entrüstung in der Öffentlichkeit gegeben. Daraufhin hatte Wesley Mouch eine andere Verordnung
herausgegeben, wonach die Obligationen im Falle dringender Notlagen ‘entfrostet’ werden konnten: Die
Regierung kaufte die Obligationen, wenn die Notlage ausreichend belegt wurde. Es waren da drei Fragen, die
keiner stellte oder beantwortete: Worin bestand der Beleg? Was war eine Notlage? Für wen mußte sie dringend
sein?
Es galt als unfein, darüber zu diskutieren, warum der eine sein Geld bekam und der andere nicht. Die
Menschen wandten sich stumm ab, wenn jemand fragte: Warum? Man sollte die Tatsachen hinnehmen, sie nicht
erklären oder beurteilen: Mr. Smith hatte sein Geld zurückerhalten, Mr. Jones nicht. Das war alles. Und wenn
Mr. Jones Selbstmord beging, sagten die Leute: »Ich weiß nicht, wenn er sein Geld wirklich benötigt hätte, hätte
die Regierung es ihm gegeben. Aber manche Menschen sind eben habgierig.«
Es gehörte sich nicht, über die zu sprechen, die nach Ablehnung ihres Antrags ihre Obligationen für ein
Drittel des Wertes an andere verkauften, deren Notlage so groß war, daß wie durch ein Wunder dreiunddreißig
»eingefrorene« Cents zu einem ganzen »entfrosteten« Dollar wurden. Und man sprach auch nicht über einen
neuen Beruf, der von cleveren jungen Männern ausgeübt wurde, die gerade aus dem College kamen. Sie nannten
sich »Entfroster« und erboten sich, »zu helfen, den Antrag in der richtigen modernen Form abzufassen«. Die
jungen Männer hatten Freunde in Washington.
Als Dagny vom Bahnsteig eines ländlichen Bahnhofs auf die Taggart-Gleise sah, empfand sie nicht den
strahlenden Stolz von einst, sondern ein Gefühl von Schuld und Scham, als hätte sich das Metall mit einem
scheußlichen Rost überzogen, an dem, als wäre alles nicht schon furchtbar genug, Blut klebte. Aber dann sah sie
in der Halle des New Yorker Terminals auf die Statue von Nat Taggart und dachte: Es waren deine Gleise. Du
hast sie geschaffen, du hast dafür gekämpft. Du hast dich nicht durch Furcht oder Haß hemmen lassen. Ich werde
sie denen, die sie mit Blut und Rost besudeln, nicht ausliefern. Und ich bin die einzige, die noch da ist, um sie zu
hüten.
Sie hatte ihre Suche nach dem Erfinder des Motors nicht aufgegeben. Nur dieser Teil ihrer Arbeit ließ sie das
Übrige ertragen. Nur dieses sichtbare Ziel gab ihrem Kampf einen Sinn. Manchmal fragte sie sich, warum sie
den Motor rekonstruieren wollte. Wofür? schien eine Stimme sie zu fragen. Weil ich noch lebe, antwortete sie.
Aber ihre Suche blieb erfolglos. Ihre beiden Ingenieure hatten in Wisconsin nichts gefunden. Sie hatte sie im
ganzen Land auf die Suche nach Männern geschickt, die in der Fabrik gearbeitet hatten, um den Namen des
Erfinders herauszubekommen. Aber sie hatten nichts herausbekommen. Sie hatte sie in den Akten des
Patentamtes stöbern lassen, doch der Motor war nie als Patent angemeldet worden.
Von ihrer eigenen Suche war nichts übriggeblieben als der Zigarettenstummel mit dem Dollarzeichen. Sie
hatte ihn vergessen, bis sie ihn eines Abends in einem Fach ihres Schreibtisches gefunden und dann ihrem
Freund vom Zeitungsstand in der Halle des Terminals gegeben hatte. Der alte Mann hatte den Stummel
verwundert betrachtet, während er ihn behutsam zwischen zwei Fingern hielt. Er hatte nie etwas von dieser
Marke gehört und fragte sich, wieso sie ihm hatte entgehen können.
»War es gute Qualität, Miss Taggart?«
»Die beste, die ich je geraucht habe.«
Er hatte verwundert den Kopf geschüttelt. Er hatte ihr versprochen, danach zu forschen, wo diese Zigaretten
hergestellt wurden, und ihr eine Schachtel zu besorgen.
Sie hatte versucht, einen Wissenschaftler zu finden, dem es vielleicht gelingen würde, den Motor zu
rekonstruieren. Sie hatte mit den Männern gesprochen, die man ihr als die besten Spezialisten empfohlen hatte.
Der erste hatte, nachdem er die Reste des Motors und des Manuskripts studiert hatte, im Ton eines Feldwebels
erklärt, das Ding könne nicht funktionieren, habe nie funktioniert, und er werde beweisen, daß so ein Motor
niemals funktionieren würde. Der zweite hatte gelangweilt gesagt, als wäre es eine Zumutung für ihn, eine
solche Frage zu beantworten, er wisse nicht, ob man den Motor rekonstruieren könne, und es reize ihn auch
nicht, das herauszufinden. Der dritte hatte mit aggressiver Dreistigkeit gesagt, er würde die Aufgabe
übernehmen, wenn er einen Zehnjahresvertrag mit fünfundzwanzigtausend Dollar jährlich erhielte. »Wenn Sie
von diesem Motor riesige Gewinne erwarten, Miss Taggart, ist es nur recht und billig, daß Sie mir die Zeit
bezahlen, die ich dabei aufs Spiel setze.« Der vierte und jüngste hatte sie einen Augenblick lang stumm
angesehen. Der verdutzte Ausdruck seines Gesichts wurde plötzlich arrogant. »Wissen Sie, Miss Taggart, meiner
Meinung nach sollte so ein Motor nie gebaut werden, selbst wenn jemand es könnte. Er würde allem, was wir bis
jetzt besitzen, so überlegen sein, daß es weniger begabten Wissenschaftlern gegenüber unfair sein würde, denn
für ihre Leistungen und Fähigkeiten bliebe dann kein Platz. Ich finde, der Starke ist nicht dazu berechtigt, die
Selbstachtung des Schwachen zu verletzen.« Sie hatte ihn aus ihrem Büro hinausgeworfen und voll Entsetzen
begriffen, daß diese niederträchtigste Bemerkung, die sie je gehört hatte, im Ton moralischer Rechtschaffenheit
geäußert worden war. Der Entschluß, mit Dr. Robert Stadler zu sprechen, war ihre letzte Zuflucht gewesen.
Gegen einen inneren Widerstand hatte sie sich gezwungen, ihn anzurufen. Sie hatte mit sich gerungen. Sie
hatte gedacht: Ich gehe mit Männern wie Jim und Orren Boyle um. Seine Schuld ist geringer als ihre. Warum
kann ich also nicht mit ihm sprechen? Sie hatte keine Antwort darauf gefunden, hatte nur ein eigensinniges
Widerstreben gespürt, nur das Gefühl, daß von allen Männern auf Erden Dr. Robert Stadler der eine war, an den
sie sich nicht wenden durfte.
Als sie über den Fahrplänen der John-Galt-Linie an ihrem Schreibtisch saß und auf Dr. Stadler wartete, fragte
sie sich, warum seit Jahren keine überragende wissenschaftliche Begabung aufgetaucht war. Sie konnte keine
Antwort darauf finden. Sie blickte auf den schwarzen Strich in dem Fahrplan vor ihr, der das Todesurteil für den
Zug Nr. 93 war.
Ein Zug hat zwei große Lebensmerkmale, dachte sie, Bewegung und Ziel. Dieser Zug war gleichsam ein
lebendiges Wesen gewesen, aber jetzt war er nur noch eine tote Nummer. Laß dir keine Zeit für Gefühle, dachte
sie. Zerstückle den Leichnam so schnell wie möglich, Ken Danagger in Pennsylvania braucht Züge, mehr Züge,
wenn erst…
»Dr. Robert Stadler«, sagte eine Stimme im Haustelefon, das auf ihrem Schreibtisch stand.
Er kam herein und redete sie lächelnd an: »Miss Taggart, glauben Sie mir, wie unendlich froh ich bin, Sie
wiederzusehen.«
Sie lächelte nicht, sondern blickte ihn höflich ernst an, als sie antwortete: »Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie
hergekommen sind.« Sie stand kerzengerade und verneigte sich nur leicht.
»Würde es Sie wundern, wenn ich Ihnen gestände, daß es für mich nur einer plausiblen Entschuldigung
bedurfte, um zu Ihnen zu kommen?«
»Ich würde versuchen, Ihre Höflichkeit nicht zu überschätzen«, erwiderte sie, ohne zu lächeln. »Bitte nehmen
Sie Platz, Dr. Stadler.«
Er blickte anerkennend um sich. »Ich habe nie das Büro eines Eisenbahnmanagers gesehen. Ich wußte nicht,
daß es so… so feierlich ist. Gehört das zum Beruf?«
»Die Sache, in der ich Sie um Ihren Rat bitten möchte, liegt von Ihrem Interessengebiet weit ab, Dr. Stadler.
Sie finden es vielleicht merkwürdig, daß ich mich gerade an Sie wende. Aber ich möchte Ihnen den Grund
erklären.«
»Die Tatsache, daß Sie sich gerade an mich wenden ist ein ausreichender Grund. Ich wüßte nicht, was mir im
Augenblick eine größere Freude wäre, als Ihnen irgendwie zu Diensten zu sein.« Sein Lächeln hatte etwas
Anziehendes, es war das Lächeln eines Mannes von Welt, der damit nicht seine Worte verdecken, sondern die
Kühnheit unterstreichen wollte, daß er einem ehrlichen Gefühl Ausdruck gab.
»Es handelt sich um ein technologisches Problem«, sagte Dagny deutlich und sachlich wie eine junge
Mechanikerin, die über eine schwierige Aufgabe spricht. »Ich bin mir vollkommen im klaren darüber, daß Sie
diesen Wissenschaftszweig verachten. Ich erwarte nicht von Ihnen, daß Sie mein Problem lösen – es ist nicht die
Art von Arbeit, mit der Sie sich befassen. Ich möchte Ihnen nur das Problem unterbreiten und Ihnen dann zwei
Fragen stellen. Ich mußte Sie anrufen, weil es eine Sache ist, die nur ein großer, ein sehr großer Geist verstehen
kann, und« – sie sprach unpersönlich wie jemand, der ein gerechtes Urteil fällt – »und Sie sind der einzige große
Geist, den es auf diesem Gebiet noch gibt.«
Sie wußte nicht, warum ihre Worte ihn so trafen. Sie sah sein regloses Gesicht, den plötzlichen Ernst in seinen
Augen, einen seltsamen Ernst, der eifrig und fast flehend wirkte. Dann hörte sie seine Stimme wie unter dem
Druck eines Gefühls, das sie schlicht und demütig klingen ließ, sagen:
»Um was für ein Problem handelt es sich, Miss Taggart?«
Sie berichtete ihm von dem Motor und wo sie ihn gefunden hatte. Sie sagte ihm, daß sie den Namen des
Erfinders nicht erfahren hatte. Sie erwähnte nicht die Einzelheiten ihrer Suche. Sie reichte ihm die Fotos des
Motors und das, was von dem Manuskript noch erhalten war.
Sie beobachtete ihn, als er es las. Sie sah professionelle Sicherheit in der zügigen forschenden Art, wie seine
Augen anfangs über den Text glitten, sah dann, wie er innehielt, wie seine Spannung wuchs, sah eine Bewegung
seiner Lippen, die bei einem anderen Mann ein Pfeifen oder ein Stöhnen gewesen wäre. Sie sah, wie er
aufblickte und lange Minuten überlegte, als ob sein Geist unzähligen Spuren nachjagte, die er plötzlich entdeckte
und die er alle zu verfolgen versuchte – sah ihn die Seiten zurückblättern, dann von neuem innehalten, sich
zwingen weiterzulesen, als würde er hin- und hergerissen zwischen der Begierde, mehr zu erfahren, und dem
Bestreben, all die Möglichkeiten zu erfassen, die sich vor ihm auftaten. Sie sah seine stumme Erregung, sie
bemerkte, daß er ihr Büro vergessen hatte, ihre Anwesenheit, alles außer der Leistung, die er vor sich sah – und
weil er dieser Reaktion fähig war, hätte sie sich gewünscht, ihn gern haben zu können.
Sie hatten über eine Stunde lang geschwiegen, als er mit der Lektüre fertig war und zu ihr aufblickte. »Aber
das ist ja außerordentlich«, sagte er freudig erstaunt, als ob er ihr eine Neuigkeit mitteilte, die sie nicht hatte
erwarten können.
Sie hätte gern darauf mit einem Lächeln geantwortet und mit ih m wie mit einem Kameraden eine frohe
Entdeckung gefeiert, aber sie nickte nur und sagte kühl: »Ja.«
»Aber, Miss Taggart, das ist ja ungeheuer!«
»Ja.«
»Sagten Sie, es sei eine technologische Angelegenheit? Es ist mehr, viel, viel mehr als das. Die Seiten, auf
denen er von seinem Wandler spricht – da sieht man gleich, von welcher Prämisse er ausgeht. Er ist zu einem
neuen Energiebegriff gelangt. Er hat unsere üblichen Voraussetzungen abgetan, nach denen sein Motor
unmöglich gewesen wäre. Er hat eine neue eigene Prämisse formuliert, und er hat das Geheimnis gelöst,
statische in kinetische Energie zu verwandeln. Wissen Sie, was das bedeutet? Ist Ihnen klar, was für eine
Leistung reiner abstrakter Wissenschaft er vollbringen mußte, bevor er seinen Motor bauen konnte?«
»Wer?« fragte sie ruhig.
»Wie bitte?«
»Das war die erste der beiden Fragen, die ich Ihnen stellen wollte, Dr. Stadler: Kennen Sie einen jungen
Wissenschaftler, der Ihnen vor etwa zehn Jahren begegnet sein könnte und der dazu fähig gewesen wäre?«
Er schwieg erstaunt. Er hatte keine Zeit gehabt, über diese Frage nachzudenken. »Nein«, sagte er dann leise,
die Stirn runzelnd. »Nein, ich kenne keinen… Und das ist seltsam… Denn eine solche Begabung hätte überall
auffallen müssen… Jemand würde meine Aufmerksamkeit auf sie gelenkt haben… Man schickt immer
vielversprechende junge Physiker zu mir… Sagten Sie, daß Sie das im Forschungslaboratorium einer
gewöhnlichen Motorenfabrik gefunden haben?«
»Ja.«
»Merkwürdig. Was hat er in so einer Fabrik gemacht?«
»Einen Motor entworfen.«
»Ja, eben. Ein wissenschaftliches Genie, das sich dazu entschließt, etwas für den Handelsgebrauch zu
erfinden. Ich finde das ungeheuerlich. Er wollte einen Motor bauen und hat in aller Stille, als ein Mittel zum
Zweck, eine Revolution in der Energiewissenschaft durchgeführt. Er hat sich nicht die Mühe gemacht, seine
Entdeckung zu veröffentlichen, sondern gleich seinen Motor gebaut. Warum hat er seinen Geist an etwas
Praktisches verschwendet?«
»Vielleicht, weil er es liebte, auf dieser Erde zu leben«, sagte sie, ohne es zu wollen.
»Was meinten Sie?«
»Nein, ich… entschuldigen Sie, Dr. Stadler, ich wollte nicht über ein… ein so belangloses Thema sprechen.«
Seinen eigenen Gedanken nachhängend, blickte er in die Ferne. »Warum ist er nicht zu mir gekommen?
Warum war er nicht in irgendeinem großen wissenschaftlichen Institut, wohin er gehörte? Er hatte die Gabe, eine
solche Leistung zu vollbringen, und er wußte bestimmt, wie bedeutend das war, was er geschaffen hatte. Warum
veröffentlichte er nicht einen Aufsatz über seine Definition der Energie? Ich sehe zwar den Weg, den er
eingeschlagen hat, aber die wichtigsten Seiten fehlen, die Beweisführung ist nicht da. Irgend jemand in seiner
Umgebung hätte doch bestimmt genug davon verstehen müssen, um sein Werk der ganzen wissenschaftlichen
Welt vorzustellen. Warum hat man es nicht getan? Wie konnte man so etwas einfach im Stich lassen?«
»Das sind die Fragen, auf die ich keine Antwort gefunden habe.«
»Und abgesehen von dem rein praktischen Aspekt, warum ist der Motor in einem Schutthaufen
zurückgelassen worden? Man müßte doch denken, daß irgendein gieriger Industrieller zugegriffen hätte, um
damit ein Vermögen zu verdienen. Es bedurfte keiner Intelligenz, um seinen Handelswert zu erkennen.«
Dagny lächelte zu m ersten Mal; es war ein bitteres Lächeln. Aber sie schwieg.
»Es ist Ihnen unmöglich gewesen, dem Erfinder auf die Spur zu kommen?«
»Ganz unmöglich – bisher.«
»Glauben Sie, daß er noch lebt?«
»Ich habe Grund zu glauben, daß er noch lebt, aber ich habe keine Beweise dafür.«
»Und wenn ich eine Suchanzeige aufgäbe?«
»Nein, tun Sie das nicht.«
»Aber wenn ich eine solche Anzeige in wissenschaftlichen Zeitschriften aufgäbe und Dr. Ferris« – er hielt
inne; er sah, daß sie ihn ebenso anblickte wie er sie; sie sagte nichts, aber sie hielt seinem Blick stand; er blickte
weg und vollendete den Satz kühl und bestimmt – »und Dr. Ferris veranlaßte, durch den Rundfunk
bekanntzugeben, daß ich ihn sprechen möchte, würde er es dann ablehnen zu kommen?«
»Ja, Dr. Stadler, ich glaube, er würde es ablehnen.«
Er sah sie nicht an. Sie sah, wie sich seine Gesichtsmuskeln ein wenig spannten und wie trotzdem etwas in
seinem Gesicht erschlaffte; sie wußte nicht, was für ein Licht in ihm erlosch, noch wieso sie an das Erlöschen
eines Lichts dachte.
Mit einer achtlosen, verächtlichen Bewegung seines Handgelenks warf er das Manuskript auf den
Schreibtisch. »Solche Männer, die auf das Praktische so wenig Wert legen, daß sie ihre Gaben nicht für Geld
verkaufen, sollten sich eine gewisse Kenntnis der Bedingungen der praktischen Wirklichkeit aneignen.«
Er blickte Dagny fast herausfordernd an, als ob er eine ärgerliche Antwort erwartete. Aber ihre Antwort war
schlimmer als Ärger; ihr Gesicht blieb ausdruckslos, als interessiere es sie nicht mehr, ob seine Überzeugung
richtig oder falsch war. Sie sagte höflich: »Als zweites wollte ich Sie fragen, ob Sie mir den Namen eines Ihnen
bekannten Physikers nennen können, der nach Ihrer Meinung die Rekonstruktion dieses Motors versuchen
könnte.«
Dr. Stadler blickte sie an und lachte. Es war ein trauriges Lachen. »Hat Sie das auch so gequält, Miss Taggart?
Daß man nirgendwo mehr Intelligenz finden kann?«
»Ich habe mit einigen Physikern gesprochen, die mir warm empfohlen worden waren, aber es waren lauter
hoffnungslose Trottel.«
Er beugte sich vor und fragte: »Miss Taggart, haben Sie sich im Vertrauen auf die Integrität meines
wissenschaftlichen Urteils an mich gewendet?«
Die Frage war ein unverhülltes Flehen.
»Ja«, antwortete sie ruhig, »im Vertrauen auf die Integrität Ihres wissenschaftlichen Urteils.«
Er lehnte sich zurück; es sah aus, als ob ein verstecktes Lächeln die Spannung in seinem Gesicht löste. »Ich
wünschte, ich könnte Ihnen helfen«, sagte er wie zu einem Kameraden. »Aus ganz eigennützigen Gründen
wünschte ich, ich könnte Ihnen helfen, denn, wissen Sie, das ist mein schwerstes Problem: begabte Mitarbeiter
zu finden. Begabung! Ich wäre schon mit dem Anschein von Begabung zufrieden. Aber die Aspiranten, die man
mir schickt, haben nicht einmal das Zeug, anständige Automechaniker zu werden. Ich weiß nicht, ob ich älter
werde und darum immer mehr fordere oder ob die Menschheit immer mehr verkümmert. Aber in meiner Jugend
schien mir die Welt nicht so bar jeder Intelligenz. Wenn Sie sehen könnten, was sich bei mir vorstellt, würden
Sie…«
Er hielt jäh inne, als fiele ihm plötzlich etwas ein. Er schwieg, er schien über etwas nachzudenken, wollte es
ihr aber nicht sagen. Daß er es nicht wollte, wurde ihr zur Gewißheit, als er in jenem grollenden Ton, hinter dem
sich eine Ausflucht verbirgt, brüsk schloß: »Nein, ich kenne niemand, den ich Ihnen empfehlen könnte.«
»Das war alles, was ich Sie fragen wollte, Dr. Stadler«, sagte sie. »Ich danke Ihnen, daß Sie mir Ihre Zeit
geopfert haben.«
Er blieb einen Augenblick lang stumm sitzen, als ob er sich nicht entschließen könnte aufzustehen.
»Miss Taggart«, fragte er, »könnten Sie mir die Reste des Motors zeigen?«
Sie blickte ihn erstaunt an. »Ja… wenn Sie es wollen. Aber sie liegen in einer unterirdischen Stahlkammer in
einem unserer Tunnel.«
»Es wäre mir sehr recht. Falls es Ihnen nichts ausmacht, mich dort hinunterzuführen. Ich möchte es aus
keinem besonderen Grund. Es ist lediglich meine persönliche Neugier. Ich würde den Motor gern sehen – das ist
alles.«
Als sie in dem Granitgewölbe standen, vor einem Glaskasten, der die Reste des Motors enthielt, zog er mit
einer langsamen, abwesenden Bewegung den Hut – und sie wußte nicht, tat er es um der Konvention willen, weil
ihm einfiel, daß er sich mit einer Dame in einem Raum befand, oder entblößte er sein Haupt wie vor einem Sarg?
Sie standen schweigend im Schein einer einzigen Lampe, der von dem Glasgehäuse auf ihre Gesichter
zurückstrahlte. In der Ferne ratterten Zugräder, und ein paarmal schien es, als ob ein plötzliches stärkeres Zittern
die Leiche im Glaskasten erweckte und ihr eine Antwort entlockte.
»Es ist so wundervoll«, sagte Dr. Stadler leise. »Es ist so wundervoll, eine große, neue, umwälzende Idee zu
sehen, die nicht die meine ist.«
Sie blickte ihn an und hoffte, sie habe ihn richtig verstanden. Er sprach in leidenschaftlicher Aufrichtigkeit,
schob jede Konvention, schob die Sorge beiseite, ob er ihr seine Qual beichten durfte, sah nichts als das Gesicht
einer Frau, die ihn verstehen konnte:
»Miss Taggart, kennen Sie das Merkmal der Zweitklassigen? Es ist der Ärger über die Leistung eines
anderen. Diese empfindlichen Mittelmäßigen, die immer darum zittern, daß die Arbeit eines anderen sich als
größer als ihre eigene erweisen könnte. Sie haben keine Ahnung von der Einsamkeit, die einen umgibt, wenn
man den Gipfel erreicht; von dem Verlangen nach einem Ebenbürtigen, einem Geist, den man achten, und einer
Leistung, die man bewundern kann. Sie fletschen einen aus ihren Rattenlöchern an, weil sie glauben, es mache
einem Freude, ihr Licht durch den eigenen Glanz zu verdunkeln, während man ein Jahr seines Lebens dafür
geben würde, um irgendwo unter ihnen einen Funken von Begabung zu entdecken. Sie sind auf Leistung
neidisch, und ihr Traum von Größe ist eine Welt, in der sie allen anderen Menschen überlegen sind. Sie wissen
nicht, daß dieser Traum der unwiderlegliche Beweis der Mittelmäßigkeit ist, denn in einer solchen Welt würde es
ein herausragender Intellekt nicht aushalten können. Sie können sich nicht vorstellen, was so jemand empfindet,
wenn er von Menschen umgeben ist, die ihm das Wasser nicht reichen können. Haß? Nein, keinen Haß, sondern
Langeweile – die furchtbare, hoffnungslose, lähmende Langeweile. Was bedeuten Lob und Schmeichelei von
Menschen, die man nicht achtet? Haben Sie je die Sehnsucht nach jemand gespürt, den Sie bewundern können?«
»Ja, ich habe sie mein Leben lang gefühlt«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte er – und der Ton unpersönlicher Güte, in dem er das sagte, verriet innere Größe. »Ich wußte
es schon, als ich zum ersten Mal mit Ihnen sprach. Darum bin ich heute gekommen…« Er hielt eine Sekunde
lang inne, aber sie reagierte nicht auf die Bitte, und er schloß mit der gleichen ruhigen Güte: »Darum wollte ich
den Motor sehen.«
»Ich verstehe«, sagte sie sanft. Der Ton ihrer Stimme war die einzige Form der Anerkennung, die sie ihm
gewähren konnte.
»Miss Taggart«, sagte er und blickte auf den Glaskasten hinunter, »ich kenne einen Mann, der fähig wäre, den
Motor zu rekonstruieren. Er würde nicht für mich arbeiten – und darum ist er wahrscheinlich der richtige Mann
für Sie.« Aber als er den Kopf hob – und ehe er den Blick der Bewunderung in ihren Augen sah, den
unverhüllten Blick, um den er sie gebeten hatte, den Blick der Vergebung –, zerstörte er den einzigen
Augenblick der Sühne dadurch, daß er im sarkastischen Ton eines Salongesprächs hinzufügte: »Offensichtlich
will der junge Mann nicht für das Wohl der Gesellschaft oder der Wissenschaft arbeiten. Er hat mir gesagt, er
würde keine Stellung bei der Regierung annehmen. Ich vermute, ihm liegt an dem höheren Einkommen, das er
von einem Privatunternehmen erhoffen kann.«
Er wandte sich ab. Er wollte nicht sehen, wie der Blick aus ihrem Gesicht verschwand, um sich nicht klar
machen zu müssen, was er bedeutet hatte.
»Ja«, sagte sie mit harter Stimme, »er ist wahrscheinlich der richtige Mann für mich.«
»Es ist ein junger Physiker vom Utah Institute of Technology«, sagte er. »Er heißt Quentin Daniels. Ein
Freund von mir hat ihn vor ein paar Monaten zu mir geschickt. Er hat mich aufgesucht, aber er wollte die
Stellung, die ich ihm anbot, nicht annehmen. Er sollte einer meiner Mitarbeiter werden. Er ist der geborene
Wissenschaftler. Ich weiß nicht, ob es ihm gelingt, Ihren Motor zu rekonstruieren, aber zumindest hat er die
Fähigkeit, es zu versuchen. Ich glaube, Sie können ihn noch beim Utah Institute of Technology erreichen. Ich
weiß nicht, was er jetzt dort tut – die Hochschule ist vor einem Jahr geschlossen worden.«
»Ich danke Ihnen, Dr. Stadle r. Ich werde mich mit ihm in Verbindung setzen.«
»Wenn… wenn Sie es wollen, werde ich ihm gern bei dem theoretischen Teil der Sache helfen. Ich werde von
den Hinweisen in dem Manuskript ausgehen und selbst eine Forschungsarbeit beginnen. Ich möchte gern hinter
das entscheidende Geheimnis der Energie kommen, das der Autor entdeckt hat. Wir müssen sein Grundprinzip
verstehen. Wenn uns das gelingt, wird Mr. Daniels vielleicht den Motor rekonstruieren können.«
»Ich werde jede Hilfe zu schätzen wissen, die Sie mir gewähren, Dr. Stadler.«
Sie gingen stumm durch den toten Tunnel des Terminals, über die Schwellen verrosteter Gleise, die von einer
Kette blauer Lichter beleuchtet wurden, dem fernen Licht der Bahnsteige entgegen.
Am Ausgang des Tunnels sahen sie einen Mann auf den Gleisen knien und verzweifelt auf einer Weiche
herumhämmern. Ein anderer Mann sah ihm dabei ungeduldig zu und fragte:
»Was ist mit dem verdammten Ding los?«
»Weiß ich nicht.«
»Du hämmerst jetzt schon eine Stunde.«
»Ja.«
»Wie lange willst du noch machen?«
»Wer ist John Galt?«
Dr. Stadler zuckte zusammen. Als sie an den Männern vorüber waren, sagte er: »Ich mag diese Redensart
nicht.«
»Ich auch nicht«, antwortete sie.
»Woher kommt sie?«
»Das weiß niemand.«
Sie schwiegen einen Augenblick, dann sagte er: »Ich habe einst einen John Galt gekannt. Aber er ist längst
tot.«
»Wer war er?«
»Ich habe lange geglaubt, er lebe noch, aber jetzt bin ich sicher, daß er tot ist. Er war so hochbegabt, daß,
wenn er noch lebte, die ganze Welt heute von ihm sprechen würde.«
»Aber die ganze Welt spricht von ihm.«
Er blieb stehen. »Ja…«, sagte er leise und dachte über etwas nach, das ihm noch nie zuvor in den Sinn
gekommen war. »Ja… Warum?«
Es klang wie ein Angstschrei.
»Wer war er, Dr. Stadler?«
»Warum spricht man von ihm?«
»Wer war er?«
Er schüttelte schaudernd den Kopf und sagte scharf: »Es ist nur Zufall. Der Name ist gar nicht so
ungewöhnlich. Es ist eine Namensgleichheit, die nichts zu sagen hat. Es hat nichts mit dem Mann zu tun, den ich
kannte. Der ist tot.« Er wollte sich selbst nicht zugeben, was die Worte bedeuteten, die er hinzufügte: »Er muß
tot sein.«
Auf dem Auftrag, der auf Hank Reardens Schreibtisch lag, stand: Vertraulich! Eilig! Mit Vorrang zu
behandeln! Vom Büro des Spitzenkoordinators geprüfter dringender Bedarf! Betrifft Projekt X! – und daß
Rearden zehntausend Tonnen Rearden Metal an das State Science Institute verkaufen sollte.
Rearden las es und sah zu seinem Betriebsleiter auf, der reglos vor ihm stand. Der Betriebsleiter war
hereingekommen und hatte den Auftrag wortlos auf seinen Schreibtisch gelegt.
»Ich glaubte, Sie würden das sehen wollen«, sagte er als Antwort auf Reardens Blick.
Rearden drückte auf einen Knopf, worauf Miss Ives erschien. Er übergab ihr den Auftrag und sagte:
»Schicken Sie das dorthin zurück, woher es gekommen ist. Teilen Sie ihnen mit, daß ich kein Rearden Metal an
das State Science Institute verkaufe.«
Owen Ives und der Betriebsleiter blickten erst ihn, dann sich und dann wieder ihn an. Was er in ihren Augen
las, war freudige Zustimmung.
»Ja, Mr. Rearden«, sagte Owen Ives sachlich und ergriff das Papier, als wäre es irgendein Wisch. Sie
verneigte sich und verließ den Raum. Der Betriebsleiter folgte ihr.
Rearden lächelte leise, erfreut über das, was sie empfanden. Er machte sich keine Gedanken über dieses
Papier oder die möglichen Konsequenzen.
In einer Art innerer Erstarrung – als hätte er einen Stecker herausgezogen, um den Strom seiner Gefühle
abzuschalten – hatte er vor sechs Monaten zu sich gesagt: Handle erst, halte das Werk in Gang – und fühle
später. Dadurch konnte er die Auswirkung des Chancenausgleichsgesetzes leidenschaftslos beobachten.
Niemand hatte gewußt, wie man dieses Gesetz befolgen sollte. Anfangs hatte man ihm gesagt, er dürfe nicht
mehr Rearden Metal produzieren als die Menge der besten Speziallegierung, die Orren Boyle produzierte. Aber
Orren Boyles beste Speziallegierung war eine minderwertige Mixtur, die niemand kaufen wollte. Dann hatte man
ihm gesagt, er dürfe soviel Rearden Metal produzieren, wie Orren Boyle produzieren könnte, wenn er es könnte.
Niemand hatte gewußt, wie man das feststellen sollte. Jemand in Washington hatte eine Zahl genannt, eine
Anzahl von Tonnen im Jahr, aber keine Erklärung dazu gegeben. Und dabei war es geblieben.
Er hatte nicht gewußt, wie er jedem Kunden, der es verlangte, einen gerechten Anteil Rearden Metal geben
sollte. Die Lieferfrist betrug schon drei Jahre, selbst wenn er mit voller Kapazität hätte arbeiten dürfen. Tag für
Tag gingen neue Aufträge ein. Es waren nicht mehr Aufträge im alten ehrenwerten Handelssinn; es waren
Forderungen. Das Gesetz sah vor, daß jeder Kunde ihn verklagen konnte, der nicht seinen gerechten Anteil an
Rearden Metal erhielt.
Niemand hatte gewußt, wie man feststellen sollte, was ein gerechter Anteil von welcher Menge war. Dann
war ein gerade vom College gekommener cleverer junger Mann aus Washington als »beauftragter
Verteilungsdirektor« zu ihm geschickt worden. Nach vielen Telefongesprächen mit der Hauptstadt erklärte der
junge Mann, daß jeder Kunde fünfhundert Tonnen bekomme sollte, und zwar in der Reihenfolge des
Auftragseingangs. Niemand hatte gegen diese Zahl Einspruch erhoben. Es ließ sich nicht dagegen
argumentieren; die Zahl hätte genausogut ein Pfund oder eine Million Tonnen sein können. Der junge Mann
hatte im Rearden-Werk ein Büro eingerichtet, in dem vier Mädchen die Aufträge für Rearden Metal annahmen.
Bei dem augenblicklichen Stand der Produktion des Werks würde es bis ins nächste Jahrhundert dauern, bis alle
Aufträge ausgeführt waren.
Fünfhundert Tonnen Rearden Metal reichten nicht für drei Meilen Schienen für Taggart Transcontinental aus
und auch nicht für nur einen Förderturm einer der Kohlengruben Ken Danaggers. Reardens beste Kunden, die
größten Fabriken, durften nicht mit Rearden Metal beliefert werden. Aber Golfschläger aus Rearden Metal
erschienen plötzlich auf dem Markt, ebenso Kaffeekannen, Gartengeräte und Wasserhähne. Ken Danagger, der
den Wert des Metalls erkannt und gewagt hatte, es gegen einen Sturm der öffentlichen Meinung zu bestellen,
durfte nicht beliefert werden. Sein Auftrag wurde nicht ausgeführt, da die neuen Gesetze es untersagten. Mr.
Mowen, der Taggart Transcontinental im heikelsten Moment verraten hatte, stellte jetzt Weichen aus Rearden
Metal her und verkaufte sie an Atlantic Southern. Rearden sah dem allem mit abgeschalteten Gefühlen zu.
Er wandte sich stumm ab, wenn jemand ihm gegenüber erwähnte, was jeder wußte: daß in kürzester Zeit
große Vermögen an Rearden Metal verdient wurden. »Nein«, sagten die Leute auf den Parties, »Sie dürfen es
nicht als Schwarzmarkt bezeichnen. Denn das ist es wirklich nicht. Niemand verkauft das Metall illegal. Sie
verkaufen nur ihr Recht darauf. Sie verkaufen es nicht wirklich, sondern legen lediglich ihre Anteile zusammen.«
Er wollte nichts von den Kniffen und Tricks wissen, mit denen die »Anteile« verkauft und zusammengelegt
wurden, noch wie ein Fabrikant in Virginia in zwei Monaten fünftausend Tonnen Gußwaren aus Rearden Metal
hergestellt hatte, noch wer in Washington der stille Teilhaber dieses Fabrikanten war. Er wußte, daß ihr Gewinn
an jeder Tonne Rearden Metal so groß war wie sein eigener. Er sagte nichts.
Der junge Mann aus Washington – die Stahlarbeiter hatten ihm den Spitznamen »Amme« gegeben – zeigte
Rearden gegenüber eine primitive, erstaunte Neugier, die unglaublicherweise eine Form von Bewunderung war.
Rearden beobachtete ihn mit angewiderter Heiterkeit. Der junge Mann hatte keinen Schimmer von irgendeiner
Moral; er hatte sich im College statt dessen eine merkwürdige, zugleich naive und zynische Freimütigkeit
angeeignet, die der Unschuld eines Wilden glich.
»Sie verachten mich, Mr. Rearden«, hatte er einmal plötzlich und ohne jeden Ärger gesagt. »Das ist
lebensfern.«
»Warum ist das lebensfern?« hatte Rearden gefragt.
Der junge Mann hatte ein verlegenes Gesicht gemacht und keine Antwort darauf gewußt. Er hatte nie eine
Antwort auf ein Warum gewußt. Er gefiel sich in oberflächlichen Behauptungen. Er sagte zum Beispiel ohne
Zögern oder Erklärung: »Der ist altmodisch«, »der hat nicht umgelernt«, »der paßt sich nicht an.« Ebenso sagte
er, obwohl er Metallurgie studiert hatte: »Das Schmelzen von Eisen verlangt wohl eine sehr hohe Temperatur?«
Er äußerte nur ungenaue Ansichten über alles Physikalische, beurteilte jedoch Menschen mit kategorischer
Strenge.
»Mr. Rearden«, hatte er einmal gesagt, »wenn Sie Ihren Freunden mehr Metall zuschanzen möchten, ich
meine in größeren Mengen, ließe sich das arrangieren. Warum kommen Sie nicht um eine Sondergenehmigung
auf Grund dringenden Bedarfs ein? Ich habe ein paar Freunde in Washington. Ihre Freunde sind auch nicht
irgendwer. Alles Großindustrielle. Wir würden die Sache schon geschaukelt kriegen. Natürlich würde das etwas
kosten. Für Dinge in Washington, wissen Sie, braucht man immer Geld.«
»Was für Dinge?«
»Sie verstehen schon, was ich meine.«
»Nein«, hatte Rearden gesagt, »ich verstehe es nicht. Warum erklären Sie es mir nicht?«
Der junge Mann hatte ihn unsicher angesehen, hatte es in seinem Kopf erwogen und dann gesagt: »Das ist
schlechte Psychologie.«
»Was?«
»Wissen Sie, Mr. Rearden, es ist nicht notwendig, solche Worte zu gebrauchen.«
»Was für Worte?«
»Worte sind relativ. Sie sind nur Symbole. Wenn wir keine häßlichen Worte gebrauchen, gibt es nichts
Häßliches. Warum wollen Sie, daß ich es auf diese Weise sage, wenn ich es schon auf eine andere Weise gesagt
habe?«
»Auf welche Weise verlange ich denn, es von Ihnen gesagt zu bekommen?«
»Warum verlangen Sie, daß ich es sage?«
»Aus dem gleichen Grunde, aus dem Sie es nicht tun.«
Der junge Mann hatte einen Augenblick lang geschwiegen, dann hatte er gesagt: »Wissen Sie, Mr. Rearden,
es gibt keine absoluten Maßstäbe. Wir können uns nicht an starre Prinzipien halten. Wir müssen wendig sein.
Wir müssen uns der Realität des Tages anpassen und nach den Erfordernissen des Augenblicks handeln.«
»Was Sie nicht sagen! Versuchen Sie mal, eine Tonne Stahl ohne starre Prinzipien nach den Erfordernissen
des Augenblicks abzustechen!« Ein seltsames Gefühl, fast ein Gefühl für Stil, ließ Rearden für den jungen Mann
Verachtung, aber keinen Groll empfinden. Der junge Mann paßte perfekt zu dem, was ringsum geschah. Es war,
als ob sie über viele Jahrhunderte hinweg in eine Zeit zurückversetzt wären, in die der junge Mann gehörte,
Rearden aber nicht. Anstatt neue Hochöfen zu bauen, dachte Rearden, führte er jetzt einen vergeblichen Kampf,
um die alten instand zu halten; anstatt neue Projekte, neue Forschungen, neue Experimente mit Rearden Metal zu
beginnen, verschwendete er jetzt seine ganze Kraft für die Suche nach Eisenerz; wie die Männer zu Beginn der
Eisenzeit, dachte er, aber mit weniger Hoffnung.
Er versuchte, diese Gedanken abzuschütteln. Er mußte vor seinen Gefühlen auf der Hut sein. Als wäre ein
Teil von ihm etwas Fremdes geworden, das betäubt werden mußte, und als ob sein Wille das ständige
Betäubungsmittel sein müßte. Dieser Teil war etwas Bedrohliches, von dem er nur wußte, daß er nie seinen
Ursprung erkennen und ihm nie Ausdruck geben durfte. Er hatte einen gefährlichen Augenblick durchlebt, den er
nicht noch einmal durchleben durfte.
Es war der Augenblick, als er an einem Winterabend – allein in seinem Büro, wie gelähmt von der auf seinem
Schreibtisch ausgebreiteten Zeitung mit einer langen Liste von Verordnungen auf der ersten Seite – im Radio die
Nachricht vom Brand der Ölfelder Ellis Wyatts gehört hatte. Seine erste Reaktion darauf – vor jedem Gedanken
an die Zukunft, jeder Verzweiflung, jedem Schock, Entsetzen oder Protest – war ein schallendes Gelächter
gewesen. Er hatte triumphierend, wie erlöst, wie jubelnd gelacht, und die Worte, die er nicht ausgesprochen, aber
gefühlt hatte, waren: »Gott segne Sie, Ellis, was auch immer Sie tun.«
Als ihm der tiefere Sinn des Lachens klar wurde, hatte er gewußt, daß er jetzt zu ständiger Wachsamkeit
gegen sich selbst verurteilt war. Wie jemand, der einen Herzinfarkt überlebt hat, wußte er, daß es ein Warnsignal
gewesen war und daß etwas in ihm steckte, das ihm jeden Augenblick gefährlich werden konnte.
Er hatte es seitdem zurückgedrängt. Er hatte sich zu innerer Ruhe und Selbstbeherrschung gezwungen. Aber
er war der Gefahr noch einmal sehr nahe gekommen. Als er den Auftrag des State Science Institute vor sich auf
seinem Schreibtisch hatte, war es ihm gewesen, als ob der Lichtschein, der über das Papier glitt, nicht von den
Hochöfen draußen käme, sondern von den Flammen eines brennenden Ölfelds.
»Mr. Rearden«, sagte der clevere junge Mann, als er davon hörte, daß Rearden den Auftrag zurückgeschickt
hatte, »Sie hätten das nicht tun sollen.«
»Warum nicht?«
»Das wird Ärger geben.«
»Was für Ärger?«
»Es ist ein Regierungsauftrag. Sie können einen Regierungsauftrag nicht ablehnen.«
»Warum kann ich das nicht?«
»Es ist ein Fall dringenden Bedarfs und dazu geheim. Es ist sehr wichtig.«
»Was für ein Vorhaben ist es?«
»Ich weiß es nicht. Es ist geheim.«
»Woher wissen Sie dann, daß es wichtig ist?«
»Man sagt es.«
»Wer sagt es?«
»Sie können so etwas nicht anzweifeln, Mr. Rearden.«
»Warum kann ich es nicht?«
»Sie können es eben nicht.«
»Wenn ich es nicht kann, dann ist es etwas Absolutes, und Sie sagen doch, es gibt nichts Absolutes.«
»In diesem Fall ist es anders.«
»Warum ist es anders?«
»Es ist die Regierung.«
»Sie meinen, es gibt nichts Absolutes außer der Regierung?«
»Ich meine, wenn man sagt, daß es wichtig ist, dann ist es wichtig.«
»Warum?«
»Ich möchte Sie nicht in Schwierigkeiten bringen, Mr. Rearden, und Sie bekommen Schwierigkeiten. Das ist
so sicher wie das Amen in der Kirche. Sie fragen zu oft: ‘Warum?’ Warum tun Sie das?«
Rearden blickte ihn an und lachte. Der junge Mann merkte, daß er selbst »Warum« gesagt hatte, und grinste
verlegen, aber er wirkte unglücklich.
Der Mann, der Rearden eine Woche später aufsuchte, war jung und schlank, aber nicht so jung und schlank,
wie er sich den Anschein gab. Er trug Zivilkleidung und die Ledergamaschen eines Verkehrspolizisten. Rearden
wurde nicht recht klug daraus, ob er vom State Science Institute oder aus Washington kam.
»Soviel ich weiß, haben Sie sich geweigert, Metall an das State Science Institute zu verkaufen, Mr. Rearden«,
sagte er in einem milden, vertraulichen Ton.
»Ja, das stimmt«, sagte Rearden.
»Aber ist das nicht ein vorsätzlicher Gesetzesverstoß?«
»Sie können es auslegen, wie Sie wollen.«
»Darf ich nach Ihrem Grund fragen?«
»Mein Grund kann Sie nicht interessieren.«
»Aber natürlich interessiert er mich. Wir sind nicht Ihre Feinde, Mr. Rearden. Wir wollen Sie gerecht
behandeln. Sie brauchen nichts zu fürchten, nur weil Sie ein Großindustrieller sind. Wir werden das nicht gegen
Sie ausspielen. Wir wollen Ihnen wirklich die gleiche Gerechtigkeit widerfahren lassen wie dem niedrigsten
Arbeiter. Wir möchten gern Ihren Grund wissen.«
»Veröffentlichen Sie meine Ablehnung in den Zeitungen, und jeder Leser wird Ihnen meinen Grund sagen.
Seit mehr als einem Jahr steht das in allen Zeitungen.«
»O nein, nein, nein! Warum von Zeitungen sprechen? Können wir das nicht freundschaftlich unter uns
regeln?«
»Das hängt von Ihnen ab.«
»Wir wollen nicht, daß es in die Zeitungen kommt.«
»Nein?«
»Nein. Wir möchten Sie nicht verletzen.«
Rearden blickte ihn an und fragte: »Warum benötigt das State Science Institute zehntausend Tonnen Metall?
Was ist Projekt X?«
»Ach das? Es ist ein sehr bedeutendes wissenschaftliches Forschungsvorhaben, ein Vorhaben von großem
sozialen Wert, das sich vielleicht als von unschätzbarem Nutzen für die Öffentlichkeit erweisen wird; aber leider
gestattet es mir die hohe Politik nicht, Ihnen nähere Erläuterungen zu geben.«
»Wissen Sie«, sagte Rearden, »ich könnte Ihnen als meinen Grund sagen, daß ich mein Metall nicht für
Zwecke verkaufen will, die vor mir geheimgehalten werden. Ich habe dieses Metall geschaffen. Mein
moralisches Verantwortungsbewußtsein verlangt, daß ich weiß, wofür es verwandt wird.«
»Ach, diese Verantwortung nehmen wir Ihnen ab, Mr. Rearden.«
»Wenn ich sie mir aber nicht abnehmen lassen will?«
»Aber… aber, das ist eine altmodische und… rein theoretische Haltung.«
»Ich habe gesagt, ich könnte das als meinen Grund nennen. Aber ich werde es nicht tun – denn in diesem Fall
habe ich einen anderen Grund, der den mit einschließt. Ich will kein Rearden Metal an das State Science Institute
verkaufen, für welchen Zweck auch immer, sei er gut oder schlecht, geheim oder nicht geheim.«
»Aber warum?«
»Hören Sie«, sagte Rearden langsam, »für die Gesellschaft der Urzeit, in der jeder jeden Augenblick gewärtig
sein mußte, daß Feinde ihn ermorden konnten und er sich verteidigen mußte, so gut er konnte, gab es eine
gewisse Rechtfertigung. Aber es kann keine Rechtfertigung geben für eine Gesellschaft, in der von jemand
erwartet wird, daß er die Waffen für seine eigenen Mörder herstellt.«
»Ich halte es nicht für ratsam, solche Worte zu gebrauchen, Mr. Rearden. Ich halte es für lebensfern, in
solchen Begriffen zu denken. Schließlich kann die Regierung – in Verfolgung ihrer weitgespannten nationalen
Ziele – auf Ihren persönlichen Groll gegen eine bestimmte Institution keine Rücksicht nehmen.«
»Dann nehmen Sie keine Rücksicht darauf.«
»Wie meinen Sie das?«
»Fragen Sie mich nicht nach meinem Grund.«
»Aber, Mr. Rearden, wir können über die Weigerung, ein Gesetz zu befolgen, nicht einfach hinwegsehen.
Was sollen wir denn Ihrer Ansicht nach tun?«
»Was Ihnen beliebt.«
»Aber so etwas hat es noch nie gegeben. Niemand hat sich je geweigert, der Regierung einen wichtigen
Artikel zu verkaufen. Das Gesetz gestattet Ihnen übrigens keine Weigerung, Ihr Metall irgendeinem Kunden zu
verkaufen, von der Regierung ganz zu schweigen.«
»Warum verhaften Sie mich dann nicht?«
»Mr. Rearden, dies ist eine freundschaftliche Unterhaltung. Warum sprechen Sie von Verhaftung?«
»Ist das nicht Ihr letztes Argument gegen mich?«
»Warum bringen Sie das vor?«
»Ergibt es sich nicht aus jedem Satz dieses Gespräches?«
»Warum es aussprechen?«
»Warum nicht?«
Der Mann antwortete nicht.
»Wollen Sie so tun, als wüßten Sie nicht, daß ich Ihnen nie erlaubt hätte, mein Büro zu betreten, wenn Sie
nicht diesen Trumpf gegen mich hätten?«
»Aber ich spreche nicht von Verhaftung.«
»Ich spreche davon.«
»Ich verstehe Sie nicht, Mr. Rearden.«
»Ich möchte nicht, daß Sie so tun, als ob dies eine freundschaftliche Unterhaltung wäre. Sie ist es nicht. Und
nun tun Sie, was Ihnen beliebt.«
Das Gesicht des Mannes zeigte einen seltsamen Ausdruck: Bestürzung. Als ob er dieses Ergebnis nicht
begriffe, und Angst, als ob ihm das von Anfang an vollkommen klar gewesen wäre und er die ganze Zeit
gefürchtet hätte, entlarvt zu werden.
Rearden spürte eine seltsame Erregung. Es war ihm, als wäre er drauf und dran, etwas zu begreifen, das er nie
verstanden hatte, als wäre er auf dem Wege zu einer Entdeckung, die aber noch so weit entfernt war, daß er sie
nur erahnen konnte, obwohl er wußte, daß sie wichtiger war als alles, was ihm je vor Augen gekommen war.
»Mr. Rearden«, sagte der Mann, »die Regierung braucht Ihr Metall. Sie müssen es uns verkaufen, denn Sie
begreifen doch wohl, daß die Regierungspläne nicht davon aufgehalten werden können, ob Sie einwilligen oder
nicht.«
»Ein Verkauf«, sagte Rearden und betonte dabei jedes Wort, »erfordert die Einwilligung des Verkäufers.« Er
stand auf und ging ans Fenster. »Ich will Ihnen sagen, was Sie tun können.«
Er deutete auf die Gleise, wo Barren aus Rearden Metal auf Güterwagen geladen wurden. »Da ist Rearden
Metal. Fahren Sie mit Ihren Lastwagen dorthin – wie jeder andere Plünderer, aber ohne dessen Risiko, denn ich
werde Sie nicht erschießen, weil ich das, wie Sie wissen, nicht kann –, nehmen Sie so viel Metall, wie Sie
wollen, und verschwinden Sie damit. Versuchen Sie nicht, mir Geld dafür zu schicken. Ich würde es nicht
annehmen. Schicken Sie mir auch keinen Scheck. Ich würde ihn nicht einlösen. Wenn Sie das Metall haben
wollen, verfügen Sie ja über die Gewehre, es sich zu holen. Also los!«
»Großer Gott, Mr. Rearden, was würde die Öffentlichkeit denken?«
Es war ein instinktiver, ungewollter Ausruf. Reardens Gesichtsmuskeln verzogen sich zu einem lautlosen
Lachen. Sie hatten beide die Bedeutung dieses Ausrufs verstanden. Im lässigen Ton einer endgültigen
Feststellung sagte Rearden ruhig: »Sie brauchen meine Hilfe, um es wie einen Verkauf erscheinen zu lassen –
wie ein reguläres, gerechtes, moralisch einwandfreies Geschäft. Aber ich werde Ihnen nicht dabei helfen.«
Der Mann erwiderte nichts darauf. Er erhob sich, um zu gehen. Er sagte nur: »Sie werden Ihre Haltung
bereuen, Mr. Rearden.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Rearden.
Er wußte, daß der Fall damit nicht beendet war. Er wußte auch, daß die Scheu dieser Leute vor der
Öffentlichkeit nicht in erster Linie mit der Geheimhaltung von Projekt X zusammenhing. Er wußte, daß er ein
merkwürdiges, freudiges, unbeschwertes Selbstvertrauen spürte. Er wußte, er tat die richtigen Schritte auf dem
Weg, den er entdeckt hatte.
Dagny lehnte mit geschlossenen Augen in einem Sessel ihres Wohnzimmers. Es war ein schwerer Tag
gewesen, aber sie wußte, heute abend würde sie Rearden sehen. Der Gedanke war wie ein Hebel, der das
Gewicht sinnlos bedrückender Stunden von ihr nahm.
Sie saß still da, froh, sich ausruhen zu können, mit nichts anderem beschäftigt, als darauf zu warten, daß sich
der Schlüssel im Schloß drehen würde. Er hatte sie nicht angerufen, aber sie hatte gehört, daß er zu einer
Besprechung mit Hüttenleuten in New York war. Und er verließ die Stadt immer erst am nächsten Morgen und
verbrachte die Nacht bei ihr. Es war ihr ein angenehmes Gefühl, auf ihn zu warten. Sie brauchte eine Zeitspanne
als Brücke zwischen ihren Tagen und seinen Nächten.
Die vor ihr liegenden Stunden würden, dachte sie, wie alle Nächte mit ihm jenem Kapital hinzugefügt, das aus
den Erlebnissen besteht, auf die man stolz ist. Sie war auf ihren Arbeitstag nicht deshalb stolz, weil sie ihn erlebt,
sondern weil sie ihn überlebt hatte. Es war schlimm, dachte sie, es war schändlich, so etwas von auch nur einer
Stunde des eigenen Lebens sagen zu müssen. Aber sie wollte jetzt nicht daran denken. Sie dachte an Hank, an
seinen Kampf, den sie in den letzten Monaten verfolgt hatte, seinen Kampf um Befreiung; sie hatte gewußt, daß
sie ihm helfen konnte, ihn zu gewinnen, aber nie darüber sprechen durfte.
Sie dachte an den Abend im letzten Winter, als er hereingekommen war, ein kleines Paket aus seiner Tasche
genommen, es ihr gereicht und gesagt hatte: »Das ist für dich.«
Sie hatte es geöffnet und in ungläubigem Staunen auf einen aus einem einzigen birnenförmigen Rubin
bestehenden Anhänger gestarrt, der auf der weißen Seide des Schmuckkästchens feurig funkelte. Es war ein
berühmter Stein, den zu kaufen sich eigentlich nur ein Dutzend Menschen in der Welt leisten konnten; er gehörte
nicht zu ihnen.
»Hank… Warum?«
»Aus keinem besonderen Grunde. Ich wollte dich ihn tragen sehen.«
»Ach, nein… Nicht etwas so Kostbares! Das ist Verschwendung. Ich gehe doch so selten auf Parties. Wann
sollte ich ihn je tragen?«
Er blickte sie an. Seine Augen glitten langsam von ihren Beinen zu ihrem Gesicht. »Ich werde es dir zeigen«,
sagte er.
Er führte sie in das Schlafzimmer und zog sie stumm aus wie eine Sklavin, deren Einwilligung er nicht
brauchte. Er legte ihr die Kette mit dem Anhänger um den Hals. Sie stand nackt da, zwischen den Brüsten den
Stein, der einem Blutstropfen glich.
»Glaubst du, ein Mann würde seiner Geliebten Schmuck zu einem anderen Zweck als seiner eigenen Freude
schenken?« fragte er. »So will ich dich ihn tragen sehen. Nur für mich. Ich sehe ihn gern an dir. Er ist schön.«
Sie lachte; es klang leise, wie ein Hauch. Sie konnte nichts sagen, sich nicht bewegen, sie konnte nur in
Einverständnis und Gehorsam stumm nicken. Sie nickte mehrmals, ihr Haar schwang mit der weiten kreisenden
Bewegung ihres Kopfes und hing dann still, als sie mit gesenktem Kopf vor ihm stehen blieb.
Sie ließ sich auf das Bett fallen. Sie lag lässig ausgestreckt, den Kopf zurückgeworfen, die Arme an den
Seiten, die Handflächen auf den rauhen Stoff der Bettdecke gepreßt, ein Bein angewinkelt, das andere auf der
dunkelblauen Leinendecke ausgestreckt, während der Stein wie eine Wunde im Halbdunkel glühte und einen
Strahlenkranz auf ihre Haut warf.
Sie hatte die Augen halb geschlossen, empfand den Triumph des Bewundertwerdens und machte sich zugleich
darüber lustig, aber sie hatte den Mund in hilfloser, bittender Erwartung halb geöffnet. Hank stand in der anderen
Ecke des Zimmers und blickte zu ihr hin, auf ihren Bauch, der sich senkte, wenn sie einatmete, auf diesen
Körper, der sich seines Reizes bewußt war. Leise und seltsam ruhig sagte er: »Dagny, wenn ein Künstler dich
malte, wie du jetzt bist, würden die Männer kommen und das Bild betrachten, um einen Augenblick lang etwas
zu erleben, was es in ihrem eigenen Leben nie geben kann. Sie würden es große Kunst nennen. Sie würden nicht
wissen, was sie fühlen, aber das Bild würde ihnen alles zeigen, sogar, daß du nicht eine klassische Venus bist,
sondern die Stellvertretende Vorstandsvorsitzende einer Eisenbahn, weil auch das dazu gehört, und was ich bin,
weil auch das dazu gehört. Dagny, sie würden es fühlen und dann weggehen und mit der ersten besten Bardame
schlafen. Und sie würden nie versuchen, das zu erleben, was sie gefühlt hatten. Ich würde dieses Gefühl nicht in
einem Bild suchen wollen. Ich würde es in der Wirklichkeit erleben wollen. Ich würde auf eine hoffnungslose
Sehnsucht nicht stolz sein. Ich würde mich nicht mit einem aussichtslosen Begehren zufrieden geben. Ich würde
es haben, tun, erleben wollen. Verstehst du das?«
»O ja, Hank, ich verstehe es«, sagte sie. Und sie dachte: Verstehst du es auch? Voll und ganz? Aber sie sprach
es nicht aus.

An einem Abend, als draußen ein Schneesturm wütete, fand sie beim Nachhausekommen in ihrem
Wohnzimmer einen riesigen Strauß tropischer Blumen vor, dessen leuchtende Pracht sich von dem dunklen
Fenster abhob, an dem die Schneeflocken herunterrieselten. Es waren ein Meter hohe Stengel mit kegelförmigen
Blüten, die die Farbe von Blut hatten und sich wie weiches Leder anfühlten. »Ich sah sie im Schaufenster eines
Blumengeschäftes«, sagte er, als er nachts zu ihr kam. »Es war wunderbar, sie zu sehen, während rings um mich
der Schnee wirbelte; aber nichts ist so vergeudet wie das, was man in einem Schaufenster jedem zur Schau
stellt.«
Seitdem fand sie immer wieder in ihrer Wohnung Blumen vor. Es war keine Karte dabei. Aber die
phantastischen Formen, die leuchtenden Farben und die Kostbarkeit verrieten nur allzu deutlich, von wem sie
kamen. Er brachte ihr eine goldene Halskette aus kleinen aneinandergefügten Vierecken, die ihren Hals bis zu
den Schultern bedeckte wie das Koller einer Ritterrüstung. »Trag sie zu dem schwarzen Kleid«, befahl er. Er
brachte ihr einen Satz hoher, schlanker, geschliffener Kristallgläser, die ein berühmter Glasschleifer hergestellt
hatte. Sie beobachtete die Art, wie er eines der Gläser hielt, als sie ihm einen Whisky eingoß – als ob das Gefühl,
das er bei der Berührung des Glases empfand, der Geschmack des Getränks und der Anblick ihres Gesichts zu
einem einzigen unteilbaren Augenblick der Freude verschmolzen. »Ich habe immer Dinge gesehen, die ich
mochte«, sagte er, »aber ich habe sie nie gekauft. Es schien keinen Sinn zu haben. Jetzt hat es einen Sinn.«
An einem Wintermorgen rief er Dagny in ihrem Büro an und sagte, nicht im Ton einer Einladung, sondern
befehlend wie ein Vorgesetzter: »Wir werden heute abend zusammen essen. Ich möchte, daß du dafür ein
Abendkleid anziehst. Hast du irgendein blaues Abendkleid? Dann zieh das an.«
Das Kleid, das sie anhatte, war eine enge mattblaue Tunika, in der sie wie eine schutzlose Statue im blauen
Schatten eines Parks unter der Sommersonne aussah. Er legte ihr einen Blaufuchsumhang über die Schultern, der
sie vom Kinn bis zu den Sandalen bedeckte. »Hank, das ist lächerlich.« Sie lachte. »Er paßt nicht zu mir.«
»Nein?« fragte er und zog sie vor einen Spiegel.
Sie sah wie ein Kind aus, das man zum Schutz vor einem Schneesturm in ein Bündel Decken gehüllt hatte.
Das kostbare Material verwandelte die Unschuld des unförmigen Bündels in das genaue Gegenteil, in eine mit
geradezu perverser Absicht gewollte elegante Erscheinung und machte aus Unschuld Sinnlichkeit. Der Pelz war
von einem weichen Braun, das von einem blauen Ton gedämpft wurde, den man mehr fühlte, als sah. Er war wie
eine Nebelhülle, wie die Andeutung einer Farbe, und man hatte, selbst wenn man ihn nicht berührte, das Gefühl,
als ob die Hände in dem weichen Fell versinken müßten. Der Umhang ließ von Dagny nur das Braun ihres
Haars, das Blaugrau ihrer Augen und die Form ihres Mundes sehen.
Sie wandte sich zu ihm und lächelte hilflos verwundert. »Ich… ich wußte nicht, daß ich so aussehen kann.«
»Ich wußte es.«
Sie saß neben ihm in seinem Wagen, als Hank ihn durch die dunklen Straßen der Stadt lenkte. Ein glitzerndes
Schneenetz wurde immer wieder sichtbar, wenn sie an Laternen vorüberfuhren. Sie fragte ihn nicht, wohin sie
fuhren. Sie saß zurückgelehnt und blickte in das Treiben der Schneeflocken draußen. Sie hatte den Pelz fest um
sich geschlungen; ihr Kleid wirkte darunter so leicht wie ein Nachtgewand, und es war, als ob der Pelz sie
umarmte.
Sie blickte auf die Reihen viereckiger Lichter, die durch den Schneevorhang schimmerten, und dann auf Hank
Rearden, auf die Hände in Handschuhen, die das Lenkrad hielten, auf die strenge, vornehme Eleganz der Gestalt
im schwarzen Mantel und weißen Schal, und sie dachte, daß er in eine Großstadt mit polierten Gehsteigen und
edlen Häuserfassaden gehörte.
Der Wagen fuhr in einen Tunnel hinunter, raste durch die gekachelte Röhre unter dem Fluß, in der das Echo
widerhallte, und dann zu den Windungen einer Hochstraße unter freiem schwarzem Himmel hinauf. Die Lichter
waren jetzt unter ihnen; meilenweit sah man bläulich schimmernde Fenster, Schornsteine, Kräne, rote
Feuergarben und lange trübe Strahlen, in denen die Umrisse der verzerrten Formen eines Industriebezirks
sichtbar wurden. Dagny dachte daran, daß sie Hank einmal in seinem Werk mit Rußflecken auf der Stirn gesehen
hatte und in einem von Säure zerfressenen Arbeitsanzug, den er mit der gleichen natürlichen Eleganz getragen
hatte wie einen Abendanzug. Er gehörte auch hierher, dachte sie, als sie auf das unten liegende New Jersey
hinunterblickte: zwischen die Kräne, die Flammen und das kreischende Scheppern der Maschinen.
Als sie in einer leeren Landschaft eine dunkle Straße hinunterrasten, wobei die Streifen glitzernden Schnees
im Licht ihrer Scheinwerfer auftauchten, erinnerte sie sich daran, wie sie ihn auf ihrer Ferienreise im Sommer in
einer einsamen Schlucht ausgestreckt im Gras hatte liegen sehen und die Sonne auf seine bloßen Arme fiel. Er
gehörte aufs Land, dachte sie. Er gehörte überall hin, er war ein Mann, der in die Welt gehörte, oder richtiger: Er
war ein Mann, dem die Erde gehörte, der Mann, der auf ihr zu Hause und zugleich ihr Herr war. Warum dann,
dachte sie, mußte er eine Schmerzenslast tragen, mit der er sich ohne Murren so vollkommen abgefunden hatte,
daß er sie kaum noch spürte? Sie wußte nur einen Teil der Antwort, aber es war ihr, als wäre sie der ganzen
Antwort nahe und würde sie bald entdecken. Doch sie wollte jetzt nicht daran denken; sie ließ alle Lasten hinter
sich, während sie das stille volle Glück genoß. Sie bewegte unmerklich den Kopf und lehnte ihn einen
Augenblick an Hanks Schulter. Der Wagen bog ab und fuhr auf die erleuchteten Vierecke ferner Fenster zu, die
über dem Schnee und hinter einem Gitterwerk kahler Äste hingen. Dann saßen sie in mildem Dämmerlicht am
Tisch vor einem Fenster und sahen auf die Bäume im Dunkel hinaus. Der Gasthof stand auf einer Anhöhe im
Wald. Er wirkte wie ein luxuriöses Privathaus, das mit gutem Geschmack eingerichtet war. Seine Atmosphäre
verriet, daß er noch nicht von den Leuten entdeckt worden war, die das Teure suchten und auffallen wollten.
Dagny achtete kaum auf den Speiseraum. Sie wußte nur, daß sie sich hier sehr wohl fühlte, und das einzige, was
ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, war das Glitzern der vereisten Äste hinter den Fensterscheiben.
Der Blaufuchsumhang war ihr von den bloßen Schultern und Armen geglitten. Hank musterte sie blinzelnd
mit der Befriedigung eines Mannes, der sein eigenes Werk betrachtet.
»Ich schenke dir gern Dinge«, sagte er, »weil du sie nicht brauchst.«
»Nein?«
»Und es geht mir auch nicht darum, daß du sie hast, ich will, daß du sie von mir hast.«
»So brauche ich sie, Hank – von dir.«
»Verstehst du, daß es nur meine niedrige Genußsucht ist? Ich tue es nicht dir, sondern mir zur Freude.«
»Hank!« Ohne daß sie es wollte, kam ihr der Ruf über die Lippen. Glück, Verzweiflung, Empörung und
Mitleid sprachen daraus. »Wenn du mir diese Dinge nur mir und nicht auch dir zur Freude geschenkt hättes t,
hätte ich sie dir ins Gesicht geworfen.«
»Ja… Ja, das hättest du getan, und du hättest es tun müssen.«
»Nanntest du es deine niedrige Genußsucht?«
»So nennt man es.«
»Ach ja, so nennt man es. Und wie nennst du es, Hank?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er gleichgültig und fuhr fort: »Ich weiß nur, daß ich, wenn es niedrig ist, dafür
verdammt sein will, aber ich sehne mich mehr danach als nach allem anderen auf der Erde.«
Dagny antwortete nicht. Sie sah ihn mit einem leisen Lächeln fest an, als würde sie ihn bitten, auf den Sinn
seiner eigenen Worte zu hören.
»Ich habe mich immer meines Reichtums freuen wollen«, sagte er, »aber ich wußte nicht, wie. Ich hatte nicht
einmal die Zeit, mir klarzumachen, wie sehr ich es wünschte, aber ich wußte, daß all der Stahl, den ich
produzierte, als flüssiges Gold zu mir zurückkam. Und dieses Gold sollte zu der Form erstarren, die ich ihm
geben wollte. Daran wollte ich mich freuen. Nur konnte ich es nicht. Ich hatte keine Verwendung dafür. Jetzt
habe ich sie. Ich habe sie mit diesem Reichtum erworben, und nun soll er mir jede Art von Freude verschaffen,
die ich begehre – einschließlich der Freude zu sehen, wieviel ich dafür zahlen kann – einschließlich des
lächerlichen Kunststückes, dich in einen Luxusgegenstand zu verwandeln.«
»Aber ich bin ein Luxusgegenstand, für den du schon vor langer Zeit bezahlt hast«, sagte sie, ohne zu lächeln.
»Wie?«
»Mit dem gleichen Preis, den du für dein Stahlwerk gezahlt hast.«
Sie wußte nicht, ob er wirklich begriff, was sie gesagt hatte. Aber sie spürte, daß er sie in diesem Augenblick
verstand. Sie nahm ein unsichtbares Lächeln der Entspannung in seinen Augen wahr.
»Ich habe Luxus nie verachtet«, sagte er, »und dennoch habe ich immer die verachtet, die ihn genossen. Ich
sah das, was sie ihr Vergnügen nannten, und es kam mir so elend sinnlos vor – im Vergleich zu dem, was ich in
meinem Werk empfand. Ich sah immer zu, wie der Stahl gegossen wurde, Tonnen flüssigen Stahls, der dorthin
floß, wo ich ihn haben wollte. Und dann ging ich zu einem Bankett und sah Menschen, die in zitternder
Ehrfurcht vor ihren goldenen Schüsseln und den Spitzendecken saßen, als ob ihr Eßzimmer der Herr wäre und
sie nur Gegenstände, die ihm dienen, Gegenstände, die von ihren Brillanthemdknöpfen und Brillanthalsketten
geschaffen waren, und nicht umgekehrt. Dann lief ich weg, um den ersten Schlackehaufen zu sehen, den ich
finden konnte – und sie sagten, ich wisse nicht, das Leben zu genießen, weil ich mich nur für mein Geschäft
interessiere.«
Er blickte in den dämmrigen, schönen Raum und auf die Menschen, die an den Tischen saßen. Sie saßen da,
als ob sie sich selbstbewußt zur Schau stellten, als ob ihre ungeheuer teuren Kleider und ihr ungeheuer gepflegtes
Äußeres alles überstrahlen müßten. Ihre Gesichter hatten einen Ausdruck grollender Beklommenheit.
»Dagny, sieh dir diese Leute an. Das sind angeblich die Playboys, die Vergnügungssüchtigen und
Luxusliebhaber. Sie sitzen dort in der Erwartung, daß dieser Raum sie bedeutend macht und nicht umgekehrt.
Aber sie werden uns immer als die Genießer sinnlicher Freuden vorgeführt. Und gleichzeitig sagt man uns, daß
der Genuß sinnlicher Freuden etwas Böses ist. Genuß? Genießen diese Leute etwas? Liegt nicht in dem, was
man uns sagt, etwas Perverses, ein furchtbarer und verhängnisvoller Irrtum?«
»Er ist, glaube ich, furchtbarer, als wir denken, und sehr, sehr verhängnisvoll.«
»Sie sind die Playboys, während wir, du und ich, nur Geschäftsleute sind. Ist dir bewußt, daß wir diesen
Raum viel mehr genießen, als sie ihn je genießen können?«
»Ja.«
Langsam, als würde er etwas zitieren, sagte er: »Warum haben wir das alles den Idioten überlassen? Es gehört
uns.« Sie blickte ihn überrascht an. Er lächelte. »Ich erinnere mich an jedes Wort, das du mir auf der Party gesagt
hast. Ich habe dir damals nicht darauf geantwortet, weil die einzige Antwort, die ich wußte – das einzige, was
deine Worte für mich bedeuteten –, eine Antwort war, um derentwillen du mich, wie ich damals glaubte, hassen
würdest: daß ich dich begehrte.« Er blickte sie an: »Dagny, du hast es damals nicht beabsichtigt, aber hast du im
Grunde nicht gesagt, daß du mit mir schlafen wolltest?«
»Ja, Hank, natürlich.«
Er sah ihr in die Augen. Dann wandte er sich ab. Sie schwiegen lange. Er blinzelte in das milde Zwielicht, das
sie umgab, und dann auf die beiden funkelnden Weingläser auf dem Tisch. »Dagny, als ich in meiner Jugend in
den Erzbergwerken von Minnesota arbeitete, nahm ich mir vor, es einmal dahin zu bringen, daß ich einen
solchen Abend wie diesen erleben könnte. Nein, ich arbeitete nicht dafür, und ich dachte nicht oft daran. Aber
hin und wieder einmal, an einem Winterabend, wenn die Sterne am Himmel leuchteten und es bitter kalt war,
wenn ich müde war, weil ich zwei Schichten gearbeitet hatte und mir nichts anderes wünschte, als mich
hinzulegen und sofort einzuschlafen – an solchen Abenden glaubte ich, daß ich eines Tages in einem Raum wie
diesem sitzen würde, wo ein Glas Wein mehr kostete, als ich am Tag verdiente; daß ich mir den Preis jeder
Minute dieses Abends und jedes Tropfens Wein und jeder Blume auf dem Tisch verdient hätte und ich zu
keinem anderen Zweck dort sitzen würde, als um mich zu amüsieren.« Lächelnd fragte sie: »Mit deiner
Geliebten?«
Sie sah den schmerzlichen Ausdruck in seinen Augen und hätte gewünscht, sie hätte es nicht gesagt.
»Mit… einer Frau«, antwortete er. Sie kannte das Wort, das er nicht ausgesprochen hatte. Mit weicher und
fester Stimme fuhr er fort: »Als ich reich wurde und sah, was die Reichen zu ihrem Vergnügen taten, glaubte ich,
daß es den Raum, den ich mir vorgestellt hatte, gar nicht gäbe. Ich hatte ihn mir nicht einmal sehr klar
vorgestellt. Ich wußte nicht, wie er eigentlich sein sollte, nur was ich fühlen würde. Schon vor Jahren habe ich es
aufgegeben zu glauben, daß es so etwas gibt. Aber heute abend weiß ich es.« Er hob sein Glas und blickte sie an.
»Hank, ich… ich würde alles aufgeben, was ich je im Leben besessen habe, außer dem einen… ein
Luxusgegenstand zu deiner Freude zu sein.«
Er sah, wie ihre Hand zitterte, als sie das Glas hielt. Ruhig sagte er: »Ich wußte es, Liebste.«
Sie erschrak innerlich. Nie zuvor hatte er dieses Wort benutzt. Er warf den Kopf zurück und lächelte. Es war
das strahlendste, heiterste Lächeln, das sie je in seinem Gesicht gesehen hatte. »Deine erste
Schwächeanwandlung, Dagny«, sagte er.
Sie lachte und schüttelte den Kopf. Er streckte den Arm über den Tisch und legte seine Hand auf ihre nackte
Schulter, als ob er sie einen Augenblick lang stützen wollte. Leise lachend und wie zufällig ließ sie ihre Lippen
über seine Finger gleiten; dabei senkte sie den Kopf, damit er nicht sah, daß der Glanz in ihren Augen Tränen
waren.
Als sie wieder zu ihm aufblickte, lächelte sie ebenso heiter wie er. Und der Rest des Abends war ihre Feier –
für all seine Jahre seit den Nächten in den Bergwerksschächten, für all ihre Jahre seit ihrer ersten Ballnacht, als
sie sich in verzweifelter Sehnsucht nach einer Heiterkeit, die sie sich nicht klar vorstellen konnte, über die
Menschen gewundert hatte, die von den Lichtern und Blumen erwarteten, daß sie ihnen Glanz gaben.
»Liegt nicht in dem, was man uns sagt, ein furchtbarer und verhängnisvoller Irrtum?« Sie dachte an seine
Worte, als sie an einem trüben Frühlingsabend in ihrem Wohnzimmer im Sessel lehnte und auf ihn wartete…
Nur ein wenig weiter, mein Geliebter, dachte sie, blick nur ein wenig weiter, und du wirst frei von diesem Irrtum
sein und von all dem unnützen Schmerz, den du nie hättest erleiden dürfen. Aber sie spürte, daß auch sie noch
nicht weit genug sah, und sie fragte sich, wie weit sie noch bis dahin gehen mußte…
Als Rearden durch die dunklen Straßen zu ihrer Wohnung ging, steckte er die Hände in die Manteltaschen
und preßte die Arme an seinen Körper, weil er nichts und niemand berühren wollte. Er hatte nie zuvor dieses
Gefühl des Ekels gespürt, das nicht durch etwas Besonderes hervorgerufen war, aber alles rings um ihn zu
überfluten und die ganze Stadt zu durchtränken schien. Er konnte den Ekel vor etwas Konkretem verstehen und
es aus der gesunden Entrüstung des Wissens bekämpfen, daß es nicht in die Welt gehörte; aber dies war für ihn
neu – dieses Gefühl, daß die Welt etwas Ekelerregendes war, zu dem er nicht gehören wollte.
Er hatte eine Besprechung mit den Kupferproduzenten gehabt, denen man gerade eine Schlinge aus
Verordnungen um den Hals gelegt hatte, die sie im nächsten Jahr erwürgen mußte. Er hatte den Hüttenleuten
weder einen Rat geben noch eine Lösung zeigen können. Sein Einfallsreichtum, der ihm den Ruf verschafft
hatte, er wisse immer einen Weg, um die Produktion in Gang zu halten, hatte keinen Weg zu ihrer Rettung
finden können. Und sie hatten alle gewußt, daß es keinen Weg gab. Einfallsreichtum war eine geistige Gabe –
und bei dem Problem, dem sie gegenüberstanden, spielte Geist längst keine Rolle mehr. »Es ist ein Geschäft
zwischen den Männern in Washington und den Kupferimporteuren«, hatte einer von ihnen gesagt. »Vor allem
den Importeuren von d’Anconia-Kupfer.«
Das war nur ein kleiner, unbedeutender Schmerz, dachte Rearden, ein Gefühl, von etwas enttäuscht zu sein,
von dem man gar nichts hatte erwarten dürfen. Er hätte wissen müssen, daß es gerade das war, was ein Mann wie
Francisco d’Anconia tun würde, und er fragte sich ärgerlich, warum ihm war, als wäre eine helle, kurz
aufflackernde Flamme irgendwo in einer lichtlosen Welt erloschen.
Er wußte nicht, ob die Unmöglichkeit zu handeln ihm diesen Ekel eingeflößt oder ob der Ekel ihm das
Verlangen zu handeln genommen hatte. Beides, dachte er. Das Verlangen setzt die Möglichkeit der
Verwirklichung voraus; das Handeln setzt ein lohnendes Ziel voraus. Wenn das einzige mögliche Ziel darin
bestand, einem schußbereiten Gegner eine Schonfrist abzuhandeln, dann gab es weder Handeln noch Verlangen.
Gab es dann noch Leben? fragte Rearden sich sachlich kühl. Leben, dachte er, war einmal als Bewegung
definiert worden; das menschliche Leben war zielbewußte Bewegung; in welchem Zustand war jedoch ein
Mensch, dem Ziel und Bewegung versagt waren? Ein Mensch in Ketten, der aber noch atmen und all die
herrlichen Ziele sehen konnte, die er hätte erreichen können? Der nur noch »Warum?« schreien konnte und dem
als einzige Erklärung die Mündung eines Gewehrs gezeigt wurde? Rearden zuckte die Achseln und ging weiter.
Es interessierte ihn nicht mehr, eine Antwort darauf zu finden.
Gleichgültig beobachtete er die durch seine eigene Gleichgültigkeit angerichtete Verwüstung. Welchen harten
Kampf er in der Vergangenheit auch hatte führen müssen, nie war er an jene äußerste furchtbare Grenze
gekommen, den Willen zum Handeln aufzugeben. In Augenblicken des Leidens hatte er den Schmerz nie auf die
Dauer siegen lassen. Er hatte ihm nie erlaubt, ihm das Verlangen nach Freude zu rauben. Er hatte nie am Wesen
der Welt oder der Größe der Menschen als Triebkraft und Kern dieses Wesens gezweifelt. Vor Jahren hatte er
sich in hochmütiger Ungläubigkeit über die fanatischen Sektierer gewundert, die in den dunklen Winkeln der
Geschichte unter den Menschen erschienen und glaubten, der Mensch sei in einer vom Bösen regierten Welt
gefangen, deren einziger Zweck es war, ihn zu quälen. Heute abend wußte er, wie jene Sektierer die Welt
gesehen und empfunden hatten. Wenn das, was er jetzt rings um sich sah, seine Welt war, dann wollte er nichts
von ihr anrühren, nicht gegen sie kämpfen; dann war er ein Außenseiter, für den nichts auf dem Spiel stand und
dem nichts mehr an seinem Leben lag.
Dagny und sein Verlangen, sie zu sehen, waren das einzige, was ihn noch ans Leben band. Das Verlangen war
geblieben. Aber in jähem Entsetzen wurde ihm klar, daß er sich nicht danach sehnte, heute nacht mit ihr zu
schlafen. Diese Begierde, die ihn nie auch nur einen Augenblick lang in Ruhe gelassen hatte, die immer stärker
geworden war, je mehr sie befriedigt wurde, war ausgelöscht. Es war ein seltsames Unvermögen, weder ein
Unvermögen seines Geistes noch seines Körpers. Er spürte so leidenschaftlich, wie er es immer gespürt hatte,
daß Dagny die begehrenswerteste Frau auf der Welt war; aber es war nur das Begehren, sie zu begehren, das
Verlangen, zu fühlen, nicht ein Gefühl. Die Wurzel dieser Empfindungslosigkeit schien weder in ihm noch in ihr
zu liegen. Es war, als gehörte der Sex jetzt in einen Bereich, den er hinter sich gelassen hatte.
»Steh nicht auf – bleib sitzen – man sieht dir so deutlich an, daß du auf mich gewartet hast, daß ich mich an
dem Anblick noch eine Weile weiden möchte.«
Rearden sagte das an der Wohnungstür, als er Dagny im Sessel ausgestreckt sah und sie sich vorbeugte, um
aufzuspringen. Er lächelte.
Er bemerkte – als ob etwas in ihm mit kühler Neugier seine Reaktionen beobachtete –, daß sein Lächeln und
seine plötzliche Heiterkeit echt waren. Er begriff ein Gefühl, das er immer empfunden, aber nie hatte deuten
können, weil es stets absolut und unmittelbar gewesen war: ein Gefühl, das ihm verbot, ihr je zu zeigen, daß er
litt. Es war viel mehr als der Stolz, sein Leiden zu verbergen. Es war das Gefühl, daß er das Leid in ihrer
Gegenwart nicht anerkennen durfte. Daß ihr Anspruch aufeinander nie im Schmerz begründet sein durfte und
nicht auf Mitleid abzielte.
»Brauchst du noch einen Beweis, daß ich immer auf dich warte?« fragte sie und lehnte sich gehorsam in ihren
Sessel zurück. Ihre Stimme klang weder zärtlich noch bittend, sondern fröhlich und spöttisch.
»Dagny, wie kommt es, daß die meisten Frauen so etwas nie zugeben würden?«
»Weil sie nie sicher sind, daß sie begehrt werden. Ich bin es.«
»Ich bewundere dein Selbstvertrauen.«
»Selbstvertrauen ist nur ein Teil von dem, was ich gesagt habe, Hank.«
»Was ist das Ganze?«
»Vertrauen in meinen Wert und deinen.«
Er blickte sie an, als ob ihm plötzlich etwas einfiele, und sie fügte lachend hinzu: »Ich würde zum Beispiel
nicht sicher sein, einen Mann wie Orren Boyle festhalten zu können. Er würde mich gar nicht begehren. Aber du
begehrst mich!«
»Willst du damit sagen«, fragte er leise, »daß ich in deiner Achtung gestiegen bin, als du merktest, daß ich
dich begehrte?«
»Natürlich.«
»Das ist nicht die Reaktion der meisten Menschen, wenn sie begehrt werden.«
»Nein.«
»Die meisten Menschen steigen in ihren eigenen Augen, wenn andere sie begehren.«
»Ich glaube, daß andere so viel wert sind wie ich, wenn sie mich begehren. Und das glaubst du von dir auch,
Hank, ob du es nun zugibst oder nicht.«
Das habe ich nicht zu dir gesagt, damals an jenem ersten Morgen, dachte er und sah sie an. Sie lag lässig
ausgestreckt mit ausdruckslosem Gesicht, doch ihre Augen funkelten vor Freude. Er lächelte, sagte aber nichts.
Als er auf der Couch saß und sie beobachtete, erfüllte ihn ein Gefühl des Friedens – als ob sich plötzlich eine
Wand zwischen ihm und dem, was er auf seinem Weg hierher empfunden hatte, erhoben hätte. Er berichtete ihr
von seiner Begegnung mit dem Mann vom State Science Institute, weil er trotz des Bewußtseins einer lauernden
Gefahr noch ein seltsames Gefühl der Befriedigung darüber in sich spürte.
Er lachte über ihren empörten Blick. »Ärgere dich nicht über die Leute«, sagte er. »Das ist nicht schlimmer
als alles andere, was sie Tag für Tag tun.«
»Hank, soll ich mit Dr. Stadler darüber sprechen?«
»Um keinen Preis.«
»Er müßte es verhindern. Das zumindest könnte er doch.«
»Ich würde lieber ins Gefängnis gehen. Dr. Stadler? Du hast doch nichts mit ihm zu tun?«
»Ich habe ihn vor ein paar Tagen gesprochen.«
»Warum?«
»Des Motors wegen.«
»Des Motors…?« Er sagte es langsam, zögernd, als machte der Gedanke an den Motor ihm wieder etwas
bewußt, das er vergessen hatte.
»Dagny… der Mann, der den Motor erfunden hat… er hat gelebt, nicht wahr?«
»Ja, natürlich. Wie meinst du das?«
»Ich meine nur, daß… daß das ein angenehmer Gedanke ist. Selbst, wenn er jetzt tot ist, hat er einmal
gelebt…«
»Was hast du, Hank?«
»Nichts. Was ist mit dem Motor?«
Sie berichtete ihm von ihrer Begegnung mit Dr. Stadler. Während sie sprach, erhob sie sich und ging durch
den Raum. Sie konnte nicht still sitzen. Sobald von dem Motor die Rede war, stieg eine Woge von Hoffnung in
ihr auf, und es drängte sie zu handeln.
Das erste, was er bemerkte, waren die Lichter der Stadt hinter dem Fenster. Es war ihm, als gingen sie eines
nach dem anderen an und bildeten das große Panorama, das er liebte. Dennoch wußte er, daß sie schon vor
Stunden angegangen waren. Dann erkannte er, daß seine Liebe zu der Stadt zurückkehrte. Sie war
wiedergekehrt, weil er sie hinter der straffen, schlanken Gestalt einer Frau sah, die gespannt den Kopf hob, als
wäre er auf irgend etwas in die Ferne gerichtet, dem sie sich wie im Fluge näherte. Er sah sie an wie eine
Fremde, er war sich kaum bewußt, daß sie eine Frau war, aber bei diesem Anblick fühlte er: Das ist die Welt und
ihr Wesen. Das hatte die Stadt geschaffen. Sie fügten sich ineinander, die eckigen Formen der Gebäude und die
eckigen Linien eines Gesichts, das nur auf ein Ziel gerichtet war. So waren alle die Menschen gewesen, die
gelebt hatten, um Lampen, Stahl, Hochöfen, Motoren zu erfinden. Sie waren die Welt, sie und nicht die
Menschen, die in dunklen Ecken hockten und halb bittend, halb drohend ihre offenen Wunden als einzige
Begründung ihres Anspruchs auf Leben und Anerkennung prahlerisch zeigten. Solange er wußte, daß es auch
nur einen Menschen mit dem strahlenden Mut eines neuen Gedankens gab, konnte er die Welt diesen anderen
nicht abtreten. Solange sich seinem Blick noch etwas bot, das ihm lebenspendende Bewunderung einflößte,
konnte er da glauben, daß die Welt den Wunden, den Klagen und den Gewehren gehörte? Die Männer, die
Motoren erfanden, lebten wirklich; nie würde er anzweifeln, daß es sie wirklich gab. Ihr Anblick hatte den
Kontrast unerträglich gemacht, so daß selbst der Abscheu der Tribut seines Glaubens an sie und die Welt war,
die ihr und ihm gehörte. »Liebste«, sagte er, »Liebste…«, wie ein Mensch, der plötzlich erwacht, als er merkte,
daß sie verstummt war. »Was ist, Hank?« fragte sie sanft. »Nichts… Nur, du hättest dich nicht an Stadler
wenden sollen.« Sein Gesicht strahlte vor Vertrauen, seine Stimme klang freundlich, beschützend und zärtlich.
Sie konnte nichts anderes entdecken. Er sah sie an, wie er sie immer angesehen hatte, aber der milde Ton
seiner Stimme war fremd und neu.
»Ich hatte immer das Gefühl, ich hätte es nicht tun sollen«, sagte sie, »aber ich wußte nicht, warum.«
»Ich werde dir sagen, warum.« Er beugte sich vor. »Was er von dir wollte, war die Anerkennung, daß er
immer noch der Dr. Robert Stadler ist, der er sein müßte, aber nicht mehr ist; und er wußte, daß er es nicht mehr
ist. Er wollte, daß du ihm trotz allem, was er getan hat, deine Achtung bekundest. Er wollte, daß du ihm etwas
vortäuscht, damit seine Größe unangetastet bleibt und das State Science Institute ausgelöscht wird, als ob es nie
bestanden hätte. Und du bist die einzige, die das für ihn tun konnte.«
»Warum ich?«
»Weil du das Opfer bist.«
Sie blickte ihn überrascht an. Er sprach leidenschaftlich. Er empfand plötzlich eine überdeutliche Klarheit, als
ob das, was er bis dahin nur verschwommen gefühlt, nur halb begriffen hatte, Gestalt annehmen und ihn in eine
bestimmte Richtung weisen würde.
»Dagny, sie tun etwas, was wir nie verstanden haben. Sie wissen etwas, was wir nicht wissen, aber was wir
herausfinden müssen. Ich sehe noch nicht klar, aber ich beginne langsam zu verstehen. Dieser Plünderer vom
State Science Institute hatte Angst, als ich es ihm unmöglich machte, den Anschein zu erwecken, er sei ein
anständiger Käufer meines Metalls. Die Angst saß tief in seinem Innern. Die Angst wovor? Ich weiß es nicht.
Vor der öffentlichen Meinung, sagte er, aber das war nicht das einzige. Warum sollte er Angst haben? Er hatte
die Gewehre, die Gefängnisse, die Gesetze – er konnte mir mein ganzes Werk wegnehmen, wenn er wollte, und
niemand hätte sich erhoben, um mich zu verteidigen. Und er wußte es – was konnte ihm daran liegen, was ich
dachte? Aber es spielte für ihn eine Rolle. Gerade ich sollte ihm sagen, daß er kein Plünderer ist, sondern mein
Kunde und Freund. Diese Bestätigung brauchte er von mir. Und die brauchte auch Dr. Stadler von dir – gerade
du mußtest so tun, als wäre er ein großer Mann, der nie versucht hatte, deine Eisenbahn und mein Metall zu
vernichten. Ich weiß nicht, was sie tun wollen – aber wir sollen nach ihrem Wunsche so tun, als sähen wir die
Welt mit ihren Augen. Sie brauchen eine Bestätigung von uns. Ich weiß nicht, welcher Art diese Bestätigung ist,
aber, Dagny, wenn unser Leben uns etwas bedeutet, dürfen wir sie ihnen nicht geben. Selbst wenn sie einen
foltern, darf man sie ihnen nicht geben. Sollen sie deine Eisenbahn und mein Werk vernichten, aber die
Bestätigung bekommen sie nicht! Denn dies weiß ich genau: Das ist unsere einzige Chance!« Sie war still vor
ihm stehengeblieben und sah etwas in schwach angedeuteten Umrissen vor sich; auch sie mußte versuchen,
dieses Etwas zu begreifen.
»Ja«, sagte sie, »ja, ich weiß, was du in ihnen erkannt hast. Ich habe es auch gefühlt – aber es ist an mir
vorübergeglitten und verschwunden wie ein kalter Luftzug, ehe ich es richtig wahrgenommen hatte, und ich hatte
danach immer nur das Gefühl, daß ich es hätte festhalten müssen… Ich weiß, daß du recht hast. Ich kann ihr
Spiel nicht verstehen. Aber soviel steht fest: Wir dürfen die Welt nicht so sehen, wie diese Leute sie uns zeigen
wollen. Es ist eine bestimmte Art von Betrug. Eine uralte und eine sehr weit verbreitete. Und es gibt nur einen
Weg, uns zu wehren. Wir dürfen keine ihrer Prämissen akzeptieren, wir mü ssen jede Vorschrift anzweifeln,
wir…«
Sie drehte sich plötzlich zu ihm um, weil ihr etwas einfiel. Aber im gleichen Augenblick hielt sie inne und
unterdrückte die Worte, die ihr auf den Lippen lagen, denn gerade diese Worte wollte sie ihm nicht sagen. Sie
blickte ihn mit einem leisen, neugierigen Lächeln an.
Irgendwo in seinem Innern erriet er, was sie hatte sagen wollen, aber er konnte es noch nicht in Worte fassen.
Und er versuchte auch nicht, jetzt darüber nachzudenken, denn ihm war inzwischen etwas anderes klargeworden,
das ihn schon seit Monaten beschäftigte. Er stand auf, ging auf sie zu und nahm sie in die Arme. Er hielt sie an
sich gepreßt, als sollten ihre Körper verschmelzen. An einem einzigen Punkt. Dort, wo sich ihre Lippen trafen
und wohin jetzt all ihr Denken und Fühlen strömte.
Im Moment dieser Umarmung, als sie inmitten eines Zimmers hoch über den Lichtern der Stadt standen,
wurde ihr die Schönheit der Haltung seines Körpers bewußt.
An diesem Abend hatte er entdeckt, daß er seine wiedergewonnene Liebe zum Leben nicht der Wiederkehr
seiner Begierde nach Dagny verdankte, sondern daß seine Begierde zurückgekehrt war, nachdem er seine Welt –
die Liebe, den Wert und den Sinn seiner Welt – wiedergewonnen hatte, und daß das Verlangen nicht von ihrem
Körper geweckt wurde, sondern ein freudiger Ausdruck seines Ichs und seines Lebenswillens war.
Er dachte nicht darüber nach. Er brauchte es nicht mehr in Worten auszudrücken, aber in dem Augenblick, in
dem er spürte, daß ihr Körper seinen begehrte, wußte er zugleich, ohne es sich einzugestehen, daß, was er ihre
Verderbtheit genannt hatte, ihre höchste Tugend war – ihre Fähigkeit, die gleiche Lebensfreude zu empfinden
wie er.

II. Die Aristokratie der Beziehungen

Auf dem Kalender am Himmel hinter dem Fenster ihres Büros stand: 2. September. Dagny lehnte sich müde
über ihren Schreibtisch. Bei Anbruch der Dämmerung fiel immer das letzte Licht auf den Kalender. Wenn das
weiße Blatt über den Dächern sich rötlich färbte, vermischten sich die Konturen der Stadt, und das Dunkel nahm
zu.
Jeden Abend in den Monaten, die hinter ihr lagen, waren ihre Augen an dem fernen Kalenderblatt hängen
geblieben. Deine Tage sind gezählt, schienen diese Blätter zu sagen – als bezeichneten sie unerbittlich den Weg
zu einem Ziel, das sie kannten, Dagny aber nicht. Einst hatte der Kalender ihren Wettlauf mit der Zeit bei der
Erbauung der John-Galt -Linie wie eine Stoppuhr begleitet; jetzt begleitete er ihren Wettlauf mit einem
unbekannten Zerstörer.
Nacheinander waren die Männer, die die neuen Städte in Colorado gebaut hatten, in aller Stille zu einem
unbekannten Ziel aufgebrochen; man hatte seitdem nichts von ihnen gehört; keiner von ihnen war zurückgekehrt.
Die Städte, die sie verlassen hatten, siechten dahin. Einige der Fabriken, die sie gebaut hatten, waren geschlossen
und hatten keinen Besitzer mehr; andere waren von den Ortsbehörden übernommen worden; aber hier wie dort
standen die Maschinen still. Es kam ihr vor, als wäre eine dunkle Karte von Colorado vor ihr ausgebreitet, auf
der wie auf einer Schalttafel zur Lenkung des Eisenbahnverkehrs zwischen den Bergen ein paar Lichter
aufglühten. Eines nach dem anderen waren die Lichter erloschen. Einer nach dem anderen waren die Männer
verschwunden. Dagny hatte das Gefühl, als ob sich das nach einem bestimmten Plan vollzog, den sie sich nicht
erklären konnte. Mit fast unbedingter Sicherheit konnte sie voraussagen, wer als nächster gehen würde und
wann. Aber das Warum blieb ihr ein Rätsel.
Von den Männern, die sie einst begrüßt hatten, als sie vom Führerstand der Lokomotive auf den Bahnsteig
von Wyatt Junction hinunterstieg, war nur noch Ted Nielsen da, der nach wie vor die Nielsen-Motorenfabrik
leitete. »Ted, werden Sie der nächste sein, der geht?« hatte sie ihn gefragt, als er vor kurzem nach New York
gekommen war, und sie hatte versucht dabei zu lächeln. Er hatte mit düsterer Miene geantwortet: »Ich hoffe
nicht.«
»Wieso hoffe? – Sind Sie dessen nicht sicher?«
Jedes Wort betonend, hatte er geantwortet: »Dagny, ich habe immer geglaubt, ich würde lieber sterben als
aufhören zu arbeiten. Doch die, die gegangen sind, haben dasselbe geglaubt. Es scheint mir unvorstellbar, daß
ich je wünschen könnte, alles hinzuwerfen. Aber vor einem Jahr schien ihnen das ebenso unvorstellbar. Die
Männer waren meine Freunde. Sie wußten, was ihr Weggehen für uns, die Zurückbleibenden, bedeutete. Sie
wären nicht ohne ein Wort weggegangen und hätten uns nicht mit dem Entsetzen über das Unerklärliche
zurückgelassen, wenn sie nicht einen äußerst triftigen Grund dafür gehabt hätten. Vor einem Monat sagte mir
Roger Marsh von Marsh Electric, er habe sich an seinen Schreibtisch festgekettet und werde ihn darum nicht
verlassen können, wie groß die Versuchung auch sei. Er kochte vor Wut über die Männer, die alles hatten stehen
und liegen lassen. Er schwor mir, er werde das nie tun. ‘Und wenn es gar nicht anders gehen sollte’, sagte er,
‘dann schwöre ich Ihnen, daß ich noch so viel kühle Überlegung behalte, Ihnen einen Brief zu hinterlassen und
Ihnen anzudeuten, warum ich gehe, so daß Sie sich nicht Ihr Gehirn über die Art der Drohung zermartern
müssen, die wir beide jetzt spüren.’ Das hat er mir geschworen, aber vierzehn Tage später verschwand er und
hinterließ mir keinen Brief. Dagny… ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn es mir geschieht – was immer es
auch war, um dessentwillen sie gegangen sind.«
Es war ihr, als ob ein Zerstörer sich lautlos durch das Land bewegte und als ob die Lichter erloschen, sobald
er sie berührte – jemand, dachte sie bitter, der das Prinzip des Twentieth-Century-Motors umgestoßen hatte und
jetzt kinetische Energie in statische verwandelte.
Das war der Feind, mit dem sie um die Wette lief, dachte sie, als sie in der zunehmenden Dämmerung an
ihrem Schreibtisch saß. Der Monatsbericht von Quentin Daniels lag auf ihrem Schreibtisch. Sie war noch nicht
davon überzeugt, daß Daniels hinter das Geheimnis des Motors kommen würde. Aber der Zerstörer, dachte sie,
bewegte sich geschickt und sicher und in immer schnellerem Tempo. Falls es gelingt, den Motor zu
rekonstruieren, fragte sie sich, gibt es dann noch eine Welt, die Verwendung für ihn hat?
Sie hatte Quentin Daniels von dem Augenblick an gemocht, in dem er zur ersten Besprechung in ihr Büro
gekommen war. Er war ein schlanker Mann Anfang der Dreißig mit einem kantigen, sympathischen Gesicht und
einem anziehenden Lächeln. Es lag immer ein Hauch dieses Lächelns über seinem Gesicht, besonders wenn er
zuhörte; es war ein gutmütiges, freundliches Lächeln, als ob er ebenso rasch wie geduldig das Unerhebliche in
dem, was er hörte, beiseiteschob und das Wesentliche schneller als der Sprecher erfaßte.
»Warum haben Sie sich geweigert, für Dr. Stadler zu arbeiten?« fragte sie.
Sein Lächeln verstärkte sich. Nur so konnte er ein Gefühl zeigen, und das Gefühl war Ärger. Aber er
antwortete in seiner ruhigen, gelassenen Art: »Wissen Sie, Dr. Stadler hat einmal gesagt, das erste Wort des
Begriffs ‘freie wissenschaftliche Forschung’ sei überflüssig. Er scheint das vergessen zu haben. Ich möchte
behaupten, daß ‘staatliche Forschung’ ein Widerspruch in sich ist.«
Sie fragte ihn, welche Stellung er am Utah Institute of Technology hatte.
»Ich bin Nachtwächter«, antwortete er.
»Was?« fragte sie verblüfft.
»Nachtwächter«, wiederholte er höflich, als hätte sie das Wort nicht verstanden und als gäbe es keinen Grund,
sich darüber zu wundern.
Im Verlauf ihres Gesprächs erklärte er, er schätze keine der noch bestehenden wissenschaftlichen Stiftungen,
er hätte gern eine Stellung im Forschungslabor eines großen Industriekonzerns gehabt – »aber welche von ihnen
können sich heutzutage Forschungen leisten, die erst in ferner Zeit zu praktischen Ergebnissen führen, und
warum sollten sie auch?« Und so war er, als das Utah Institute of Technology wegen Geldmangels geschlossen
wurde, als Nachtwächter und einziger Bewohner des ganzen Komplexes geblieben. Was er verdiente, reichte für
seinen Lebensunterhalt, und das Laboratorium des Instituts, in dem nichts fehlte, stand ihm zu seiner privaten
ungestörten Benutzung zur Verfügung.
»Sie treiben also Ihre eigenen Forschungen?«
»Ja.«
»Und zu welchem Zweck?«
»Zu meinem Vergnügen.«
»Was gedenken Sie zu tun, wenn Sie etwas entdecken, das von wissenschaftlicher Bedeutung oder
kommerziellem Wert ist? Haben Sie vor, es dann der Öffentlichkeit zu übergeben?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht.«
»Möchten Sie nicht der Menschheit dienen?«
»Diese Sprache spreche ich nicht, Miss Taggart, und ich glaube, es ist auch nicht Ihre Sprache.«
Sie lachte. »Ich glaube, wir werden gut zusammen arbeiten, Sie und ich.«
»Das werden wir.«
Als sie ihm die Geschichte von dem Motor erzählt und er das Manuskript durchgelesen hatte, enthielt er sich
jeden Kommentars und sagte nur, er werde die Stellung zu jeder von ihr genannten Bedingung übernehmen.
Sie bat ihn, die Bedingungen selbst zu nennen. Sie protestierte erstaunt gegen das niedrige Monatsgehalt, das
er verlangte. »Miss Taggart«, sagte er, »für nichts nehme ich nichts. Ich weiß nicht, wie lange Sie mich vielleicht
bezahlen müssen, oder ob Sie etwas dafür erhalten. Ich nehme das Risiko auf meine Kappe. Ich will nicht, daß
mir ein anderer das abnimmt. Ich lasse mich nicht für eine Absicht bezahlen. Aber ich werde bestimmt meinen
Preis fordern, wenn ich die Ware liefere. Wenn es mir gelingt, dann werde ich Sie gründlich schröpfen, dann will
ich prozentual beteiligt werden, und zwar hoch, aber es wird sich für Sie lohnen.«
Als er die Prozente nannte, die er haben wollte, lachte sie.
»Ja, Sie schröpfen mich gründlich, aber es wird sich für mich lohnen.«
»Abgemacht.«
Sie kamen überein, daß es ihr privates Vorhaben und er ihr privater Angestellter sein sollte. Sie wollten sich
beide nicht von der Taggart-Forschungsabteilung hineinreden lassen. Er bat sie, auf seinem Posten als
Nachtwächter in Utah bleiben zu dürfen, denn er hatte dort die ganze Laboratoriumsausrüstung und die Ruhe, die
er brauchte. Von der Sache sollte niemand außer ihnen beiden etwas wissen, bis seine Bemühungen erfolgreich
waren.
»Miss Taggart«, sagte er zum Schluß, »ich weiß nicht, wie viele Jahre ich brauche, um hinter das Geheimnis
zu kommen, falls es mir überhaupt je glückt. Aber ich weiß, daß ich, wenn ich den Rest meines Lebens daran
setze und zu einem Ergebnis komme, zufrieden sterben werde.« Er fügte hinzu: »Das einzige, was ich mir noch
mehr wünsche, als dieses Problem zu lösen, ist eine Begegnung mit dem Mann, der den Motor erfunden hat.«
Seit seiner Rückkehr nach Utah hatte sie ihm jeden Monat einen Scheck und er ihr einen Bericht über seine
Arbeit geschickt. Für Hoffnung war es noch zu früh, aber seine Berichte waren die einzigen Lichtblicke im
lastenden Grau ihrer Tage im Büro.
Sie hob den Kopf, als sie das von ihm Geschriebene zu Ende gelesen hatte. Auf dem Kalender in der Ferne
stand: 2. September. Überall in der Stadt darunter brannten jetzt die Lichter. Sie dachte an Rearden. Sie
wünschte, er wäre in der Stadt. Sie hätte ihn gern an diesem Abend gesehen. Dann fiel ihr plötzlich ein, daß sie
nach Hause eilen mußte, um sich umzuziehen, denn sie mußte heute abend an Jims Hochzeitsfeier teilnehmen.
Außer im Büro hatte sie ihn seit einem Jahr nie gesehen. Sie hatte seine Braut noch nicht kennengelernt, aber
über die Verlobung hatte in den Zeitungen genug gestanden. Sie erhob sich in müder Resignation von ihrem
Schreibtisch. Aber es schien ihr einfacher, zu der Feier zu gehen, als später ihre Abwesenheit erklären zu
müssen.
Sie eilte durch die Halle des Terminals, als sie eine Stimme in einem seltsamen, zugleich dringlichen und
widerstrebenden Ton rufen hörte: »Miss Taggart!« Sie drehte sich um und brauchte ein paar Sekunden, bis ihr
bewußt wurde, daß es der alte Mann am Zeitungsstand war, der sie gerufen hatte.
»Seit Tagen schon habe ich nach Ihnen geschaut, Miss Taggart. Ich möchte so dringend mit Ihnen sprechen.«
In seinem Gesicht war ein merkwürdiger Ausdruck.
»Es tut mir leid«, sagte sie lächelnd. »Ich bin die ganze Woche hier hindurchgerast und hatte keine Zeit
stehenzubleiben.«
Er lächelte nicht. »Miss Taggart, die Zigarette mit dem Dollarzeichen, die Sie mir vor Monaten gaben –
woher hatten Sie die?«
»Ach, das ist eine lange, komplizierte Geschichte«, antwortete sie. »Haben Sie eine Möglichkeit, mit der
Person in Verbindung zu treten, die sie Ihnen gegeben hat?«
»Ich nehme es an – obwohl ich mir nicht allzu sicher bin. Warum?«
»Würde sie Ihnen sagen, woher sie die Zigarette hat?«
»Ich weiß es nicht. Was läßt Sie vermuten, daß sie es nicht tun würde?« Er zögerte und fragte dann: »Miss
Taggart, was tun Sie, wenn Sie jemand etwas sagen müssen, von dem Sie wissen, daß es unmöglich ist?«
Sie lachte. »Der Mann, der mir die Zigarette gab, sagte, in so einem Fall müsse man seine Prämissen
überprüfen.«
»Das hat er gesagt? Von der Zigarette?«
»Nein, nicht direkt. Aber warum? Was haben Sie mir zu sagen?«
»Miss Taggart, ich habe in der ganzen Welt geforscht. Ich habe mich bei der ganzen Tabakindustrie danach
erkundigt. Ich habe den Zigarettenstummel chemisch analysieren lassen. Es gibt keine Fabrik, die diese Art von
Papier herstellt. Diese Tabakmischung ist für keine Zigarette, die ich habe auftreiben können, verwandt worden.
Diese Zigarette ist maschinell hergestellt, aber in keiner Fabrik, die ich kenne, und ich kenne sie alle. Miss
Taggart, nach bestem Wissen und Gewissen muß ich sagen, daß diese Zigarette nirgendwo auf Erden hergestellt
worden ist.«
Rearden blickte abwesend vor sich hin, während der Kellner den fahrbaren Tisch aus seinem Hotelzimmer
rollte. Ken Danagger war gegangen. Es war in dem Raum halb dunkel. In stillschweigendem Übereinkommen
hatten sie während ihres Abendessens nur eine kleine Lampe brennen lassen, damit die Kellner Danaggers
Gesicht nicht sahen und vielleicht erkannten.
Sie hatten heimlich zusammenkommen müssen wie Verbrecher, die sich nicht gemeinsam zeigen dürfen. Sie
konnten einander nicht in ihren Büros oder ihren Wohnungen treffen, nur in der Anonymität einer Großstadt, in
einer Suite im Wayne-Falkland-Hotel. Beiden drohten zehntausend Dollar Geldstrafe und zehn Jahre Gefängnis,
wenn herauskam, daß Rearden sich bereit erklärt hatte, Danagger viertausend Tonnen Baustahl zu liefern. Sie
hatten bei ihrem gemeinsamen Essen weder über dieses Gesetz gesprochen noch über ihre Beweggründe oder
das Risiko, das sie auf sich nahmen. Sie hatten nur geschäftlich gesprochen. In klarem, trockenen Ton, wie er bei
jeder Konferenz sprach, hatte Danagger erklärt, daß die Hälfte des von ihm ursprünglich bestellten Metalls
ausreichen würde, um die Schächte zu versteifen, die unweigerlich einstürzen würden, wenn er das noch auf die
lange Bank schöbe, sowie um die Zechen der in Konkurs gegangenen Confederated Coal Company wieder
betriebsbereit zu machen, die er vor drei Wochen gekauft hatte. »Die Grube ist hervorragend, aber schwer
beschädigt! Im vorigen Monat hatten sie einen schlimmen Unfall. Ein Stollen ist eingestürzt, Gase sind
explodiert, und vierzig Männer haben dabei den Tod gefunden.« Eintönig, als läse er einen nüchternen
statistischen Bericht vor, hatte er hinzugefügt: »Die Zeitungen schreien, daß Kohle jetzt die wichtigste Ware im
Lande ist. Sie schreien ebenso, daß die Zechenbesitzer von der Ölknappheit profitieren. Eine Clique in
Washington schlägt Lärm, daß ich mich zu sehr ausdehne und daß etwas getan werden muß, um mich daran zu
hindern, daß in meiner Hand ein Monopol entsteht. Eine andere Clique in Washington zetert, daß ich mich nicht
genug ausdehne und daß etwas getan werden muß, damit die Regierung meine Bergwerke übernimmt, denn ich
sei zu profitgierig und nicht bereit, den Brennstoffbedarf des Landes zu decken. Bei den Gewinnen, die ich
augenblicklich erziele, wird mir diese Confederated Coal Company das Geld, das ich hineingesteckt habe, in
siebenundvierzig Jahren wieder einbringen. Ich habe keine Kinder. Ich habe die Gesellschaft gekauft, weil da ein
Kunde ist, den ich nicht ohne Kohlen lassen darf – und das ist Taggart Transcontinental. Ich denke immer
darüber nach, was geschehen würde, wenn die Eisenbahnen zusammenbrächen.« Er hatte einen Augenblick
geschwiegen und dann hinzugefügt:
»Ich weiß nicht, warum ich mir deswegen noch Gedanken mache, aber ich tue es. Diese Leute in Washington
scheinen sich gar nicht klarzumachen, wie das sein würde.«
Rearden hatte gesagt: »Ich werde das Metall liefern. Wenn Sie die andere Hälfte Ihres Auftrags benötigen,
lassen Sie mich’s wissen. Ich werde auch das liefern…«
Am Ende des Essens hatte Danagger in dem gleichen sachlichen, bedächtigen Ton eines Mannes, der sich der
genauen Bedeutung seiner Worte bewußt ist, gesagt: »Wenn einer Ihrer oder meiner Angestellten das entdeckt
und uns zu erpressen versucht, dann werde ich, wenn ich es eben kann, die geforderte Summe zahlen. Aber ich
werde sie nicht zahlen, wenn er Freunde in Washington hat. Wenn einer von denen auf der Bildfläche auftaucht,
dann gehe ich ins Gefängnis.«
»Dann gehen wir zusammen ins Gefängnis«, hatte Rearden gesagt. Als er jetzt allein in seinem halbdunklen
Zimmer stand, wurde Rearden bewußt, daß ihn die Aussicht, ins Gefängnis zu kommen, völlig gleichgültig ließ.
Er erinnerte sich daran, daß er als vierzehnjähriger Junge, obwohl er vor Hunger fast umfiel, nie daran gedacht
hatte, sich Obst von einem Karren auf der Straße zu stehlen. Jetzt bedeutete die Möglichkeit, ins Gefängnis zu
kommen – wenn dieses Abendessen ein Verbrechen war, nicht mehr für ihn als das Risiko, von einem
Lastwagen überfahren zu werden: ein häßlicher Unfall ohne jede moralische Bedeutung.
Er dachte, daß er die einzige geschäftliche Transaktion, die ihm in der Arbeit eines ganzen Jahres Genuß
bereitet hatte, wie eine geheime Schuld verbergen mußte – und daß er seine Nächte mit Dagny, die einzigen
Stunden, die ihn am Leben erhielten, wie eine geheime Schuld verbarg. Er spürte, daß zwischen diesen beiden
Geheimnissen eine Verbindung bestand, eine entscheidende Verbindung, die er entdecken mußte. Noch entwand
sie sich ihm, noch konnte er die Worte dafür nicht finden, aber er spürte, an dem Tage, da er sie fände, würde er
jede Frage seines Lebens beantworten können.
Er stand mit zurückgeworfenem Kopf und geschlossenen Augen an der Wand und dachte an Dagny – und da
fühlte er, daß keine Frage mehr eine Bedeutung für ihn haben konnte. Er dachte daran, daß er sie heute abend
sehen würde, und er haßte den Gedanken fast, weil morgen früh schon so nahe zu sein schien und er sie dann
würde verlassen müssen. Er fragte sich, ob er morgen noch in der Stadt bleiben könnte oder ob er gleich, ohne
sie zu sehen, wegfahren sollte, um noch auf den Augenblick zu warten und ihn noch vor sich zu haben: den
Augenblick, in dem seine Hände ihre Schultern umschlossen und er in ihr Gesicht hinuntersah. Du wirst
wahnsinnig, dachte er – aber er wußte, daß es, auch wenn sie jede Stunde bei ihm wäre, das gleiche sein würde,
er würde nie genug davon haben, er würde irgendeine sinnlose Form der Qual für sich selbst erfinden müssen,
um es zu ertragen. Er wußte, er würde sie heute abend sehen, und der Gedanke, abzufahren, ohne sie gesehen zu
haben, machte die Freude nur größer: Die Qual eines Augenblicks verstärkte nur die Gewißheit der vor ihm
liegenden Stunden. Er würde das Licht in ihrem Wohnzimmer brennen lassen, dachte er, und sie auf das Bett
legen und nichts sehen als den Lichtstreifen, der von ihrer Taille zu ihren Füßen rann, eine einzige Linie, die die
ganze Form ihres langen, schlanken Körpers im Dunkel zeichnete; dann würde er ihren Kopf in das Licht ziehen,
um ihr Gesicht zu sehen, um es widerstandslos zurücksinken zu sehen, wobei ihr Haar über seine Arme fiel und
sie die Augen schloß, ein Ausdruck des Schmerzes sich in ihrem Gesicht spiegelte und ihr Mund sich öffnete,
um seinen Kuß zu empfangen.
Er stand an der Wand und wartete darauf, daß alles, was an diesem Tage geschehen war, von ihm abfiele.
Als die Tür seines Zimmers plötzlich aufgerissen wurde, glaubte er im ersten Augenblick, seinen Augen nicht
zu trauen. Er sah die Silhouette einer Frau und dann die eines Pagen, der einen Koffer abstellte und verschwand.
Es war Lillians Stimme, die er hörte: »Aber, Henry, ganz allein und im Dunkeln?«
Sie drückte den Lichtschalter neben der Tür. Sie stand dort in einem hellbeigefarbenen Reisekostüm, das
aussah, als ob sie unter Glas gereist wäre. Sie lächelte und streifte ihre Handschuhe mit der Miene von jemand
ab, der wieder zu Hause ist.
»Wolltest du den Abend hier verbringen«, fragte sie, »oder wolltest du ausgehen?«
Es dauerte eine ganze Weile, bis er antwortete: »Was willst du hier?«
»Hast du vergessen, daß Jim Taggart uns zu seiner Hochzeitsfeier eingeladen hat? Sie ist heute abend.«
»Ich hatte nicht die Absicht, daran teilzunehmen.«
»Aber ich.«
»Warum hast du mir das nicht heute morgen gesagt, bevor ich abfuhr?«
»Um dich zu überraschen, Liebster.« Sie lachte vergnügt. »Es ist ja praktisch unmöglich, dich zu irgendeiner
Party zu schleppen, aber ich dachte, wenn man dich so überrumpelt, wärst du vielleicht bereit, auszugehen und
dich zu vergnügen, wie Ehepaare es ja tun sollen. Ich dachte, es würde dir nichts ausmachen, da du ja so oft über
Nacht in New York bleibst.«
Er sah, wie sie ihn unter dem Rand ihres schief auf dem Kopf sitzenden eleganten Hutes forschend anblickte.
Aber er sagte nichts.
»Natürlich war es ein bißchen gewagt von mir«, sagte sie, »es hätte ja gut sein können, daß du mit jemand
zum Abendessen ausgehen mußtest.«
Er schwieg.
»Oder solltest du vielleicht die Absicht gehabt haben, heute abend nach Hause zu fahren?«
»Nein.«
»Hattest du eine Verabredung für diesen Abend?«
»Nein.«
»Nun, da bin ich froh.« Sie deutete auf ihren Koffer. »Ich habe mein Abendkleid mitgebracht. Willst du mit
mir um einen Strauß Orchideen wetten, daß ich schneller angezogen bin als du?«
Er dachte, daß Dagny an der Hochzeitsfeier ihres Bruders teilnehmen würde. Der Abend war für ihn verloren.
»Wenn du willst, gehe ich mit dir aus«, sagte er, »aber nicht zu dieser Feier.«
»Aber ich möchte doch gerade dorthin. Es ist das lächerlichste Ereignis der Saison, und alle meine Freunde
freuen sich schon wochenlang darauf. Ich möchte es um nichts in der Welt versäumen. Es gibt keine bessere
Theatervorstellung in der Stadt und keine, die mit soviel Reklame vorbereitet ist. Es ist eine urkomische Heirat,
aber ungefähr das, was man von Jim Taggart erwarten kann.«
Sie ging im Zimmer auf und ab und blickte sich um wie jemand, der mit einem fremden Ort vertraut zu
werden versucht. »Ich bin seit Jahren nicht in New York gewesen«, sagte sie, »jedenfalls nicht mit dir und zu
keinem gesellschaftlichen Anlaß.«
Er bemerkte, daß ihre ziellos umherschweifenden Augen plötzlich an einem vollen Aschenbecher
hängenblieben. Er spürte einen leisen Ekel.
Sie sah ihm den Ekel an und lachte heiter. »Ach, Liebster, ich bin nicht erleichtert, ich bin enttäuscht. Ich
hoffte, ein paar mit Lippenstift beschmierte Zigarettenstummel zu finden.«
Er rechnete es ihr hoch an, daß sie, wenn auch durch einen Scherz verhüllt, zugab, daß sie ihm nachspionierte.
Aber etwas in der betonten Offenheit ihres Verhaltens ließ ihn daran zweifeln, daß sie scherzte, eine Sekunde
lang spürte er, daß sie ihm die Wahrheit gesagt hatte. Doch das war ja unmöglich.
»Ich fürchte, du wirst nie mehr menschlich werden«, sagte sie, »und darum bin ich sicher, daß ich keine
Rivalin habe. Und wenn ich sie hätte, was ich indessen bezweifle, Liebster –, brauchte ich mir gewiß keine
Sorgen darum zu machen, denn wenn es jemand ist, dem man nur mit dem kleinen Finger zu winken braucht,
und schon kommt er – nun, dann weiß jeder, was es für eine Person ist.«
Ich muß auf der Hut sein, dachte er; er war nahe daran, sie ins Gesicht zu schlagen. »Lillian«, sagte er, »ich
glaube, du weißt, daß Humor dieser Art mehr ist, als ich vertragen kann.«
»Ach, du bist immer so ernst«, lachte sie. »Ich vergesse es immer wieder. Du nimmst alles so ernst –
besonders dich selbst.«
Dann wandte sie sich plötzlich ihm zu, und ihr Lächeln war verschwunden. Ihr Gesicht hatte den seltsam
bittenden Ausdruck, den er schon mehrmals darin wahrgenommen hatte, einen Ausdruck, der mutig und zugleich
ehrlich wirkte.
»Du ziehst es vor, ernst zu sein, Henry? Nun, gut. Wie lange soll ich noch irgendwo im Keller deines Lebens
existieren? Wie einsam soll ich werden? Ich habe nichts von dir erbeten. Ich habe dich so leben lassen, wie es dir
gefiel. Kannst du mir nicht einen Abend schenken? Ach, ich weiß, du haßt Parties, und du wirst dich dort zu
Tode langweilen. Aber für mich bedeutet sie so viel. Nenne es pure gesellschaftliche Eitelkeit – ich möchte mich
wenigstens einmal mit meinem Mann zeigen. Du wirst dir über so etwas wohl nie Gedanken machen, aber du
bist ein bedeutender Mann, du bist beneidet, gehaßt, geachtet und gefürchtet. Du bist ein Mann, den als ihren
Ehemann vorzuführen jede Frau stolz sein würde. Du wirst vielleicht sagen, das sei eine niedere Form weiblicher
Prahlerei, aber es ist die Form des Glücks jeder Frau. Du lebst nicht nach solchen Maßstäben. Aber ich. Kannst
du mir dies, an dem mir so viel liegt, nicht schenken, auch wenn du dich ein paar Stunden langweilen mußt?
Kannst du dich nicht einmal überwinden, deine Pflicht als Ehemann zu erfüllen? Kannst du nicht dorthin gehen,
nicht um deinetwillen, sondern um meinetwillen?«
Dagny, dachte er verzweifelt, Dagny, die nie ein Wort über sein Leben zu Hause gesagt hatte, die nie etwas
beansprucht, ihm nie einen Vorwurf gemacht oder eine Frage gestellt hatte – er konnte nicht vor ihr mit seiner
Frau erscheinen, er konnte ihr nicht den Anblick des stolz vorgeführten Ehemannes bieten. Er hätte gewünscht,
jetzt, in diesem Augenblick zu sterben, bevor er dies Unverzeihliche beging, denn er wußte, er würde es
begehen.
Weil er sein Geheimnis als Schuld hingenommen und sich selbst gelobt hatte, die Konsequenzen zu tragen;
weil er zugegeben hatte, daß Lillian im Recht war, und weil er jede Art von Verurteilung ertragen, nicht aber
einen berechtigt geltend gemachten Anspruch verweigern konnte; weil er wußte, daß der Grund, warum er sich
weigerte, dorthin zu gehen, der Grund war, der es ihm verbot, es zu verweigern; weil er den flehenden Schrei in
seinem Innern hörte: »Alles, nur nicht diese Party!«; und weil er sich nie erlaubte, um Gnade zu bitten, sagte er
mit ruhiger, lebloser und fester Stimme: »Gut, Lillian, ich komme mit.«
Der Brautschleier aus rosa Spitze hatte sich im splitternden Fußboden ihres Zimmers verfangen. Cherryl
Brooks befreite ihn vorsichtig und trat vor den kümmerlichen Spiegel, der an der Wand hing, um sich darin zu
betrachten. Sie war den ganzen Tag lang photographiert worden, wie schon so oft in den letzten beiden Monaten.
Sie lächelte immer noch mit ungläubiger Dankbarkeit, wenn Zeitungsreporter sie knipsen wollten, aber es wäre
ihr lieber gewesen, sie hätten es nicht so oft getan.
Eine alternde Journalistin mit der bitteren Weisheit einer Polizistin, die in den Zeitungen schmalzige
Liebesschicksale kolportierte, hatte Cherryl vor Wochen unter ihre Fittiche genommen, als das junge Mädchen
zum ersten Mal von den Reportern, die sie interviewten, gleichsam durch einen Fleischwolf gedreht worden war.
Heute hatte die Journalistin die Reporter hinausgejagt und zu den Nachbarn gesagt: »Macht, daß ihr hier
wegkommt«, hatte ihnen Cherryls Tür vor der Nase zugeschlagen und ihr beim Anziehen geholfen. Sie wollte
Cherryl zu der Hochzeit fahren, weil sie herausbekommen hatte, daß niemand anders es tun würde.
Der Brautschleier, das weißseidene Kleid, die zarten Schuhe und die Perlenkette hatten fünfhundertmal so viel
gekostet wie alles, was Cherryls Zimmer enthielt. Den meisten Raum nahm ein Bett ein; außerdem gab es noch
eine Kommode und einen Stuhl und ein paar Kleider, die hinter einem verblichenen Vorhang hingen. Der weite
Reifrock strich gegen die Wände, wenn sie sich bewegte, und ihr schlanker Oberkörper ragte über ihm in einem
enganliegenden strengen, langärmeligen Top heraus, das einen merkwürdigen Kontrast dazu bildete. Das Kleid
hatte der beste Modeschöpfer der Stadt entworfen.
»Wissen Sie, als ich die Stellung in dem Discount-Markt bekam, hätte ich in ein besseres Zimmer umziehen
können«, sagte sie entschuldigend zu der Journalistin, »aber da ich fand, es ist gleich, wo man nachts schläft,
habe ich mein Geld gespart, weil ich es für etwas Wichtiges in der Zukunft brauchte« – sie hielt inne und
lächelte, wobei sie den Kopf verlegen schüttelte – »ich glaubte, ich brauchte es«, sagte sie dann.
»Sie sehen wunderbar aus«, sagte die Journalistin. »In dem elenden Spiegel kann man nicht viel sehen, aber
es sitzt alles wunderbar.«
»Das ist alles so schnell geschehen, daß ich… daß ich gar keine Zeit hatte, mit mir selbst ins reine zu
kommen. Aber Jim ist wundervoll. Es macht ihm nichts aus, daß ich nur eine Verkäuferin aus einem
Ramschladen bin, die in einem solchen Zimmer wie diesem wohnt. Er macht mir das nicht zum Vorwurf.«
»Na ja!«, sagte die Journalistin mit grimmigem Gesicht.
Cherryl erinnerte sich noch genau daran, wie Jim zum ersten Mal hierher gekommen war. Unangemeldet war
er eines Abends erschienen, einen Monat nach ihrer ersten Begegnung, als sie schon die Hoffnung aufgegeben
hatte, ihn je wiederzusehen. Sie war entsetzlich verlegen gewesen. Sie hatte sich gefühlt, als würde sie
versuchen, das Licht eines Sonnenaufgangs in einer trüben Regenpfütze aufzufangen. Aber Jim hatte gelächelt,
hatte sich auf ihren einzigen Stuhl gesetzt, hatte sie, die dunkelrot geworden war, angeblickt und darauf seine
Augen durch das Zimmer schweifen lassen. Dann hatte er ihr gesagt, sie solle ihren Mantel anziehen, und er
hatte sie zum Abendessen in das teuerste Restaurant der Stadt geführt. Er hatte über ihre Unsicherheit gelächelt,
über ihr unbeholfenes Benehmen, über ihre Angst, die falsche Gabel zu nehmen, und über ihren wie
verzauberten Blick. Sie hatte nicht gewußt, was er dachte. Aber er hatte gewußt, daß nicht das Lokal sie
verblüffte, sondern die Tatsache, daß er sie hierher geführt hatte. Er hatte bemerkt, daß sie das teure Essen kaum
anrührte, daß sie das Essen nicht als etwas betrachtete, das ein reicher Mann ihr zu spendieren hatte – alle
Mädchen, die er kannte, hätten es so betrachtet –, sondern als eine wunderbare Belohnung, die sie nie erwartet
hatte.
Zwei Wochen später war er wiedergekommen, und von da an waren sie immer öfter zusammen gewesen. Er
fuhr bei Ladenschluß vor dem Discount-Markt vor, und sie sah, wie die anderen Verkäuferinnen seinen Wagen
und den uniformierten Chauffeur, der den Wagenschlag für sie öffnete, respektvoll anstarrten. Er führte sie in die
besten Nachtlokale, und wenn er sie seinen Freunden vorstellte, sagte er: »Miss Brooks arbeitet in dem
Discount-Markt am Madison Square.« Sie bemerkte den seltsamen Ausdruck in ihren Gesichtern und sah, wie
Jim sie mit leisem Spott in den Augen anblickte. Er wollte es ihr ersparen, sich als etwas aufzuspielen, was sie
nicht war. Er wollte sie nicht verlegen machen, dachte sie dankbar. Er war stark genug, um anständig zu sein und
sich nicht darum zu kümmern, ob die anderen sein Verhalten billigten oder nicht, dachte sie bewundernd. Aber
sie spürte einen seltsamen, stechenden, ihr ganz neuen Schmerz an jenem Abend, als eine Frau, die für eine
hochintellektuelle politische Zeitschrift arbeitete, zu ihrem Begleiter am nächsten Tisch sagte: »Wie großzügig
von Jim!«
Hätte er es verlangt, hätte sie ihm das einzige gegeben, womit sie seine Güte vergelten konnte. Sie war
dankbar, daß er es nicht verlangte. Doch sie fühlte sich bei ihm tief in seiner Schuld, und sie konnte sie durch
nichts abtragen als durch ihre stumme Verehrung. Aber er bedurfte nicht ihrer Verehrung, dachte sie.
An manchen Abenden kam er, um mit ihr auszugehen, blieb jedoch statt dessen in ihrem Zimmer sitzen und
sprach zu ihr, während sie still zuhörte. Es geschah immer unerwartet und so jäh, als hätte er es nicht vorgehabt,
als zwinge ihn aber plötzlich irgend etwas, zu sprechen. Dann el hnte er auf ihrem Bett, ohne auf seine
Umgebung und ihre Anwesenheit zu achten: Nur hin und wieder blickte er sie an, als wollte er sich
vergewissern, daß ein lebendiges Wesen ihm zuhörte, »… ich habe es nicht für mich getan, ich habe es ganz und
gar nicht für mich getan – warum wollen mir diese Menschen das nicht glauben? Ich mußte auf die Forderungen
der Gewerkschaft eingehen, die Zahl der Züge einschränken – und das Moratorium für die Obligationen war die
einzige Möglichkeit. Und darum hat es Wesley nicht für mich, sondern für die Arbeiter angeordnet. Alle
Zeitungen haben geschrieben, ich sei ein großartiges Vorbild, dem alle Geschäftsleute folgen sollten – ein
Geschäftsmann mit sozialem Verantwortungsgefühl. Ja, das haben sie geschrieben. Und das stimmt . Es ist die
Wahrheit… Was war an dem Moratorium schlimm? Was hatten ein paar technische Einzelheiten schon zu
sagen? Es ging um einen guten Zweck. Jeder gibt zu, daß alles gut ist, was man tut, solange man es nicht für sich
selbst tut… Aber sie wollte nicht an den guten Zweck glauben. Sie hält nur sich selbst für gut. Meine Schwester
ist eine unbarmherzige, eingebildete Hure, die nur ihre eigenen Ideen gelten läßt… Warum sehen sie mich
dauernd so an – sie und Rearden und all diese Leute? Warum sind sie so sicher, im Recht zu sein? Wenn ich ihre
Überlegenheit auf materiellem Gebiet anerkenne, warum erkennen sie dann nicht meine auf geistigem Gebiet
an? Sie haben das Gehirn, aber ich habe das Herz. Sie beherrschen die Kunst, Reichtum zu produzieren, aber ich
beherrsche die Kunst zu lieben. Ist das nicht mehr? Ist die Kunst zu lieben nicht durch alle Jahrhunderte der
menschlichen Geschichte als das Größte anerkannt worden? Warum wollen diese Leute sie nicht anerkennen?
Warum sind sie ihrer eigenen Größe so sicher? Und wenn sie groß sind, und ich bin es nicht – müßten sie sich
nicht gerade darum vor mir verneigen, weil ich es nicht bin? Wäre das nicht wahre Menschlichkeit? Es bedarf
keiner Güte, einen Menschen zu achten, der Hochachtung verdient – es ist nur der Lohn für das, was er verdient
hat. Unverdiente Achtung zu erweisen, ist die höchste Nächstenliebe. Aber sie können ihren Nächsten nicht
lieben. Sie sind nicht menschlich. Die Not… oder Schwäche eines anderen läßt sie kalt. Sie kümmern sich nicht
um ihn… und haben kein Mitleid…«
Sie konnte nur wenig davon verstehen, aber sie verstand, daß er unglücklich war und daß jemand ihn verletzt
hatte. Er sah die mitfühlende Liebe in ihrem Gesicht, die Empörung gegen seine Feinde, und er sah den für
Helden bestimmten Blick – den ihm jemand schenkte, der das empfand, was dieser Blick ausdrückte.
Sie wußte nicht, warum sie so sicher war, daß er nur ihr seine Qual beichtete; sie betrachtete es als eine
besondere Ehre, als ein weiteres Geschenk.
Sie konnte seiner nur würdig sein, dachte sie, wenn sie ihn nie um etwas bat. Er bot ihr einmal Geld an, aber
sie lehnte es mit einem so entsetzten Blick ab, daß er es nie wieder versuchte. Das Entsetzen galt ihr selbst: Sie
fragte sich, ob sie etwas getan hatte, das ihn denken ließ, sie sei so eine Person. Aber sie wollte nicht für seine
Fürsorge undankbar sein oder ihn durch ihre häßliche Armut in Verlegenheit bringen. Darum sagte sie ihm,
wenn er wollte, könnte er ihr dadurch helfen, daß er ihr half, eine bessere Stellung zu finden. Er antwortete nicht
darauf. In den Wochen, die folgten, wartete sie, aber er berührte das Thema nie. Sie machte sich Vorwürfe: Sie
glaubte, ihn beleidigt zu haben, glaubte, er habe darin einen Versuch gesehen, ihn auszunutzen.
Als er ihr ein Smaragdarmband schenkte, konnte sie das gar nicht fassen. Verzweifelt bemüht, ihn nicht zu
kränken, bat sie ihn zu verstehen, daß sie es nicht annehmen konnte. »Warum nicht?« fragte er. »Es ist doch
nicht, als wollte ich einer Schlampe den üblichen Preis bezahlen. Fürchten Sie, daß ich Ihnen unsittliche Anträge
machen könnte? Haben Sie kein Vertrauen zu mir?« Er lachte laut über ihre hilflose Verwirrung. Er lächelte
seltsam froh, den ganzen Abend lang, als sie in ein Nachtlokal gingen und sie das Armband zu ihrem dürftigen
schwarzen Kleid trug.
Sie mußte das Armband an dem Abend wieder tragen, als er sie zu einer Party mitnahm, einem großen
Empfang, den Mrs. Cornelius Pope gab. Wenn er sie für gut genug hielt, sie in das Haus seiner Freunde
mitzunehmen, dachte sie – der illustren Freunde, deren Namen sie auf den unerreichbaren Bergspitzen gesehen
hatte, die die Gesellschaftsspalten der Zeitungen darstellten –, durfte sie ihn nicht dadurch in eine peinliche Lage
bringen, daß sie ihr altes Kleid trug. Sie gab alles, was sie in einem Jahr erspart hatte, für ein grellgrünes
Chiffonkleid mit tiefem Ausschnitt, einem Gürtel aus gelben Rosen und einer Straß-Schnalle aus. Als sie die
vornehme Wohnung mit den kalten funkelnden Lichtern und einer über den Dächern der Wolkenkratzer
hängenden Terrasse betrat, wußte sie, daß sie für diese Gelegenheit nicht richtig angezogen war, obwohl sie
nicht sagen konnte, warum. Aber sie hielt sich kerzengerade und lächelte mit dem mutigen Vertrauen eines
Kätzchens, dem sich eine Hand entgegenstreckt, um mit ihm zu spielen:
Menschen, die zu ihrem Vergnügen versammelt waren, würden niemand kränken, dachte sie.
Nach einer Stunde war ihr Bemühen zu lächeln nur noch ein bestürztes, hilfloses Flehen. Dann verschwand
das Lächeln ganz aus ihrem Gesicht. Sie sah sich die Leute näher an. Sie sah, daß die selbstbewußten jungen
Mädchen so dreist und keck mit Jim sprachen, als hätten sie keine Achtung vor ihm und hätten sie auch nie
gehabt. Vor allem eine von ihnen, Betty Pope, die Tochter der Gastgeberin, machte immer wieder Bemerkungen
ihm gegenüber, die Cherryl nicht verstehen konnte, weil sie einfach nicht zu glauben vermochte, daß sie sie
richtig verstand.
Anfangs hatte niemand sie beachtet, nur ein paar erstaunte Blicke hatten ihr Kleid gemustert. Nach einer
Weile spürte sie, daß alle sie ansahen. Sie hörte eine ältere Frau Jim leicht beklommen fragen, als ginge es um
eine vornehme Familie, die kennenzulernen sie versäumt hatte: »Sagten Sie Miss Brooks vom Madison Square?«
Sie sah ein merkwürdiges Lächeln auf Jims Gesicht, als er mit betont deutlicher Stimme sagte: »Ja, sie arbeitet in
der Kosmetikabteilung dieses Discount-Markts – Raleigh’s Five and Ten.« Darauf bemerkte sie, daß einige
besonders höflich zu ihr wurden und andere sich ostentativ abwandten, während die meisten sich vor
Verlegenheit kaum zu lassen wußten und Jim das alles mit diesem merkwürdigen Lächeln beobachtete.
Sie versuchte, ihnen aus dem Wege zu gehen und sich möglichst unsichtbar zu machen. Als sie durch das
Zimmer schlich, hörte sie jemand mit einem Achselzucken sagen: »Jim Taggart ist im Augenblick einer der
mächtigsten Männer in Washington.« Aber er sagte das nicht gerade respektvoll.
Draußen auf der Terrasse, wo es dunkel war, hörte sie zwei Männer miteinander sprechen und fragte sich,
wieso sie sicher war, daß sie über sie sprachen. Der eine sagte: »Taggart kann sich das leisten, wenn es ihm Spaß
macht«, und der andere sagte etwas von dem Pferd eines römischen Kaisers namens Caligula.
Sie blickte auf das einsam in der Ferne aufragende Taggart-Gebäude – und da glaubte sie, alles zu verstehen:
Diese Menschen haßten Jim, weil sie ihn beneideten. Wer sie auch waren, dachte sie, welche großen Namen sie
führten, wieviel Geld sie besaßen, keiner von ihnen hatte eine Leistung vollbracht, die sich mit der seinen
vergleichen ließ, keiner von ihnen hatte das ganze Land herausgefordert, um eine Eisenbahn zu bauen, deren Bau
jeder für unmöglich hielt. Zum ersten Mal wurde ihr bewußt, daß sie Jim etwas schenken konnte: Diese Leute
waren genauso gemein und niederträchtig wie die, denen sie in Buffalo davongelaufen war. Er war so einsam,
wie sie es immer gewesen war, und ihr aufrichtiges Gefühl war die einzige Anerkennung, die er gefunden hatte.
Dann ging sie in den Ballsaal zurück, mitten durch die Schar der Gäste, und das einzige, was von den Tränen
zurückgeblieben war, die sie im Dunkel der Terrasse zu unterdrücken versucht hatte, war der funkelnde Glanz in
ihren Augen. Wenn er sich offen zu ihr bekannte, obwohl sie nur eine Verkäuferin war, wenn er sich mit ihr
zeigen wollte, wenn er sie hierher mitgenommen hatte, um der Empörung seiner Freunde zu trotzen – dann war
das die Tat eines mutigen Mannes, dem es gleich war, was sie über ihn dachten, und sie war bereit, ebenso mutig
zu sein wie er und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Aber sie war froh, als es vorüber war, als sie neben ihm in seinem Wagen saß und im Dunkeln heimfuhr. Sie
war traurig und erleichtert. Ihr kämpferischer Trotz verebbte zu einem seltsam verzweifelten Gefühl, gegen das
sie sich zu wehren versuchte. Jim sagte kaum ein Wort. Er blickte verstimmt zum Wagenfenster hinaus. Sie
fragte sich, ob sie ihn durch etwas enttäuscht hatte.
Auf der Treppe vor ihrem Haus sagte sie bekümmert zu ihm: »Es tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht
habe…«
Er schwieg einen Augenblick lang, dann fragte er: »Was würden Sie sagen, wenn ich Sie bitten würde, mich
zu heiraten?«
Sie blickte ihn an, sie blickte um sich – aus einem Fenster hing eine schmutzige Matratze heraus, gegenüber
war eine Pfandleihe, und neben der Treppe stand ein Mülleimer – man stellte in so einer Umgebung nicht eine
solche Frage. Sie wußte nicht, was sie bedeutete, und antwortete: »Ich glaube, ich… ich habe keinen Sinn für
Humor.«
»Das ist ein Heiratsantrag.«
Und da küßten sie sich zum ersten Mal – wobei ihr Tränen über das Gesicht liefen, Tränen, die sie auf der
Gesellschaft nicht vergossen hatte, Tränen des Entsetzens, des Glücks. Dies war also das Glück, dachte sie, und
eine leise verzweifelte Stimme in ihr sagte, dies sei nicht die Art, wie sie es sich erträumt hatte.
Sie hatte nicht an die Zeitungen gedacht, bis zu dem Tage, als Jim sie in seine Wohnung rief und sie dort eine
Menge Leute vorfand, die mit Notizblöcken, Kameras und Blitzlichtern bewaffnet waren. Als sie zum ersten Mal
ihr Bild in den Zeitungen sah – ein Bild von ihnen beiden zusammen: Jim war darauf zu sehen, wie er seinen
Arm um sie legte –, kicherte sie vor Wonne und überlegte stolz, ob wohl jeder in der Stadt das Bild gesehen
hatte. Aber nach einer Weile war das Entzücken dahin. Man photographierte sie hinter der Ladentheke, in der
Untergrundbahn, auf der Treppe vor ihrem Hause, in ihrem armseligen Zimmer. Sie hätte jetzt gern Geld von
Jim angenommen, um sich in den Wochen ihrer Verlobungszeit in irgendeinem obskuren Hotel verstecken zu
können. Aber er bot es ihr nicht an. Er schien zu wünschen, daß sie dort blieb, wo sie war.
In den Zeitungen erschienen Bilder von Jim an seinem Schreibtisch, in der Halle des Taggart Terminals, vor
seinem Salonwagen bei einem offiziellen Bankett in Washington. Die langen Berichte in den Zeitungen, die
Artikel in Zeitschriften, die Rundfunkmeldungen, die Filmwochenschauen, alles war ein einziger langer,
ununterbrochener Schrei – über das »Aschenbrödel« und den »demokratischen Geschäftsmann«.
Sie sagte sich, sie dürfe nicht argwöhnisch sein, wenn ihr unbehaglich zumute war; sie sagte sich, sie dürfe
nicht undankbar sein, wenn sie sich gekränkt fühlte. Sie empfand das nur ein paarmal, wenn sie mitten in der
Nacht erwachte und in der Stille ihres Zimmers lag, ohne wieder einschlafen zu können. Sie wußte, sie würde
Jahre brauchen, um ihre innere Ruhe wiederzufinden, um es glauben und verstehen zu lernen. Sie taumelte durch
die Tage, als hätte sie einen Sonnenstich, sah nichts als die Gestalt Jim Taggarts, wie sie ihn zum ersten Mal am
Abend seines großen Triumphes gesehen hatte.
»Hören Sie, Kind«, sagte die Journalistin zu ihr, als sie zum letzten Mal in ihrem Zimmer stand und die Spitze
des Brautschleiers wie Kristallschaum von ihrem Haar zu den abgetretenen Dielen des Bodens hinunterfiel,
»wenn einen etwas im Leben kränkt, glaubt man, es sei die Strafe für die eigenen Sünden – und im großen und
ganzen stimmt das auch. Aber es gibt Menschen, die versuchen werden, Sie des Guten wegen, das sie in Ihnen
sehen, zu kränken – weil sie das Gute erkennen und brauchen und Sie dafür bestrafen, daß Sie es haben. Lassen
Sie sich davon nicht zerbrechen, wenn Sie das entdecken!«
»Ich glaube, ich fürchte mich nicht«, sagte sie und blickte starr geradeaus, wobei sich das Strahlen ihres
Lächelns mit dem Ernst ihres Blicks vermischte. »Ich habe nicht das Recht, mich vor etwas zu fürchten. Ich bin
zu glücklich. Wissen Sie, ich habe immer geglaubt, es sei etwas dran, wenn die Menschen sagten, man könne im
Leben bloß leiden. Aber ich wollte mich dem nicht beugen und die Hoffnung nicht aufgeben. Ich glaubte, es
könnte etwas Schönes und sehr Großes geschehen. Ich habe nicht erwartet, daß es mir geschehen würde – nicht
in dieser Fülle und so bald. Aber ich werde versuchen, mich dessen würdig zu erweisen.«
»Geld ist die Wurzel allen Übels«, sagte James Taggart. »Mit Geld kann man kein Glück kaufen. Die Liebe
überbrückt jede Kluft und jeden sozialen Unterschied. Das mag eine Binsenweisheit sein, aber ich empfinde es
nun einmal so.«
Er stand in dem hellerleuchteten Ballsaal des Wayne-Falkland-Hotels in einem Kreis von Reportern, die sich
an seine Fersen gehängt hatten, sobald die Trauung beendet war. Für ihn war die Unterhaltung der Gäste wie
eine in der Ferne rauschende Flut. Cherryl stand neben ihm. Ihre Hand lag auf seinem Arm. Das Weiß ihres
Handschuhs leuchtete auf dem Schwarz seines Ärmels. Sie versuchte immer noch, die Worte der Zeremonie zu
hören, ohne ganz glauben zu können, daß sie sie gehört hatte.
»Wie fühlen Sie sich Mrs. Taggart?«
Einer der Reporter stellte die Frage und rief sie damit in die Wirklichkeit zurück.
Sie lächelte und flüsterte verlegen: »Ich… ich bin sehr glücklich…« An einem Ende des Ballsaals stand Orren
Boyle, der für seinen Abendanzug zu beleibt wirkte, und am anderen Ende stand Bertram Scudder, der sich im
Abendanzug zu dürr ausnahm. Beide beobachteten die Gästeschar mit dem gleichen Gedanken, wenn auch
keiner von beiden diesen Gedanken zugab. Orren Boyle tat so, als ob er nach Freunden Ausschau halten würde,
und Bertram Scudder tat, als sammelte er Material für einen Artikel. Aber beide stellten im Geist eine Liste der
Männer auf, die sie sahen, und teilten sie in zwei Gruppen ein, denen sie die Überschrift gaben: Gunst und
Furcht. Es waren Männer, deren Anwesenheit einen besonderen Schutz für Jim Taggart bedeutete, und Männer,
deren Anwesenheit den Wunsch erkennen ließ, sich nicht seine Feindschaft zuzuziehen – die einen streckten ihm
die Hand entgegen, um ihn hochzuziehen, und die anderen beugten sich, damit er sie als Trittbrett benutzen
konnte. Nach dem ungeschriebenen Gesetz der Zeit bekam man eine Einladung von einem Prominenten nur aus
einem dieser beiden Gründe, und man nahm sie auch nur deshalb an. Die in der ersten Gruppe waren zum
größten Teil jung. Sie waren aus Washington gekommen. Die in der zweiten Gruppe waren älter. Sie waren
Geschäftsleute.
Orren Boyle und Bertram Scudder waren Männer, die in der Öffentlichkeit als Mittel zum Zweck Worte
benutzten, von denen sie in ihrem tiefsten Innern nichts wissen wollten. Worte waren eine Verpflichtung und
hatten einen besonderen Sinn, dem sie lieber nicht ins Auge sahen. Für ihre Liste benötigten sie keine Worte; die
Einteilung geschah durch physische Mittel: Ein respektvolles Hochziehen der Augenbrauen bedeutete soviel wie
»Oha!« für die erste Gruppe und eine sarkastische Bewegung der Lippen soviel wie »Na ja!« für die zweite. Ein
Gesicht jedoch warf für einen Augenblick ihre glatte Rechnung durcheinander: Als sie die klaren blauen Augen
und das blonde Haar Hank Reardens sahen, verzogen sich ihre Gesichtsmuskeln, die ihn in die zweite Gruppe
einordneten, zu einem: »Sieh mal einer an.« Die Summe der Liste stellte eine Abschätzung der Macht Jim
Taggarts dar. Sie ergab einen eindrucksvollen Gesamtbetrag.
Sie bemerkten, daß sich James Taggart dessen voll bewußt war, als sie ihn zwischen seinen Gästen
umhergehen sahen. Er blieb hier und dort kurz stehen und eilte dann weiter: Man spürte, daß er ein wenig gereizt
war, als wüßte er, daß nur allzu viele Leute da waren, die ihm um keinen Preis mißfallen wollten. Das leise
Lächeln in seinem Gesicht hatte etwas Schadenfrohes, als wäre ihm klar, daß die Menschen, die gekommen
waren, um ihn zu ehren, dadurch selbst entehrt wurden; als ob er sich daran weidete.
Ein ganzer Schwarm heftete sich an seine Fersen, als wäre es die Aufgabe dieser Leute, ihm das Vergnügen
zu bereiten, sie zu ignorieren. Mr. Mowen mischte sich kurz in diese Schar und ebenso Dr. Pritchett und Balph
Eubank. Der Beharrlichste war Paul Larkin. Er kreiste unentwegt um Taggart, als wollte er sich in seiner Sonne
wärmen, und sein schmachtendes Lächeln schien darum zu flehen, beachtet zu werden.
Taggarts Augen schweiften immer wieder rasch und verstohlen, wie die Taschenlampe eines Diebes, über die
Menge, und in der Muskelstenographie, die Orren Boyle lesen konnte, bedeutete das, daß Taggart nach jemand
Ausschau hielt und nicht wollte, daß man es merkte. Die Suche endete, als Eugene Lawson auf Taggart zukam,
ihm die Hand schüttelte, seine feuchte Unterlippe vorschob und, um den Schlag aufzufangen, sagte: »Mr. Mouch
konnte nicht kommen, Jim. Er bedauert es so sehr. Er hatte ein Sonderflugzeug gechartert, aber im letzten
Augenblick wurde er durch bedeutsame nationale Angelegenheiten daran gehindert.«
Taggart antwortete nicht, sondern runzelte nur die Brauen. Orren Boyle brach in Gelächter aus. Taggart drehte
sich so brüsk zu ihm um, daß die anderen unwillkürlich zurückwichen, ohne erst auf den Befehl dazu zu warten.
»Warum lachen Sie?« fragte Taggart ärgerlich.
»Ich amüsiere mich nur, Jimmy, ich amüsiere mich nur«, sagte Boyle. »Wesley war doch einer ihrer Jungs?«
»Ich kenne jemand, der zu meinen Jungs gehört und der das lieber nicht vergessen sollte.«
»Wer? Larkin? Nein, den können Sie doch nicht meinen. Und wenn Sie Larkin nicht meinen, dann sollten Sie
ein wenig vorsichtiger in der Benutzung des besitzanzeigenden Fürworts sein. Gegen die Altersklassifizierung
habe ich nichts. Ich weiß, ich wirke für meine Jahre noch jung. Aber gegen besitzanzeigende Fürwörter bin ich
empfindlich.«
»Das ist sehr klug. Aber Sie werden eines Tages noch zu klug werden.«
»Wenn ich es werde, dann sehen Sie zu, was Sie draus machen können, Jim!«
»Das Schlimme bei Leuten, die sich übernehmen, ist, daß sie ein kurzes Gedächtnis haben. Sie sollten sich
daran erinnern, wer Rearden Metal für Sie vom Markt gedrängt hat.«
»Ich erinnere mich daran, daß jemand mir das versprochen hat. Das war derjenige, der dann alles tat, was er
konnte, um zu verhindern, daß eine gewisse Verordnung herausgegeben wurde, weil er glaubte, in der Zukunft
Schienen aus Rearden Metal zu brauchen.«
»Und Sie hofften damit, daß Sie Schnaps im Werte von zehntausend Dollar in die Leute pumpten, die
Verordnung über das Obligationen-Moratorium zu verhindern!«
»Stimmt, das habe ich getan. Ich hatte Freunde, die Eisenbahnobligationen besaßen. Und außerdem habe ich
auch Freunde in Washington, Jimmy. Ihre Freunde haben zwar meine in der Moratoriumssache geschlagen, aber
meine Ihre bei Rearden Metal – und das vergesse ich nicht. Man muß sich eben die Dinge teilen, nur sollten Sie
nicht versuchen, mich für dumm zu verkaufen. Sparen Sie sich das für die Grünschnäbel auf!«
»Wenn Sie nicht glauben, daß ich immer versucht habe, mein Bestes für Sie zu tun…«
»Gewiß, das haben Sie. Das Beste, das unter den Umständen erhofft werden konnte. Und Sie werden es auch
weiter tun, solange ich jemand in der Hand habe, den Sie brauchen – aber nicht eine Minute länger. Ich wollte
Sie darum nur daran erinnern, daß ich meine eigenen Freunde in Washington habe. Freunde, die man nicht mit
Geld kaufen kann – genausowenig wie die Ihren, Jimmy.«
»Was meinen Sie damit?«
»Genau das, was Sie denken. Die man kauft, sind keinen Pfifferling wert, weil immer jemand mehr bieten
kann, und so hat jeder ein weites Feld, und es ist genau wieder der überlebte Wettbewerb. Aber wenn Sie einen
in der Hand haben, dann haben Sie ihn, dann ist da keiner, der höher bieten kann, und man kann auf seine
Freundschaft zählen. Nun, Sie haben Freunde, und ich habe sie ebenfalls. Sie haben Freunde, die ich benutzen
kann, und umgekehrt. Und das ist mir ganz recht. Man muß schließlich mit etwas handeln. Wenn wir nicht mit
Geld handeln – und das Zeitalter des Geldes ist vorüber –, dann handeln wir mit Menschen.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich möchte Ihnen nur einiges sagen, woran Sie sich erinnern sollten. Nehmen wir zum Beispiel Wesley. Sie
hatten ihm die Assistentenstellung im Büro für Wirtschaftsplanung als Lohn dafür versprochen, daß er Rearden
in der Zeit des Chancenausgleichsgesetzes betrog. Sie hatten die Verbindungen, die Ihnen das möglich machten,
und ich bat Sie, es zu tun – als Ausgleich für das Abkommen gegen Verdrängungswettbewerb, bei dem ich die
Verbindungen hatte. So hat Wesley das Seine getan, und Sie haben dafür gesorgt, daß das alles schriftlich
niedergelegt wurde – o ja, ich weiß, daß Sie den schriftlichen Beweis für das haben, was er angestellt hat, um
dieses Gesetz durchzupauken, während er sich von Rearden dafür bezahlen ließ, es zum Scheitern zu bringen.
Das war ein ziemlich linkes Ding. Es würde für Mr. Mouch sehr unangenehm sein, wenn etwas davon in die
Öffentlichkeit käme. So haben Sie Ihr Versprechen gehalten und ihm die Stellung besorgt, um ihn damit in der
Hand zu haben. Und das hatten Sie auch. Und er hat auch ganz gut gespurt, nicht wahr? Aber wie lange noch?
Nach einer Weile ist Mr. Wesley Mouch vielleicht so mächtig, und der Skandal liegt so lange zurück, daß es
niemand mehr interessiert, wie er seine Laufbahn begonnen oder wen er betrogen hat. Nichts währt ewig.
Wesley war Reardens Mann, und dann war er Ihr Mann, und morgen ist er vielleicht der Mann von jemand
anderem.«
»Wollen Sie mir damit einen Hinweis geben?«
»Nein, das ist nur eine freundschaftliche Warnung. Wir sind alte Freunde, Jimmy, und ich meine, wir sollten
es bleiben. Ich meine, wir können einander nützlich sein, Sie und ich, wenn Sie nicht plötzlich anfangen, sich
falsche Vorstellungen von Freundschaft zu machen. Was mich betrifft – ich glaube an ein Gleichgewicht der
Kräfte.«
»Haben Sie Mouch daran gehindert, heute abend herzukommen?«
»Nun, vielleicht habe ich es getan, vielleicht auch nicht. Darüber können Sie sich selbst den Kopf zerbrechen.
Wenn ich es getan habe, ist es gut für mich – aber noch besser, wenn ich es nicht getan habe.«
Cherryls Augen verfolgten James Taggart in der Menge. Die Menschen, die sich immer wieder um sie
drängten, schienen so freundlich, und ihre Stimmen klangen so betont herzlich, daß sie gewiß war, niemand im
Saal hege böse Gedanken. Sie wunderte sich, warum einige von ihnen zu ihr über Washington sprachen, auf eine
hoffnungsvoll vertrauliche Art, in halben Andeutungen und halb zu Ende gesprochenen Sätzen, als ob sie ihre
Hilfe für etwas Geheimes suchten, über das sie, wie man annahm, im Bilde sein mußte. Sie wußte nicht, was sie
sagen sollte, aber sie lächelte und antwortete, was ihr gerade einfiel. Sie durfte als Mrs. Taggart keine Angst
zeigen.
Dann sah sie den Feind. Es war eine hochgewachsene, schlanke Gestalt in einem grauen Abendkleid: ihre
Schwägerin.
Die Wut, die sie in ihrem Inneren spürte, hatte sich durch all die Worte aufgespeichert, die sie Jim mit
gequälter Stimme hatte sagen hören. Das Gefühl, eine Pflicht nicht erfüllt zu haben, zerrte an ihr. Ihre Augen
wandten sich immer wieder der Feindin zu und musterten sie genau. Auf den Bildern in den Zeitungen hatte man
Dagny Taggart immer in Hosen gesehen oder mit einem heruntergebogenen Hut und hochgeschlagenem
Mantelkragen. Jetzt trug sie ein graues Abendkleid, das indezent wirkte, weil es so überaus schlicht war, so
schlicht, daß es überhaupt nicht auffiel und dadurch nur um so mehr die Blicke auf den schlanken Körper lenkte,
den es zu verhüllen vorgab. In dem grauen Stoff war ein blauer Ton, der zum metallenen Blau ihrer Augen paßte.
Sie trug keinen Schmuck, nur ein Armband am Handgelenk, eine Kette aus schweren Metallgliedern mit einem
grünblauen Schimmer.
Cherryl wartete, bis sie Dagny allein stehen sah, dann ging sie entschlossen durch den Raum auf sie zu. Sie
blickte aus nächster Nähe in die metallenen Augen, die kalt und leidenschaftlich zugleich wirkten, die Augen,
die sie mit einer höflichen, sachlichen Neugier betrachteten.
»Ich möchte Ihnen gleich klaren Wein einschenken«, sagte Cherryl in barschem Ton, »damit von vornherein
kein Mißverständnis aufkommt. Ich habe nicht die Absicht, die liebe Verwandte zu spielen. Ich weiß, was Sie
Jim angetan und wie schwer Sie ihm sein ganzes Leben gemacht haben. Ich werde ihn vor Ihnen schützen. Ich
werde Sie in Ihre Schranken zurückweisen. Ich bin Mrs. Taggart. Ich bin jetzt die Frau in der Familie.«
»Das ist ganz richtig«, sagte Dagny. »Ich bin der Mann.«
Cherryl blickte ihr nach, als sie davonging, und dachte, Jim hatte recht gehabt: Seine Schwester war ein böses,
kaltes Geschöpf, das ihr keine Antwort gegeben, ihr keine Anerkennung hatte zuteil werden lassen, keinerlei
Gefühl ihr gegenüber gezeigt hatte außer einer gleichgültigen, erstaunten Belustigung.
Rearden stand neben Lillian und folgte ihr, sobald sie weiterging. Sie wollte mit ihrem Mann gesehen werden,
und er erfüllte ihr diesen Wunsch. Er wußte nicht, ob jemand ihn beobachtete. Er sah nichts von dem, was rings
um ihn vorging, außer dem Menschen, den er nicht sehen durfte.
Er hatte immer noch das Bild vor Augen, wie er mit Lillian den Raum betrat und wie Dagny sie beide ansah.
Er hatte sie fest angesehen, bereit, jeden Schlag hinzunehmen, den ihre Augen ihm versetzen würden.
Unbekümmert darum, was es für Lillian bedeutete, hätte er lieber seinen Ehebruch in aller Öffentlichkeit
gebeichtet, hier und in diesem Augenblick, als das Ungeheuerliche zu tun, Dagnys Augen feige auszuweichen
und dabei den Anschein zu erwecken, als wüßte er nicht, was er tat.
Aber sie hatte ihm keinen Schlag versetzt. Er kannte den Schatten jedes Gefühls, das sich je in Dagnys
Gesicht spiegelte. Er hatte bemerkt, daß sie keinen Schock spürte, er hatte nichts als eine ungetrübte Heiterkeit
an ihr gesehen. Ihre Augen hatten ihn angesehen, als wäre ihr die volle Bedeutung dieses Treffens bewußt, und
dennoch so, wie sie dies überall getan hätten, wie sie ihn in seinem Büro oder in ihrem Schlafzimmer ansahen.
Es war ihm vorgekommen, als hätte sie, die nur ein paar Schritte entfernt stand, sich ihnen so unverhüllt und
offen gezeigt, wie das graue Kleid ihren Körper unverhüllt zeigte.
Sie hatte sich vor beiden verneigt. Er hatte den Gruß erwidert, hatte Lillians kurzes Nicken bemerkt und dann
gesehen, wie Lillian weiterging, und da erst war ihm bewußt geworden, daß er lange mit geneigtem Kopf
dagestanden hatte.
Er begriff gar nicht, was Lillians Freunde zu ihm sagten oder was er darauf antwortete. So wie ein Mensch
Schritt für Schritt eine hoffnungslos lange Straße entlanggeht, ohne darüber nachzudenken, wie lange die
Wanderung noch dauern wird, so schritt er von einem Augenblick zum anderen und ließ alles an sich abgleiten.
Er hörte Lillians heiteres Gelächter und die Genugtuung in ihrer Stimme. Nach einer Weile sah er, daß sich
mehrere Frauen zu ihnen gesellt hatten; sie schienen alle Lillian zu ähneln, sie sahen genauso gepflegt aus, hatten
die gleichen schmalen gezupften Augenbrauen und die gleichen wie erstarrt wirkenden fröhlichen Augen. Er
merkte, daß sie mit ihm zu flirten versuchten, und daß Lillian dem zusah, als weidete sie sich an der
Hoffnungslosigkeit ihrer Versuche. Dies also, dachte er, war das Glück weiblicher Eitelkeit, das ihr zu schenken
sie ihn angefleht hatte, dies waren die Maßstäbe, nach denen er nicht lebte, die er aber beachten mußte. Er
wandte sich ab, um sich zu einer Männergruppe zu flüchten.
In dem Gespräch der Männer konnte er nicht eine einzige klare Feststellung entdecken. Über welches Thema
sie auch sprachen, nie schienen sie über das Thema zu sprechen, über das sie angeblich sprachen. Er hörte wie
ein Ausländer zu, der ein paar Worte versteht, aber dem der Sinn des Gesagten unklar bleibt. Ein junger Mann,
der schon reichlich getrunken zu haben schien, schwankte an der Gruppe vorüber und sagte mit höhnischem
Grinsen: »Lernen Sie Ihre Lektion, Rearden?« Er wußte nicht, was die Ratte damit meinte, aber alle anderen
schienen es zu wissen. Sie machten erschrockene Gesichter, und man sah ihnen zugleich an, daß sie sich
insgeheim freuten.
Lillian ging allein weiter, wie um ihm damit zu verstehen zu geben, daß sie nicht darauf bestand, daß er sie
ständig begleitete. Er zog sich in eine Ecke des Raumes zurück, wo niemand ihn sah oder bemerkte, wohin seine
Augen schweiften. Und von da aus beobachtete er Dagny.
Er betrachtete das graue Kleid, das sanfte Gleiten der Seide, wenn sie ging, das Spiel von Licht und Schatten
auf dem Stoff. Er sah ihn wie einen blaugrauen Rauch, der sich für einen Augenblick zu einer langen Kurve
schlängelte, die vorn über ihr Knie hinabfiel und hinten bis zu ihren Pumps. Er kannte jede Facette, die das Licht
auf ihrem Körper formen würde, wenn der Rauch sich aufgelöst hätte.
Er spürte einen dumpfen, quälenden Schmerz: Es war die Eifersucht auf jeden Mann, der mit ihr sprach. Er
hatte sie noch nie zuvor gefühlt, aber hier, wo außer ihm jeder das Recht hatte, sich ihr zu nähern, fühlte er sie.
Dann, als ob ein Schlag auf seinen Kopf ihn plötzlich alles anders sehen ließe, wurde ihm zu seiner
fassungslosen Verwunderung klar, was er hier tat und warum er hier war. Diesen kurzen Augenblick lang fielen
all seine Dogmen, Vorstellungen, Probleme, sein Schmerz von ihm ab. Als sähe er es in einer weiten klaren
Ferne deutlich vor sich, erkannte er, daß der Mensch nur für die Erfüllung seiner Wünsche lebt, und er fragte
sich, warum er hier stand, er fragte sich, wer das Recht hatte, von ihm zu verlangen, eine einzige unersetzliche
Stunde seines Lebens zu vergeuden, wenn er nur das eine begehrte, die schlanke Gestalt in Grau in seine Arme
zu schließen und sie die ganze Zeit, die ihm noch zu leben vergönnt war, festzuhalten.
Im nächsten Augenblick spürte er erschauernd, wie er wieder zu sich kam. Er fühlte, wie sich seine Lippen
verachtungsvoll zusammenpreßten, während eine Stimme in ihm rief: Du hast einst einen Vertrag geschlossen,
nun halte dich auch an ihn! Und dann dachte er plötzlich, daß bei geschäftlichen Transaktionen die Gerichte
einen Vertrag nicht anerkannten, in dem der eine Partner dem anderen keine entsprechende Gegenleistung zu
erbringen beabsichtigt. Er fragte sich, wieso er jetzt daran denken mußte. Der Gedanke schien unerheblich. Er
verfolgte ihn nicht weiter.
Jim Taggart sah Lillian Rearden genau in dem Augenblick auf sich zukommen, als es ihm gelang, in dem
unbeleuchteten Winkel zwischen einer Topfpalme und einem Fenster allein zu sein. Er blieb stehen und wartete
auf sie. Er hatte keine Ahnung, was sie wollte, aber nach dem Kodex, den er verstand, war es besser, sie
anzuhören.
»Wie gefällt Ihnen mein Hochzeitsgeschenk, Jim?« fragte sie und lachte über seine verlegene Miene. »Nein,
nein, Sie brauchen nicht die Liste der Dinge in Ihrer Wohnung durchzugehen und sich zu überlegen, welches
Geschenk von mir ist. Es ist nicht in Ihrer Wohnung, es ist hier. Es ist ein nicht-materielles Geschenk, mein
Lieber.«
Er sah den Anflug eines Lächelns in ihrem Gesicht, einen Ausdruck, der unter seinen Freunden die
Aufforderung bedeutete, sich an einem heimlichen Sieg zu beteiligen; das Zeichen, daß man jemand übervorteilt
hatte. Mit einem höflichen Lächeln antwortete er vorsichtig: »Ihre Anwesenheit ist das schönste Geschenk, das
Sie mir machen konnten.«
»Meine Anwesenheit, Jim?«
Ein leises Erschrecken spiegelte sich in seinem Gesicht. Er wußte, was sie meinte, aber er hatte das nicht von
ihr erwartet.
Sie lächelte unbefangen. »Wir beide wissen, wessen Anwesenheit für Sie heute abend die wertvollste ist
und… die am wenigsten erwartete. Haben Sie wirklich nicht daran gedacht, daß Sie mir das verdanken? Das
überrascht mich. Ich dachte, Sie hätten eine Nase für potentielle Freunde.«
Er wollte sich nicht festlegen und sagte deshalb in einem absichtlich nüchternen Ton: »Habe ich es
unterlassen, Ihre Freundschaft gebührend zu würdigen, Lillian?«
»Nein, nein, mein Lieber, Sie wissen, wovon ich spreche. Sie haben nicht erwartet, daß er herkommen würde.
Sie glauben doch nicht wirklich, daß er sich vor Ihnen fürchtet? Aber daß die anderen es glauben – das ist doch
ein unschätzbarer Vorteil, nicht wahr?«
»Ich bin… ich bin überrascht, Lillian.«
»Sollten Sie nicht lieber sagen, beeindruckt? Ihre Gäste sind recht beeindruckt. Ich kann geradezu hören, was
sie denken. Die meisten von ihnen denken: Wenn schon er sich gut mit Jim Taggart stellen muß, dann tun wir’s
lieber auch. Und ein paar denken: Wenn er sich fürchtet, dann müssen wir uns noch viel mehr fürchten. Und das
wollen Sie ja auch, und ich habe nicht die Absicht, Ihnen Ihren Triumph zu verderben – aber Sie und ich sind die
einzigen, die wissen, daß Sie das nicht allein erreicht haben.«
Er lächelte nicht; er fragte mit ausdruckslosem Gesicht und leiser Stimme, in der ein scharfer Unterton
mitschwang: »Was haben Sie für Hintergedanken?«
Sie lachte: »Im wesentlichen die gleichen wie Sie, Jim. Aber praktisch gesprochen, gar keine. Es ist nur eine
Gefälligkeit, die ich Ihnen erwiesen habe, und ich erwarte nichts als Gegenleistung dafür. Machen Sie sich keine
Sorgen. Ich habe keine besonderen Interessen, ich will keine besondere Verordnung aus Mr. Mouch
herausquetschen. Ich bin nicht einmal hinter einem Brillantdiadem von Ihnen her. Es sei denn, es wäre so ein
Diadem wie Ihre Anerkennung.«
Er blickte sie zum ersten Mal fest an, kniff dabei die Augen zusammen, und seine Züge entspannten sich zu
einem Lächeln, das ihrem glich, einem Lächeln, das verriet, daß sie sich beide nichts vorzumachen brauchten:
einem verächtlichen Lächeln. »Sie wissen, daß ich Sie immer als eine der wahrhaft überlegenen Frauen
bewundert habe.«
»Das weiß ich.« Ein leiser Spott klang in ihrer Stimme mit.
Er musterte sie ohne jede Hemmung. »Sie müssen verzeihen, daß ich Neugier zwischen Freunden für zulässig
halte«, sagte er in einem Ton, der nicht entschuldigend klang. »Ich würde gern wissen, von welchem Standpunkt
aus Sie die Möglichkeit gewisser finanzieller Belastungen oder Verluste betrachten, die Ihre persönlichen
Interessen berühren.«
Sie zuckte die Achseln. »Vom Standpunkt einer Reiterin, mein Lieber. Wenn man das beste Pferd der Welt im
Stall hat, zwingt man es zu jener Gangart, in der es einen am sichersten trägt, obwohl man damit seine Fähigkeit
nicht voll ausnutzt, und obwohl es auf diese Weise nie zeigen kann, wie schnell es zu laufen vermag, und
obwohl seine große Kraft vergeudet wird. Man muß das aber tun, denn sonst würde es einen sofort abwerfen…
Finanzielle Aspekte sind jedoch nicht meine Hauptsorge und auch Ihre nicht, Jim.«
»Ich habe Sie unterschätzt«, sagte er leise.
»Nun, das ist ein Fehler, den zu korrigieren ich Ihnen gern helfe. Ich weiß, welches Problem er für Sie
darstellt. Ich weiß, warum Sie sich vor ihm fürchten, da Sie allen Grund dazu haben. Aber… nun, Sie sind ein
Geschäftsmann und Politiker, und so werde ich versuchen, es Ihnen in Ihrer Sprache zu sagen. Ein
Geschäftsmann sagt, er kann die Waren liefern, und ein Stimmensammler kann das Votum liefern. Stimmt’s?
Und Sie sollen wissen, daß ich ihn zu jeder mir beliebigen Zeit liefern kann. Sie können dementsprechend
handeln.«
Wenn man etwas von sich selbst offenbarte, bedeutete das im Kodex seiner Freunde, daß man damit Feinden
eine Waffe in die Hand gab. Aber er besiegelte ihr Geständnis, indem er selbst ein Geständnis machte: »Ich
wünschte, ich würde mit meiner Schwester ebenso fertig.«
Sie blickte ihn ohne Erstaunen an. Die Worte erschienen ihr nicht belanglos. »Ja, das ist eine harte Nuß«,
sagte sie. »Kein verletzlicher Punkt, keine Schwäche?«
»Keine.«
»Keine Liebesaffären?«
»Du lieber Gott, nein!«
Sie zuckte die Achseln zum Zeichen, daß sie das Thema wechseln wollte. Dagny Taggart war jemand, mit
dem sie sich nicht gern beschäftigte. »Ich glaube, ich lasse Sie jetzt allein. Sie können dann ein bißchen mit
Balph Eubank plaudern«, sagte sie. »Er macht ein bekümmertes Gesicht, weil Sie ihn den ganzen Abend lang
nicht angesehen haben, und er glaubt bereits, die Literatur findet bei Hofe überhaupt keinen Freund.«
»Lillian, Sie sind wundervoll«, sagte er spontan.
Sie lachte. »Das, mein Lieber, ist das Diadem, das ich begehrte.«
Ein leises Lächeln lag noch auf ihrem Gesicht, als sie sich durch die Menge bewegte. Ein Lächeln, das sich
unwillkürlich auf all die gelangweilten Gesichter ringsum übertrug. Sie genoß das Gefühl, gesehen zu werden.
Ihr eierschalenfarbenes Satin-Kleid schimmerte bei jeder ihrer Bewegungen wie cremige Sahne.
Es war der grünblaue Glanz, der ihre Aufmerksamkeit anzog. Er funkelte einen Augenblick lang im Lichte
des Saals an einem schlanken, bloßen Arm auf. Dann sah sie den grazilen Körper, das graue Kleid, die schmalen,
nackten Schultern. Sie blieb stehen. Ihr Blick richtete sich finster auf das Armband.
Dagny wandte sich zu ihr um. Von allem, was Lillian zuwider war – und davon gab es eine Menge –, war die
unpersönliche Höflichkeit von Dagnys Gesicht ihr am meisten zuwider.
»Was halten Sie von der Heirat Ihres Bruders, Miss Taggart?« fragte sie wie beiläufig.
»Ich habe keine Meinung darüber.«
»Wollen Sie damit sagen, daß es Ihnen überflüssig erscheint, einen Gedanken daran zu verschwenden?«
»Wenn Sie es genau wissen wollen – ja.«
»Aber sehen Sie keine menschliche Bedeutung darin?«
»Nein.«
»Glauben Sie nicht, daß jemand wie die Braut Ihres Bruders einiges Interesse verdient?«
»Nein.«
»Ich beneide Sie, Miss Taggart. Ich beneide Ihr olympische Distanziertheit. Darin liegt, glaube ich, das
Geheimnis, warum geringere Sterbliche nie hoffen können, auf geschäftlichem Gebiet den gleichen Erfolg zu
haben wie Sie. Andere lassen sich ablenken – zumindest erkennen sie auch Leistungen auf anderen Gebieten
an.«
»Von welchen Leistungen sprechen Sie?«
»Gewähren Sie den Frauen keine Anerkennung, die ungewöhnliche Eroberungen nicht im industriellen,
sondern im menschlichen Bereich machen?«
»Ich glaube, im menschlichen Bereich gibt es den Begriff ‘Eroberung’ nicht.«
»Aber bedenken Sie doch zum Beispiel, wie schwer andere Frauen arbeiten müssen – wenn Arbeit das einzige
Mittel ist, über das sie verfügen –, um zu erreichen, was dieses Mädchen durch Ihren Bruder erreicht hat.«
»Ich glaube nicht, daß sie wirklich weiß, was sie erreicht hat.«
Rearden, der die beiden zusammenstehen sah, ging auf sie zu. Er hatte das Gefühl, hören zu müssen, was sie
sagten, ganz gleich, welche Folgen es für ihn hatte. Er blieb stumm neben ihnen stehen. Er wußte nicht, ob
Lillian ihn bemerkte. Aber er wußte, daß Dagny es tat.
»Zeigen Sie ihr doch eine gewisse Großzügigkeit, Miss Taggart«, sagte Lillian, »wenigstens die
Großzügigkeit der Beachtung. Sie dürfen die Frauen nicht verachten, die nicht Ihr glänzendes Talent besitzen,
sondern das tun, was ihren Gaben entspricht. Die Natur gleicht ihre Gaben immer aus und bietet
Ko mpensationen – meinen Sie nicht auch?«
»Ich bin nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe.«
»Sie wollen doch wohl nicht, daß ich noch deutlicher werde?«
»Ich möchte Sie darum bitten.«
Lillian zuckte ärgerlich die Achseln. Ihre Freundinnen hätten sie längst verstanden und am Weitersprechen
gehindert, aber dies war eine Gegnerin, wie sie ihr noch nie begegnet war – eine Frau, die sich nicht verletzen
ließ. Sie hatte kein Verlangen, deutlicher zu werden. Aber als sie sah, daß Rearden sie anblickte, lächelte sie und
sagte: »Nun, denken Sie einmal an Ihre Schwägerin, Miss Taggart, welche Chance hatte sie, in der Welt
aufzusteigen? Keine – nach Ihren strengen Maßstäben. Sie hätte keine erfolgreiche geschäftliche Karriere
machen können. Sie besitzt nicht Ihren ungewöhnlichen Verstand. Außerdem hätten es ihr die Männer
unmöglich gemacht. Sie hätten sie zu anziehend gefunden. Und so hat sie sich die Tatsache zunutze gemacht,
daß die Männer Maßstäbe haben, die leider nicht so hoch sind wie die Ihren. Sie nahm ihre Zuflucht zu Talenten,
die Sie bestimmt verachten. Ihnen lag nie etwas daran, mit uns durchschnittlichen Frauen auf dem einen Gebiet
unseres Ehrgeizes zu konkurrieren – der Erlangung der Macht über die Männer.«
»Wenn Sie das Macht nennen, Mrs. Rearden, nein, dann hat mir nie daran gelegen.«
Sie wandte sich zum Gehen, aber Lillians Stimme hielt sie fest: »Ich möchte glauben, daß Sie völlig
konsequent sind und völlig bar jeder menschlichen Schwäche. Ich möchte glauben, daß Sie nie das Verlangen
gespürt haben, jemand zu schmeicheln – oder ihn zu beleidigen. Aber ich weiß, daß Sie erwartet haben, Henry
und mich heute abend hier zu sehen.«
»Nein, das stimmt nicht. Ich habe die Gästeliste meines Bruders überhaupt nicht gesehen.«
»Warum tragen Sie dann dieses Armband?«
Dagny blickte sie fest an. »Ich trage es immer.«
»Glauben Sie nicht, daß Sie damit den Scherz ein wenig zu weit treiben?«
»Es war nie ein Scherz, Mrs. Rearden.«
»Dann werden Sie mich sicher verstehen, wenn ich Sie darum bitte, mir das Armband zurückzugeben.«
»Ich verstehe Sie. Aber ich werde es nicht zurückgeben.«
Lillian blieb einen Augenblick lang stumm, als ob sie wollte, daß sie sich beide über die Bedeutung ihres
Schweigens klar würden. Dieses eine Mal hielt sie Dagnys Blick ohne Lächeln stand. »Was soll ich davon
halten, Miss Taggart?«
»Was Sie wollen.«
»Was ist Ihr Beweggrund?«
»Sie kannten meinen Beweggrund, als Sie mir das Armband gaben.«
Lillian blickte Rearden an. Sein Gesicht war ausdruckslos, sie sah keine Reaktion, nichts, das darauf
hindeutete, daß er ihr zu Hilfe kommen oder sie am Weiterreden hindern wollte, nichts als eine Aufmerksamkeit,
die in ihr das Gefühl erweckte, sie stehe im Licht eines Scheinwerfers.
Ihr Lächeln kehrte als Schutzschild zurück, ein belustigtes, gönnerhaftes Lächeln, das das Gespräch wieder in
ein Salongeplauder verwandeln sollte.
»Ich bin sicher, Miss Taggart, Sie sind sich nicht darüber im klaren, wie außerordentlich unschicklich das ist.«
»Nein.«
»Aber Sie wissen bestimmt, daß Sie ein gefährliches und häßliches Risiko auf sich nehmen.«
»Nein.«
»Ziehen Sie nicht die Möglichkeit in Betracht, mißverstanden zu werden?«
»Nein.«
Lillian schüttelte vorwurfsvoll lächelnd den Kopf. »Miss Taggart, glauben Sie nicht, daß dies ein Fall ist, in
dem man es sich nicht leis ten kann, sich in einer abstrakten Theorie zu verlieren, sondern in dem die man
praktische Wirklichkeit berücksichtigen muß?«
Dagny lächelte nicht. »Ich habe noch nie verstanden, was solche Thesen bedeuten sollen.«
»Ich meine, Ihre Haltung ist vielleicht äußerst realistisch – ja, ich bin sicher, sie ist es –, aber leider teilen die
meisten Menschen Ihre abgehobene Sichtweise nicht und werden es darum in einer für Sie sehr peinlichen Weise
mißdeuten.«
»Dann tragen sie die Verantwortung und das Risiko, und nicht ich.«
»Ich bewundere Ihre… nein, ich darf nicht sagen, Unschuld, aber soll ich sagen: Reinheit? Sie haben gewiß
nie darüber nachgedacht. Es ist bedauerlich, aber möglich, daß Ihre hohen Absichten die Menschen dazu
verleiten, etwas zu argwöhnen, das… Nun, ich bin sicher, Sie wissen, daß es etwas Trübes und Skandalöses ist.«
Dagny blickte sie fest an. »Nein, ich weiß es nicht.«
»Aber Sie können diese Möglichkeit nicht ignorieren.«
»Doch, ich ignoriere sie.« Dagny wandte sich abermals zum Gehen.
»Aber würden Sie einer Diskussion ausweichen wollen, wenn Sie nichts zu verbergen haben?«
Dagny blieb stehen.
»Und wenn Ihr beeindruckender – und unbekümmerter – Mut Ihnen erlaubt, Ihren Ruf aufs Spiel zu setzen,
sollten Sie sich dann nicht der Gefahr für meinen Mann bewußt sein?«
Dagny antwortete leise: »Was ist die Gefahr für ihn?«
»Ich bin gewiß, daß Sie mich verstehen.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Ach, aber es ist doch wohl nicht notwendig, deutlicher zu werden.«
»Doch – wenn Sie die Diskussion fortsetzen wollen.«
Lillian sah Rearden hilfesuchend an, aber er half ihr nicht. »Miss Taggart«, sagte sie, »Sie sind mir geistig
weit überlegen. Ich bin nur eine durchschnittliche Frau. Bitte, geben Sie mir das Armband – wenn ich nicht
denken soll, was ich denken müßte. Und es wäre Ihnen bestimmt nicht lieb, wenn ich es aussprechen würde.«
»Mrs. Rearden, wollen Sie damit andeuten, daß ich mit Ihrem Mann schlafe?«
»Ganz gewiß nicht!« Es klang wie ein Schrei des Entsetzens, war wie ein automatischer Reflex, wie das
Zurückzucken der Hand eines Taschendiebs, den man auf frischer Tat ertappt. Mit einem ärgerlichen nervösen
Lachen fügte sie in einem Ton hinzu, der sarkastisch und aufrichtig zugleich war und verriet, daß sie nur
widerwillig ihre wirkliche Meinung zugab: »An die Möglichkeit würde ich überhaupt nicht denken.«
»Dann wirst du dich bitte bei Miss Taggart entschuldigen«, sagte Rearden.
Dagny verschlug es den Atem. Beide starrten ihn an. Lillian sah nichts in seinem Gesicht, Dagny sah Qual.
»Es ist nicht notwendig, Hank«, sagte sie.
»Es ist notwendig – für mich«, antwortete er kalt, ohne sie anzusehen. Er blickte Lillian an wie jemand, der
einen Befehl erteilt, dem gehorcht werden muß.
Lillian musterte sein Gesicht mit milder Verwunderung, aber ohne Angst oder Ärger, wie jemand, der sich
einem bedeutungslosen Rätsel gegenübersieht. »Aber natürlich«, sagte sie freundlich. Ihre Stimme klang wieder
weich und zuversichtlich. »Bitte, entschuldigen Sie, Miss Taggart, wenn ich in Ihnen den Eindruck erweckt
haben sollte, das Bestehen einer Beziehung zu vermuten, die ich als für Sie unwahrscheinlich und für meinen
Mann – soweit ich seine Neigungen kenne – als unmöglich betrachten würde.«
Sie wandte sich ab und ging gleichgültig weiter. Sie ließ die beiden beieinander stehen, als ob sie damit
beweisen wollte, daß das, was sie gesagt hatte, stimmte.
Dagny stand mit geschlossenen Augen da. Sie dachte an den Abend, an dem Lillian ihr das Armband gegeben
hatte. Damals hatte er die Partei seiner Frau ergriffen, diesmal ergriff er die ihre. Von den dreien war sie die
einzige, die ganz begriff, was das bedeutete.
»Was du mir jetzt auch vorwerfen wirst – du hast recht«, hörte sie ihn sagen und schlug die Augen auf. Er
blickte sie kalt an; der harte Ausdruck seines Gesichts verriet kein Zeichen des Schmerzes oder der
Entschuldigung, keine Hoffnung auf Vergebung.
»Liebster«, sagte sie, »quäle dich doch nicht so! Ich wußte, daß du verheiratet bist. Ich habe nie versucht,
mich darüber hinwegzutäuschen. Ich habe es auch heute abend nicht als eine Kränkung empfunden.«
Ihr erstes Wort war der heftigste von mehreren Schlägen, die er spürte. Sie hatte dieses Wort nie zuvor
benutzt. Sie hatte nie in einem so zärtlichen Ton zu ihm gesprochen. Sie hatte nie, wenn sie allein waren, seine
Ehe erwähnt; jetzt aber sprach sie davon mit müheloser Leichtigkeit.
Sie sah den Ärger in seinem Gesicht, die Auflehnung gegen das Mitleid, sah den Blick, der ihr hochmütig
sagte, daß er seine Qual nicht gezeigt hatte und keine Hilfe brauchte, und sie wußte, daß sie jeden Ausdruck
seines Gesichts genauso kannte wie er jeden des ihren – er schloß die Augen, senkte den Kopf ein wenig und
sagte sehr ruhig: »Ich danke dir.«
Sie lächelte und wandte sich von ihm ab.
James Taggart hielt ein leeres Champagnerglas in der Hand und bemerkte die Hast, mit der Balph Eubank
einem vorübergehenden Kellner winkte, als ob sich der Kellner eines unverzeihlichen Vergehens schuldig
gemacht hätte. Dann vollendete Eubank seinen Satz.
»… aber Sie, Mr. Taggart, werden wissen, daß ein Mann, der auf einer höheren Ebene lebt, nicht verstanden
oder geschätzt werden kann. Es ist ein hoffnungsloses Bemühen, von einer Welt, die von Geschäftsleuten regiert
wird, eine Unterstützung der Literatur zu erwarten. Sie sind nichts als ordinäre Kleinbürger oder vorsintflutliche
Wilde wie Rearden.«
»Jim«, sagte Bertram Scudder und klopfte ihm auf die Schulter, »das beste Kompliment, das ich Ihnen
machen kann, ist, daß Sie kein wirklicher Geschäftsmann sind.«
»Sie sind ein Mann von Kultur, Jim«, sagte Dr. Pritchett. »Sie sind kein Eisenerzgräber wie Rearden. Ich
brauche Ihnen nicht zu erklären, wie ungeheuer notwendig Washingtons Beistand für die höhere Bildung ist.«
»Mögen Sie meinen letzten Roman wirklich, Mr. Taggart?« fragte Balph Eubank immer wieder. »Mögen Sie
ihn wirklich?«
Auf seinem Weg durch den Raum äugte Orren Boyle zu der Gruppe hinüber, blieb aber nicht stehen. Was er
sah, genügte ihm, um zu ahnen, wovon man dort sprach. Das ist ja auch ganz in Ordnung, dachte er, mit etwas
muß man schließlich handeln. Er wußte zwar, um welchen Handel es ging, aber es interessierte ihn nicht weiter.
»Wir befinden uns in der Dämmerung eines neuen Zeitalters«, sagte James Taggart über den Rand seines
Champagnerglases hinweg. »Wir sind im Begriff, die schändliche Tyrannei der Wirtschaftsmacht zu zerbrechen.
Wir werden die Menschen von der Herrschaft des Dollars befreien. Wir werden unsere geistigen Ziele aus der
Abhängigkeit von den Besitzern materieller Mittel befreien. Wir werden eine höheren Idealen geweihte
Gesellschaft errichten, und wir werden die Geldaristokratie ersetzen durch…«
»Die Aristokratie der Beziehungen«, sagte eine Stimme hinter der Gruppe.
Sie drehten sich um. Der Mann, der vor ihnen stand, war Francisco d’Anconia.
Sein Gesicht war sonnengebräunt, und seine Augen hatten genau die Farbe eines leuchtend blauen
Sommerhimmels. Sein Lächeln ließ an einen Sommermorgen denken. Er trug seinen Abendanzug so, daß alle
anderen daneben wirkten, als ob sie sich mit geborgten Kostümen maskiert hätten.
»Was ist los?« fragte er in das Schweigen hinein. »Habe ich etwas gesagt, das für jemand hier neu ist?«
»Wie bist du hierher gekommen?« war das erste, was James Taggart äußern konnte.
»Bis Newark im Flugzeug, von dort im Taxi und dann im Fahrstuhl von meiner Suite im 53. Stock über dir.«
»Ich meinte nicht… Was ich meinte, war…«
»Mach kein so entsetztes Gesicht, James. Wenn ich in New York ankomme und höre, daß hier ein Fest
gefeiert wird, dann möchte ich das doch nicht versäumen. Du hast ja immer gesagt, ich sei ein Partylöwe.« Die
Gruppe beobachtete die beiden.
»Ich freue mich natürlich, dich zu sehen«, sagte Taggart vorsichtig. Doch dann fügte er, um das
auszugleichen, aggressiv hinzu: »Aber wenn du denkst, du kannst…«
Francisco wollte den Fehdehandschuh nicht aufnehmen; er fiel Taggart ins Wort und fragte höflich: »Wenn
ich was denke?«
»Du verstehst mich sehr gut.«
»Ja, das tue ich. Soll ich dir sagen, was ich denke?«
»Dies ist wohl kaum der richtige Augenblick, um…«
»Ich denke, du solltest mich deiner jungen Frau vorstellen, James. Mit deinen Manieren war es nie weit her.
Wenn du in der Klemme bist, vergißt du sie meist, und gerade dann brauchst du sie am nötigsten.«
Taggart, der sich in Bewegung setzte, um ihn zu Cherryl zu geleiten, fing das unterdrückte Lachen Bertram
Scudders auf. Er wußte, daß die Männer, die ihm noch vor einem Augenblick zu Füßen gekrochen waren und
Francisco d’Anconia vielleicht noch mehr haßten als er, sich an diesem Schauspiel dennoch nicht weniger
weideten. Und was das bedeutete, darüber wollte er lieber nicht nachdenken.
Francisco verneigte sich vor Cherryl und sprach ihr seine besten Wünsche aus, als wäre sie die Neuvermählte
eines Kronprinzen. Taggart, der nervös zusah, fühlte eine Erleichterung und zugleich einen dumpfen Ärger, der
ihm, wenn er sich über ihn klar geworden wäre, verraten hätte, daß er wünschte, seine Heirat wäre etwas so
Erhabenes, wie es Franciscos Verhalten einen Augenblick lang erscheinen ließ. Er fürchtete sich, an Franciscos
Seite zu bleiben, fürchtete sich aber auch davor, ihn auf die Gäste loszulassen. Er tat ein paar Schritte, doch
Francisco folgte ihm lächelnd.
»Du hast doch wohl nicht geglaubt, ich würde mir deine Hochzeit entgehen lassen, James? Denn du bist
schließlich der Freund meiner Kinderzeit und mein bester Aktionär.«
»Was?« stöhnte Taggart und bereute es sofort: Das Stöhnen war ein Eingeständnis seines Erschreckens.
Francisco schien aber keine Notiz davon zu nehmen. Mit heiter harmloser Summe sagte er: »Ich weiß
natürlich Bescheid. Ich kenne den Strohmann hinter dem Strohmann hinter jedem Namen auf der Liste der
Aktionäre von d’Anconia Copper. Es ist erstaunlich, wie viele Leute mit den Namen Smith und Gomez reich
genug sind, um große Aktienpakete der reichsten Aktiengesellschaft der Welt zu besitzen. Du kannst es mir
darum nicht verdenken, daß es meine Neugier reizte zu erfahren, welche distinguierten Personen ich unter
meinen Minderheitsaktionären habe. Ich scheine bei einer überraschenden Zahl von Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens in der ganzen Welt beliebt zu sein. Selbst in Volksstaaten, von denen man nicht erwarten
würde, daß es dort überhaupt noch Geld gibt.«
Taggart runzelte die Stirn und sagte kühl: »Es gibt viele Gründe – geschäftliche Gründe –, warum es
bisweilen ratsam ist, seine Investitionen nicht selbst vorzunehmen.«
»Einer der Gründe ist, die Leute nicht wissen zu lassen, wie reich man ist, ein anderer, daß sie nicht erfahren,
wie man zu seinem Reichtum gekommen ist.«
»Ich weiß nicht, was du meinst oder was du dagegen haben könntest.«
»Oh, ich habe ganz und gar nichts dagegen. Ich weiß es sogar zu würdigen. Viele Anleger – die altmodischen
– haben mich nach der San-Sebastián-Pleite fallenlassen; die Angst ist ihnen in die Glieder gefahren. Aber die
modernen hatten mehr Vertrauen zu mir und ließen sich, wie sie es immer tun, von ihrem Glauben leiten. Ich
kann dir nicht sagen, wie sehr ich das zu würdigen weiß.«
Taggart wünschte, Francisco hätte nicht so laut gesprochen und die Menschen hätten sich nicht so um sie
gedrängt. »Du hast deine Sache ausgezeichnet gemacht«, sagte er im Ton eines geschäftlichen Kompliments.
»Ja, nicht wahr? Es ist wunderbar, wie die d’Anconia-Aktien im letzten Jahr gestiegen sind. Aber ich glaube,
ich darf mir nicht zuviel darauf einbilden. Es gibt kaum noch Konkurrenz, es gibt kaum noch Möglichkeiten,
sein Geld anzulegen, wenn man schnell reich geworden ist, und d’Anconia Copper, die älteste Firma der Welt,
ist die einzige, die seit Jahrhunderten wirklich sicher ist. Bedenke doch, wie es ihr gelungen ist, alle Zeiten zu
überleben. Und wenn ihr darum festgestellt habt, daß ihr euer Geld, von dem niemand etwas wissen soll, dort am
besten anlegen könnt, weil die Firma einfach nicht zu schlagen ist und schon ein ganz besonderer Mann kommen
müßte, um sie zu vernichten, dann hattet ihr recht.«
»Ich habe gehört, du hättest begonnen, deine Verantwortung ernst zu nehmen, und hättest dich endlich des
Geschäfts angenommen. Es heißt, du hättest sehr hart gearbeitet.«
»Ach, ist das jemand aufgefallen? Die altmodischen Anleger beobachteten die Aktivitäten der Firmenchefs
sehr genau. Die modernen Investoren halten Wissen für unwichtig. Ich glaube nicht, daß irgendeiner sich dafür
interessiert, was ich mache.«
Taggart lächelte. »Sie kümmern sich um die Börsenkurse. Das sagt ihnen alles, nicht wahr?«
»Ja, das tut es – auf lange Sicht.«
»Ich muß sagen, ich bin froh, daß du im vergangenen Jahr nicht mehr so ein Partylöwe gewesen bist. Das
Resultat zeigt sich in deiner Arbeit.«
»Wirklich? Nein, nicht schon jetzt.«
»Ich glaube«, sagte Taggart im behutsamen Ton einer indirekten Frage, »ich sollte mich geschmeichelt
fühlen, daß du dich entschlossen hast, zu diesem Fest zu kommen.«
»Aber ich mußte doch kommen. Ich dachte, du erwartest mich.«
»Nein, ich – das heißt, ich meine…«
»Du hättest mich aber erwarten müssen, James. Dies ist die große feierliche Zählung, zu der die Opfer
erscheinen, um zu zeigen, wie ungefährlich es ist, sie zu vernichten, und bei der die Vernichter Pakte ewiger
Freundschaft schließen, die dann drei Monate lang halten. Ich weiß nicht genau, zu welcher Gruppe ich gehöre,
aber ich mußte zu dieser Zählung erscheinen.«
»Was redest du da?« rief Taggart wütend, der die gespannten Gesichter der Umstehenden sah.
»Sei auf der Hut, James. Wenn du so tust, als würdest du mich nicht verstehen, werde ich mich klarer
ausdrücken.«
»Wenn du es für richtig hältst, so etwas…«
»Komisch, es gab mal eine Zeit, in der die Menschen fürchteten, jemand könnte eines ihrer Geheimnisse
enthüllen, von denen niemand etwas wußte. Heutzutage fürchten sie, daß jemand das ausspricht, was jeder weiß.
Habt ihr Philosophen der Lebensnähe je daran gedacht, daß jemand nur in aller Deutlichkeit auszusprechen
braucht, was ihr tut, um euer ganzes großes komplexes Gebäude mit all euren Ge setzen und Gewehren in die
Luft zu sprengen?«
»Wenn du glaubst, es sei richtig, zu einer Hochzeitsfeier zu kommen, um den Gastgeber…«
»Aber, James, ich bin hierhergekommen, um dir zu danken.«
»Mir zu danken?«
»Allerdings. Du hast mir einen großen Gefallen getan – du und deine Leute in Washington und die Leute in
Santiago. Ich frage mich nur, warum niemand von euch sich die Mühe gemacht hat, mich darüber zu
informieren. Die Verordnungen, die vor ein paar Monaten erlassen wurden, haben die ganze Kupferindustrie
dieses Landes abgewürgt mit dem Ergebnis, daß das Land plötzlich viel größere Mengen Kupfer einführen muß.
Wo in der Welt gibt es jetzt noch Kupfer, außer bei d’Anconia Copper? Du siehst also, ich habe guten Grund, dir
dankbar zu sein.«
»Ich versichere dir, ich habe nichts damit zu tun«, sagte Taggart hastig, »und außerdem wird die
lebenswichtige Wirtschaftspolitik dieses Landes nicht durch Überlegungen bestimmt, wie du sie andeutest
oder…«
»Ich weiß, wodurch sie bestimmt wird, Jim. Ich weiß, daß die Leute in Santiago den Anfang gemacht haben,
denn sie stehen schon seit Jahrhunderten auf der d’Anconia-Lohnliste – nein, Lohnliste ist ein zu anständiges
Wort – es wäre richtiger zu sagen, daß die d’Anconias ihnen seit Jahrhunderten ‘Schutzgeld’ gezahlt haben –
nennen eure Gangster das nicht so? Unsere Jungs in Santiago nennen es Steuern. Sie erhalten ihren Anteil an
jeder Tonne verkauften d’Anconia-Kupfers, und sie haben darum ein persönliches Interesse daran, daß ich
möglichst viele Tonnen verkaufe. Aber in der in Volksstaaten verwandelten Welt ist dies das einzige Land, das
es noch gibt, wo die Menschen nicht im Wald nach Wurzeln graben müssen, um zu überleben – und so ist es
auch der einzige Markt, den es auf der Welt noch gibt. Die Jungs in Santiago wollten diesen Markt in ihren
Besitz bringen. Ich weiß nicht, was sie den Leuten in Washington geboten haben oder wer mit was und wem
gehandelt hat – aber ich weiß, daß du dabei irgendeine Rolle gespielt hast, weil du ein ansehnliches d’Anconia-
Aktienpaket besitzt. Und es hat dir gewiß auch gar nicht so schlecht gefallen, als an dem Morgen vor vier
Monaten, dem Tag, nachdem die Verordnungen herausgekommen waren, die d’Anconia-Kurse an der Börse in
die Höhe schnellten. Sie sprangen dir aus den Börsenberichten geradezu ins Gesicht.«
»Wer hat dir Grund gegeben, eine so empörende Geschichte zu erfinden?«
»Niemand. Ich wußte nichts davon. Ich habe an diesem Morgen nur das Hochschnellen der Kurse am
Fernschreiber gesehen. Das sagt doch wohl alles. Außerdem brummten die Jungs in Santiago mir in der Woche
darauf eine neue Kupfersteuer auf, und sie sagten, daß mir das wohl nichts ausmache, nachdem meine Aktien
plötzlich so gestiegen waren. Sie handelten nur in meinem Interesse, sagten sie. Sie sagten, ich brauchte mich
nicht aufzuregen, denn ich sei reicher als je zuvor. Und das stimmte. Ich war es.«
»Warum erzählst du mir das?«
»Warum willst du es dir nicht als Verdienst anrechnen, James? Das paßt nicht zu deinem Charakter und zu der
Politik, in der du ein so bedeutender Fachmann bist. In einer Zeit, in der nicht Recht und Anstand, sondern
Beziehungen das Leben der Menschen bestimmen, stößt man einen dankbaren Menschen nicht zurück, sondern
versucht, so viele Menschen wie möglich zur Dankbarkeit zu verpflichten. Möchtest du nicht, daß ich einer von
denen bin, die dir verpflichtet sind?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Denk doch, was du für mich getan hast, ohne daß ich auch nur den kleinen Finger rühren mußte! Man hat
mich nicht gefragt, man hat mich nicht informiert, man hat überhaupt nicht an mich gedacht, alles wurde ohne
mich arrangiert – und ich habe jetzt nichts weiter zu tun, als Kupfer zu produzieren. Das war eine große
Liebenswürdigkeit, James, und du darfst dich darauf verlassen, daß ich mich revanchieren werde.«
Ohne die Antwort abzuwarten, wandte sich Francisco jäh ab und ging weiter. Taggart folgte ihm nicht. Er
blieb stehen, weil er spürte, daß alles besser war, als dieses Gespräch auch nur noch eine Minute fortsetzen zu
müssen.
Als Francisco Dagny begegnete, blieb er stehen. Er blickte sie eine Weile stumm an, ohne sie zu grüßen, aber
sein Lächeln sagte, daß sie die erste gewesen war, die er bei seinem Eintritt in den Ballsaal gesehen, und die
erste, die ihn gesehen hatte.
Gegen jeden Zweifel und jede Warnung in ihrem Inneren fühlte sie nichts als ein heiteres Vertrauen.
Unerklärlicherweise kam es ihr vor, als ob er in dieser Menge der einzige war, der nichts bedrohen und nichts
zerstören konnte. Aber in dem Augenblick, da ein über ihr Gesicht huschendes Lächeln ihm sagte, wie froh sie
war, ihn zu sehen, fragte er:
»Willst du mir nicht erzählen, als was für eine glänzende Leistung sich die John-Galt -Linie erwiesen hat?«
Sie fühlte, wie ihre Lippen zitterten, als sie antwortete: »Es tut mir leid, wenn ich es zeige, daß ich immer
noch verletzlich bin. Es dürfte mich nicht entsetzen, daß du ein Stadium erreicht hast, wo du die Leistung
verachtest.«
»Ja, wirklich? Ich verachtete die Linie so sehr, daß ich das Ende, das ihr beschieden war, lieber nicht gesehen
hätte.«
Er sah ihrem plötzlich aufmerksamen Blick an, daß ihre Gedanken auf einen Spalt zueilten, hinter dem sich
ein neuer Weg auftat. Er beobachtete sie einen Augenblick lang, als ob er jeden Schritt kennte, den sie auf
diesem Weg gehen würde. Dann lachte er und sagte: »Möchtest du mich jetzt nicht fragen: Wer ist John Galt?«
»Warum sollte ich das wollen, und warum gerade jetzt?«
»Erinnerst du dich nicht daran, daß du ihn herausgefordert hast, zu kommen und deine Linie zu
beanspruchen? Er hat es getan.«
Er ging weiter, ohne darauf zu warten, den Blick in ihren Augen zu sehen – einen Blick, aus dem Ärger,
Bestürzung und die leise Andeutung einer Frage sprachen.
Die Muskeln seines Gesichts ließen Rearden spüren, wie er auf Franciscos Erscheinen reagierte: Er bemerkte
plötzlich, daß er lachte und daß sich sein Gesicht in den wenigen Minuten, seit er Francisco d’Anconia in der
Menge sah, wohlig entspannt hatte.
Zum ersten Mal wurde er sich über all die halb bewußten, halb unbewußten Augenblicke klar, in denen er an
Francisco d’Anconia gedacht und den Gedanken von sich geschoben hatte, bis er wußte, wie sehr er wünschte,
ihn wiederzusehen. In Augenblicken plötzlicher Erschöpfung – an seinem Schreibtisch, wenn der Feuerschein
der Hochöfen in der Dämmerung allmählich verschwand – auf seinem einsamen Heimweg im Dunkeln – im
Schweigen schlafloser Nächte – hatte er sich dabei ertappt, daß er an den einzigen Mann dachte, der ihm einst als
sein Sprecher erschienen war. Er hatte die Erinnerung verscheucht und sich gesagt: Aber der ist schlimmer als
alle anderen, während er davon überzeugt war, daß das nicht stimmte, zugleich jedoch nicht wußte, warum er
dessen so sicher war. Er hatte sich dabei ertappt, wie er die Zeitungen durchsah, um zu erfahren, ob Francisco
d’Anconia nach New York zurückgekehrt war. Und dann hatte er die Zeitungen beiseite geschoben und ärgerlich
gedacht: Und wenn schon! Würdest du ihm in Nachtlokalen und bei Cocktailparties nachjagen? Was willst du
eigentlich von ihm?
Darauf hatte er gewartet, dachte Rearden, als er sich dabei ertappte, daß er beim Anblick Franciscos in der
Menge lächelte: dieses seltsame Gefühl der Erwartung, das Neugier, Belustigung und Hoffnung enthielt.
Francisco schien ihn nicht bemerkt zu haben. Rearden wartete, kämpfte gegen das Verlangen, auf ihn
zuzugehen. Nein, nicht nach dem Gespräch, das wir hatten, dachte er. Und wozu auch? Was hätte ich ihm zu
sagen? Aber dann ging er mit dem gleichen Lächeln, dem gleichen guten Gefühl, dem Gefühl der Sicherheit, daß
es richtig war, durch den Ballsaal auf die Gruppe zu, die sich um Francisco d’Anconia scharte.
Er sah sich die Leute an und fragte sich, was sie zu Francisco hinzog, warum sie ihn gleichsam in einem
engen Kreis gefangenhielten, obwohl doch ihr Groll gegen ihn trotz ihres Lächelns nur allzu deutlich sichtbar
war. Ihre Gesichter zeigten den typischen Ausdruck nicht der Angst, sondern der Feigheit: den Ausdruck
schuldbewußter Wut. Dicht umdrängt lehnte Francisco halb stehend, halb auf den Stufen sitzend an der Seite
einer Marmortreppe. Die Lässigkeit seiner Haltung gab ihm, kombiniert mit der strengen Förmlichkeit seines
Abendanzugs, die Aura perfekter Eleganz. Sein Gesicht zeigte als einziges den sorglosen Ausdruck und das
strahlende Lächeln von jemand, der sich auf einer Party amüsiert. Aber seine Augen wirkten absichtlich
ausdruckslos, ohne eine Spur von Fröhlichkeit. Sie ließen nur – wie ein Warnsignal – seine gespannte
Aufmerksamkeit erkennen.
Rearden stand unbeachtet am Rand der Gruppe. Er hörte eine Frau mit großen Brillantohrringen und einem
schwammigen, nervösen Gesicht besorgt fragen: »Señor d’Anconia, was denken Sie, was kommt da jetzt auf die
Welt zu?«
»Genau das, was sie verdient.«
»Ach, wie grausam!«
»Glauben Sie nicht an die Macht des Moralgesetzes?« fragte Francisco ernst.
»Ich glaube daran.«
Rearden hörte, wie Bertram Scudder, der außerhalb der Gruppe stand, zu einem Mädchen sagte, das
unverständliche Laute der Empörung von sich gab: »Lassen Sie sich von ihm nicht beunruhigen. Geld ist die
Wurzel allen Übels, und er ist das typische Produkt des Geldes.«
Rearden hätte nicht gedacht, daß Francisco das hatte hören können, aber er sah, wie Francisco sich zu den
beiden mit einem ernsten, höflichen Lächeln umwandte.
»Sie glauben also, Geld sei die Wurzel allen Übels?« sagte Francisco d’Anconia. »Haben Sie sich jemals
gefragt, was der Ursprung des Geldes ist? Geld ist ein Tauschmittel, das es nur gibt, wenn Güter produziert
werden und wenn Menschen da sind, die diese Güter produzieren können. Geld ist der materielle Ausdruck des
Prinzips, daß Menschen nur miteinander auskommen, wenn sie Leistung mit Gegenleistung bezahlen, wenn ihre
Beziehungen durch ehrlichen Tausch geregelt sind. Die Schnorrer, die den Ertrag Ihrer Arbeit erjammern, oder
die Plünderer, die sich mit Gewalt holen, was sie haben wollen, brauchen kein Zahlungsmittel. Geldgeschäfte
gibt es nur zwischen Menschen, die etwas produzieren. Ist Geld deshalb ein Übel?
Wenn Sie Geld als Entlohnung Ihrer Leistungen annehmen, dann tun Sie das, weil sie davon ausgehen, daß
Sie es Ihrerseits als Entlohnung für die Leistungen anderer einsetzen können. Es sind nicht die Schnorrer oder
die Plünderer, die dem Geld seinen Wert geben. Weder ein Ozean von Tränen noch alle Waffen der Welt
machen aus den Papierschnipseln in Ihrer Brieftasche das Brot, das Sie morgen zum Überleben brauchen. Diese
Papierschnipsel, die eigentlich Goldstücke sein sollten, sind wie ein Ehrenwort, das man Ihnen gegeben hat – Ihr
Anspruch auf die Leistungen der produktiven Menschen. Ist Geld deshalb ein Übel?
Haben Sie sich je Gedanken über den Ursprung aller Produktion gemacht? Sehen Sie sich einen Generator an,
und wagen Sie dann, sich einzureden, er sei von der Muskelkraft nicht denkender Wilder geschaffen worden.
Versuchen Sie, Weizen ohne das Ihnen überlieferte Wissen der Menschen zu säen, die entdeckt haben, wie man
das macht. Versuchen Sie, Ihre Nahrung nur durch körperliche Bewegung zu erlangen – und Sie werden
erfahren, daß der menschliche Intellekt der Ursprung aller Güter und allen Reichtums ist, den es je auf Erden
gab.
Sie sagen, daß die Starken sich auf Kosten der Schwachen bereichern. Aber Sie meinen doch nicht
Waffengewalt oder Muskelkraft? Reichtum ist das Produkt der menschlichen Fähigkeit zu denken. Und Sie
wollen doch nicht behaupten, daß der Erfinder eines Motors sich auf Kosten derer bereichert, die ihn nicht
erfunden haben? Daß die Intelligenten sich auf Kosten der Dummköpfe bereichern? Die Fähigen auf Kosten der
Unfähigen? Die Ehrgeizigen auf Kosten der Faulpelze? Geld muß erst einmal durch ehrliche Arbeit erworben
werden, bevor andere den rechtmäßigen Besitzer anschnorren oder ausplündern können. Wie viel einer erwirbt,
hängt von seinen Leistungen ab. Wer ehrlich ist, erwartet nicht, daß er mehr konsumieren kann, als er produziert.
Geld ist das Tauschmittel aller friedfertigen Menschen. Wer ein Geschäft in Geld abwickelt, akzeptiert die
geistigen und materiellen Eigentumsrechte seines Geschäftspartners. Geld gibt niemand die Macht, den Wert
einer Leistung zu bestimmen. Erst die freiwillige Annahme der Summe, die man Ihnen bietet, entscheidet, was
eine Leistung kostet. Umgekehrt erhalten Sie für Ihre Arbeit und Ihre Güter nur soviel, wie sie anderen wert sind
– nicht mehr. Mit Geld kann man nur Geschäfte machen, wenn beide Seiten aus freien Stücken zum eigenen
Vorteil einwilligen. Geld verlangt die Einsicht, daß Menschen für ihren Nutzen arbeiten, nicht für ihren Schaden,
für ihren Gewinn, nicht ihren Verlust, daß sie keine Sündenböcke sind, auf die andere die Last ihres Elends
abwälzen können, daß man sie nicht beeinträchtigen darf, sondern fördern muß, daß nicht die wechselseitige
Zufügung von Leid, sondern der Austausch von Gütern das Band ist, das die Menschen zusammenhält. Geld
verlangt, daß man nicht seine Schwäche an die Dummheit der Menschen verkauft, sondern seine Begabung an
ihren Verstand. Es verlangt, daß man nicht das Schlechteste kauft, was einem angeboten wird, sondern das
Beste, was man für sein Geld bekommen kann. Und wenn die Menschen Handel treiben, mit der Vernunft, nicht
der Gewalt als oberstem Schiedsrichter, gewinnt das beste Produkt, die beste Leistung, der Mensch mit dem
besten Urteil und dem höchsten Können – und die Produktivität eines Menschen ist das Maß seines Lohns. Dies
ist die Regel eines Daseins, dessen Medium und Symbol das Geld ist. Ist Geld deshalb ein Übel?
Aber Geld ist nur ein Vehikel. Es bringt einen, wohin immer man will, aber es kann einen nicht als Fahrer
ersetzen. Es gibt einem die Mittel zur Befriedigung aller Wünsche, aber es versorgt einen nicht mit Wünschen.
Geld ist die Geißel der Menschen, die versuchen, das Gesetz von Ursache und Wirkung umzustoßen, der
Menschen, die den Verstand dadurch zu ersetzen versuchen, daß sie sich der Produkte des Verstandes
bemächtigen.
Geld kann dem kein Glück kaufen, der nicht weiß, was er will. Geld kann ihm keinen Weitmaßstab geben,
wenn er sich weigert, Werte anzuerkennen, und es gibt ihm kein Ziel, wenn er sich weigert, Ziele zu suchen.
Geld kann dem Dummkopf keine Intelligenz kaufen, dem Feigling keine Bewunderung, dem Nichtskönner
keinen Respekt. Wer versucht, Intelligenz zu kaufen, um sich Menschen, die über ihm stehen, dienstbar zu
machen, endet schließlich als Opfer derjenigen, die unter ihm stehen. Die Intelligenten lassen ihn im Stich, aber
die Schwindler und Betrüger scharen sich um ihn, von einem Gesetz angezogen, das er nicht entdeckt hat: dem
Gesetz, daß man seinem Geld gewachsen sein muß. Ist das der Grund, weshalb Geld ein Übel ist?
Nur wer ihn nicht braucht, kann mit geerbtem Reichtum umgehen – der, der selber ein Vermögen erwerben
würde, ganz gleich, woher er kommt. Wenn ein Erbe seinem Geld ebenbürtig ist, dient es ihm. Wenn nicht,
zerstört es ihn. Sie sehen das und jammern, das Geld habe ihn verdorben. Hat es das? Oder hat er sein Geld
verdorben? Beneiden Sie keinen unwürdigen Erben. Sein Reichtum ist nicht Ihrer, und Sie hätten es nicht besser
gemacht. Glauben Sie nicht, daß dieser Reichtum unter Sie hätte verteilt werden sollen. Davon, daß man die
Welt mit fünfzig statt mit einem Parasiten belastet, kommt der verlorene Wert, den das Vermögen einmal hatte,
nicht zurück. Geld ist eine lebendige Kraft, die ohne ihre Wurzel stirbt. Geld wird nie jemand dienen, der ihm
nicht gewachsen ist. Ist Geld deshalb ein Übel?
Geld ist das Mittel, das Sie am Leben erhält. Das Urteil, das Sie über die Quelle Ihres Lebensunterhalts
aussprechen, ist das Urteil über Ihr Leben. Wenn die Quelle verderbt ist, haben Sie Ihr eigenes Leben verurteilt.
Wie kommen Sie an Ihr Geld? Durch Betrug? Dadurch, daß Sie die Menschen in ihren Lastern oder in ihrer
Dummheit bestärken? Dadurch, daß Sie Schwachköpfen in der Hoffnung schmeicheln, mehr zu erhalten, als Ihre
Leistung wert ist? Durch Senken Ihrer Standards? Durch Arbeit, die Sie hassen, für Kunden, die Sie verachten?
Wenn es so ist, schenkt Ihr Geld Ihnen keine Freude, die auch nur einen Cent wert wäre. Nichts, was Sie kaufen,
wird zum Tribut für Sie, alles wird zum Vorwurf, nichts zum verdienten Genuß, alles zur beschämenden
Mahnung. Und dann schreien Sie, daß Geld ein Übel ist. Ein Übel, weil es Ihnen nicht zu Selbstachtung verhilft?
Ein Übel, weil es Sie Ihre Verderbtheit nicht genießen läßt? Ist das die Wurzel Ihres Hasses auf Geld?
Geld bleibt immer eine Wirkung und kann Sie als Ursache nie ersetzen. Geld ist ein Produkt der Tugend, aber
es gibt Ihnen keine Tugend und erlöst Sie nicht von Ihren Lastern. Geld gibt Ihnen nichts Unverdientes, weder
materiell noch geistig. Ist das die Wurzel Ihres Hasses auf Geld?
Oder sagten Sie, die Liebe zum Geld sei die Wurzel allen Übels? Wer etwas liebt, muß es kennen und sein
Wesen lieben. Geld zu lieben, bedeutet: die Tatsache zu kennen und zu lieben, daß Geld das Ergebnis unserer
besten Kräfte ist und der Schlüssel, der es uns ermöglicht, unsere Arbeit gegen die Arbeit der Besten
einzutauschen. Menschen, die ihre Seele für einen Fünfer verkaufen würden, verkünden am lautesten, daß sie
Geld hassen. Und sie haben guten Grund, es zu hassen. Wer Geld liebt, ist bereit, dafür zu arbeiten. Er weiß, daß
er es verdienen kann.
Lassen Sie mich Ihnen einen Tip geben, woran Sie den Charakter eines Menschen erkennen können: Wer das
Geld verdammt, hat es schimpflich erworben. Wer es achtet, hat es ehrlich verdient.
Laufen Sie vor jedem davon, der Ihnen sagt, Geld sei ein Übel. Denn damit kündigt sich das Herannahen
eines Plünderers an. Solange Menschen auf der Erde leben und ein Tauschmittel brauchen, ist ihr einziger Ersatz
für Geld die Mündung eines Gewehrs.
Aber Geld fordert von einem die höchsten Tugenden, sowohl um es zu erwerben als auch um es zu behalten.
Menschen, die keinen Mut, keinen Stolz, keine Selbstachtung haben, die nicht das moralische Gefühl haben, daß
ihnen ihr Geld zu Recht gehört, und die nicht bereit sind, es zu verteidigen, wie sie ihr Leben verteidigen
würden, die sich entschuldigen, weil sie reich sind, werden nicht lange reich bleiben. Sie sind die natürlichen
Köder für die Schwärme von Plünderern, die jahrhundertelang unter Felsen begraben liegen, aber
hervorgekrochen kommen, sobald sie Witterung von jemand aufnehmen, der Vergebung für die Schuld erfleht,
etwas zu besitzen. Sie erlösen ihn schnell von dieser Schuld – und von seinem Leben, wie er es verdient.
Dann beginnt der Aufstieg der Doppelmoral – der Aufstieg der Trittbrettfahrer der Tugend, die vom Plündern
leben, die sich aber darauf verlassen, daß dem Geld, das sie sich mit Gewalt nehmen, sein Wert durch die Arbeit
derjenigen zufließt, die von friedlichem Handel leben. In einer moralischen Gesellschaft sind das die Verbrecher,
und die Gesetze sollen Sie vor ihnen schützen. Aber wenn eine Gesellschaft das Verbrechen legalisiert und das
Plündern zu einem verbrieften Recht erhebt, wenn Gesetze die gewaltsame Aneignung des Vermögens der zuvor
entwaffneten Opfer absegnen, dann wird das Geld für seine Schöpfer zum Fluch. Wenn die Plünderer erstmal ein
Gesetz durchgebracht haben, das die Menschen entwaffnet, fühlen sie sich bei ihren Raubzügen gegen die
Wehrlosen sicher. Aber ihre Beute wird der Magnet für andere Plünderer, die sie ihnen mit den gleichen
Methoden entreißen, deren sie sich bedient haben. Dann beginnt der Wettlauf, wer der Brutalste und nicht wer
der Produktivste ist. Wenn Gewalt der Maßstab ist, siegt der Mörder über den Taschendieb. Und dann versinkt
die Gesellschaft in Trümmern und Gemetzel.
Möchten Sie wissen, wann dieser Tag kommt? Dann achten Sie auf das Geld! Geld ist das Barometer der
Moral einer Gesellschaft. Wenn Sie sehen, daß Geschäfte nicht mehr freiwillig abgeschlossen werden, sondern
unter Zwang, daß man, um produzieren zu können, die Genehmigung von Leuten braucht, die nichts
produzieren, daß das Geld denen zufließt, die nicht mit Gütern, sondern mit Vergünstigungen handeln, daß
Menschen durch Bestechung und Beziehungen reich werden, nicht durch Arbeit, daß die Gesetze Sie nicht vor
diesen Leuten schützen, sondern diese Leute vor Ihnen, daß Korruption belohnt und Ehrlichkeit bestraft wird,
dann wissen Sie, daß Ihre Gesellschaft vor dem Untergang steht. Geld ist ein so edles Mittel, daß es nicht mit
Gewehren konkurriert und nicht mit Brutalität paktiert. Es läßt nicht zu, daß ein Land halb als Eigentum, halb als
Beutegut Bestand hat.
Wann immer Zerstörer unter den Menschen erscheinen, beginnen sie damit, das Geld zu zerstören, denn das
Geld ist der Schutz der Menschen und die Grundlage moralischen Daseins. Die Zerstörer bemächtigen sich des
Goldes und geben seinen Besitzern dafür ein wertloses Bündel Papier. Damit werden alle objektiven Maßstäbe
vernichtet und die Menschen der Willkür derjenigen ausgeliefert, die nun willkürlich Werte festsetzen. Gold war
ein objektiver Wert, ein Äquivalent des erzeugten Reichtums. Papier ist ein Pfandbrief auf nicht vorhandene
Werte mit einem Gewehr als Sicherheit, das man denen vor die Brust setzt, die sie schaffen sollen. Papier ist ein
von gesetzlich autorisierten Plünderern auf ein fremdes Konto gezogener Wechsel: ein Wechsel auf die Tugend
der Opfer. Und es wird der Tag kommen, an dem er platzt, weil das Konto überzogen ist.
Erwarten Sie nicht, daß die Menschen gut bleiben, wenn Sie schlecht machen, was die Menschen zum
Überleben brauchen. Erwarten Sie nicht, daß sie moralisch bleiben und ihr Leben dafür hingeben, der Fraß der
Unmoral zu werden. Erwarten Sie nicht, daß sie produzieren, wenn Produktion bestraft und Plündern belohnt
wird. Fragen Sie nicht: ‘Wer zerstört die Welt?’ Sie zerstören sie.
Sie leben inmitten der größten Leistungen der größten produktiven Zivilisation, und Sie fragen sich, warum
alles um Sie herum zerfällt, und Sie fragen es sich, während Sie den Lebenssaft dieser Zivilisation, das Geld,
verdammen. Sie sehen das Geld so an, wie es die Wilden einst getan haben, und Sie fragen sich, warum der
Dschungel wieder an den Rand Ihrer Städte vordringt. In der ganzen Geschichte des Menschen haben sich
Plünderer immer Geld angeeignet. Ihre Namen wechselten, aber ihre Methode blieb die gleiche: sich gewaltsam
in den Besitz des Reichtums zu setzen und die Erzeuger zu fesseln, zu erniedrigen, zu verleumden, der Ehre zu
berauben. Diese Phrase vom Übel des Geldes, die Sie mit so hemmungsloser Selbstgerechtigkeit aussprechen,
stammt aus einer Zeit, da der Reichtum durch die Arbeit von Sklaven geschaffen wurde – Sklaven, die
Bewegungen wiederholten, die der Verstand eines Menschen einst entdeckt hatte und die jahrhundertelang die
gleichen blieben. Solange unter Zwang produziert wurde und man Reichtum durch Eroberung erlangte, gab es
wenig zu erobern. Dennoch verherrlichten die Menschen in all den Jahrhunderten der Stagnation und des
Hungers die Plünderer als Schwertadel, als Geburtsadel, als Dienstadel und verachteten die Produzenten als
Sklaven, als Händler, als Krämer – als Industrielle.
Zum Ruhm der Menschheit gab es zum ersten und einzigen Male in der Geschichte ein Land des Geldes – und
ich kann Amerika keinen höheren, ehrfürchtigeren Tribut zollen, denn das bedeutet: ein Land der Vernunft, der
Gerechtigkeit, der Freiheit, der Produktion, der Leistung. Zum ersten Mal konnten sich Denken und Geld frei
entfalten, und es gab keine eroberten, sondern nur erarbeitete Vermögen, und an Stelle der Krieger und Sklaven
erschien der wahre Schöpfer des Reichtums, der größte Arbeiter, der höchste Menschentyp – der Selfmademan –
der amerikanische Industrielle.
Wenn ich Ihnen das stolzeste Merkmal der Amerikaner nennen soll, dann sage ich – weil es alle anderen
enthält: Sie waren das Volk, das den Ausdruck ‘Geld machen’ geschaffen hat. Keine andere Sprache oder Nation
hat je zuvor dieses Wort gekannt; die Menschen haben Reichtum immer für etwas Statisches gehalten – dessen
man sich bemächtigte, das man erbettelte, erbte, teilte, raubte oder als Geschenk erhielt. Die Amerikaner waren
die ersten, die begriffen, daß Reichtum geschaffen werden muß. In dem Ausdruck ‘Geld machen’ drückt sich das
Wesen der menschlichen Moral aus.
Dennoch wurden die Amerikaner um dieses Ausdrucks willen von den verrotteten Kulturen der
Plündererkontinente angeprangert. Und nun hat das Plünderercredo Sie dazu gebracht, Ihre stolzesten Leistungen
als Schandmal anzusehen, Ihren Wohlstand als Schuld, Ihre größten Männer, die Industriellen, als Gauner und
Ihre großartigen Fabriken – wie die ägyptischen Pyramiden – als Produkt der Muskelkraft mit der Peitsche
angetriebener Sklaven. Der Lump, der mit dümmlichem Grinsen behauptet, er sehe keinen Unterschied zwischen
der Macht des Dollars und der Macht der Peitsche, sollte den Unterschied am eigenen Leib erfahren – und, ich
denke, er wird ihn erfahren.
Wenn Sie nicht begreifen, daß Geld die Wurzel alles Guten ist, gehen Sie Ihrer eigenen Zerstörung entgegen.
Wenn nicht mehr Geld das Mittel des Gütererwerbs ist, dann werden wieder Menschen dazu gemacht. Blut,
Peitschen und Gewehre – oder Geld. Treffen Sie Ihre Wahl. Es gibt nichts Drittes. Und Ihre Zeit läuft ab.«
Francisco hatte, während er sprach, Rearden nicht ein einziges Mal angesehen, aber in dem Augenblick, in
dem er seine Rede schloß, sah er ihn fest an. Rearden stand reglos und sah inmitten der erregten Gestalten und
verärgerten Stimmen nur Francisco d’Anconia.
Einige der Zuhörer eilten davon, andere sagten: »Wie furchtbar!«
»Es ist nicht wahr!«
»Wie schändlich und eigennützig!«
Sie sagten es laut und vorsichtig zu gleich, als ob sie wünschten, daß ihre Nachbarn es hörten, aber hofften,
Francisco würde es nicht hören.
»Señor d’Anconia«, sagte die Frau mit den großen Ohrringen, »ich bin nicht Ihrer Meinung.«
»Wenn Sie einen einzigen Satz, den ich geäußert habe, widerlegen können, höre ich dankbar zu.«
»Ich kann Ihnen nicht antworten. Mir fehlen die Worte, und mein Verstand arbeitet anders, aber ich habe
nicht das Gefühl, daß Sie recht haben, und darum weiß ich, daß Sie unrecht haben.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich fühle es. Mich leitet nicht mein Kopf, sondern mein Herz. Sie mögen ein guter Logiker sein, aber Sie
sind herzlos.«
»Wenn wir eines Tages Menschen um uns herum verhungern sehen, kann Ihr Herz sie auf Erden nicht retten.
Und ich bin herzlos genug zu sagen, daß Sie keine Vergebung erwarten dürfen, wenn Sie dann schreien: ‘Aber,
das habe ich nicht gewußt!’«
Die Frau wandte sich ab. Ein Schauer rann durch ihre schwammigen Wangen, und in ihrer Stimme zitterte
Wut, als sie sagte: »Das ist eine ziemlich komische Art, auf einer Party zu reden!«
Ein dicker Mann, der niemand ins Gesicht sehen konnte, sagte laut im Ton gezwungener Heiterkeit, der
verriet, daß ihm vor allem daran lag, keine peinliche Stimmung aufkommen zu lassen: »Wenn Sie über Geld so
denken, Señor, dann glaube ich, daß ich verflixt froh sein kann, ein hübsches Paket d’Anconia-Aktien zu
besitzen.«
Francisco sagte ernst: »Ich würde Ihnen raten, sich das zweimal zu überlegen.«
Rearden ging auf ihn zu – und Francisco, der scheinbar gar nicht in seine Richtung geblickt hatte, kam ihm
sofort entgegen, als ob die anderen nicht mehr vorhanden wären.
»Hallo«, sagte Rearden unbefangen wie zu einem Jugendfreund und lächelte.
Er sah, wie sich sein Lächeln in Franciscos Gesicht spiegelte. »Hallo.«
»Ich möchte mit Ihnen sprechen.«
»Mit wem habe ich denn die letzte Viertelstunde gesprochen?«
Rearden lachte, als wollte er sagen, daß sein Gegner eine Runde gewonnen hatte. »Ich dachte, Sie hätten mich
gar nicht bemerkt.«
»Als ich hereinkam, habe ich bemerkt, daß Sie eine der beiden Personen in diesem Raum waren, die sich
freuten, mich zu sehen.«
»Sind Sie nicht ein bißchen eingebildet?«
»Nein – dankbar.«
»Wer war die andere Person, die sich freute, Sie zu sehen?«
Francisco zuckte die Achseln und sagte lässig: »Eine Frau.«
Rearden bemerkte, daß Francisco ihn so geschickt und natürlich von der Gruppe weggeführt hatte, daß weder
ihm noch den anderen die Absicht aufgefallen war.
»Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu treffen«, sagte Francisco.
»Sie hätten nicht zu dieser Party kommen sollen.«
»Warum nicht?«
»Darf ich fragen, warum Sie hergekommen sind?«
»Meine Frau wollte die Einladung unbedingt annehmen.«
»Verzeihen Sie, wenn ich das in dieser Form sage, aber es wäre passender und weniger gefährlich gewesen,
wenn sie Sie gebeten hätte, mit ihr eine Runde durch die Freudenhäuser zu drehen.«
»Von welcher Gefahr sprechen Sie?«
»Mr. Rearden, Sie wissen nicht, wie diese Menschen hier Geschäfte machen oder wie sie Ihre Anwesenheit
deuten. Nach Ihren Begriffen ist es ein Zeichen Höflichkeit, wenn man einer Einladung folgt, ein Zeichen, daß
Sie und Ihr Gastgeber als zivilisierte Menschen miteinander umgehen. Die hier deuten das anders. Geben Sie
ihnen keinen Anlaß dazu!«
»Warum sind Sie dann hergekommen?«
Francisco zuckte vergnügt die Achseln. »Ach, ich – bei mir kommt es nicht darauf an, was ich tue. Ich bin
bloß ein Partylöwe.«
»Was tun Sie auf dieser Party?«
»Ich bin nur auf Eroberungen aus.«
»Haben Sie welche gemacht?«
Franciscos Gesicht wurde plötzlich ernst, und gemessen, fast feierlich antwortete er: »Ja, eine, und sie wird
wohl meine größte sein.«
Rearden ärgerte sich wider Willen. Sein Ärger war ein Schrei – nicht des Vorwurfs, sondern der
Verzweiflung: »Wie können Sie sich so verplempern?« In Franciscos Augen deutete sich ein Lächeln an. Wie
ein Licht aus weiter Ferne. Er fragte: »Wollen Sie damit zugeben, daß es Ihnen etwas ausmacht?«
»Sie können noch mehr Geständnisse hören, wenn Sie darauf aus sind. Bevor ich Sie kennenlernte, habe ich
mich immer gefragt, wie Sie ein Vermögen wie das Ihre verplempern konnten. Jetzt ist es ärger, denn ich kann
Sie nicht so verachten, wie ich es tat, wie ich es möchte, aber die Frage ist noch viel schlimmer: Wie können Sie
einen Geist wie den Ihren so verplempern?«
»Ich glaube nicht, daß ich ihn gerade jetzt verplemper.«
»Ich weiß nicht, ob es je etwas gegeben hat, das Ihnen etwas bedeutete. Aber ich will Ihnen etwas sagen, was
ich noch nie zu jemand gesagt habe. Erinnern Sie sich, daß Sie, als wir uns kennenlernten, sagten, Sie wollten
mir Ihre Dankbarkeit zeigen?« Es war keine Spur von Lächeln mehr in Franciscos Augen. Rearden hatte nie
einen so feierlich ehrfürchtigen Blick gesehen. »Ja, Mr. Rearden«, antwortete Francisco ruhig.
»Ich sagte Ihnen, daß ich Ihre Dankbarkeit nicht brauchte, und beleidigte Sie deswegen. Nun, Sie haben
gewonnen. Die Rede, die Sie heute abend gehalten haben, war Ihr Dank, nicht wahr?«
»Ja, Mr. Rearden.«
»Es war mehr als Dank, und ich brauchte den Dank. Es war mehr als Bewunderung, und ich brauchte auch
sie. Es war viel mehr, als ich mit Worten sagen kann. Ich werde Tage über all das nachzudenken haben, was Sie
mir gegeben haben. Aber eines weiß ich schon jetzt: Ich habe es gebraucht. Ich habe so etwas noch nie jemand
eingestanden, denn ich habe noch nie um Hilfe gebeten. Wenn Ihnen schon die Vermutung Spaß macht, daß ich
mich freue, Sie zu sehen, dann haben Sie jetzt wirklich etwas, worüber Sie lachen können.«
»Es wird vielleicht noch ein paar Jahre dauern, aber ich werde Ihnen beweisen, daß ich über sowas nicht
lache.«
»Beweisen Sie es jetzt gleich, indem Sie mir eine Frage beantworten: Warum tun Sie nicht, was Sie
predigen?«
»Sind Sie sicher, daß ich es nicht tue?«
»Wenn das wahr ist, was Sie sagten, wenn Sie die Größe haben, das zu wissen, dann müßten Sie inzwischen
der führende Industrielle der Welt sein.«
Francisco sagte ernst, wie er es zu dem dicken Mann gesagt hatte, aber mit seltsamer Sanftmut in der Stimme:
»Ich rate Ihnen, sich das zweimal zu überlegen.«
»Ich habe mehr über Sie nachgedacht, als ich zugeben möchte. Ich habe keine Antwort gefunden.«
»Lassen Sie mich Ihnen einen Hinweis geben: Wenn das, was ich sagte, wahr ist, wer ist dann heute abend der
Schuldigste in diesem Raum?«
»Ich nehme an – James Taggart.«
»Nein, Mr. Rearden, nicht James Taggart. Aber Sie müssen die Schuld definieren und den Mann selbst
herausfinden.«
»Vor ein paar Jahren hätte ich gesagt, daß Sie es sind. Ich glaube immer noch, daß ich das eigentlich sagen
müßte, aber ich bin fast in der Situation dieser gedankenlosen Frau eben: Die Vernunft sagt mir, daß Sie schuldig
sind, aber mein Gefühl sagt mir das Gegenteil.«
»Sie machen wirklich den gleichen Fehler wie die Frau, Mr. Rearden, wenn auch in noblerer Form.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich spreche von viel mehr als nur von Ihrem Urteil über mich. Diese Frau und alle ihresgleichen weichen
immer den Gedanken aus, die sie als gut erkennen. Sie verscheuchen immer wieder die Gedanken aus Ihrem
Kopf, die Sie für schlecht halten. Die anderen tun es, weil sie die Anstrengungen vermeiden wollen. Sie tun es,
weil Sie sich nicht erlauben, etwas in Betracht zu ziehen, was Sie schonen würde. Die anderen leben ihre
Gefühle um jeden Preis aus. Sie opfern Ihre Gefühle als ersten Preis für jedes Problem, das sich ihnen stellt. Die
anderen wollen sich nichts zumuten. Sie wollen sich alles zumuten. Die anderen drücken sich immer wieder vor
der Verantwortung. Sie nehmen sie immer wieder auf sich. Aber sehen Sie nicht, daß der entscheidende Irrtum
der gleiche ist? Jede Weigerung, die Wirklichkeit anzuerkennen, aus welchem Grunde auch immer, hat
verheerende Folgen. Es gibt keine schlechten Gedanken außer dem einen: der Weigerung zu denken. Ignorieren
Sie Ihre eigenen Wünsche nicht, Mr. Rearden. Opfern Sie sie nicht. Gehen Sie der Ursache Ihrer Gefühle nach.
Es gibt eine Grenze dessen, was Sie sich zumuten dürfen.«
»Wie kommen Sie zu diesem Eindruck von mir?«
»Ich habe einmal den gleichen Fehler gemacht. Aber nicht lange.«
»Ich wünschte…«, begann Rearden, hielt dann aber jäh inne.
Francisco lächelte. »Angst vor einem Wunsch?«
»Ich wünschte, ich könnte mir erlauben, Sie so gern zu haben, wie ich es tue.«
»Ich würde…« Francisco unterbrach sich. Rearden sah in Franciscos Gesicht den Ausdruck eines Gefühls, das
er nicht einordnen konnte. Dennoch war er sich sicher, daß es Schmerz war. Er sah zum ersten Mal, daß
Francisco zögerte. »Mr. Rearden, besitzen Sie d’Anconia-Aktien?«
Rearden blickte ihn verwundert an. »Nein.«
»Eines Tages werden Sie wissen, welchen Verrat ich jetzt begehe, aber… kaufen Sie nie d’Anconia-Aktien!
Machen Sie nie Geschäfte mit d’Anconia Copper – gleich welcher Art!«
»Warum?«
»Wenn Sie den ganzen Grund erfahren, werden Sie wissen, ob mir je irgend etwas oder irgend jemand etwas
bedeutete und… wieviel er mir bedeutete.«
Rearden runzelte die Stirn. Ihm war etwas eingefallen. »Ich würde mit Ihrer Firma nie Geschäfte machen. Sie
hatten von Doppelmoral gesprochen: Sind Sie nicht einer der Plünderer, die gerade jetzt mit Hilfe von
Verordnungen reich werden?«
Seltsamerweise beleidigten diese Worte Francisco nicht, sondern gaben ihm seinen selbstsicheren Blick
wieder. »Glauben Sie, daß ich es war, der die Verordnungen aus den Polit-Gangstern herausgeleiert hat?«
»Wer dann?«
»Meine Trittbrettfahrer.«
»Gegen Ihren Willen?«
»Ohne mein Wissen.«
»Ich gebe ungern zu, wie sehr ich Ihnen glauben möchte – aber Sie können es mir im Augenblick schlecht
beweisen.«
»Nein? Ich werde es Ihnen in den nächsten fünfzehn Minuten beweisen.«
»Wie? Die Tatsache bleibt bestehen, daß Sie aus den Verordnungen den größten Nutzen gezogen haben.«
»Das stimmt. Ich habe mehr davon profitiert, als Mr. Mouch und seine Bande es sich je vorstellen konnten.
Nachdem ich jahrelang gearbeitet hatte, gaben sie mir die Chance, die ich brauchte.«
»Sind Sie gar noch stolz darauf?«
»Aber natürlich!« Rearden traute seinen Augen nicht, als er Franciscos harten, wachen Blick sah – den Blick
nicht eines Partylöwen, sondern eines Mannes der Tat.
»Mr. Rearden, wissen Sie, wo die meisten dieser neuen Aristokraten ihr Geld verstecken? Wissen Sie, wo die
meisten Fairneß-Geier ihre Profite aus Rearden Metal anlegen?«
»Nein, aber…«
»In d’Anconia-Aktien. Weit ab vom Schuß, in einem anderen Land. D’Anconia Copper – eine alte, durch
nichts zu erschütternde Firma, die so reich ist, daß sie noch drei weitere Generationen von Plünderern
überdauern würde. Eine Gesellschaft, von einem dekadenten Playboy geleitet, dem alles völlig schnuppe ist, der
sie seinen Besitz auf jede beliebige Art benutzen läßt und nur weiter für sie Geld macht – ganz automatisch, wie
es seine Vorfahren getan haben. War das nicht genau das, was die Plünderer wollten? Nur haben sie dabei wohl
einen Punkt übersehen!«
Rearden starrte ihn an: »Worauf wollen Sie hinaus?«
Francisco lachte plötzlich. »Es ist ein Jammer mit diesen Abstaubern, die sich an Rearden Metal bereichert
haben. Sicher wünschen Sie keinem davon, daß er das Geld verliert, das Sie für sie gemacht haben? Aber es
passieren überall auf der Welt Unglücke – es heißt doch, daß der Mensch nur ein hilfloser Spielball der
Naturgewalten ist. Da war zum Beispiel morgen früh ein Feuer im d’Anconia-Erzhafen in Valparaiso, ein Feuer,
bei dem dieser Hafenteil bis auf die Grundmauern niedergebrannt ist und die Hälfte der übrigen Hafenanlagen
auch. Wie spät ist es? Ich bin mit der Grammatik durcheinander gekommen. Morgen wird es zu einem Felsrutsch
im d’Anconia-Bergwerk in Oráno kommen – keine Toten, keine Verletzten, nur das Bergwerk steht auf der
Verlustliste. Man wird feststellen, daß das Bergwerk erledigt ist, weil man seit Monaten an den falschen Stellen
gearbeitet hat – was soll man auch anderes erwarten, wenn der Manager ein Playboy ist? Die großen
Kupfervorkommen werden unter Tonnen von Felsen begraben, so daß selbst ein Sebastián d’Anconia sie erst in
drei Jahren wieder nutzbar machen könnte. Ein Volksstaat wird sie überhaupt nicht wieder nutzbar machen
können. Wenn die Aktionäre die Sache näher betrachten, werden sie entdecken, daß die Bergwerke in Campos,
in San Felix, in Las Heras genau so betrieben werden und über ein Jahr lang mit Verlust gearbeitet haben, nur hat
der Playboy die Bücher gefälscht und dafür gesorgt, daß die Zeitungen keinen Wind davon bekamen. Soll ich
Ihnen sagen, was man über das Management der d’Anconia-Gießereien herausfinden wird? Oder das der
d’Anconia-Flotte? Aber all diese Entdeckungen werden den Aktionären wenig nützen, denn morgen früh
zerplatzt die Seifenblase ihrer Träume: Die Kurse der d’Anconia-Aktien donnern in den Keller wie ein Fahrstuhl,
der sich von seiner Aufhängung gelöst hat, und von den Abstaubern bleibt nichts übrig als Kehricht.«
In den triumphierende Ton von Franciscos Stimme stimmte ein ebenso triumphierend klingendes Lachen ein:
Rearden hatte es nicht unterdrücken können.
Rearden wußte nicht, wie lange dieser Augenblick gedauert oder was er gefühlt hatte. Es war, als hätte er
einen Schlag erhalten, der ihn in ein anderes Bewußtsein versetzt hatte, und dann einen zweiten, der ihn in sein
eigenes zurückkehren ließ; geblieben war – wie beim Erwachen aus einer Narkose – das Gefühl, daß er eine
ungeheure Freiheit erlebt hatte, die nie der Wirklichkeit entsprechen konnte. Dies war wieder wie der Wyatt-
Brand, dachte er, dies war seine geheime Gefahr.
Er spürte, wie er unwillkürlich von Francisco d’Anconia zurückwich. Francisco beobachtete ihn gespannt,
und es sah so aus, als hätte er ihn die ganze Zeit beobachtet.
»Es gibt keine schlechten Gedanken, Mr. Rearden«, sagte Francisco leise, »außer dem einen, der Weigerung
zu denken.«
»Nein«, sagte Rearden. Er flüsterte fast. Er mußte seine Stimme dämpfen, er fürchtete, er würde sonst
schreien: »Nein… wenn dies der Schlüssel zu Ihnen ist, nein, erwarten Sie nicht von mir, daß ich Sie jubelnd
bewundere… Sie haben nicht die Kraft zu kämpfen… Sie haben den bequemsten, den schändlichsten Weg
gewählt… bewußte Zerstörung… die Zerstörung einer Leistung, die Sie nicht vollbracht haben und der Sie nicht
gewachsen sind…«
»Das werden Sie morgen nicht in den Zeitungen lesen. Es wird keinen Beweis für eine bewußte Zerstörung
geben. Alles ist ganz normal, erklärbar, selbstverständlich – eine Folge simpler Unfähigkeit. Und Unfähigkeit
wird doch heute nicht bestraft? Oder doch? Die Jungs in Buenos Aires und die Jungs in Santiago werden mir
wahrscheinlich zum Trost und als Entschädigung eine Beihilfe anbieten. Von d’Anconia Copper bleibt noch viel
übrig, obwohl ein großer Teil für immer dahin ist. Niemand wird behaupten, ich hätte es absichtlich getan. Sie
mögen denken, was Sie wollen.«
»Ich denke, Sie sind der Schuldigste in diesem Raum«, sagte Rearden mü de. Selbst die Leidenschaft seines
Ärgers war vergangen. Er spürte nichts als eine durch den Zusammenbruch einer großen Hoffnung entstandene
Leere. »Ich glaube, Sie sind schlimmer als alles, was ich mir vorgestellt hatte.«
Francisco antwortete nicht. Er sah ihn nur an. Mit der Andeutung eines eigenartigen Lächelns, in dem die
heitere Ruhe des Sieges über den Schmerz lag.
Erst als sie schwiegen, hörten sie die Stimmen zweier Männer, die ein paar Schritte von ihnen entfernt
standen, und sie wandten sich um, u m zu sehen, wer da sprach.
Der stämmige ältere Mann war offensichtlich ein Geschäftsmann von der gewissenhaften, unauffälligen Art.
Sein Abendanzug war von guter Qualität, aber von einem Schnitt, der vor zwanzig Jahren Mode gewesen war,
und er hatte schon einen leichten grünen Schimmer. Der Mann hatte nur wenig Gelegenheit gehabt, ihn zu
tragen. Seine Hemdenknöpfe waren auffallend groß; man sah ihnen an, daß es Erbstücke waren, Stücke erlesener
Handwerkskunst, die, wie sein Geschäft, wahrscheinlich schon seinem Urgroßvater gehört hatten. Sein Gesicht
hatte den Ausdruck, der in dieser Zeit das Kennzeichen eines anständigen Menschen war, einen Ausdruck der
Bestürzung. Er blickte seinen Gesprächspartner an und bemühte sich krampfhaft, hilf- und hoffnungslos, ihn zu
verstehen.
Der andere war jünger und kleiner, mit schlaffem Gesicht, gewölbter Brust und einem schmalen Schnauzbart,
dessen Spitzen nach oben gezwirbelt waren. In einem gönnerhaft gelangweilten Ton sagte er: »Nun, ich weiß
nicht. All das Geschrei über die steigenden Kosten! Das scheint heutzutage das Hauptthema zu sein. Es ist das
übliche Gejammer der Leute, denen man die Profite ein bißchen beschneidet. Ich weiß nicht, wir werden sehen
und entscheiden müssen, ob wir Ihnen überhaupt noch gestatten sollen, Profit zu machen oder nicht.«
Rearden blickte Francisco an – und er sah ein Gesicht, das bar alles Menschlichen war: Es war das
erbarmungsloseste Gesicht, das man sich vorstellen konnte. Er hatte sich selbst für grausam gehalten, aber er
wußte, daß sein eigenes Gesicht nie diesen nackten, unerbittlichen Ausdruck haben konnte, der für jedes Gefühl
tot war außer für die Gerechtigkeit. Wie er auch sonst sein mochte, dachte Rearden, ein Mensch, der dazu fähig
war, war ein Gigant.
Es war nur ein Augenblick. Francisco wandte sich ihm mit seinem üblichen Gesichtsausdruck wieder zu und
sagte sehr ruhig: »Ich habe meine Meinung geändert, Mr. Rearden. Ich bin froh, daß Sie zu dieser Gesellschaft
gekommen sind. Ich möchte, daß Sie dies miterleben.« Laut sagte Francisco dann plötzlich in dem fröhlichen,
ungezwungenen, durchdringenden Ton eines völlig verantwortungslosen Menschen: »Sie wollen mir diese
Anleihe nicht gewähren, Mr. Rearden? Das bringt mich in eine furchtbare Lage. Ich muß das Geld haben – ich
muß es noch heute abend bekommen – ich muß es bekommen, bevor die Börse morgen öffnet, denn sonst…«
Er brauchte den Satz nicht zu vollenden, denn der kleine Mann mit dem Schnurrbart klammerte sich an seinen
Arm.
Rearden hätte nie geglaubt, daß ein menschlicher Körper, während man ihn anblickte, seine Dimensionen
verändern könnte, aber er sah, wie der Mann in Gewicht, in Haltung, in Form zusammenschrumpfte, als wäre die
Luft aus ihm herausgelassen worden, und aus einem arroganten Herrscher war plötzlich ein Häufchen Elend
geworden, das niemand mehr bedrohen konnte. »Ist… da etwas geschehen, Señor d’Anconia, ich meine an… der
Börse?« Francisco legte mit einem erschrockenen Blick den Finger auf die Lippen. »Seien Sie still«, flüsterte er,
»um Gottes willen, seien Sie still!« Der Mann zitterte am ganzen Leibe. »Etwas… Schlimmes?«
»Gehören Ihnen zufällig einige d’Anconia-Aktien?«
Der Mann nickte, unfähig zu sprechen. »Ach, das ist ja entsetzlich. Nun, hören Sie, ich will Ihnen etwas
sagen, wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie es niemand weitersagen. Sie werden ja nicht eine Panik
auslösen wollen.«
»Ehrenwort…«, stöhnte der Mann.
»Das beste ist, Sie laufen zu Ihrem Börsenmakler und verkaufen, so schnell Sie können – denn bei d’Anconia
sieht es nicht gerade gut aus. Ich versuche, Geld aufzutreiben, aber wenn es mir nicht gelingt, werden Sie sich
glücklich schätzen, wenn Sie morgen früh für einen Dollar noch zehn Cent bekommen – ach du meine Güte, ich
habe ja ganz vergessen, daß Sie Ihren Makler erst morgen früh erreichen können – das ist zu dumm, aber…«
Der Mann raste durch den Raum und stieß die Leute aus dem Weg wie ein in die Menge geschossener
Torpedo.
»Passen Sie jetzt auf«, sagte Francisco ernst, zu Rearden gewandt.
Der Mann war in der Menge verschwunden. Sie konnten ihn nicht sehen. Sie konnten nicht sagen, wem er
sein Geheimnis verkaufte oder ob er überhaupt schlau genug war, daraus ein Geschäft mit denen zu machen, von
deren Wohlwollen er abhing – aber sie sahen die Spur, die er im Raum hinterließ: die jähen Schritte, die die
Menge teilten, die erst ein paar schmalen Sprüngen glichen und dann gleichsam zu breiten Rissen in einer Mauer
wurden, die jeden Augenblick einzustürzen drohte; die Lücken, die nicht durch Menschenhand, sondern durch
den unpersönlichen Hauch der Angst gerissen wurden.
Die Stimmen verstummten jäh, und eine unheimliche Stille breitete sich aus, dann hörte man Laute
verschiedener Art: den lauten hysterischen Ton, in dem nutzlose Fragen immer wieder gestellt wurden; das
unnatürliche Flüstern; den Schrei einer Frau; das sporadische, gezwungene Kichern einiger weniger, die immer
noch so tun wollten, als ob nichts geschehen wäre.
Hier und dort sah man im Gewoge der Menge bewegungslos erstarrte Gruppen. Dann folgte eine plötzliche
Stille, als wäre ein Motor abgestellt worden; darauf war es, als würde irgend etwas panisch, zuckend, ziellos,
steuerlos durch die blinde Gewalt der Schwerkraft einen Berg hinab poltern und gegen jeden Felsen prallen, der
im Weg stand. Menschen rannten hinaus, rannten zu Telefonen, rannten zueinander, klammerten sich blind an
andere oder schoben sie von sich weg. Diese Leute, die mächtigsten im Land, die – keiner Macht verantwortlich
– die Macht über jedermanns Lebensgrundlage und Lebensfreude hatten – diese Männer waren zu Schutt
geworden, der im Wind der Panik klirrte, Schutt, der von einem Haus zurückbleibt, wenn sein Fundament
weggerissen wird.
James Taggart, dessen Gesicht schamlos Gefühle zeigte, die zu verbergen Jahrhunderte die Menschen gelehrt
hatten, raste auf Francis co zu und schrie: »Ist es wahr?«
»Aber, James«, sagte Francisco lächelnd. »Was ist los? Warum wirkst du so aufgebracht? Geld ist die Wurzel
allen Übels – und ich habe es nachgerade satt, ein Übel zu sein.«
Taggart rannte zum Hauptausgang und schrie Orren Boyle auf dem Wege dorthin etwas zu. Boyle nickte und
nickte immer wieder mit dem Eifer und der Demut eines unfähigen Dieners. Dann sauste er in eine andere
Richtung. Cherryl, deren Brautschleier wie eine Wolke in der Luft schwebte, als sie hinter Taggart herlief, holte
ihn an der Tür ein. »Was ist los, Jim?« Er stieß sie beiseite, und sie taumelte gegen Paul Larkins Bauch.
Drei Menschen standen reglos still wie drei im Raum verteilte Säulen. Ihre Blicke durchschnitten das
Tohuwabohu. Dagny sah Francisco an. Francisco sah Rearden an. Und Rearden sah Francisco an.

III. Ehrliche Erpressung

»Wie spät ist es?«


Die Zeit verrinnt, dachte Rearden – aber er antwortete: »Ich weiß nicht. Noch nicht Mitternacht.« Dann
erinnerte er sich an seine Armbanduhr und fügte hinzu: »Zwanzig vor.«
»Ich fahre mit der Bahn nach Hause«, sagte Lillian.
Er hörte den Satz, aber es dauerte eine Weile, bis er in die überfüllten Gänge seines Bewußtseins drang. Er
betrachtete geistesabwesend den Salon seiner Hotelsuite, der nur wenige Minuten Fahrt mit dem Fahrstuhl von
der Party entfernt war. Nach kurzer Pause fragte er automatisch: »Jetzt?«
»Es ist noch früh. Es fahren noch viele Züge.«
»Du kannst natürlich genausogut hier bleiben.«
»Nein, ich fahre wohl lieber nach Hause.«
Er sagte nichts dagegen.
»Wie steht es mir dir, Henry? Kommst du heute nacht noch nach Hause?«
»Nein«, sagte er. »Ich habe hier morgen noch geschäftliche Besprechungen.«
»Wie du willst.«
Sie warf ihren Abendumhang von den Schultern, legte ihn über ihren Arm und ging zur Tür seines
Schlafzimmers, blieb dann aber stehen.
»Ich hasse Francisco d’Anconia«, sagte sie leidenschaftlich. »Warum ist er zu dieser Party gekommen? Und
konnte er nicht wenigstens bis morgen früh den Mund halten?«
Hank antwortete nicht.
»Es ist abscheulich, was er aus seiner Firma gemacht hat. Natürlich ist er nur ein verkommener Playboy. Aber
ein so großes Vermögen ist doch eine Verpflichtung. Es gibt eine Grenze für die Nachlässigkeit, die sich ein
Mann erlauben darf!«
Er blickte in ihr Gesicht: Es war seltsam gespannt, die Züge waren schärfer geworden und ließen sie älter
erscheinen.
»Er hat doch seinen Aktionären gegenüber eine gewisse Verpflichtung! Oder etwa nicht?«
»Hast du etwas dagegen, wenn wir nicht darüber sprechen?«
Sie verzog verächtlich den Mund und ging ins Schlafzimmer.
Er stand am Fenster und blickte auf die unten vorüberfahrenden Autos; seine Augen starrten auf etwas, ohne
es zu sehen. Seine Gedanken weilten noch bei der Menge im Ballsaal und bei zwei Gestalten in dieser Menge.
Aber wie sein Salon noch am Rande seines Blickfeldes blieb, so blieb am Rande seines Bewußtseins das Gefühl,
daß er etwas tun mußte. Einen Augenblick lang wurde es ihm klar – er mußte seinen Abendanzug ausziehen –,
aber irgendwo in seinem Unterbewußtsein fühlte er den Widerwillen, sich in Gegenwart einer fremden Frau in
seinem Schlafzimmer auszuziehen, und so vergaß er es im nächsten Augenblick wieder.
Lillian kam wieder heraus, so sorgfältig gekleidet, wie sie angekommen war. Das beigefarbene Reisekostüm
schmiegte sich straff an ihren Körper, und der Hut saß schief auf ihrem gelockten Haar. Sie trug ihren kleinen
Koffer und schwang ihn ein wenig, wie um zu beweisen, daß sie ihn tragen konnte.
Er streckte mechanisch die Hand aus und ergriff den Koffer.
»Was soll das?« fragte sie.
»Ich bringe dich zum Bahnhof.«
»So? Du hast dich ja noch gar nicht umgezogen.«
»Das spielt keine Rolle.«
»Du brauchst mich nicht zu begleiten. Ich werde meinen Weg schon allein finden. Wenn du morgen
geschäftliche Besprechungen hast, geh lieber ins Bett.«
Er antwortete nicht, sondern ging zur Tür, öffnete sie ihr und folgte ihr zum Fahrstuhl.
Auf der Fahrt im Taxi zum Bahnhof schwiegen beide. In solchen Augenblicken, da ihm ihre Gegenwart
bewußt war, merkte er, wie vorbildlich aufrecht sie saß, wie sie geradezu mit ihrer vollendeten Haltung protzte.
Sie wirkte so hellwach und zufrieden, als würde sie am frühen Morgen zu einer wichtigen Reise aufbrechen.
Das Taxi hielt vor dem Eingang des Taggart Terminals. Das durch das große Glasportal flutende Licht ließ
vergessen, wie spät es war, und gab das beruhigende Gefühl, daß das Leben stetig weiterging. Lillian sprang aus
dem Wagen und sagte: »Nein, nein, du brauchst nicht auszusteigen. Fahr wieder zurück. Kommst du morgen
zum Essen nach Hause – oder nächsten Monat?«
»Ich ruf dich an«, sagte er.
Sie winkte und verschwand in dem erleuchteten Portal. Als das Taxi sich wieder in Bewegung setzte, nannte
er dem Fahre r die Adresse von Dagnys Wohnung.
In der Wohnung war es dunkel, als er eintrat, aber die Tür zu Dagnys Schlafzimmer stand halb offen, und er
hörte sie sagen: »Da bist du ja, Hank.«
Er ging zu ihr hinein und fragte: »Hast du schon geschlafen?«
»Nein.«
Er knipste das Licht an. Sie lag im Bett, und ihr Haar fiel weich auf ihre Schultern, als ob sie sich lange nicht
bewegt hätte, aber ihr Gesicht hatte einen friedlichen Ausdruck. In dem hellblauen Nachthemd mit dem strengen
Kragen, der den Hals eng umschloß, sah sie wie ein Schulmädchen aus. Das Vorderteil des Hemdes stand in
bewußtem Kontrast zu dieser Strenge – eine weite, hellblau bestickte Fläche, die überaus erwachsen und feminin
wirkte.
Er setzte sich auf den Bettrand – und sie lächelte, weil die strenge Förmlichkeit seines Abendanzugs der
Situation eine so einfache und natürliche Intimität verlieh. Er erwiderte ihr Lächeln. Wie man den Vorteil
ablehnt, den einem ein zu großzügiger Gegner gewähren will, hatte er die Rücksicht zurückweisen wollen, die
sie bei der Party auf ihn genommen hatte. Statt dessen streckte er plötzlich seine Hand aus und streichelte ihre
Stirn und ihr Haar – mit einer Geste beschützender Zärtlichkeit. Jäh war er sich bewußt geworden, wie zart und
kindlich sie war, diese Gegnerin, die die ständige Herausforderung seiner Stärke ertragen hatte, aber in
Wirklichkeit seines Schutzes bedurft hätte.
»Es lastet schon so viel auf dir, und ich mache es dir noch schwerer…«
»Nein, Hank, das tust du nicht, und du weißt es auch.«
»Ich weiß, du bist stark genug, dich nicht davon verletzen zu lassen, aber es ist eine Stärke, die ich nicht in
Anspruch nehmen darf. Dennoch tue ich es, und ich habe dir keine Erklärung, keine Genugtuung zu bieten. Ich
kann nur zugeben, daß ich es weiß und daß es keine Möglichkeit gibt, dich um Verzeihung zu bitten.«
»Ich habe dir nichts zu verzeihen.«
»Ich durfte nicht mit ihr vor dir erscheinen.«
»Es hat mich nicht gekränkt. Nur…«
»Nur?«
»… nur, es war schwer für mich, dich leiden zu sehen.«
»Ich glaube nicht, daß Leiden etwas gutmacht, aber, was ich auch gefühlt habe, ich habe nicht genug gelitten.
Nichts ist mir so zuwider, wie über mein Leiden zu sprechen – das muß ich ganz allein mit mir abmachen. Doch,
wenn du es wissen willst, da du es ohnehin schon weißt – es war die Hölle für mich. Und ich wollte, es wäre
noch schlimmer gewesen. Jedenfalls mache ich es mir nicht leicht.«
Er sagte das ernst, ohne Erregung, als säße er über sich selbst zu Gericht. Sie lächelte belustigt und zugleich
traurig, nahm seine Hand, preßte sie an ihre Lippen und schüttelte den Kopf zum Zeichen, daß sie sein Urteil
nicht anerkannte. Sie verbarg ihr Gesicht in seiner Hand.
»Was wolltest du sagen?« fragte er leise.
»Nichts…« Dann hob sie den Kopf und sagte mit fester Stimme: »Hank, ich wußte, daß du verheiratet bist.
Ich wußte, was ich tat. Ich habe es aus freien Stücken getan. Du schuldest mir nichts. Du hast mir gegenüber
keinerlei Verpflichtungen.«
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Hank, ich will nichts von dir außer dem, was du mir geben willst. Erinnerst du dich, daß du mich einmal eine
Geschäftsfrau genannt hast? Du sollst bei mir nur deine Freude suchen. Solange du verheiratet bleiben willst, aus
welchem Grund auch immer, darf ich dir das nicht übelnehmen. Mein Geschäftsprinzip ist zu wissen, daß die
Freude, die du mir gibst, mit der Freude bezahlt wird, die du von mir erhältst – nicht mit deinem oder meinem
Leiden. Ich nehme keine Opfer an, und ich bringe auch keine. Wenn du mich um mehr bitten würdest, als du
wert bist, würde ich es verweigern. Wenn du mich bitten würdest, die Eisenbahn aufzugeben, würde ich dich
verlassen. Wenn die Freude des einen mit dem Leid des anderen erkauft wird, dann sollte man lieber gar keine
Geschäfte machen. Ein Geschäft, bei dem der eine gewinnt und der andere verliert, ist Betrug. Du tust es im
Beruf nicht, Hank; tu es auch nicht in deinem Leben!«
Wie ein leises Tonband, das ihre Worte überdeckte, hörte er, was Lillian ihm gesagt hatte. Er sah, wie weit sie
beide voneinander entfernt waren, sah ihre Ansprüche an ihn und das Leben. »Dagny, was hältst du von meiner
Ehe?«
»Ich habe kein Recht, mir darüber Gedanken zu machen.«
»Du mußt dir doch darüber den Kopf zerbrochen haben.«
»Ja… bis ich in Ellis Wyatts Haus kam. Seitdem nicht mehr.«
»Du hast mir nie eine Frage darüber gestellt.«
»Und ich werde es auch nicht tun.«
Er schwieg einen Augenblick lang. Er sah ihr in die Augen und sagte: »Das eine sollst du jedenfalls wissen:
Ich habe sie nicht angerührt, seit… jener Nacht in Ellis Wyatts Haus.«
»Du machst mich sehr froh.«
»Glaubst du, daß ich es könnte?«
»Ich habe mir nie erlaubt, mich das zu fragen.«
»Dagny, willst du sagen, daß du, wenn ich es getan hätte…. daß du das auch hingenommen hättest?«
»Ja.«
»Wäre es nicht scheußlich für dich?«
»Scheußlicher, als ich dir sagen kann. Aber wenn du es tätest, würde ich es hinnehmen. Ich will dich, Hank.«
Er ergriff ihre Hand und führte sie an seine Lippen. Sie fühlte den kurzen Kampf seines Körpers in der
plötzlichen Bewegung, mit der er halb zusammenbrechend auf sie sank und seinen Mund an ihre Schulter preßte.
Dann zog er sie an sich, zog sie in dem hellblauen Nachthemd quer über seine Knie und hielt sie mit roher
Gewalt fest, als haßte er sie ihrer Worte wegen und als wären es genau die Worte, die er hatte hören wollen.
Er beugte sein Gesicht zu ihr hinunter, und sie hörte die Frage, die sie in den Nächten der Jahre, die hinter
ihnen lagen, wieder und wieder vernommen hatte, die Frage, die immer, ohne daß er es wollte, aus ihm
herausgebrochen war und in der sich jäh seine beständige geheime Qual verraten hatte: »Wer war dein erster
Geliebter?«
Sie zog sich zurück, versuchte, sich ihm zu entwinden, aber er hielt sie fest. »Nein, Hank«, sagte sie mit
hartem Gesicht.
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich weiß, daß du mir nicht darauf antworten willst, aber ich
werde dich immer wieder danach fragen, denn das werde ich nie hinnehmen.«
»Frage dich, warum du es nicht hinnehmen willst.«
Seine Hand glitt langsam von ihren Brüsten zu ihren Knien, als ob er damit sein Besitzrecht betonen wollte
und es zugleich haßte, als er antwortete: »Weil… was du mir erlaubt hast… ich hatte geglaubt, du könntest das
nie, nicht einmal mir zuliebe… aber zu entdecken, daß du es willst und daß du sogar einem anderen Mann
erlaubt hast… daß du wolltest, daß er…«
»Weißt du überhaupt, was du sagst? Daß du es nie akzeptiert hast, daß ich dich begehre. Du hast es niemals
akzeptiert, daß ich dich begehren mußte, wie ich ihn einst begehren mußte.«
Leise sagte er: »Das stimmt.«
Sie riß sich mit einer brüsken Bewegung von ihm los und stand auf, sah dann aber mit einem leisen Lächeln
zu ihm hinunter und sagte sanft: »Kennst du deine einzige wirkliche Schuld? Obwohl du es so gut könntest, hast
du nie gelernt, dich zu freuen. Du hast deine eigene Freude stets zu leicht verworfen. Du bist bereit gewesen,
zuviel zu ertragen.«
»Das hat er auch gesagt.«
»Wer?«
»Francisco d’Anconia.«
Er fragte sich, warum er den Eindruck hatte, daß der Name sie erschreckte und daß sie einen Augenblick zu
spät antwortete: »Das hat er zu dir gesagt?«
»Wir sprachen über ein ganz anderes Thema.«
Nach einer Weile sagte sie ruhig: »Ich habe dich mit ihm sprechen sehen. Wer von euch beiden hat diesmal
den anderen beleidigt?«
»Keiner. Dagny, was hältst du von ihm?«
»Ich glaube, daß er sie absichtlich inszeniert hat – die Katastrophe, die wir morgen sehen werden.«
»Ich weiß, daß er es getan hat. Aber was hältst du von ihm als Menschen?«
»Ich weiß es nicht. Ich müßte ihn eigentlich für den verderbtesten Menschen halten, der mir je begegnet ist.«
»Du müßtest es? Aber du tust es nicht?«
»Nein. Ich bin mir meiner Gefühle nicht ganz sicher.«
Er lächelte. »Das ist das Seltsame an ihm. Ich weiß, er ist ein Lügner, ein Nichtstuer, ein billiger Playboy, das
niederträchtigste, verantwortungsloseste Stück Abschaum, das ich mir vorstellen kann. Dennoch, wenn ich ihn
ansehe, habe ich das Gefühl, daß, gäbe es einen Menschen, dem ich mein Leben anvertrauen wollte, er es wäre.«
»Hank, soll das heißen, daß du ihn magst?« antwortete sie mit einem Stöhnen der Überraschung.
»Es soll heißen, daß ich nicht wußte, was es bedeutet, jemand gern zu haben. Ich wußte nicht, wie sehr mir
das fehlte – bis ich ihn kennenlernte.«
»Großer Gott, Hank, du bist ja in ihn vernarrt!«
»Ja, ich glaube wirklich.« Er lächelte. »Warum erschreckt dich das?«
»Weil… weil ich glaube, daß er dich auf irgendeine furchtbare Weise verletzen wird… Und je mehr du in ihm
siehst, desto schwerer wird das für dich sein… Ich fühle, daß ich dich vor ihm warnen müßte, aber ich kann es
nicht – denn ich bin mir über nichts sicher bei ihm, ich bin mir nicht einmal sicher, ob er der größte oder der
niedrigste Mensch auf der Erde ist.«
»Ich bin mir auch nicht sicher über ihn – ich weiß nur das eine, daß ich ihn mag.«
»Aber bedenke doch, was er getan hat! Nicht Jim und Boyle hat er damit getroffen, sondern dich und mich
und Ken Danagger und uns alle, denn Jims Bande wird sich lediglich an uns schadlos halten – und es wird
genauso eine Katastrophe werden wie der Wyatt-Brand.«
»Ja… ja, wie der Wyatt-Brand. Aber weißt du, ich glaube, das macht mir gar nicht so viel aus. Was bedeutet
schon eine weitere Katastrophe? Es bricht ohnedies alles zusammen, es ist nur die Frage, ob es ein wenig
schneller oder langsamer geht. Wir können nur das Schiff möglichst lange über Wasser halten und dann mit ihm
untergehen.«
»Ist das eine Entschuldigung für ihn? Hat er dieses Gefühl in dir erweckt?«
»Nein, nein. Dieses Gefühl verliere ich, wenn ich mit ihm spreche. Das Seltsame ist, daß er ein ganz anderes
Gefühl in mir erweckt.«
»Was für ein Gefühl?«
»Hoffnung.«
Sie nickte hilflos.
»Ich weiß nicht, warum«, sagte er, »aber wenn ich mir die Menschen so ansehe, scheinen sie nur aus Schmerz
zu bestehen. Er jedoch nicht. Und du auch nicht. Diese entsetzliche Hoffnungslosigkeit, die uns umgibt, fällt nur
in seiner Gegenwart von mir ab. Nirgends anderswo.«
Sie kam wieder zu ihm, ließ sich zu seinen Füßen niedergleiten und preßte ihr Gesicht an seine Knie. »Hank,
wir haben noch so viel vor uns – und gerade jetzt so viel…«
Er blickte auf die Gestalt in hellblauer Seide, die vor dem Schwarz seiner Kleidung kauerte. Er beugte sich zu
ihr hinunter und sagte leise: »Dagny… was ich dir an jenem Morgen in Ellis Wyatts Haus gesagt habe… ich
glaube, ich habe mich da selbst belogen.«
»Ich weiß.«
Durch einen grauen Regenvorhang verkündete das Kalenderblatt über den Dächern: 3. September, und die
Uhr an einem anderen Hause zeigte: zehn Uhr vierzig. Rearden war auf dem Weg zurück zum Wayne-Falkland-
Hotel. Das Radio im Taxi spuckte schrill die Klänge einer vor Entsetzen zitternden Stimme aus, die den
Zusammenbruch von d’Anconia Copper meldete.
Rearden lehnte sich müde gegen das Polster: Die Katastrophe kam ihm wie eine längst überholte Nachricht
vor. Er fühlte nur voll Unbehagen, daß es sich nicht gehörte, im Abendanzug durch die morgendlichen Straßen
zu fahren. Er hatte kein Verlangen, aus der Welt, die er verlassen hatte, in die Welt zurückzukehren, die er im
Regen hinter den Scheiben des Taxis sah.
Er drehte den Schlüssel in der Tür seiner Hotelsuite in der Hoffnung, so schnell wie möglich wieder an einem
Schreibtisch zu sitzen und nichts um sich herum sehen zu müssen.
Er nahm alles zugleich wahr: den Frühstückstisch, die Tür zu seinem Schlafzimmer, die offenstand und den
Blick auf ein Bett freigab, in dem jemand geschlafen hatte und Lillians Stimme, die sagte: »Guten Morgen,
Henry.«
Sie saß in einem Sessel und trug dasselbe Kostüm wie am Tag davor, doch ohne Hut und Jacke. Ihre weiße
Bluse sah blitzsauber und frisch aus. Auf dem Tisch sah man Reste des Frühstücks. Sie rauchte eine Zigarette
mit der Miene und Haltung einer Frau, die lange geduldig gewacht hat.
Weil er stehen blieb, nahm sie sich die Zeit, die Beine übereinanderzuschlagen und sich bequemer
hinzusetzen, ehe sie fragte: »Willst du gar nichts sagen, Henry?«
Er stand reglos wie ein Mann in Uniform bei einer Parade, bei der man keine Gefühle zeigen darf. »Es ist an
dir, etwas zu sagen.«
»Willst du nicht versuchen, dich zu rechtfertigen?«
»Nein.«
»Willst du mich nicht erst einmal um Vergebung bitten?«
»Ich wüßte nicht, warum du mir vergeben solltest. Ich habe weiter nichts zu sagen. Du kennst die Wahrheit.
Das Weitere liegt jetzt bei dir.«
Sie lachte, streckte sich, rieb ihre Schulterblätter an der Lehne des Sessels. »Hast du nicht erwartet, daß man
dir früher oder später auf die Schliche kommen würde?« fragte sie. »Wenn ein Mann wie du über ein Jahr lang
wie ein Mönch lebt, glaubst du dann nicht, daß ich den Grund erraten müßte? Es ist recht komisch, daß dein
großer Verstand dich nicht davor bewahrt hat, dich auf eine so einfache Weise ertappen zu lassen.« Sie deutete
auf das Zimmer und den Frühstückstisch. »Ich war sicher, daß du gestern abend nicht hierher zurückkehren
würdest. Und es war nicht schwer oder kostspielig, von einem Hotelangestellten heute früh herauszubekommen,
daß du im letzten Jahr nicht eine Nacht in diesen Räumen verbracht hast.«
Er blieb stumm.
»Der Mann aus rostfreiem Stahl!« Sie lachte. »Der Mann der Leistung und Ehre, der so viel besser ist als wir
anderen alle. Ist sie eine Ballettratte oder eine Maniküre in einem vornehmen Frisiersalon, dessen Kunden
Millionäre sind?«
Er sagte noch immer nichts.
»Wer ist sie, Henry?«
»Auf diese Frage antworte ich nicht.«
»Ich möchte es aber wissen.«
»Du wirst es nicht erfahren.«
»Findest du es nicht lächerlich, daß du die Rolle eines Gentleman spielst, der den Ruf der Dame schützt –
oder überhaupt die Rolle eines Gentleman nach dem, was vorgefallen ist? Wer ist sie?«
»Ich habe dir schon gesagt, daß ich nicht antworte.«
Sie zuckte die Achseln. »Nun, es ist auch gleichgültig. Für diesen einen Zweck gibt es nur einen Typ. Ich
habe immer gewußt, daß du unter deiner asketischen Maske ein ganz gewöhnlicher Triebmensch bist, der bei
einer Frau nur die animalische Befriedigung sucht, die ich dir zu meinem Stolz nie gegeben habe. Ich wußte, daß
dein Ehrgefühl, mit dem du immer so prahlst, sich eines Tages in Nichts auflösen würde und du von dem
niedrigsten, billigsten Frauentyp angezogen würdest, wie jeder andere betrügerische Ehemann.« Sie lachte.
»Deine große Bewunderin, Miss Dagny Taggart, war wütend auf mich, weil ich nur leise andeutete, daß ihr Held
nicht so rein ist wie seine rostfreien, von nichts anzufressenden Schienen. Und sie war naiv genug, sich
einzubilden, ich könnte sie für den Typ halten, den Männer bei einer Beziehung reizvoll finden, bei der sie
bestimmt nicht nach dem Verstand fragen. Ich kannte dein wirkliches Wesen und deine wirklichen Neigungen,
nicht wahr?«
Er sagte nichts.
»Weißt du, was ich jetzt von dir denke?«
»Du hast das Recht, mich zu verurteilen, wie du willst.«
Sie lachte. »Der große Mann, der im Geschäftsleben die Schwächlinge so verachtet, die sich hochgaunern
oder auf der Strecke bleiben, weil sie es nicht mit seiner Charakterstärke oder Zielstrebigkeit aufnehmen können!
Wie denkst du jetzt darüber?«
»Meine Empfindungen brauchen dich nicht zu interessieren. Du hast das Recht zu entscheiden, was ich tun
soll. Ich werde jede deiner Forderungen erfüllen, außer der einen: sie aufzugeben.«
»Ach, das würde ich gar nicht von dir verlangen. Ich erwarte nicht von dir, daß du dein Wesen änderst. Dies
ist dein wirkliches Niveau – unter all der selbstgeschaffenen Größe eines Industrieritters, der allein durch sein
Genie aus der Gosse der Erzbergwerke zu Fingerschalen und Smoking aufgestiegen ist! Er steht dir gut, der
Smoking, mit dem du morgens um elf nach Hause kommst! Du bist nie aus den Erzbergwerken
herausgekommen, dorthin gehörst du – all ihr Selfmade-Fürsten der Registrierkasse –, in die Eckkneipe am
Samstagabend zu den Handlungsreisenden und den billigen Flittchen!«
»Möchtest du dich von mir scheiden lassen?«
»Ach, das würde dir so passen! Das wäre ein gutes Geschäft! Glaubst du, ich hätte nicht gewußt, daß du dich
schon nach dem ersten Monat unserer Ehe von mir scheiden lassen wolltest?«
»Wenn du das wußtest, warum bist du dann bei mir geblieben?«
Sie antwortete streng: »Das ist eine Frage, die du nicht mehr stellen darfst.«
»Das ist wahr«, sagte er und dachte dabei, daß es für ihre Antwort nur eine Rechtfertigung gab: ihre Liebe zu
ihm.
»Nein, ich werde mich nicht von dir scheiden lassen. Glaubst du, ich will mich durch dein Liebesverhältnis
mit einem Flittchen um mein Heim, meinen Namen, meine gesellschaftliche Stellung bringen lassen? All das,
was nicht auf einem so faulen Fundament wie deiner Treue steht, werde ich mir erhalten. Gib dich keiner
Täuschung hin: Ich werde nie in eine Scheidung einwilligen. Ob es dir paßt oder nicht, du bist verheiratet, und
du bleibst verheiratet.«
»Gut, wenn du es willst.«
»Und darüber hinaus… übrigens, warum setzt du dich nicht?«
Er blieb stehen. »Sag, bitte, was du zu sagen hast.«
»Ich werde auch in keine inoffizielle Scheidung wie eine Trennung einwilligen. Du magst dein Liebesidyll in
Untergrundbahnen und Kellern fortsetzen, wohin es gehört, aber ich erwarte, daß du vor der Welt nicht vergißt,
daß ich Mrs. Henry Rearden bin. Du hast dich stets zu einer übertriebenen Ehrlichkeit bekannt, jetzt will ich dich
zum Leben des Heuchlers, der du in Wirklichkeit bist, verurteilt sehen. Ich erwarte, daß du weiterhin in dem
Hause wohnst, das offiziell das deine ist, jetzt aber mir gehört.«
»Wie du willst.«
Sie lehnte sich lässig zurück, spreizte die Beine, und ihre Arme lagen genau parallel auf den Seitenlehnen des
Sessels – sie glich einem Richter, der sich alles erlauben kann.
»Scheidung?« sagte sie mit kaltem Lachen. »Glaubst du, so leicht davonzukommen? Glaubst du, du kannst es
mit ein paar deiner Millionen erledigen, die du mir als Alimente hinwirfst? Du bist so daran gewöhnt, dir alles,
was du willst, mit deinen Dollars kaufen zu können, und kannst es dir deshalb gar nicht vorstellen, daß es etwas
Nicht-Kommerzielles, Nicht-Verkäufliches gibt, etwas, das nichts mit Handel zu tun hat. Du kannst einfach nicht
glauben, daß es einen Menschen gibt, den Geld nicht interessiert. Du kannst dir nicht vorstellen, was das
bedeutet. Nun, ich glaube, du wirst es noch lernen. Ach ja, natürlich wirst du von jetzt an jede Forderung
erfüllen, die ich an dich stelle. Du sollst in deinem Büro sitzen, auf das du so stolz bist, in deinem kostbaren
Stahlwerk, und den Helden spielen, der achtzehn Stunden am Tage arbeitet, den Industriegiganten, von dem das
ganze Land abhängt, das Genie, das hoch über der Herde der winselnden, lügenden, betrügerischen Menschen
steht. Und dann sollst du nach Hause kommen und dem einzigen Menschen gegenübertreten, der weiß, wer du
wirklich bist, der den wahren Wert deines Wortes, deiner Ehre, deiner Rechtschaffenheit, deiner hochgerühmten
Selbstachtung kennt. Du sollst in deinem eigenen Hause dem einzigen Menschen gegenübertreten, der dich
verachtet und der das Recht dazu hat. Du sollst mich ansehen, wenn du einen neuen Hochofen baust oder eine
neue rekordbrechende Menge Stahl produzierst, wenn du Beifall und Bewunderung vernimmst, wenn du auf
dich stolz bist, wenn du dich rein fühlst, wenn du dich an deiner eigenen Größe berauschst. Du sollst mich
ansehen, wenn du von irgendeiner schändlichen Tat hörst oder dich über die menschliche Verderbtheit ärgerst
oder einen Gauner verachtest oder das Opfer einer neuen Regierungserpressung bist. Du sollst mich ansehen und
wissen, daß du nicht besser bist, daß du niemand überlegen bist, daß es nichts gibt, das zu verurteilen du ein
Recht hättest. Du sollst mich ansehen und das Schicksal des Mannes erleben, der versuchte, einen Turm in den
Himmel zu bauen, oder des Mannes, der die Sonne auf Flügeln aus Wachs erreichen wollte – oder dein eigenes,
der du vollkommen sein wolltest!«
Irgendwo außerhalb von ihm, als würde er ihn in einem fremden Gehirn lesen, verfolgte er den Gedanken, daß
in dem Plan der Bestrafung, die sie ihm zugedacht hatte, ein Fehler war, etwas, das, abgesehen von seiner
Berechtigung oder Gerechtigkeit, in sich selbst nicht stimmte, ein Fehler in der Rechnung, der, wenn er
aufgedeckt würde, alles zunichte machen mußte. Aber der Gedanke entschwand wie eine in kühler Neugier
gemachte flüchtige Feststellung, um in irgendeiner fernen Zukunft zurückzukehren. Rearden konnte sich jetzt für
nichts interessieren und auf nichts reagieren.
Sein eigenes Gehirn war wie taub von der Anstrengung, einen Rest seines Gerechtigkeitssinns gegen die Flut
des Ekels zu behaupten, die Lillian in ihm aufsteigen ließ. Er zwang sich zu der Überzeugung, daß er kein Recht
hatte, Ekel zu empfinden. Wenn sie hassenswert war, dachte er, so hatte er sie dahin gebracht; dies war ihre Art,
auf Schmerzen zu reagieren – niemand konnte einem Menschen die Art vorschreiben, wie er versuchte, Leiden
zu ertragen – niemand durfte einen Stein auf sie werfen – und schon gar nicht er, der daran schuld war. Aber er
sah kein Zeichen des Schmerzes in ihrem Verhalten. Vielleicht war ihre Niedertracht ihr einziges Mittel, den
Schmerz zu verbergen. Dann bemühte er sich nur, dem Ekel im nächsten und übernächsten Augenblick zu
widerstehen. Als sie aufhörte zu sprechen, fragte er: »Bist du fertig?«
»Ja, ich glaube.«
»Dann fährst du jetzt am besten nach Hause.«
Als er sich auszog, entdeckte er, daß seine Muskeln so schmerzten, als ob er einen ganzen Tag lang körperlich
gearbeitet hätte. Sein gestärktes Hemd war von Schweiß durchtränkt. Kein Gedanke, kein Gefühl war mehr in
ihm, nur eine Empfindung, die die Reste von beiden verband, die Empfindung, daß er sich zum größten Sieg,
den er je von sich gefordert hatte, gratulieren durfte: daß Lillian das Hotelzimmer lebend verlassen hatte.
Als Dr. Floyd Ferris Reardens Büro betrat, trug er den Ausdruck eines Mannes zur Schau, der seines Erfolges
so sicher ist, daß er sich ein wohlwollendes Lächeln leisten kann. Er sprach mit einer gelassenen, fröhlichen
Sicherheit. Rearden hatte das Gefühl, daß es die Sicherheit eines Falschspielers war, der sich mit größter Mühe
jede mögliche Variante seines Systems eingeprägt hat, und nun allem ruhig entgegensieht, weil er weiß, daß jede
Karte gezinkt ist.
»Nun, Mr. Rearden«, sagte er zur Begrüßung, »ich wußte nicht, daß selbst ein abgehärteter Sklave seiner
öffentlichen Pflichten und Schüttler berühmter Hände wie ich noch eine freudige Erregung fühlen könnte, wenn
er einem bedeutenden Mann begegnet, aber genau das fühle ich jetzt, ob Sie es nun glauben oder nicht.«
»Guten Tag«, sagte Rearden.
Dr. Ferris setzte sich und machte ein paar Bemerkungen über die Farben der Blätter im Oktober, die ihm am
Straßenrand während seiner langen Fahrt von Washington aufgefallen waren.
Er war nur gekommen, um Mr. Rearden kennenzulernen.
Rearden schwieg.
Dr. Ferris blickte aus dem Fenster und erklärte, er sei begeistert vom Anblick des Rearden-Werks, das, wie er
sagte, eine der wertvollsten Produktionsstätten im Lande sei.
»Vor anderthalb Jahren waren Sie anderer Ansicht über mein Produkt«, sagte Rearden.
Dr. Ferris runzelte die Stirn, als ob er bei dem Spiel etwas übersehen und es dadurch fast verloren hätte. Aber
dann lachte er, als hätte er den Fehler wieder gutgemacht. »Das war vor anderthalb Jahren, Mr. Rearden«, sagte
er leichthin. »Die Zeiten ändern sich und die Menschen mit ihnen. Die Weisen jedenfalls. Weisheit besteht darin
zu wissen, wann man sich erinnern und wann man vergessen muß. Das Vermeiden von Widersprüchen gehört
nicht zu den Denkgewohnheiten, die weise Menschen üben oder die sie von anderen erwarten.«
Er setzte dann zu einer langen Rede an, wie unvernünftig es sei, Widersprüche vermeiden zu wollen in einer
Welt, in der es nichts Absolutes gab außer dem Prinzip der Kompromißbereitschaft. Er sprach ernst, aber lässig,
als ob sie beide wüßten, daß dies nicht das Hauptthema ihrer Besprechung war; dennoch sprach er
seltsamerweise nicht im Ton einer Vor-, sondern einer Nachbemerkung, als wäre das Hauptthema längst erledigt.
Rearden wartete auf das erste »Meinen Sie das nicht auch?« und antwortete: »Bitte, sprechen Sie von der
dringenden Angelegenheit, derentwegen Sie diese Unterredung gewünscht haben.«
Dr. Ferris blickte ihn einen Augenblick lang verblüfft an. Dann sagte er vergnügt, als erinnerte er sich an ein
unwichtiges Thema, das man mühelos erledigen könnte: »Ach das? Das betraf die Daten der Lieferung von
Rearden Metal an das State Science Institute. Wir möchten bis zum 1. Dezember fünftausend Tonnen haben, und
wir sind gern bereit, auf die Lieferung des Rests unseres Auftrags bis nach dem 1. Januar zu warten.«
Rearden blickte ihn eine lange Weile stumm an. Mit jeder Sekunde, die verstrich, klang der heitere Tonfall
dümmlicher, in dem Dr. Ferris gesprochen hatte und der immer noch den Raum erfüllte. Als Dr. Ferris schon zu
fürchten begann, er werde überhaupt keine Antwort erhalten, sagte Rearden: »Hat Ihnen denn der
Verkehrspolizist mit den Ledergamaschen, den Sie hergeschickt hatten, nichts über sein Gespräch mit mir
berichtet?«
»Ja, natürlich, Mr. Rearden, aber…«
»Was wollen Sie sonst noch hören?«
»Aber das war vor fünf Monaten, Mr. Rearden. Inzwischen ist ein gewisses Ereignis eingetreten, das mich
ganz sicher macht, daß Sie Ihre Meinung geändert haben und daß Sie uns genauso wenig Schwierigkeiten
machen werden wie wir Ihnen.«
»Was für ein Ereignis?«
»Ein Ereignis, von dem Sie viel mehr wissen als ich – aber sehen Sie, ich weiß auch davon, obwohl es Ihnen
sicherlich lieber wäre, ich wüßte nichts.«
»Was für ein Ereignis?«
»Da es Ihr Geheimnis ist, Mr. Rearden, warum soll es nicht ein Geheimnis bleiben? Wer hat heutzutage keine
Geheimnisse? Projekt X ist zum Beispiel ein Geheimnis. Sie wissen natürlich, daß wir Ihr Metall einfach in
kleineren Mengen durch verschiedene Regierungsstellen kaufen könnten, die es dann an uns liefern würden –
und Sie könnten das nicht verhindern. Aber dann müßten wir einen Haufen lausiger Bürokraten…« Dr. Ferris
lächelte mit entwaffnender Offenheit: »O ja, wir können uns untereinander so wenig leiden wie Sie private
Bürger uns – dann müßten wir einen Haufen anderer Bürokraten in das Geheimnis von Projekt X einweihen, was
in dieser Zeit höchst unerwünscht wäre. Und jede Zeitung würde über das Vorhaben berichten – wenn wir Sie
wegen der Weigerung, einen Regierungsauftrag zu erfüllen, vor Gericht brächten. Aber wenn Sie unter einer
anderen, viel ernsteren Anklage vor Gericht ständen, die mit dem Projekt X und dem State Science Institute
nichts zu tun hat, und wobei Sie sich nicht auf irgendein Prinzip berufen oder die Sympathie der Öffentlichkeit
für sich gewinnen könnten – nun, das würde uns gar nicht stören, aber es würde Sie mehr kosten, als Ihnen lieb
wäre. Darum ist es das einzig Vernünftige für Sie, uns zu helfen, unser Geheimnis zu bewahren, und sich von
uns helfen zu lassen, das Ihre zu bewahren – und Sie begreifen bestimmt, daß es durchaus in unserer Macht steht,
jeden Bürokraten daran zu hindern Ihnen auf die Spur zu kommen.«
»Welches Ereignis, welches Geheimnis, welche Spur?«
»Na, Mr. Rearden, seien Sie doch nicht kindisch! Die viertausend Tonnen Rearden Metal natürlich, die Sie an
Ken Danagger geliefert haben«, sagte Dr. Ferris lässig.
Rearden antwortete nicht.
»Prinzipien sind so lästig«, fuhr Dr. Ferris lächelnd fort, »und eine solche Zeitverschwendung für alle
Betroffenen. Würde Ihnen daran liegen, der Märtyrer einer Prinzipienfrage zu sein, aber unter Umständen, in
denen niemand weiß, daß Sie einer sind – niemand außer Ihnen und mir –, wo Sie keinerlei Gelegenheit haben,
ein Wort über die Frage oder das Prinzip zu äußern; wo Sie kein Held sind, der Schöpfer eines
epochemachenden neuen Metalls, der seinen Feinden, deren Handlungen in den Augen der Öffentlichkeit
vielleicht ein bißchen schäbig wirken, Widerstand leistet; wo Sie kein Held sind, sondern ein gemeiner
Verbrecher, ein habgieriger Industrieller, der sich um des nackten Profits willen gegen das Gesetz vergangen hat,
ein Gangster des Schwarzen Marktes, der die zum Schutz des Gemeinwohls bestimmten Verordnungen
übertreten hat, ein Held ohne Ruhm und ohne Publikum, über den höchstens eine halbe Spalte auf der fünften
Seite einer Zeitung erscheint – würde Ihnen daran liegen, ein solcher Märtyrer zu sein? Denn es geht jetzt nur
noch um dieses: Entweder Sie liefern uns das Metall, oder Sie gehen auf zehn Jahre ins Gefängnis und nehmen
Ihren Freund Danagger mit.«
Als Biologe war Dr. Ferris immer von der Theorie fasziniert gewesen, daß Tiere die Fähigkeit hätten, Angst
zu wittern. Er hatte versucht, selbst eine ähnliche Fähigkeit zu entwickeln. Er musterte Rearden genau und kam
zu dem Schluß, daß der Mann sich längst entschlossen hatte nachzugeben, denn er entdeckte keine Spur von
Angst in seinem Gesicht. »Wer hat mich denunziert?« fragte Rearden.
»Einer Ihrer Freunde, Mr. Rearden. Der Besitzer eines Kupferbergwerks in Arizona, der uns mitgeteilt hat,
daß Sie im letzten Monat über die gewöhnliche Menge Kupfer hinaus, die für die Ihnen gesetzlich erlaubte
Monatsproduktion von Rearden Metal nötig ist, zusätzlich Kupfer gekauft haben. Kupfer ist einer der
Bestandteile von Rearden Metal, nicht wahr? Weiter brauchten wir nichts zu wissen. Das übrige war leicht
herauszubekommen. Sie dürfen den Grubenbesitzer nicht zu sehr tadeln. Die Kupferproduzenten stehen, wie Sie
wissen, jetzt so sehr unter Druck, daß der Mann etwas Wertvolles bieten mußte, um eine Vergünstigung zu
erlangen, eine Anerkennung des Notstands, wodurch einige Verordnungen in seinem Fall aufgehoben wurden
und er eine kleine Atempause bekam. Die Person, der er diese Information gab, wußte, für wen sie am
wertvollsten sein würde, und so gab sie sie mir als Gegenleistung für gewisse Vergünstigungen, die sie brauchte.
Daher habe ich den notwendigen Beweis ebenso wie die nächsten zehn Jahre Ihres Lebens in meiner Hand – und
ich biete Ihnen einen Handel an. Ich bin sicher, Sie werden keine Einwände dagegen erheben, da Handel Ihre
Spezialität is t. Die Form ist vielleicht ein bißchen anders als in Ihrer Jugend – aber Sie sind ein geschickter
Kaufmann. Sie haben es immer verstanden, aus der Änderung der Verhältnisse Vorteil zu ziehen, und dies sind
die Verhältnisse unserer Zeit, daher dürfte es Ihnen nicht schwerfallen zu erkennen, wo Ihre Interessen liegen,
und dementsprechend zu handeln.« Rearden sagte ruhig: »In meiner Jugend nannte man das Erpressung.« Dr.
Ferris grinste. »Das ist es auch, Mr. Rearden. Wir leben heute in einem realistischen Zeitalter.«
Aber es gab einen besonderen Unterschied, dachte Rearden, zwischen der Methode eines gewöhnlichen
Erpressers und der von Dr. Ferris. Ein gewöhnlicher Erpresser würde zeigen, daß er sich an dem Vergehen seines
Opfers weidete und wußte, wie schwer es wog. Er würde seinem Opfer versteckt drohen und andeuten, daß es
eine Gefahr für sie beide war. Aber Dr. Ferris deutete nichts davon an. Er tat so, als wäre es etwas ganz
Normales und Natürliches und ohne jede Gefahr. Er verurteilte nicht, sondern zeigte sich gleichsam als
Kamerad, er bewies eine Kameradschaft, deren Grundlage für beide die Selbstverachtung war. Rearden beugte
sich plötzlich in einer Haltung gespannter Aufmerksamkeit vor, weil er das Gefühl hatte, der Entdeckung eines
weiteren Schrittes auf seinem Wege nahe zu sein, den er nur verschwommen gesehen hatte.
Dr. Ferris, der Reardens interessierten Blick sah, lächelte und beglückwünschte sich dazu, die richtige Karte
ausgespielt zu haben. Das Spiel war ihm jetzt klar. Die gezinkten Karten fielen in der richtigen Reihenfolge.
Manche Menschen, dachte Dr. Ferris, waren zu allem bereit, solange man es nicht mit Namen nannte. Aber
dieser Mann wünschte Offenheit. Er war der zähe Realist, den er zu finden erwartet hatte.
»Sie sind ein vernünftiger Mensch, Mr. Rearden«, sagte Dr. Ferris liebenswürdig. »Ich kann nicht verstehen,
warum Sie hinter der Zeit zurückbleiben möchten. Warum passen Sie sich nicht an und spielen mit? Sie sind
klüger als die meisten Leute. Sie sind für uns wertvoll, und wir wollen Sie schon seit langem haben, und als ich
hörte, daß Sie versuchten, mit Jim Taggart gemeinsame Sache zu machen, wußte ich, daß Sie zu haben waren.
Aber kümmern Sie sich nicht um Jim Taggart. Er ist eine Null, ein Schmutzfänger. Spielen Sie das große Spiel!
Wir können Sie gebrauchen, und Sie können uns gebrauchen. Wollen Sie, daß wir uns Orren Boyle mal
vorknöpfen? Er hat Ihnen sehr geschadet. Sollen wir ihn ein wenig zurechtstutzen? Das kann geschehen. Sollen
wir dafür sorgen, daß Ken Danagger spurt? Wie unpraktisch sind Sie doch da vorgegangen! Ich weiß, warum Sie
ihm das Metall verkauft haben – Sie brauchten seine Kohlen. Und so riskieren Sie es, ins Gefängnis zu gehen
und eine hohe Geldstrafe zu zahlen, nur um mit Ken Danagger gut zu stehen. Nennen Sie das ein gutes
Geschäft? Arbeiten Sie mit uns, und geben Sie Mr. Danagger zu verstehen, daß er, wenn er sich nicht fügt, ins
Gefängnis gehen wird, nicht aber Sie, denn Sie haben Freunde, die er nicht hat – und Sie werden sich fortan
keine Sorgen mehr um die Kohlenlieferungen machen müssen. Das ist die moderne Art, Geschäfte zu machen.
Fragen Sie sich selbst, was praktischer ist. Und was immer man über Sie gesagt haben mag, niemand hat je
bestritten, daß Sie ein großer Geschäftsmann und ein hartgesottener Realist sind.«
»Ja, das bin ich«, sagte Rearden.
»Das habe ich mir doch gedacht«, sagte Dr. Ferris. »Sie haben sich in einer Zeit, in der die meisten pleite
gehen, Reichtümer erworben. Es ist Ihnen stets gelungen, jedes Hindernis aus dem Weg zu räumen, Ihr Werk in
Gang zu halten und Geld zu machen – dafür sind Sie berühmt… und da wollen Sie doch jetzt nicht unvernünftig
sein? Wozu? Die Hauptsache ist doch, Sie machen Geld. Lassen Sie die Theorien Leuten wie Bertram Scudder
und die Ideale Leuten wie Ba lph Eubank, und seien Sie Sie selbst! Kommen Sie auf die Erde herunter. Sie sind
nicht der Mann, der dem Gefühl erlaubt, das Geschäft zu stören.«
»Nein«, sagte Rearden leise. »Das würde ich nicht erlauben. Keiner Art von Gefühl.«
Dr. Ferris lächelte. »Glauben Sie, wir wüßten das nicht?« sagte er in einem Ton, der verriet, daß er seine
Maske lackierter Redlichkeit abwarf, um einem Verbrechergenossen dadurch zu imponieren, daß er ihm zeigte,
wieviel cleverer er war. »Wir haben lange darauf gewartet, etwas gegen Sie in die Hand zu bekommen. Ihr
ehrlichen Männer seid so ein Problem und macht uns viele Kopfschmerzen. Aber wir wußten, Sie würden früher
oder später einen Fehltritt tun – und gerade das wünschten wir uns.«
»Sie scheinen sich darüber zu freuen.«
»Habe ich nicht allen Grund dazu?«
»Ich habe mich schließlich gegen eines Ihrer Gesetze vergangen.«
»Wozu haben wir die wohl?«
Dr. Ferris bemerkte nicht Reardens plötzlich verändertes Gesicht, das Gesicht eines Menschen, der zum ersten
Mal sieht, was zu sehen er sich lange bemüht hat. Dr. Ferris sah überhaupt nichts mehr. Er war nur darauf aus,
einem Tier, das in die Falle getappt war, das Fell über die Ohren zu ziehen.
»Glauben Sie wirklich, es sei unser Wunsch, daß die Gesetze befolgt werden?« sagte Dr. Ferris . »Wir wollen,
daß man sich gegen sie vergeht. Sie sollten lieber begreifen, daß Sie es nicht mit einer Pfadfindergruppe zu tun
haben – dann werden Sie nämlich wissen, daß dies keine Zeit für schöne Gesten ist. Wir wollen die Macht,
weiter nichts. Ihr Burschen seid kleine Fische, aber wir kennen den wirklichen Trick, und das sollten Sie
kapieren. Unschuldige Menschen kann man nicht regieren. Die einzige Macht jeder Regierung ist die Macht,
gegen Verbrecher vorzugehen. Wenn es nicht genug Verbrecher gibt, dann macht man sie. Man stempelt so
vieles zum Verbrechen, daß die Menschen nicht leben können, ohne Gesetze zu übertreten. Wer wünscht eine
Nation von gesetzestreuen Bürgern? Wem nützt das etwas? Aber man erlasse einfach Gesetze, die weder befolgt
noch durchgesetzt noch objektiv ausgelegt werden können, und schon schafft man eine Nation von
Gesetzesbrechern, und dann läßt man sich die Schuld bar bezahlen. Das ist das System, Mr. Rearden, das ist das
Spiel, und wenn es Ihnen erst einmal klargeworden ist, dann werden wir es viel leichter mit Ihnen haben.«
Rearden, der sah, wie Dr. Ferris ihn beobachtete, nahm ein jähes Zucken der Angst in seinem Gesicht wahr,
den Blick, der der Panik vorausgeht, als ob aus einem Spiel, das Ferris noch nie zuvor gesehen hatte, eine nicht
gezinkte Karte auf den Tisch gefallen wäre.
Dr. Ferris sah in Reardens Gesicht die strahlende Heiterkeit, die einen erfüllt, wenn man plötzlich die Antwort
auf eine Frage findet, mit der man sich schon lange abgequält hat. Es war ein entspannter und zugleich wacher
Blick. Reardens Augen blitzten jugendlich rein, und sein Mund verzog sich in einer leisen Andeutung von
Verachtung. Was immer dies bedeutete – und Dr. Ferris konnte es nicht entziffern –, des einen war er gewiß: Das
Gesicht verriet keine Schuld.
»In Ihrem System ist ein Fehler, Dr. Ferris«, sagte Rearden ruhig, fast fröhlich, »ein praktischer Fehler, den
Sie entdecken werden, wenn Sie mich vor Gericht bringen, weil ich viertausend Tonnen Rearden Metal an Ken
Danagger verkauft habe.«
Es dauerte zwanzig Sekunden – Rearden fühlte, wie sie langsam verstrichen –, bis Dr. Ferris erkannte, daß er
Reardens endgültige Entscheidung gehört hatte.
»Glauben Sie, wir bluffen?« sagte Dr. Ferris bissig. Seine Stimme klang plötzlich wie die der Tiere, die er so
gründlich studiert hatte: Es war, als fletschte er die Zähne.
»Ich weiß nicht«, sagte Rearden. »Es interessiert mich auch gar nicht.«
»Wollen Sie so lebensfern sein?«
»Die Bewertung einer Handlung als ‘lebensfern’, Dr. Ferris, hängt davon ab, was man unter Leben versteht.«
»Haben Sie nicht immer Ihr eigenes Interesse über alles andere gestellt?«
»Das tue ich auch jetzt.«
»Wenn Sie glauben, wir lassen Ihnen das durchgehen, daß Sie…«
»Würden Sie jetzt bitte dieses Zimmer verlassen?«
»Wen glauben Sie zum Narren halten zu können?« Dr. Ferris schrie jetzt beinahe. »Die Zeit der
Industriebarone ist vorüber. Sie haben die Ware, aber wir haben Sie in der Hand. Entweder Sie fügen sich
unseren Wünschen, oder Sie werden…«
Rearden hatte auf einen Knopf gedrückt. Miss Ives kam herein.
»Dr. Ferris ist ein bißchen verwirrt und weiß nicht mehr, wo er hin soll, Miss Ives« sagte Rearden. »Würden
Sie ihn hinausbegleiten?« Er wandte sich an Ferris. »Miss Ives ist eine Frau, die etwa hundert Pfund wiegt, und
sie hat keinerlei lebensnahe Qualifikationen, nur eine überragende Intelligenz. Sie würde sich nie als
Rausschmeißer für eine Kneipe eignen, sondern nur für eine lebensferne Stätte wie eine Fabrik.«
Miss Ives machte ein Gesicht, als erfüllte sie eine Pflicht, die nicht mehr Gefühl beanspruchte als das
Aufnehmen eines Diktats von Rechnungen. In einer förmlich kühlen, starren Haltung hielt sie die Tür auf, ließ
Dr. Ferris das Zimmer durchqueren, ging dann als erste hinaus, und Dr. Ferris folgte ihr. Ein paar Minuten später
erschien sie wieder und konnte sich vor Lachen nicht halten.
»Mr. Rearden«, fragte sie und lachte über ihre Angst um ihn, über die Gefahr, in der sie schwebten, über alles
außer dem Triumph des Augenblicks, »was machen Sie da?«
Er saß in einer Haltung, die er sich nie zuvor gestattet hatte, einer Haltung, die er immer als ordinärstes
Symbol des Geschäftsmanns gehaßt hatte – er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Beine auf den
Schreibtisch, aber ihr erschien diese Haltung besonders edel; es war nicht die Haltung eines aufgeblasenen
Managers, sondern die eines jungen Kreuzfahrers.
»Ich glaube, ich habe einen neuen Erdteil entdeckt, Gwen«, antwortete er vergnügt, »einen Erdteil, den man
gleichzeitig mit Amerika hätte entdecken müssen, aber nicht entdeckt hat.«

»Ich muß gerade mit Ihnen darüber sprechen«, sagte Eddie Willers und blickte den Arbeiter an, der ihm am
Tisch gegenüber saß. »Ich weiß nicht, warum es mir hilft, aber es hilft mir schon zu wissen, daß Sie mir
zuhören.« Es war schon spät, und in der unterirdischen Kantine brannten nur noch wenige Lampen, aber Eddie
Willers sah trotzdem, daß die Augen des Arbeiters ihn gespannt musterten.
»Es ist mir, als ob… als ob es keine Menschen und keine menschliche Sprache mehr gäbe«, sagte Eddie
Willers. »Ich habe das Gefühl, ich könnte mitten auf der Straße schreien und niemand würde mich hören… Nein,
das ist nicht ganz das, was ich empfinde: Ich habe das Gefühl, daß wirklich jemand mitten auf der Straße schreit,
aber die Menschen gehen vorüber, und kein Laut vermag sie zu erreichen – und weder Hank Rearden, noch Ken
Danagger, noch ich schreien, und dennoch scheinen wir alle drei zu schreien… Meinen Sie nicht auch, daß sich
jemand hätte erheben müssen, um sie zu verteidigen? Aber niemand hat es getan oder wird es tun. Rearden und
Danagger sind heute morgen angeklagt worden – wegen illegalen Verkaufs von Rearden Metal. Im nächsten
Monat wird ihnen der Prozeß gemacht. Ich war dabei im Gerichtssaal in Philadelphia, als man ihnen die
Anklageschrift vorlas. Rearden war sehr ruhig – mir kam es fast vor, als ob er lächelte, aber er lächelte nicht.
Danagger war geradezu unheimlich ruhig. Er sagte nicht ein Wort, er stand dort so, als wäre der Raum leer…
Die Zeitungen schreiben, daß beide ins Zuchthaus gehören. – Nein, nein, nein, ich zittere nicht. Ich bin okay…
ich bin gleich wieder okay. Darum habe ich kein Wort zu ihr darüber gesagt. Ich fürchtete, ich würde
explodieren, und ich wollte es ihr nicht noch schwerer machen. Ich weiß, was sie empfindet… Ach ja, sie sprach
mit mir darüber, und sie zitterte nicht, aber es war noch schlimmer – wissen Sie, jene Art von Starrheit, wenn ein
Mensch überhaupt nichts zu fühlen scheint und… Habe ich Ihnen übrigens schon mal gesagt, daß ich Sie gern
mag? Ich mag Sie sehr gern – um des Gesichts willen, das Sie jetzt machen. Sie hören zu. Sie verstehen. – Was
sie gesagt hat? Es ist seltsam: Sie hat keine Angst um Hank Rearden, sondern um Ken Danagger. Sie sagte,
Rearden werde die Kraft haben, damit fertig zu werden, aber Danagger nicht. Nicht, daß es ihm an Kraft fehlt,
aber er werde sich weigern, sie anzuwenden. Sie… ist sich sicher, daß Ken Danagger der Nächste sein wird, der
geht. Der so geht wie Ellis Wyatt und all die anderen. Der alles aufgibt und verschwindet. – Warum? Nun, sie
glaubt, es gehe dabei um eine Verlagerung des Gewichts – des wirtschaftlichen und persönlichen Gewichts.
Sobald sich alles Gewicht des Augenblicks auf die Schultern eines einzelnen verlagert – verschwindet gerade
dieser Mann wie eine weggerissene Säule. Noch vor einem Jahr hätte dem Lande nichts Schlimmeres geschehen
können, als Ellis Wyatt zu verlieren. Wir haben ihn verloren. Seitdem, sagt sie, ist es gewesen, als würde der
Schwerpunkt hin- und herschwanken. Wie in einem sinkenden Frachter, den man nicht mehr in der Gewalt hat.
Als ob er sich von Wirtschaftszweig zu Wirtschaftszweig, von Mann zu Mann verlagern würde. Wenn wir einen
verlieren, wird ein anderer desto dringender gebraucht. Und den verlieren wir dann als nächsten. Was könnte
jetzt eine größere Katastrophe sein, als daß Boyle oder Larkin allein die Kohlenvorräte im Land in der Hand
hätten? Und in der ganzen Kohlenindustrie taugt außer Ken Danagger niemand mehr etwas. Und darum, sagte
sie, ist es ihr fast, als wäre er ein gezeichneter Mann, als würde er im Scheinwerferlicht sitzen und darauf warten,
geholt zu werden… Warum lachen Sie darüber? Es klingt vielleicht komisch, aber ich glaube, es stimmt. – Was?
– O ja, sie ist bestimmt eine kluge Frau! Und dann geht es dabei noch um etwas anderes, sagt sie. Ein Mann muß
eine bestimmte Seelenverfassung erreichen – nicht Wut oder Verzweiflung, sondern etwas, das viel, viel mehr
als beides ist –, bevor man ihn holen kann. Sie kann nicht sagen, was es ist, aber sie wußte schon lange vor dem
Brand, daß Ellis Wyatt dieses Stadium erreicht hatte und etwas mit ihm geschehen würde. Als sie Ken Danagger
heute im Gerichtssaal sah, sagte sie, er sei reif für den Zerstörer. – Ja, diese Worte hat sie gebraucht: Er sei reif
für den Zerstörer. Wissen Sie, sie glaubt nicht, daß es durch Zufall oder Unfall geschieht. Sie glaubt, es steckt
ein System dahinter, eine Absicht, ein Mann. Ein Zerstörer geht im Lande um, der die Stützpfeiler einen nach
dem anderen wegreißt, damit der ganze Bau über unseren Köpfen zusammenbricht. Irgendein erbarmungsloses
Geschöpf, das von einem unvorstellbaren Beweggrund angetrieben wird. Sie sagt, sie werde es nicht zulassen,
daß Ken Danagger ihm zur Beute fällt. Sie sagt immer wieder, sie müsse Danagger festhalten – sie will mit ihm
sprechen, ihn bitten, ihn anflehen, ihm zu Bewußtsein bringen, was er im Begriff ist zu verlieren, um ihn gegen
den Zerstörer zu wappnen, bevor der Zerstörer erscheint. Sie brennt darauf, als erste zu ihm zu kommen. Er hat
es abgelehnt, je mand zu empfangen. Er ist nach Pittsburgh zu seinen Gruben zurückgefahren. Aber sie hat ihn
heute abend telefonisch erreicht, und sie hat sich für morgen nachmittag mit ihm verabredet. – Ja, sie wird
morgen nach Pittsburgh fahren. – Ja, sie hat Angst um Danagger, eine entsetzliche Angst. – Nein, sie weiß nichts
über den Zerstörer. Sie hat keine Ahnung, wer er ist, keinen Beweis für seine Existenz außer der Fährte der
Zerstörung, die er hinterläßt. Aber sie ist fest davon überzeugt, daß er existiert. – Nein, sie kann seinen
Beweggrund nicht erraten. Sie sagt, nichts in der Welt könne ihn rechtfertigen. Manchmal hat sie das Gefühl, ihn
zu finden, sei ihr wichtiger als alles andere auf der Welt, sogar wichtiger, als den Erfinder des Motors zu finden.
Sie sagt, wenn sie den Zerstörer finden würde, würde sie ihn sofort niederschießen – sie würde ihr Leben
hingeben, wenn sie ihm vorher seines nehmen könnte. Denn er ist das böseste Geschöpf, das je gelebt hat, der
Mann, der der Welt den Verstand raubt. Ich glaube, manchmal wird es zuviel für sie – selbst für einen Menschen
mit ihrer Kraft. Ich glaube, sie will sich gar nicht eingestehen, wie erschöpft sie ist. Als ich neulich sehr früh
morgens zur Arbeit kam, fand ich sie schlafend auf der Couch in ihrem Büro, und auf ihrem Schreibtisch brannte
noch die Lampe. Sie war die ganze Nacht dort gewesen. Ich betrachtete sie nur stumm. Ich hätte sie nicht
geweckt, und wenn die ganze verfluchte Eisenbahn zusammengebrochen wäre. – Wie sie im Schlaf aussah? Wie
ein junges Mädchen. Sie sah aus, als wäre sie gewiß, in einer Welt zu erwachen, in der niemand ihr Leid zufügt,
als ob sie nichts zu verbergen oder zu fürchten hätte. Das war furchtbar – diese unschuldige Reinheit ihres
Gesichts und der von Erschöpfung verkrampfte Körper, der noch so dalag, wie sie zusammengebrochen war. Sie
sah aus… Sagen Sie, warum wollen Sie eigentlich wissen, wie sie im Schlaf aussah? – Ja, Sie haben recht.
Warum rede ich überhaupt davon? Ich sollte es nicht tun. Ich weiß nicht, wieso ich darauf gekommen bin…
Beachten Sie mich nicht. Morgen bin ich wieder okay. Ich glaube, es kommt nur von dem Schock, den ich im
Gerichtssaal erlebt habe. Ich muß immerzu denken: Wenn Männer wie Rearden und Danagger ins Gefängnis
gesteckt werden, in was für einer Welt und wozu arbeiten wir dann? Gibt es gar keine Gerechtigkeit mehr in der
Welt? Ich war so töricht, das zu einem Reporter zu sagen, als wir den Gerichtssaal verließen, und er lachte nur
und antwortete: Wer ist John Galt? – Sagen Sie mir, was ist mit uns los? Gibt es keinen einzigen anständigen
Menschen mehr? Gibt es keinen, der sie verteidigt? Ich frage Sie: Gibt es keinen, der sie verteidigt?«
»Mr. Danagger ist gleich frei, Miss Taggart. Er hat einen Besucher in seinem Büro, Entschuldigen Sie bitte!«
sagte die Sekretärin.
Während der zwei Stunden ihres Fluges nach Pittsburgh hatte Dagny ihre Angst weder rechtfertigen noch
verscheuchen können. Es gab keinen Grund, die Minuten zu zählen, dennoch hatte sie das Gefühl, sie käme nicht
schnell genug an ihr Ziel. Die Angst fiel von ihr ab, als sie das Vorzimmer von Danaggers Büro betrat: Sie hatte
ihn erreicht; nichts war geschehen, das sie daran gehindert hätte; sie fühlte sich geborgen, zuversichtlich und
ungeheuer erleichtert.
Aber die Worte der Sekretärin machten das alles zunichte. Du wirst ein Feigling, dachte Dagny und empfand
einen grundlosen Schrecken, der in gar keinem Verhältnis zum Sinn dieser Worte stand.
»Ich bedaure es sehr, Miss Taggart.«
Sie hörte die respektvolle, besorgte Stimme der Sekretärin und bemerkte, daß sie, ohne zu antworten, stehen
geblieben war.
»Mr. Danagger wird sofort frei sein. Wollen Sie sich nicht setzen?« Man hörte dem Klang der Stimme an, wie
unangenehm es der Sekretärin war, sie warten zu lassen.
Dagny lächelte. »Ach, das macht doch nichts.«
Sie setzte sich auf einen Holzsessel vor der Abtrennung, hinter der die Sekretärin saß, nahm sich eine
Zigarette, überlegte einen Augenblick, ob sie überhaupt die Zeit haben würde, sie zu Ende zu rauchen, hoffte,
daß sie sie nicht haben würde, und zündete sie dann kurz entschlossen an.
Es war ein altmodisches Haus, das Verwaltungsgebäude der großen Danagger Coal Company. Irgendwo in
den Bergen hinter dem Fenster waren die Gruben, in denen Ken Danagger einst als Bergmann gearbeitet hatte.
Sie konnte die in die Berghänge eingehauenen Eingänge zu den Schächten sehen, kleine Metallgerüste, die in
ein gewaltiges unterirdisches Königreich führten. Sie wirkten äußerst bescheiden, verloren in dem leuchtenden
Orange und Rot der Berge… Unter einem grellblauen Himmel in der Oktobersonne erinnerte das Meer der
Blätter an ein Feuermeer… wie Wogen, die heranrollten, um die zerbrechlichen Pfosten der Schachteingänge zu
verschlucken. Ihr schauderte, und sie blickte weg: Sie dachte an die leuchtenden Blätter, die die Hügel von
Wisconsin bedeckten.
Sie bemerkte, daß sie nur noch einen Stummel der Zigarette zwischen den Fingern hielt, und zündete sich eine
neue an.
Als sie auf die Uhr an der Wand des Vorzimmers blickte, sah sie, daß die Sekretärin ebenfalls dorthin blickte.
Sie war für drei Uhr verabredet gewesen. Es war jetzt zwölf Minuten nach drei.
»Bitte verzeihen Sie, Miss Taggart«, sagte die Sekretärin, »Mr. Danagger wird Ihnen gleich zur Verfügung
stehen. Mr. Danagger hält seine Verabredungen immer pünktlich ein. Bitte glauben Sie mir, daß er noch nie
einen Besucher hat warten lassen.«
»Ich weiß es.« Sie wußte, daß Ken Danagger seinen Tagesplan so streng einhielt, als wäre es ein Fahrplan,
und daß er dafür bekannt war, eine Unterredung zu streichen, wenn ein Besucher sich erlaubte, fünf Minuten zu
spät zu kommen.
Die Sekretärin war ein alte Jungfer mit einer unnahbaren, gleichbleibenden Höflichkeit, der nichts etwas
anhaben konnte, so wenig wie ihrer fleckenlosen weißen Bluse die mit Kohlenstaub gefüllte Luft etwas anhaben
konnte. Dagny fand es seltsam, daß eine erfahrene, gut geschulte Frau dieses Typs Anzeichen von Nervosität
zeigte: Sie war zu keinem Gespräch bereit, sie saß still über einige Blätter auf ihrem Schreibtisch gebeugt. Die
Hälfte von Dagnys Zigarette war in Rauch aufgegangen, und die Sekretärin starrte immer noch auf die gleiche
Seite.
Als sie den Kopf hob, um auf die Uhr zu blicken, war es halb vier.
»Ich weiß, daß es unentschuldbar ist, Miss Taggart.« In ihrer Stimme war jetzt deutlich ein beklommener Ton
zu hören. »Ich kann das einfach nicht verstehen.«
»Würden Sie so freundlich sein und Mr. Danagger sagen, daß ich hier bin?«
»Das kann ich nicht.« Es klang fast wie ein Schrei. Sie sah Dagnys überraschten Blick und fühlte sich
verpflichtet zu erklären: »Mr. Danagger hat mich angerufen und mir gesagt, er wolle unter keinen Umständen
gestört werden.«
»Wann hat er das gesagt?«
Die Sekretärin schwieg einen Augenblick lang, wie um den Schock zu mildern. Dann sagte sie: »Vor zwei
Stunden.«
Dagny blickte auf die geschlossene Tür von Danaggers Büro. Sie hörte eine Stimme hinter der Tür, aber so
undeutlich, daß sie nicht sagen konnte, ob dort einer oder zwei sprachen. Sie konnte die Worte nicht verstehen,
und auch der Ton verriet ihr nichts. Es war nur eine leise stete Folge von Lauten, die ganz normal klangen und
nicht auf ein erregtes Gespräch hindeuteten. »Wie lange dauert die Besprechung schon?« fragte sie.
»Seit ein Uhr«, sagte die Sekretärin grimmig. Dann fügte sie entschuldigend hinzu: »Es ist ein
unangemeldeter Besucher, sonst hätte Mr. Danagger sich dies nie erlaubt.«
Die Tür ist nicht abgeschlossen, dachte Dagny. Sie verspürte das kindische Verlangen, sie aufzureißen und
hineinzugehen – es waren nur in paar Holzbretter mit einer Messingklinke, ihre Armmuskeln brauchten sich nur
ein wenig zusammenzuziehen –, aber sie blickte weg, weil sie wußte, daß die Macht einer zivilisierten Ordnung
und Ken Danaggers Recht eine unüberwindlichere Schranke waren als ein Schloß. Sie bemerkte, daß sie auf ihre
Zigarettenstummel in dem Aschenbecher neben sich starrte, und fragte sich, warum sie bei diesem Anblick eine
noch stärkere Beklemmung empfand. Dann begriff sie, daß sie an Hugh Akston dachte: Sie hatte ihm an seinen
Diner in Wyoming geschrieben und ihn gebeten, ihr mitzuteilen, woher er die Zigarette mit dem Dollarzeichen
hatte; der Brief war zurückgekommen mit dem postalischen Vermerk, Hugh Akston sei ohne Hinterlassung einer
neuen Adresse verzogen.
Sie sagte sich ärgerlich, daß dies nichts mit dem jetzigen Augenblick zu tun hatte und daß sie ihre Nerven in
Zaum halten mußte. Aber schon streckte sie die Hand aus, um auf den Knopf des Aschenbechers zu drücken,
damit die Zigarettenstummel in ihm verschwanden. Als sie aufblickte, begegneten ihre Augen denen der
Sekretärin, die sie beobachtete.
»Es tut mir unendlich leid, Miss Taggart. Aber ich weiß nicht, was ich machen soll.« Es war eine offene,
verzweifelte Entschuldigung. »Ich wage nicht, das Gespräch zu unterbrechen.«
In einem fordernden Ton, der der Büroetikette trotzte, fragte Dagny: »Wer ist bei Mr. Danagger?«
»Ich weiß es nicht, Miss Taggart. Ich habe den Herrn noch nie zuvor gesehen.«
Sie bemerkte den plötzlich starren Blick in Dagnys Augen und fügte hinzu: »Ich glaube, er ist ein
Jugendfreund von Mr. Danagger.«
»Ach«, sagte Dagny erleichtert.
»Er kam unangemeldet, verlangte Mr. Danagger zu sprechen und sagte, dies sei eine Verabredung, die er
schon vor vierzig Jahren mit Mr. Danagger getroffen habe.«
»Wie alt ist Mr. Danagger?«
»Zweiundfünfzig«, sagte die Sekretärin und setzte nachdenklich und wie nebenbei hinzu: »Mr. Danagger hat
mit zwölf Jahren zu arbeiten begonnen.« Und nach einer Weile sagte sie dann: »Das Seltsame ist, daß der
Besucher nicht einmal wie vierzig aussieht. Er scheint ein Mann in den Dreißigern zu sein.«
»Hat er seinen Namen genannt?«
»Nein.«
»Wie sieht er aus?«
Die Sekretärin lächelte plötzlich, als wäre sie nahe daran, ein begeistertes Kompliment zu äußern, aber das
Lächeln verschwand jäh. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie stockend. »Er ist schwer zu beschreiben, er hat ein
merkwürdiges Gesicht.«
Sie hatten lange geschwiegen, und auf der Uhr war es fast zehn vor vier, als der Summer auf dem Schreibtisch
der Sekretärin ertönte – als Zeichen für die Erlaubnis einzutreten.
Die beiden sprangen auf, und die Sekretärin eilte erleichtert lächelnd auf die Tür zu, um sie zu öffnen. Als
Dagny Danaggers Büro betrat, sah sie, wie sich eine andere Tür hinter dem Besucher schloß, der vor ihr bei
Danagger gewesen war. Sie hörte, wie die Tür ins Schloß fiel und die Glasscheibe leise klirrte.
Sie sah den Mann in dem Widerschein, den er in Ken Danaggers Gesicht zurückgelassen hatte. Es war nicht
das Gesicht, das sie im Gerichtssaal gesehen hatte. Es war nicht das harte, gefühllose Gesicht, das sie seit Jahren
kannte. Es war ein Gesicht, das ein junger Mann von zwanzig erhoffen, aber nicht erreichen konnte, ein Gesicht,
aus dem jede Spur von Anspannung geschwunden war, so daß die gefurchten Wangen, die faltige Stirn, das
ergrauende Haar – wie die Elemente eines neu arrangierten Musikstücks – eine Komposition aus Hoffnung, Eifer
und unschuldiger Heiterkeit bildeten: Das Arrangement hieß Erlösung.
Er stand nicht auf, als sie eintrat. Er sah aus, als wäre er noch nicht ganz in die Wirklichkeit zurückgekehrt
und hätte vergessen, wie man sich zu benehmen hat. Aber er lächelte sie mit einem solchen Wohlwollen an, daß
sie das Lächeln unwillkürlich erwiderte. Sie dachte, so sollten alle Menschen einander begrüßen – und sie verlor
ihre Angst und war plötzlich sicher, daß alles gut war und daß es nichts geben konnte, vor dem man sich
fürchten mußte.
»Guten Tag, Miss Taggart«, sagte er. »Verzeihen Sie mir, ich glaube, ich habe Sie warten lassen. Bitte,
nehmen Sie Platz.« Er deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
»Es hat mir nichts ausgemacht zu warten«, sagte sie. »Ich bin dankbar, daß Sie mir diese Unterredung
gewährt haben. Es lag mir sehr daran, Sie in einer äußerst dringenden Angelegenheit zu sprechen.«
Er beugte sich mit einem Blic k aufmerksamer Konzentration über den Schreibtisch vor, wie er es immer tat,
wenn von einer wichtigen geschäftlichen Angelegenheit die Rede war. Aber sie sprach nicht mit dem Mann, den
sie kannte. Dies war ein Fremder, und sie hielt inne, weil sie nicht wußte, ob sie die Argumente, die sie sich
zurechtgelegt hatte, noch würde verwenden können.
Er sah sie stumm an, dann sagte er: »Miss Taggart, es ist so ein schöner Tag – vielleicht der letzte in diesem
Jahr… Es gibt etwas, das ich immer tun wollte und wozu ich nie Zeit hatte. Lassen Sie uns zusammen nach New
York zurückfahren und mit einem dieser Ausflugsboote um Manhattan schippern! Werfen wir einen letzten
Blick auf die großartigste Stadt der Welt!«
Sie saß still und versuchte, auf einen Punkt zu starren, weil sie das Gefühl hatte, daß alles rings urn sie
schwankte. Dies war der Ken Danagger, der nie einen Freund gehabt, nie geheiratet, nie ein Theater oder ein
Kino besucht, nie jemand die Ungehörigkeit gestattet hatte, seine Zeit für etwas anderes als Geschäfte in
Anspruch zu nehmen.
»Mr. Danagger, ich bin hergekommen, um mit Ihnen über eine Sache zu sprechen, die von größter Bedeutung
für die Zukunft Ihrer und meiner Firma ist. Ich bin gekommen, um mit Ihnen über die gegen Sie erhobene
Anklage zu sprechen.«
»Ach, darüber? Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Das spielt keine Rolle. Ich werde mich vom
Geschäft zurückziehen.«
Sie saß wie betäubt da und fragte sich, ob einem so zumute war, wenn ein Todesurteil ausgesprochen wurde,
das man gefürchtet, aber nie ganz für möglich gehalten hatte.
Ihre erste Bewegung war, daß sie unvermittelt mit dem Kopf auf die andere Tür deutete. Leise, mit
haßverzerrtem Mund, fragte sie: »Wer war er?«
Danagger lachte. »Wenn Sie das erraten haben, dann müßten Sie auch wissen, daß es eine Frage ist, die ich
nicht beantworten werde.«
»Ach Gott, Ken Danagger!« stöhnte sie. Ihre Worte machten ihr bewußt, daß sich die Barriere der
Hoffnungslosigkeit, des Schweigens, der unbeantworteten Fragen schon zwischen ihnen erhob; der Haß war nur
ein dünner Draht gewesen, an den sie sich einen Augenblick lang geklammert hatte, und jetzt, da er riß, verlor
sie jeden Halt.
»Sie irren sich, Kind«, sagte er freundlich. »Ich weiß, was Sie fühlen, aber Sie irren sich.« Dann fügte er
förmlicher, als ob er sich des richtigen Verhaltens erinnerte, als ob er immer noch selber versuchte, das
Gleichgewicht zwischen zwei Arten der Wirklichkeit herzustellen, hinzu: »Es tut mir leid, Miss Taggart, daß Sie
so bald danach kommen mußten.«
»Ich bin zu spät gekommen«, sagte sie. »Ich kam, um gerade das zu verhindern. Ich wußte, daß es geschehen
würde.«
»Wieso?«
»Ich war davon überzeugt, daß er, wer er auch sein mag, Sie als nächsten holen würde.«
»Tatsächlich? Das ist komisch. Ich wußte es nicht.«
»Ich wollte Sie warnen, um Sie… um Sie gegen ihn zu wappnen.«
Er lächelte. »Glauben Sie mir, Miss Taggart, damit Sie sich nicht damit quälen, nicht zur rechten Zeit
gekommen zu sein: Das wäre unmöglich gewesen.«
Sie spürte, daß er mit jeder Minute, die verstrich, immer weiter in eine Ferne entschwand, in der sie ihn nicht
mehr würde erreichen können, aber noch war ein schmaler Steg zwischen ihnen, und sie mußte sich beeilen. Sie
beugte sich vor und sagte, sehr ruhig, mit einer übertrieben festen Stimme, hinter der sich ihre Er regung verbarg:
»Erinnern Sie sich, was Sie vor drei Stunden dachten, fühlten und waren? Erinnern Sie sich, was Ihre Bergwerke
Ihnen bedeutet haben? Erinnern Sie sich an Taggart Transcontinental oder Rearden Steel? Werden Sie mir im
Namen dessen antworten? Werden Sie mir helfen zu verstehen?«
»Ich werde beantworten, was ich beantworten kann.«
»Sie haben beschlossen, sich zurückzuziehen? Ihr Geschäft aufzugeben?«
»Ja.«
»Bedeutet es Ihnen jetzt nichts mehr?«
»Es bedeutet mir jetzt mehr, als es mir je zuvor bedeutet hat.«
»Aber Sie lassen es im Stich?«
»Ja.«
»Warum?«
»Diese Frage beantworte ich nicht.«
»Sie, der Sie Ihre Arbeit liebten, der Sie nur die Arbeit achteten, der Sie immer Ziellosigkeit, Passivität und
Mutlosigkeit verachteten, Sie haben dem Leben, das Sie lieben, entsagt?«
»Nein, ich habe nur entdeckt, wie sehr ich es liebe.«
»Aber Sie haben vor, ohne Arbeit oder Ziel zu leben?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Werden Sie anderswo im Kohlenbergbau arbeiten?«
»Nein, nicht im Kohlenbergbau.«
»Was haben Sie dann vor?«
»Das habe ich noch nicht entschieden.«
»Wohin gehen Sie?«
»Diese Frage beantworte ich nicht.«
Sie schwieg einen Augenblick lang, um Kraft zu sammeln, um sich zu sagen: Fühle nichts, zeige ihm nicht,
daß du etwas fühlst, lasse es nicht geschehen, daß der Steg im Nebel verschwindet und bricht – dann sagte sie
mit der gleichen ruhigen Stimme: »Ist Ihnen klar, was Sie Hank Rearden, mir, uns allen, jedem, der noch da ist,
damit antun, daß Sie sich zurückziehen?«
»Ja. Ich bin mir dessen im Augenblick mehr bewußt als Sie.«
»Und es macht Ihnen nichts aus?«
»Es macht mir mehr aus, als Sie sich vorstellen können.«
»Warum lassen Sie uns dann im Stich?«
»Sie werden es nicht glauben, und ich werde es nicht erklären – aber ich lasse Sie nicht im Stich.«
»Uns bleibt eine größere Last zu tragen, und es läßt Sie gleichgültig, daß wir von den Plünderern vernichtet
werden.«
»Seien Sie dessen nicht zu sicher.«
»Wessen? Ihrer Gleichgültigkeit oder unserer Vernichtung?«
»Des einen wie des anderen.«
»Aber Sie wissen, Sie wußten es noch an diesem Morgen, daß es ein Kampf auf Leben und Tod ist und daß
wir – und Sie gehörten zu uns – im Kampf gegen die Plünderer stehen.«
»Wenn ich darauf antworte, daß ich es wußte, aber Sie nicht, werden Sie denken, daß ich etwas sage, was
keinen Sinn hat. Deuten Sie es sich nach Ihrem Belieben. Aber das ist meine Antwort.«
»Werden Sie mir den Sinn sagen?«
»Nein, den müssen Sie selber entdecken.«
»Sie sind bereit, die Welt den Plünderern zu überlassen. Wir nicht.«
»Seien Sie sich weder des einen noch des anderen allzu sicher.«
Sie schwieg. Das Seltsame an seinem Verhalten war seine Einfachheit: Er sprach, als wäre das alles ganz
natürlich, und trotz der unbeantworteten Fragen und dem tragischen Geheimnis machte er den Eindruck, als ob
es keine Geheimnisse mehr gäbe.
Aber als sie ihn beobachtete, sah sie den ersten Schatten über seiner heiteren Ruhe. Sie sah, wie er gegen
einen Gedanken kämpfte. Er zögerte, dann sagte er mühsam: »Was Hank Rearden betrifft… würden Sie mir
einen Gefallen tun?«
»Natürlich.«
»Würden Sie ihm sagen, daß ich… Sehen Sie, ich habe mir nie etwas aus Menschen gemacht, aber ihn habe
ich immer geachtet, bloß wußte ich bis heute nicht, daß, was ich fühlte… daß er der einzige Mensch war, den ich
je geliebt habe… Sagen Sie ihm nur dies und daß ich wünschte, ich könnte… nein, ich glaube, das ist alles, was
ich ihm sagen kann… Er wird mich wahrscheinlich verurteilen, daß ich die Waffen strecke… Aber vielleicht
auch nicht.«
»Ich werde es ihm sagen.«
Als sie den verborgenen dumpfen Schmerz in seiner Stimme hörte, fühlte sie sich ihm so nahe, daß es ihr
unmöglich schien, er könne ihr den Schlag versetzen, den er ihr versetzte – und sie machte eine letzte
Anstrengung.
»Mr. Danagger, wenn ich Sie auf den Knien anflehte, wenn ich die richtigen Worte fände, die ich noch nicht
gefunden habe – gäbe es dann… gibt es dann eine Möglichkeit, Sie zurückzuhalten?«
»Nein.«
Nach einem Augenblick fragte sie mit tonloser Stimme: »Wann gehen Sie weg?«
»Heute abend.«
»Was machen Sie mit«, sie deutete auf die Berge hinter dem Fenster, »der Danagger Coal Company? Wem
überlassen Sie sie?«
»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch gleich. Niemand oder jedem; dem, der sie übernehmen will.«
»Sie werden das nicht bestimmen oder einen Nachfolger benennen?«
»Nein. Wozu?«
»Damit sie in gute Hände kommt. Könnten Sie nicht wenigstens einen Erben Ihrer eigenen Wahl benennen?«
»Ich habe keine Wahl. Und es ist mir auch völlig gleichgültig. Möchten Sie, daß ich Ihnen das alles
vermache?« Er griff nach einem Blatt Papier. »Ich werde sofort einen Brief schreiben und Sie darin als einzige
Erbin einsetzen, wenn Sie das wollen.«
Sie schüttelte in unwillkürlichem Zurückschrecken den Kopf: »Ich bin kein Plünderer.«
Er schob das Blatt beiseite und lachte. »Ist es Ihnen klar? Sie haben die richtige Antwort gegeben, ob Sie es
wußten oder nicht. Machen Sie sich keine Sorgen wegen Danagger Coal. Es ist gleichgültig, ob ich den besten
Nachfolger in der Welt benenne oder den schlechtesten oder keinen. Wer die Firma jetzt übernimmt, ob
Menschen oder Unkraut über sie herfallen, es ist gleichgültig.«
»Aber wegzugehen und ein Industrieunternehmen im Stich zu lassen… Ja, einfach im Stich zu lassen… als ob
wir noch in der Zeit landloser Nomaden oder durch den Dschungel streifender Wilder lebten!«
»Leben wir nicht in dieser Zeit?« Er lächelte sie an, halb spöttisch, halb mitleidig. »Warum sollte ich eine
rechtmäßige Übereignung oder ein Testament hinterlassen? Die Plünderer sollen nicht mit meiner Hilfe so tun
können, als gäbe es noch Privateigentum. Ich füge mich dem System, das sie eingeführt haben. Sie brauchen
mich nicht, sagen sie. Sie brauchen nur meine Kohlen. Sollen sie sie haben!«
»Dann erkennen Sie ihr System also an?«
»Wirklich?«
Sie blickte auf die Ausgangstür und stöhnte: »Was hat er Ihnen angetan?«
»Er hat mir gesagt, ich hätte das Recht zu leben.«
»Ich hätte nicht geglaubt, daß man in drei Stunden einen Menschen dahinbringen könnte, alles zu verleugnen,
was er zweiundfünfzig Jahre seines Lebens geglaubt hat.«
»Wenn Sie denken, daß er das getan hat, oder wenn Sie glauben, daß er mir eine unvorstellbare Enthüllung
gemacht hat, dann kann ich verstehen, wie bestürzend es Ihnen erscheinen muß. Aber das hat er nicht getan. Er
hat nur das mit Namen genannt, wodurch ich gelebt habe, wodurch jeder Mensch lebt – soweit er seine Zeit nicht
damit verbringt, sich selber zu vernichten.«
Sie wußte, daß Fragen sinnlos waren und daß sie ihm nichts weiter sagen konnte.
Er blickte auf ihren gesenkten Kopf und sagte freundlich: »Sie sind eine tapfere Person, Miss Taggart. Ich
weiß, wie Ihnen jetzt zumute ist und wieviel es Sie kostet. Quälen Sie sich nicht! Lassen Sie mich gehen!«
Sie erhob sich. Sie wollte eben etwas sagen, da sah er, wie sie plötzlich auf den Schreibtisch starrte, sich
vorbeugte und den Aschenbecher ergriff, der dort stand.
In dem Aschenbecher lag ein Zigarettenstummel mit dem Dollarzeichen. »Was ist los, Miss Taggart?«
»Hat er… hat er die geraucht?«
»Wer?«
»Ihr Besucher – hat er diese Zigarette geraucht?«
»Ich weiß es nicht… ich nehme es an… Ja, ich glaube, er hat eine Zigarette geraucht… Lassen Sie mich
einmal sehen… Nein, das ist nicht meine Marke. Es muß also seine sein.«
»Waren noch andere Besucher heute in diesem Büro?«
»Nein, aber warum, Miss Taggart? Was ist denn nur los?«
»Darf ich dies mitnehmen?«
»Was? Den Zigarettenstummel?« Er starrte sie verblüfft an.
»Ja.«
»Gewiß – aber wozu?«
Sie sah auf den Stummel in ihrer Hand, als wäre er ein Juwel. »Ich weiß es nicht… Ich weiß nicht, was er mir
nützen wird, ich weiß nur, daß es ein Schlüssel ist zu«, sie lächelte bitter, »einem Geheimnis, das mir gehört.«
Sie zögerte noch zu gehen und blickte Ken Danagger an, so wie man jemand ansieht, der in jenes Reich
aufbricht, aus dem es keine Wiederkehr gibt.
Er erriet, was ihr Blick sagen wollte, lächelte und reichte ihr die Hand. »Ich sage nicht: Leben Sie wohl«,
sagte er, »denn ich werde Sie in einer nicht zu fernen Zukunft wiedersehen.«
»Ach«, sagte sie und schöpfte neue Hoffnung, während sie seine Hand fest drückte, »werden Sie
zurückkehren?«
»Nein. Sie werden mir folgen.«
Es lag nur ein schwacher roter Schimmer über den dunklen Gebäuden, als ob das Werk schliefe, aber lebte,
wie es das gleichmäßige Atmen der Hochöfen und die fernen Herzschläge der Förderbänder bewiesen. Rearden
stand am Fenster seines Büros und hatte die Hand an die Scheibe gepreßt. In der Perspektive der Entfernung
bedeckte seine Hand die sich über eine halbe Meile erstreckenden Gebäude, als versuchte er, sie festzuhalten.
Er blickte auf eine lange Reihe senkrechter Streifen: die Batterie der Koksöfen. Durch einen schmalen Schlitz
sah man eine Flamme kurz aufflackern, und eine Platte rotglühender Koks glitt heraus wie eine Brotscheibe aus
einem Riesenröster. Sie verharrte einen Augenblick lang, dann erschien ein winkeliger Riß in der Platte, und die
Brocken fielen in einen offenen Güterwagen, der auf den Schienen darunter wartete. Danagger Coal, dachte er.
Dies war sein einziger Gedanke, das übrige war ein Gefühl der Einsamkeit, einer so gewaltigen Einsamkeit, daß
selbst sein Schmerz von einer unendlichen Leere verschluckt zu werden schien.
Gestern hatte ihm Dagny von ihrem vergeblichen Versuch erzählt und ihm Danaggers Botschaft ausgerichtet.
Heute morgen hatte er die Nachricht gehört, daß Danagger verschwunden war. Während seiner schlaflosen
Nacht und dann, während er sich angespannt auf die Pflichten des Tages konzentrierte, hatte er immer wieder die
Antwort auf die Botschaft in sich gehört, die Antwort, die er ihm nie würde geben können.
»Der einzige Mensch, den ich je geliebt habe.« Das hatte Ken Danagger gesagt, der nie etwas Persönlicheres
geäußert hatte als: »Hören Sie mal, Rearden.« Er dachte: Warum haben wir es so weit kommen lassen? Warum
sind wir beide in den Stunden, in denen wir nicht an unseren Schreibtischen saßen, zu einer Verbannung unter
gleichgültigen Fremden verurteilt gewesen, die in uns alles Verlangen nach Ruhe, nach Freundschaft, nach dem
Klang menschlicher Stimmen getötet haben? Könnte ich eine einzige Stunde zurückfordern, die ich damit
verbracht habe, meinem Bruder Philip zuzuhören, und sie Ken Danagger schenken! Wer hat es uns zur Pflicht
gemacht, als einzige Belohnung für unsere Arbeit die graue Qual hinzunehmen, denen Liebe vorzutäuschen, die
uns nur zur Verachtung reizen? Wir, die wir Felsen und Metall für unsere Zwecke schmelzen konnten, warum
haben wir nie das gesucht, was wir von den Menschen wollten?
Er versuchte, die Worte in seinem Inneren zu ersticken, weil er wußte, daß es sinnlos war, jetzt über sie
nachzudenken. Aber die Worte waren da, und sie waren wie an einen Toten gerichtete Worte: Nein, ich
verurteile Sie nicht, weil Sie uns verlassen haben – wenn das die Frage ist und der Schmerz, den Sie mit sich
genommen haben. Warum haben Sie mir nicht eine Gelegenheit gegeben, Ihnen zu sagen… Was? Daß ich es
billige? – Nein, sondern daß ich Sie weder tadeln noch Ihnen folgen kann.
Er schloß die Augen und gab sich ein paar Sekunden lang dem Gefühl der großen Erleichterung hin, das auch
er empfinden würde, wenn er wegginge und alles im Stich ließe. Unter dem Schock seines Verlustes spürte er
einen leisen Neid. Warum sind sie nicht auch zu mir gekommen, wer sie auch sein mögen, und haben mir diesen
unwiderstehlichen Grund gegeben, der auch mich veranlaßt hätte zu gehen? Aber im nächsten Augenblick sagte
ihm die ihn jäh überfallende Wut, daß er den ermorden würde, der versuchte, sich ihm zu nähern. Er würde ihn
ermorden, ehe er die Worte des Geheimnisses hörte, die ihn seinem Werk entreißen wollten.
Es war schon spät. Seine Angestellten waren gegangen, aber ihm graute vor dem Weg nach Hause und der
Leere des Abends, der vor ihm lag. Es war ihm, als ob der Feind, der Ken Danagger ausgelöscht hatte, im
Dunkel hinter dem Lichtschein des Werkes auf ihn wartete. Er war nicht mehr unverletzlich, aber was immer es
war, dachte er, woher immer es kam, hier war er davor geborgen wie in einem Kreise von Feuern, den er um sich
gezogen hatte, um das Böse zu bannen.
Er blickte auf die glitzernden weißen Flecke auf den dunklen Fenstern eines Gebäudes in der Ferne, die an
unbewegliche Sonnenflecke auf Wasser erinnerten. Es waren die Reflexe des Neonschildes »Rearden Steel«, das
auf dem Dach des Gebäudes über seinem Kopf leuchtete. Er dachte an den Abend, als er sich gewünscht hatte,
ein Schild »Rearden Life« über seiner Vergangenheit leuchten zu lassen. Warum hatte er es gewünscht? Für
wessen Augen?
Er dachte – zum ersten Mal und in bitterem Erstaunen –, daß der freudige Stolz, den er einst empfunden hatte,
der Achtung vor den Menschen, vor dem Wert ihrer Bewunderung und ihres Urteils entsprungen war. Er
empfand ihn nicht mehr. Es gab keine Menschen, dachte er, deren Anblick er dieses Schild darbieten wollte.
Er wandte sich brüsk vom Fenster ab. Er nahm seinen Mantel mit einer heftigen Bewegung, die ihn in die
Disziplin des Handelns zurückstoßen sollte. Er schlug die beiden Vorderteile des Mantels übereinander, zog den
Gürtel fest und löschte dann auf seinem Wege zur Tür mit hastigen Griffen die Lichter.
Er riß die Tür auf – und blieb stehen. Nur eine Lampe brannte noch in einer Ecke des dämmrigen
Vorzimmers. Der Mann, der in einer lässigen Haltung auf der Kante eines Schreibtisches saß, war Francisco
d’Anconia.
Noch ehe sich Francisco rührte, sah Rearden eine Sekunde lang, daß er ihn mit einem belustigten Lächeln
betrachtete, das dem Zwinkern glich, mit dem ein Verschwörer seinem Genossen gegenüber auf ein Geheimnis
anspielt, von dem sie beide wissen, ohne es zugeben zu wollen. Der Augenblick war fast zu kurz, um
wahrgenommen zu werden, denn es schien Rearden, als wäre Francisco bei seinem Eintreten sofort mit einer
Geste höflicher Ehrerbietung aufgestanden. Die Bewegung wirkte wie eine strenge Förmlichkeit, wie der
Ausschluß jeden Versuches einer Anmaßung – aber sie hatte etwas sehr Vertrauliches dadurch, daß er kein Wort
der Begrüßung oder der Erklärung sagte. Mit harter Stimme fragte Rearden: »Was tun Sie hier?«
»Ich dachte, Sie würden mich heute abend sehen wollen, Mr. Rearden.«
»Warum?«
»Aus dem gleichen Grunde, der Sie so lange in Ihrem Büro festgehalten hat. Sie haben nicht gearbeitet.«
»Wie lange haben Sie hier schon gesessen?«
»Anderthalb Stunden.«
»Warum haben Sie nicht bei mir angeklopft?«
»Hätten Sie mir erlaubt hereinzukommen?«
»Sie stellen diese Frage recht spät.«
»Soll ich wieder gehen?«
Rearden deutete auf die Tür zu seinem Büro. »Treten Sie ein.«
Er schaltete das Licht im Büro wieder an und bewegte sich gemessen ruhig. Er dachte, daß er sich kein Gefühl
erlauben durfte, aber er spürte, wie in der gespannten Ungeduld eines Gefühls, über das er sich nicht klar werden
konnte, sein Leben wieder Farbe bekam. Bewußt sagte er sich: Sei auf der Hut!
Er setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches, verschränkte die Arme, blickte Francisco an, der ehrerbietig
vor ihm stehen blieb, und fragte mit einem leisen, kalten Lächeln: »Warum sind Sie hergekommen?«
»Sie wollen nicht, daß ich die Frage beantworte, Mr. Rearden. Sie wollen weder mir noch sich selbst zugeben,
wie verzweifelt einsam Sie heute abend sind. Wenn Sie mich nicht fragen, werden Sie sich nicht verpflichtet
fühlen, es abzustreiten. Geben Sie sich mit dem zufrieden, was Sie ohnedies wissen: daß ich es weiß.«
Zwischen dem Ärger über die Dreistigkeit und der Bewunderung der Offenheit Franciscos hin und her
gerissen, antwortete Rearden gespannt: »Wenn Sie wollen, gebe ich es zu. Was macht es mir schon aus, daß Sie
es wissen!«
»Daß ich es weiß und daß es mir nahegeht, Mr. Rearden. Ich bin der einzige Mensch rings um Sie, dem es
nahegeht.«
»Warum sollte es Ihnen nahegehen? Und warum sollte ich heute abend Ihre Hilfe brauchen?«
»Weil es nicht leicht ist, den Menschen verurteilen zu müssen, der einem am meisten bedeutet hat.«
»Wenn Sie mich bloß in Ruhe ließen, würde ich Sie nicht verurteilen.«
Franciscos Augen wurden ein wenig größer, dann grinste er und sagte: »Ich sprach von Mr. Danagger.«
Einen Augenblick lang sah Rearden aus, als ob er sich selber ins Gesicht schlagen wollte, dann lachte er leise
und sagte: »Na schön, setzen Sie sich.« Er wartete darauf zu sehen, wie Francisco das ausnutzen würde, aber
Francisco gehorchte ihm stumm mit einem jungenhaften Lächeln: einem Blick des Triumphes und der
Dankbarkeit zugleich.
»Ich verurteile Ken Danagger nicht«, sagte Rearden.
»Das tun Sie nicht?« Die Worte, die Francisco sehr ruhig, fast behutsam, ohne den Anflug eines Lächelns
aussprach, schienen einen besonderen Unterton zu haben.
»Nein, ich schreibe keinem Menschen vor, wieviel er aushalten muß. Wenn er zusammenbricht, ist es nicht an
mir, ihn zu verurteilen.«
»Wenn er zusammenbricht…?«
»Nun, ist er nicht zusammengebrochen?«
Francisco lehnte sich zurück. Sein Lächeln kehrte wieder, aber es war kein glückliches Lächeln. »Welche
Folgen wird sein Verschwinden für Sie haben?«
»Ich werde nur ein bißchen mehr arbeiten müssen.«
Francisco blickte auf eine Stahlbrücke, die mit schwarzen Strichen in den roten Dunst hinter dem Fenster
gezeichnet war. Er zeigte auf die Brücke und sagte: »Jeder dieser Eisenträger hat eine Grenze der Tragfähigkeit.
Wo liegt Ihre?«
Rearden lachte. »Haben Sie davor Angst? Sind Sie deshalb hergekommen? Fürchteten Sie, ich würde
zusammenbrechen? Wollten Sie mich retten, so wie Dagny Taggart Ken Danagger retten wollte? Sie versuchte,
ihn noch rechtzeitig zu erreichen. Aber sie kam zu spät.«
»Wirklich? Ich wußte das gar nicht. Miss Taggart und ich stimmen in vielem nicht überein.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde nicht verschwinden. Mögen sie alle aufgeben und die Arbeit
einstellen, ich werde es nicht tun.«
»Jeden Menschen kann man stoppen, Mr. Rearden.«
»Wie?«
»Man braucht nur seine Triebkräfte zu kennen.«
»Und die wären?«
»Sie sollten das wissen, Mr. Rearden. Sie sind einer der letzten moralischen Menschen, die es auf der Welt
noch gibt.«
Rearden lachte in bitterer Ironie. »Man hat schon alles von mir gesagt, aber das nicht. Und Sie sind auf dem
Holzweg. Sie haben gar keine Ahnung, wie sehr Sie auf dem Holzweg sind.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich muß es ja wohl wissen. Moral? Was in aller Welt bringt Sie darauf?«
Francisco deutete auf das Werk hinter dem Fenster. »Das.«
Eine lange Weile blickte Rearden ihn unbeweglich an, dann fragte er nur: »Was wollen Sie damit sagen?«
»Wenn Sie ein abstraktes Prinzip, zum Beispiel moralisches Handeln, in materieller Form sehen wollen – dort
ist es. Sehen Sie es sich an, Mr. Rearden. Jeder Strebepfeiler, jede Röhre, jeder Draht und jedes Ventil wurden
als Antwort auf die Frage ‘richtig oder falsch?’ dort angebracht. Sie mußten das Richtige wählen und das Ihres
Wissens Beste – das Beste für Ihr Ziel, Stahl zu erzeugen – und dann weitergehen und das Wissen vergrößern
und Besseres und immer Besseres machen, wobei Ihr Ziel Ihr Wertmaßstab war. Sie mußten nach Ihrem eigenen
Urteil handeln. Sie mußten die Urteilsfähigkeit haben, den Mut, sich auf Ihr Urteil zu verlassen, und Sie mußten
sich unbedingt, ganz rücksichtslos und rückhaltlos an das Prinzip halten, das Richtige zu tun, das Beste zu tun,
das absolut Beste, das Ihnen möglich war. Aber ich frage mich, Mr. Rearden, warum Sie nach einem Prinzip
leben, wenn Sie es mit der Natur zu tun haben, und nach einem anderen, wenn Sie mit Menschen umgehen?«
Reardens Augen sahen Francisco so gebannt an, daß es schien, als hätte er Mühe zu antworten, weil er
fürchtete abgelenkt zu werden: »Was wollen Sie damit sagen?«
»Warum halten Sie nicht genauso entschlossen und streng an dem Zweck Ihres Lebens fest wie an dem
Zweck Ihrer Fabrik?«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Sie haben jeden Ziegel hier nach seinem Wert für den Zweck, Stahl zu erzeugen, beurteilt. Sind Sie dem
Zweck gegenüber, dem Ihre Arbeit und Ihr Stahl dienen, ebenso streng gewesen? Was wollen Sie damit
erreichen, daß Sie Ihr Leben der Stahlerzeugung weihen? Nach welchem Wertmaßstab beurteilen Sie Ihr Leben?
Warum haben Sie zum Beispiel zehn Jahre lang alle Kraft darauf verwandt, Rearden Metal zu erfinden?«
Rearden blickte weg. Seine Schultern fielen leicht herunter, es war wie ein Seufzer der Erleichterung und
Enttäuschung. »Wenn Sie das fragen müssen, würden Sie es doch nicht verstehen.«
»Wenn ich Ihnen sagte, daß ich es verstünde, aber Sie nicht – würden Sie mich dann hinauswerfen?«
»Ich hätte Sie sowieso schon hinauswerfen sollen. Also reden Sie nur weiter. Sagen Sie mir, was Sie meinen.«
»Sind Sie stolz auf die Schienen der John-Galt-Linie?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil es die besten Schienen sind, die je hergestellt wurden.«
»Warum haben Sie sie hergestellt?«
»Um Geld zu machen.«
»Es gab viele bequemere Arten, Geld zu machen. Warum haben Sie sich die schwerste gewählt?«
»Sie haben es in Ihrer Rede auf Taggarts Hochzeit gesagt: um meine beste Leistung gegen die beste Leistung
der anderen einzutauschen.«
»Wenn das Ihr Ziel war – haben Sie es erreicht?«
Es verstrichen ein paar Sekunden, bis Rearden antwortete:
»Nein.«
»Haben Sie überhaupt Geld daran verdient?«
»Nein.«
»Wenn man seine äußerste Kraft einsetzt, um das Beste zu machen, erwartet man dann, dafür belohnt oder
bestraft zu werden?«
Rearden antwortete nicht.
»Sind Sie, nach jedem Ihnen bekannten Kodex des Anstands, der Ehre, der Gerechtigkeit davon überzeugt,
daß Sie dafür hätten belohnt werden müssen?«
»Ja«, sagte Rearden leise.
»Und wenn Sie statt dessen dafür bestraft wurden, welchem Kodex haben Sie sich gefügt?«
Rearden antwortete nicht.
»Man nimmt allgemein an«, sagte Francisco, »daß das Leben in einer menschlichen Gesellschaft das Leben
des einzelnen leichter und sicherer macht, als wenn man allein auf einer einsamen Insel gegen die Natur kämpfen
müßte. Und für jeden Menschen, der Metall in irgendeiner Weise braucht oder verwendet, hat Rearden Metal das
Leben leichter gemacht. Hat es auch Ihnen das Leben leichter gemacht?«
»Nein«, sagte Rearden leise.
»Ist Ihr Leben so geblieben, wie es war?«
»Nein…«, sagte Rearden und verstummte, als wollte er nicht aussprechen, was er dachte.
Franciscos Stimme klang plötzlich wie ein Befehl: »Sagen Sie es!«
»Es hat es schwerer gemacht«, sagte Rearden tonlos.
»Wenn Sie stolz auf die Schienen der John-Galt-Linie waren«, sagte Francisco, wobei der gemessene Ton
seine Stimme noch erbarmungsloser klingen ließ, »an welche Art von Menschen haben Sie dabei gedacht?
Wollten Sie, daß die Linie von Ihresgleichen benutzt würde, von Riesen produktiver Kraft wie Ellis Wyatt,
denen sie helfen würde, größere und immer größere Leistungen zu vollbringen?«
»Ja«, sagte Rearden leidenschaftlich.
»Wollten Sie, daß sie von Menschen benutzt würde, die sich nicht mit der Kraft Ihres Intellekts, aber mit Ihrer
moralischen Rechtschaffenheit messen konnten, Menschen wie Eddie Willers, die nie Ihr Metall hätten erfinden
können, die aber ihr Bestes tun, die so hart arbeiten wie Sie, die durch ihre eigene Anstrengung leben und, wenn
sie auf Ihren Schienen fahren, einen Augenblick lang dankbar des Mannes gedenken, der ihnen mehr gab, als sie
ihm geben konnten?«
»Ja«, sagte Rearden leise.
»Wollten Sie, daß sie von jammernden Nieten benutzt würde, die sich nie selbst zu einer Anstrengung
aufraffen, die nicht einmal fähig sind, in der Briefablage zu arbeiten, die aber das Einkommen eines
Generaldirektors verlangen; die einen Fehlschlag nach dem anderen erleiden und erwarten, daß Sie ihre
Rechnungen bezahlen; die ihre Wünsche als Ihrer Arbeit gleichwertig ansehen und die glauben, daß ihre
Bedürftigkeit zu einem höheren Anspruch auf Belohnung berechtigt als Ihre Mühe; die fordern, daß Sie ihnen
dienen, die fordern, daß es das Ziel Ihres Lebens sein muß, ihnen zu dienen, die fordern, daß Ihre Kraft der
stimmlose, rechtlose, unbezahlte, unbelohnte Sklave ihrer Unfähigkeit sein muß; die verkünden, Sie seien kraft
Ihres Genies zum Sklaven geboren, während sie selbst kraft der Gnade der Unfähigkeit zur Herrschaft geboren
sind; daß es Ihre Aufgabe ist zu geben, aber ihre zu nehmen, Ihre zu erzeugen, aber ihre zu verbrauchen, daß Sie
weder geistig noch materiell bezahlt werden dürfen, Weder durch Reichtum noch durch Anerkennung, noch
durch Hochachtung, noch durch Dankbarkeit, so daß sie auf Ihren Schienen fahren und Sie verhöhnen und
beschimpfen können, weil sie Ihnen nichts schulden, nicht einmal, den Hut vor Ihnen zu ziehen, den Sie für sie
bezahlt haben? Wollten Sie das? Würden Sie darauf stolz sein?«
»Ich würde die Schienen lieber in die Luft sprengen«, sagte Rearden mit weißen Lippen.
»Warum tun Sie es dann nicht, Mr. Rearden? Welche von den drei Menschenarten, die ich Ihnen geschildert
habe, wird vernichtet, und welche benutzt Ihre Linie heutzutage?«
In dem langen Schweigen, das folgte, hörten sie die fernen metallischen Herzschläge des Werkes.
»Der, den ich zuletzt geschildert habe«, sagte Francisco, »erhebt einen Rechtsanspruch auf jeden Cent, den
ein anderer mit seiner Arbeit verdient.«
Rearden antwortete nicht. Er blickte auf die Reflexe eines Neonschildes in dunklen Fenstern in der Ferne.
»Sie sind stolz darauf, daß Ihrer Leidensfähigkeit keine Grenzen gesetzt sind, Mr. Rearden, denn Sie glauben,
das Richtige zu tun. Aber wenn Sie es nicht tun? Wenn Sie Ihre Tugend in den Dienst des Bösen stellen und sie
zu einem Werkzeug der Zerstörung alles dessen werden lassen, was Sie lieben, achten und bewundern? Warum
legen Sie nicht den gleichen Wertmaßstab an die Menschen an, den Sie an Ihre Schmelzöfen anlegen? Sie, der
Sie nicht dulden würden, daß eine Legierung auch nur zu einem Prozent unrein ist – was haben Sie in Ihren
Moralkodex eindringen lassen?«
Rearden saß völlig reglos; die Worte in seinem Geist waren wie der Hall der Schritte auf dem Weg, den er
gesucht hatte; die Worte lauteten: die Billigung durch das Opfer.
»Sie, der sich nicht den Unbilden der Natur unterwerfen wollte, sondern auszog, um sie zu erobern, und sie in
den Dienst seiner Freude und seines Wohlbefindens stellte – was haben Sie sich von den Menschen antun
lassen? Sie, der Sie aus Ihrer Arbeit wissen, daß man Strafe nur erträgt, wenn man einen Fehler gemacht hat –
was zu ertragen waren Sie bereit, und aus welchem Grund? Ihr Leben lang haben Sie gehört, daß man Sie
anprangerte, nicht Ihrer Fehler, sondern Ihrer größten Tugenden wegen. Nicht um Ihrer Fehler, sondern um Ihrer
Leistungen willen hat man Sie gehaßt. All der Charaktereigenschaften wegen, die Ihr größter Stolz sind, hat man
Sie verachtet. Man hat Sie eigennützig genannt, weil Sie den Mut hatten, nach Ihrem eigenen Urteil zu handeln
und allein die Verantwortung für Ihr Leben zu tragen. Man hat Sie arrogant genannt, weil Sie einen
unabhängigen Geist haben. Man hat Sie grausam genannt, weil Sie unbestechlich rechtschaffen sind. Man hat
Sie unsozial genannt, weil Sie sich auf unentdeckte Wege gewagt haben. Man hat Sie erbarmungslos genannt,
weil Sie mit Kraft und Selbstdisziplin Ihr Ziel verfolgten. Man hat Sie habgierig genannt, weil Sie die
wunderbare Macht besitzen, Reichtum zu schaffen. Man hat Sie, von dem ein unvorstellbarer Kraftstrom
ausging, einen Schmarotzer genannt.
Sie, der Überfluß geschaffen hat, wo es vor Ihnen nur Ödland und hilflose hungernde Menschen gab, hat man
einen Räuber genannt. Sie, der Sie alle am Leben erhielten, hat man einen Ausbeuter genannt. Sie, der Reinste
und Moralischste unter ihnen, sind als ‘gewöhnlicher Materialist’ verspottet worden. Haben Sie sich die Zeit
genommen, sie zu fragen: mit welchem Recht, nach welchem Kodex, nach welchem Maßstab? Nein, Sie haben
das alles stumm getragen. Sie haben sich dem Kodex dieser Leute gebeugt und nie an Ihrem eigenen
festgehalten. Sie wußten, welch hohe Moral man braucht, um einen einzigen Nagel zu produzieren, aber Sie
ließen sich als unmoralisch brandmarken. Sie wußten, daß der Mensch den strengsten Wertmaßstab braucht, um
mit der Natur umzugehen, aber Sie glaubten, daß Sie diesen Maßstab im Umgang mit Menschen nicht brauchten.
Sie haben die tödlichste Waffe in den Händen Ihrer Feinde gelassen, eine Waffe, von der Sie nie etwas geahnt
und die Sie nie verstanden haben. Ihr Moralkodex ist die Waffe dieser Menschen. Fragen Sie sich selbst, wie
sehr und auf wie entsetzliche Weise Sie sich damit abgefunden haben. Fragen Sie sich selbst, was ein Kodex
moralischer Werte für das Leben eines Menschen bedeutet und warum der Mensch nicht ohne ihn existieren
kann und was geschieht, wenn er den falschen Maßstab annimmt, nach dem das Böse das Gute ist. Soll ich Ihnen
sagen, warum Sie sich zu mir hingezogen fühlen, obwohl Sie glauben, Sie müßten mich verdammen? Weil ich
der erste Mensch bin, der Ihnen das gegeben hat, was die ganze Welt Ihnen schuldet und was Sie von allen
Menschen hätten fordern müssen, bevor Sie mit ihnen zusammenarbeiteten: eine moralische Bestätigung.«
Rearden wandte sich ihm plötzlich zu, schwieg aber, und sein Schweigen war wie ein Stöhnen. Francisco
beugte sich vor, als griffe er nach dem Geländer einer gefährlichen Treppe. Seine Augen blickten Rearden ruhig
an, funkelten aber vor Spannung.
»Sie sind einer großen Sünde schuldig, Mr. Rearden, viel schuldiger, als die Leute es Ihnen sagen, aber nicht
in der Art, wie sie es predigen. Die schlimmste Schuld ist, eine unverdiente Schuld auf sich zu nehmen – und das
haben Sie Ihr Leben lang getan. Sie haben sich wegen Ihrer Tugenden und nicht wegen Ihrer Laster erpressen
lassen. Sie sind bereit gewesen, die Last einer unverdienten Strafe zu tragen und sie desto schwerer werden zu
lassen, je größer die Tugenden waren, die Sie übten. Aber Ihre Tugenden waren jene, die die Menschen am
Leben erhalten. Ihr eigener moralischer Kodex – der, nach dem Sie lebten, den sie aber nicht darlegten,
anerkannten oder verteidigten – war der, der das Dasein des Menschen sichert. Wenn man Sie dafür bestraft hat,
was waren dann jene, die Sie bestraften? Ihr Kodex war der des Lebens. Was ist dann der jener Leute? Welcher
Wertmaßstab liegt ihm zugrunde? Was ist sein letztes Ziel? Glauben Sie, daß Sie nur einer Verschwörung
gegenüberstehen, die sich Ihres Reichtums bemächtigen will? Sie, der Sie die Quelle des Reichtums kennen,
müßten wissen, daß es viel mehr und etwas viel Schlimmeres ist als das. Hatten Sie mich gebeten, Ihnen zu
sagen, was die Triebkräfte des Menschen sind? Die Triebkräfte des Menschen sind seine moralischen Prinzipien.
Fragen Sie sich selbst, wohin die Moral dieser Menschen Sie führt und was diese Moral Ihnen als Ihr endgültiges
Ziel anbietet! Schlimmer, als einen Menschen zu ermorden, ist, ihm einzureden, Selbstmord sei ein Akt der
Tugend. Schlimmer, als einen Menschen in ein Opferfeuer zu werfen, ist, von ihm zu verlangen, freiwillig
hineinzuspringen und selber den Scheiterhaufen aufzurichten. Nach ihrer eigenen Erklärung brauchen diese
Leute Sie und haben Ihnen nichts dafür zu bieten. Nach ihrer eigenen Erklärung müssen Sie sie unterstützen,
weil sie ohne Sie nicht weiterleben können. Bedenken Sie, wie unanständig es ist, Ihnen ihre Unfähigkeit, ihr
Verlangen – ihr Verlangen nach Ihnen – als Rechtfertigung für Ihre Qual anzubieten! Sind Sie bereit, das
hinzunehmen? Liegt Ihnen daran, um den Preis Ihres Duldens, um den Preis Ihrer Pein für die Befriedigung der
Bedürfnisse Ihrer eigenen Zerstörer zu sorgen?«
»Nein.«
»Mr. Rearden«, sagte Francisco, und seine Stimme klang ruhig und feierlich, »stellen Sie sich vor, daß Sie
Atlas sehen, den Riesen, der die Welt auf den Schultern trägt. Sie sehen ihn da stehen, Blut rinnt ihm über die
Brust, seine Knie knicken ein, seine Arme zittern, versuchen aber, die Weltkugel mit letzter Kraft hochzuhalten,
doch je mehr er sich müht, desto schwerer lastet die Welt auf seinen Schultern. Wenn Sie ihn so vor sich sehen:
Was raten Sie ihm?«
»Ich… weiß nicht. Was – könnte er tun? Was würden Sie ihm raten?«
»Die Welt abzuwerfen.«
Das Klirren des Metalls kam in einer Flut unregelmäßiger Laute ohne erkennbaren Rhythmus, nicht wie der
Gang einer Maschine, sondern als würde ein bewußter Impuls hinter jedem plötzlichen Aufschrillen stehen, das
anschwoll, verebbte und sich in dem leisen Stöhnen von Getrieben auflöste. Immer wieder klirrten die
Fensterscheiben.
Francisco beobachtete Rearden, als ob er auf einer Schießscheibe den Einschlag der Kugeln feststellen wollte;
aber der Einschlag war schwer zu erkennen. Die hagere Gestalt auf der Schreibtischkante saß aufrecht. Die
kalten blauen Augen verrieten nichts. Sie starrten wie gebannt in eine weite Ferne. Nur der unerbittliche Mund
zeigte einen schmerzlichen Zug.
»Fahren Sie fort«, sagte Rearden mühsam. »Sprechen Sie weiter. Sie sind doch noch nicht fertig, nicht wahr?«
»Ich habe gerade erst begonnen«, erwiderte Francisco mit harter Stimme.
»Worauf… wollen Sie hinaus?«
»Sie werden es wissen, bevor ich fertig bin. Aber zunächst möchte ich, daß Sie mir eine Frage beantworten:
Wenn Sie die Art Ihrer Last kennen, wie können Sie…?«
Das Heulen einer Alarmsirene zerriß die Luft und schoß wie eine Rakete in einer langen, dünnen Linie zum
Himmel auf. Einen Augenblick lang hielt das Heulen an, dann wurde es leiser, setzte sich in ansteigenden und
abfallenden Lautwellen fort, als ränge die Sirene um Atem, damit sie lauter schreien konnte. Es war der Schrei
des Todeskampfes, der Ruf um Hilfe, die Stimme des Werkes, eines verwundeten Körpers, der schrie, um seine
Seele festzuhalten.
Rearden glaubte, er sei in dem Augenblick zur Tür gesprungen, da der Schrei sein Bewußtsein erreicht hatte,
aber er sah, daß er einen Augenblick zu spät kam, denn Francisco war ihm schon vorausgeeilt. Von dem gleichen
Impuls angetrieben, raste Francisco durch den Flur, drückte auf den Knopf des Fahrstuhls, lief dann aber, ohne
zu warten, die Treppe hinunter. Rearden folgte ihm, und erst als sie schon den halben Weg zurückgelegt hatten,
stießen sie an einem Treppenabsatz auf den Fahrstuhl. Noch ehe der Stahlkäfig im Erdgeschoß völlig stillstand,
war Francisco hinausgesprungen und jagte in die Richtung, aus der der Hilfeschrei gekommen war. Rearden
hatte sich immer für einen guten Läufer gehalten, aber er konnte nicht mit der behenden Gestalt Schritt halten,
die durch das immer wieder von einem roten Schein erhellte Dunkel dahinschnellte, der Gestalt eines nutzlosen
Playboys, den er, obwohl er sich darum haßte, bewunderte.
Der Strom, der sich aus einem Loch tief unten an der Seite eines Hochofens ergoß, hatte nicht den roten Glanz
des Feuers, sondern das strahlende Weiß des Sonnenlichts. Er floß über den Boden, verzweigte sich wie zufällig
plötzlich in schmalere Rinnsale, durchschnitt feuchte Dampfschwaden, als durchbreche das Morgenlicht den
Nebel der Nacht. Es war flüssiges Eisen, und der Schrei der Alarmsirene hatte den Ausbruch verkündet.
Die Füllung des Hochofens hatte sich festgesetzt, war eingesackt und hatte dabei das Stichloch aufgerissen.
Der Vorarbeiter lag bewußtlos am Boden. Die weiße Flut sprudelte heraus, riß das Loch langsam weiter auf, und
Männer versuchten, mit Sand, Wasserschläuchen und Schamotte der glühenden Rinnsale Herr zu werden, die
sich in einer schwerfälligen gleitenden Bewegung verbreiterten und alles auf ihrem Wege in beißenden Rauch
verwandelten. In den wenigen Augenblicken, die Rearden brauchte, um sich ein Bild von der Katastrophe zu
machen, sah er, wie eine Männergestalt sich plötzlich am Fuß des Hochofens erhob, eine Gestalt, die sich von
der Glut so deutlich abhob, als stände sie mitten in dem reißenden Strom. Er sah den Schwung eines Arms in
einem weißen Hemdsärmel, der sich hob und einen schwarzen Gegenstand in die Quelle des hervorsprudelnden
Metalls schleuderte. Es war Francisco d’Anconia, und das, was er tat, war eine Kunst, von der Rearden geglaubt
hatte, man lehre sie niemand mehr.
Vor vielen Jahren hatte Rearden in einem obskuren Stahlwerk in Minnesota gearbeitet, wo es seine Aufgabe
gewesen war, nach dem Anstechen des Hochofens das Stichloch mit der Hand zu schließen, indem er mit
Schamottklumpen den Strom des Metalls eindämmte. Es war eine gefährliche Arbeit, die viele das Leben
gekostet hatte, eine Methode, die schon damals durch die Erfindung des hydraulischen Verschlusses längst
abgeschafft war. Aber es hatte kleine, hart um ihr Dasein kämpfende Werke gegeben, die, ehe sie die Waffen
streckten, die überholten Methoden einer fernen Vergangenheit weiterhin angewandt hatten. Rearden hatte diese
Arbeit verrichtet, aber seitdem war er nie wieder einem Mann begegnet, der sie tun konnte. Inmitten heißer
Dampfschwaden vor einem Hochofen, der jeden Augenblick einstürzen konnte, sah er jetzt die hochgewachsene,
schlanke Gestalt des Playboys die Aufgabe mit der Geschicklichkeit eines Fachmanns vollbringen.
Es dauerte nur eine Sekunde, bis Rearden sich seinen Rock vom Leibe riß, dem ihm am nächsten stehenden
Mann die Schutzbrille wegnahm und zu Francisco an das Loch des Hochofens trat. Es war keine Zeit für ein
Wort, ein Gefühl oder eine Frage. Francisco blickte einmal zu ihm hin – und Rearden sah ein verschmiertes
Gesicht, eine schwarze Schutzbrille und ein breites Grinsen.
Sie standen auf einer schlüpfrigen Böschung aus Ton, am Rande des weißen Stroms, das schäumende Loch zu
Füßen, und warfen Schamotte in die Glut, wo die wie Gas züngelnden Flammen kochendes Metall waren.
Rearden wußte nur, daß er sich bückte, einen schweren Klumpen hochhob, ihn hinabschleuderte, und, noch ehe
der Klumpen sein Ziel, das er nicht sah, erreicht hatte, sich von neuem bückte, um den nächsten zu ergreifen.
Sein ganzes Bewußtsein war darauf konzentriert, daß sein Arm richtig zielte, um den Hochofen zu retten, und
auf die Stellung seiner Füße, um sich selbst zu retten. Er nahm nichts anderes wahr, er spürte nur das jubelnde
Glücksgefühl des Handelns, seiner eigenen Fähigkeit, der Präzision seines Körpers und dessen Reaktion auf
seinen Willen. Und ohne die Zeit zu haben, darüber nachzudenken, aber dennoch bewußt, mit seinen Sinnen,
nicht mit seinem Verstand, sah er eine schwarze Gestalt, hinter deren Schultern und Ellbogen rote Strahlen
aufschossen, die roten Strahlen, die sich durch den Dampf bewegten wie Strahlen von Scheinwerfern und den
Bewegungen eines flinken, sachverständigen, zuversichtlichen Mannes folgten, den er bis dahin nur im
Abendanzug im Lichterschein von Festsälen gesehen hatte.
Es war keine Zeit zu denken, Worte auszusprechen, etwas zu erklären, aber er wußte, daß dies der wirkliche
Francisco d’Anconia war, der, den er vom ersten Augenblick an in ihm gesehen und geliebt hatte – das Wort
erschreckte ihn nicht, weil gar kein Wort in seinem Innern war, sondern nur ein freudiges Gefühl, ein Strom von
Energie, der sich mit der seinen zu vereinigen schien.
Im rhythmischen Schwung seines Körpers, mit der glühenden Hitze im Gesicht und der Kälte der Winternacht
auf seinem Rücken, sah er plötzlich, daß dies der Kern seiner Welt war: die blitzschnelle Weigerung, sich einer
Katastrophe zu unterwerfen, der unwiderstehliche Drang, sie zu bekämpfen, das triumphierende Gefühl, in
diesem Kampf siegen zu können. Er war sicher, daß Francisco das gleiche fühlte, daß ihn der gleiche Impuls
angetrieben hatte, daß es richtig war, so zu fühlen, daß es richtig war für sie beide zu sein, was sie waren –
immer wieder sah er das schweißüberströmte, von der Leidenschaft des Handelns brennende Gesicht, und es war
das froheste Gesicht, das er je gesehen hatte.
Der Hochofen ragte über ihnen auf, eine in ein Gewirr von Röhren und Dampf eingehüllte schwarze Masse.
Er schien zu keuchen, stieß einen roten Atem aus, der in der Luft über dem Werk hing – und sie kämpften
darum, ihn nicht verbluten zu lassen. Glühende Metallgarben barsten zu ihren Füßen, und Funken wirbelten um
sie herum und erloschen dann unbemerkt an ihrer Kleidung, an der Haut ihrer Hände. Der Damm, der sich erhob
und den sie nicht sehen konnten, ließ den Strom jetzt langsamer, ruckweise fließen.
Es geschah so schnell, daß es Rearden erst ganz bewußt wurde, als es vorüber war. Er wußte, daß es zwei
Augenblicke waren: der erste, als er den wilden Schwung von Franciscos Körper sah, wie er vorschnellte, um
den Klumpen durch den Raum zu schleudern; wie er sich dann plötzlich nach hinten zu werfen versuchte, ohne
daß es ihm gelang, wie er sich krampfhaft dagegenstemmte, nach vorn gezogen zu werden, wie er, als er das
Gleichgewicht fast verlor, die Arme ausstreckte. Und er, Rearden, glaubte, daß ein Sprung hinüber auf der
schlüpfrigen, bröckelnden Böschung ihrer beider Tod bedeuten würde – und der zweite Augenblick war der, als
er an Franciscos Seite landete, ihn in seinen Armen festhielt und sie beide über dem weißen Schlund hin- und
herschwankten. Dann gelang es ihm, festen Fuß zu fassen und Francisco zurückzuziehen, und einen Augenblick
lang hielt er ihn noch an sich gepreßt, wie er seinen einzigen Sohn an sich gepreßt hätte. Seine Liebe, sein
Entsetzen, seine Erleichterung waren in dem Satz enthalten: »Sei vorsichtig, du verdammter Idiot!«
Francisco griff nach einem Schamottklumpen und fuhr in seiner Arbeit fort. Als die Arbeit getan und das
Loch geschlossen war, spürte Rearden einen stechenden Schmerz in seinen Arm- und Beinmuskeln und daß sein
Körper nicht mehr die Kraft hatte, sich zu bewegen. Dennoch fühlte er sich, als käme er morgens in sein Büro,
voller Ungeduld, zehn neue Probleme zu lösen. Er blickte Francisco an, und da erst bemerkte er, daß ihre Hosen
und Hemden voll schwarz umrandeter Löcher waren, daß ihre Hände bluteten, daß an Franciscos Schläfe ein
Stück Haut abgerissen war und daß ein rotes Gerinnsel an seiner Wange herunterfloß. Francisco nahm die
Schutzbrille ab und lächelte ihn an: Es war das Lächeln eines Sonnenaufgangs.
Ein junger Mann, der immer gekränkt und impertinent zugleich wirkte, kam auf ihn zugeeilt und rief: »Ich
konnte nichts dafür, Mr. Rearden«, und begann eine lange Entschuldigungsrede. Rearden kehrte ihm wortlos den
Rücken. Es war der für den Druckmesser des Ofens verantwortliche Assistent, ein frisch vom College
gekommener junger Mann.
Irgendwo am Rande von Reardens Bewußtsein tauchte der Gedanke auf, daß Unfälle dieser Art jetzt häufiger
geschahen. Sie wurden durch das Erz verursacht, das er benutzte, aber er mußte jedes Erz nehmen, das er
auftreiben konnte. Seine alten Arbeiter hatten immer eine Katastrophe vermeiden können; jeder von ihnen hätte
die ersten Anzeichen der Gefahr erkannt und gewußt, was man dagegen tun konnte. Aber nur wenige von ihnen
waren noch da, und er mußte die Leute anstellen, die er bekommen konnte. Durch die wirbelnden Dampfspiralen
ringsum sah er, daß es die älteren Männer des Werkes waren, die alles hatten stehen und liegen lassen, um den
Ausbruch zu bekämpfen, und jetzt in einer Reihe standen, um Erste Hilfe zu erhalten. Er fragte sich, was mit den
jungen Männern des Landes los war.
Aber die Frage wurde von dem Anblick des Gesichts des College-Absolventen verschluckt, den er nicht
ertragen konnte, von einer Woge von Verachtung, von dem stummen Gedanken, daß, wenn das der Feind war,
man nichts zu fürchten brauchte. All dies tauchte vor ihm auf und verschwand dann im Dunkel der Nacht. Der
Anblick Francisco d’Anconias löschte das alles aus.
Er sah, wie Francisco den Männern rings um sich Befehle gab. Sie wußten nicht, wer er war oder woher er
kam, aber sie hörten auf ihn: Sie wußten, er war ein Mann, der seine Arbeit verstand. Als Francisco Rearden auf
sich zukommen sah, unterbrach er sich mitten in einem Satz und sagte lachend: »Entschuldigung.«
»Machen Sie nur weiter«, antwortete Rearden. »Bisher war alles richtig.«
Als sie zusammen durch das Dunkel zu dem Büro zurückgingen, sagten sie zunächst beide kein Wort.
Rearden hätte vor Freude am liebsten laut gelacht. Er hätte jetzt gern seinerseits Francisco wie ein Verschwörer
zugezwinkert, der hinter ein Geheimnis gekommen war, das Francisco nicht zugeben wollte. Immer wieder
blickte er ihn an, aber Francisco erwiderte den Blick nicht.
Nach einer Weile sagte Francisco: »Sie haben mir das Leben gerettet.« Die Art, wie er das sagte, schloß das
»Danke« ein.
Rearden lachte: »Sie haben mir meinen Hochofen gerettet.«
Sie gingen schweigend weiter. Rearden spürte, wie ihm mit jedem Schritt leichter zumute wurde. Er hob den
Kopf und sah das friedliche Dunkel des Himmels und einen Stern über einem Schornstein, an dem stand:
Rearden Steel. Er freute sich plötzlich seines Lebens.
Er hatte die Veränderung nicht erwartet, die er in Franciscos Gesicht sah, als er ihn in der Helle seines Büros
anblickte. Was er im Glanz des Hochofens gesehen hatte, war verschwunden. Er hatte einen Blick des
Triumphes erwartet, des Spottes über alle Beleidigungen, die Francisco von ihm gehört hatte; einen Blick, der
die Entschuldigung verlangte, die er ihm freudig aussprechen wollte. Statt dessen sah er ein von seltsamer
Entmutigung lebloses Gesicht.
»Sind Sie verletzt?«
»Nein… nein, nicht im geringsten.«
»Kommen Sie mal mit«, befahl Rearden und öffnete die Tür seines Badezimmers.
»Sehen Sie sich selbst an!«
»Lassen Sie nur. Kommen Sie mal mit!«
Zum ersten Mal spürte Rearden, daß er der ältere war. Es machte ihm Freude sich Franciscos anzunehmen. Er
genoß die väterliche Beschützerrolle. Er wusch den Ruß von Franciscos Gesicht, desinfizierte die Wunden und
legte ihm Pflaster auf die Schläfe, die Hände und die Brandwunden an den Ellbogen. Francisco ließ es stumm
geschehen.
Im Ton höchster Anerkennung fragte Rearden: »Wo haben Sie das gelernt?« Francisco zuckte die Achseln.
»Ich bin zwischen Schmelzöfen aller Art aufgewachsen«, antwortete er gleichgültig.
Rearden konnte den Ausdruck in Francis cos Gesicht nicht entziffern: Es war nur ein seltsam ruhiger Blick, als
starrten seine Augen auf eine geheime Vision, die seinen Mund zu trauriger, bitterer, schmerzender
Selbstverspottung verzog.
Sie schwiegen, bis sie wieder im Büro waren.
»Wissen Sie«, sagte Rearden dann, »alles, was Sie gesagt haben, ist wahr. Aber es war nur ein Teil der
Geschichte. Der andere Teil ist das, was wir heute nacht getan haben. Begreifen Sie nicht? Wir sind fähig zu
handeln; sie nicht. Darum werden wir schließlich siegen, ganz gleich, was sie uns antun.«
Francisco antwortete nicht.
»Ich weiß«, sagte Rearden, »was mit Ihnen war. Ihnen hat Ihr Leben lang nie daran gelegen, eine wirkliche
Arbeit zu leisten. Ich glaubte, Sie seien ziemlich eingebildet. Aber ich sehe, daß Sie keine Ahnung von dem
haben, was in Ihnen steckt. Vergessen Sie Ihr Vermögen für eine Weile und arbeiten Sie bei mir. Ich werde Sie
jederzeit als Vorarbeiter am Hochofen einstellen. Sie wissen gar nicht, wie gut Ihnen das tun wird. In ein paar
Jahren werden Sie d’Anconia Copper zu schätzen wissen und bereit sein, die Gesellschaft zu leiten.«
Er erwartete ein schallendes Gelächter und war darauf vorbereitet, ihm Rede und Antwort zu stehen. Statt
dessen sah er, wie Francisco langsam den Kopf schüttelte, als könnte er seiner Stimme nicht trauen, als fürchtete
er, daß er, wenn er spräche, es annehmen würde. Nach einer Weile sagte er: »Mr. Rearden… ich glaube, ich
würde den Rest meines Lebens dafür hingeben, ein Jahr lang Ihr Vorarbeiter am Hochofen sein zu können. Aber
ich kann es nicht.«
»Warum nicht?«
»Fragen Sie mich nicht danach. Es ist… eine persönliche Angelegenheit.«
Die Vorstellung von Francisco, die Rearden sich in seinem Inneren gemacht, über die er sich geärgert und die
er zugleich unwiderstehlich anziehend gefunden hatte, war die eines Menschen, der jedes Leidens unfähig war.
Was er jetzt in Franciscos Augen sah, war eine still und geduldig, mit zäher Selbstbeherrschung getragene Qual.
Francisco griff stumm nach seinem Mantel.
»Sie wollen doch noch nicht gehen?« fragte Rearden.
»Doch.«
»Wollen Sie, was Sie mir zu sagen hatten, nicht zu Ende sagen?«
»Heute nacht nicht.«
»Ich sollte Ihnen eine Frage beantworten. Was war es?« Francisco schüttelte den Kopf.
»Sie begannen, mich zu fragen, wie ich könnte… Wie ich was könnte?« Franciscos Lächeln war wie ein
Stöhnen des Schmerzes, das einzige Stöhnen, das er sich gestattete. »Ich frage Sie nicht mehr danach. Ich weiß
es.«

IV. Die Billigung durch das Opfer

Der Truthahn hatte 30 Dollar gekostet. Der Champagner hatte 25 Dollar gekostet. Das Spitzentischtuch, ein
im Kerzenschein schimmerndes zartes Gewebe aus Trauben und Weinblättern, hatte 2000 Dollar gekostet. Das
Tafelservice aus weißem, durchscheinendem Porzellan mit einem von einem Künstler entworfenen Muster in
Blau und Gold hatte 2500 Dollar gekostet. Das Silber, das die Initialen LR in einem Empire -Lorbeerkranz trug,
hatte 3000 Dollar gekostet. Aber es galt als ungeistig, an Geld und an das, was Geld darstellt, zu denken.
In der Mitte des Tisches stand ein mit Dotterblumen, Trauben und Karotten gefüllter vergoldeter Holzschuh.
Die Kerzen steckten in Kürbissen, in die Gesichter hineingeschnitten waren und aus deren offenen Mündern
Rosinen, Nüsse und Bonbons auf das Tischtuch fielen.
Es war das Erntedank-Essen, und die drei, die Rearden am Tisch gegenüber saßen, waren seine Frau, seine
Mutter und sein Bruder.
»Dies ist der Abend, da wir dem Herrn für seine große Güte danken müssen«, sagte Reardens Mutter. »Gott
ist uns gnädig gewesen. Es gibt viele Leute im Land, die heute abend nichts zu essen im Hause haben. Einige
haben nicht einmal ein Heim, und mehr und mehr werden von Tag zu Tag arbeitslos. Es schaudert mich vor
dem, was ich in der Stadt sehe. Wißt ihr, wem ich in der vorigen Woche zufällig begegnet bin? Lucie Judson –
Henry, erinnerst du dich noch an Lucie Judson? Sie war unsere Nachbarin in Minnesota, als du zwölf Jahre alt
warst. Sie hatte einen Jungen in ungefähr deinem Alter. Ich hatte sie ganz aus den Augen verloren, seit sie nach
New York gezogen war. Das muß mindestens zwanzig Jahre her sein. Es lief mir eiskalt den Rücken runter, als
ich sah, was aus ihr geworden ist – eine zahnlose alte Schlampe in einem Männermantel, die an einer
Straßenecke bettelt. Und ich dachte, ohne Gottes Güte hätte es mir genauso ergehen können.«
»Nun, wenn wir schon von Dank sprechen«, sagte Lillian heiter, »dann sollten wir auch Gertrude, die neue
Köchin, nicht vergessen. Sie ist eine wahre Künstlerin.«
»Was mich betrifft«, sagte Philip, »ich will so altmodisch sein und der liebsten Mutter der Welt danken.«
»Ach«, sagte Reardens Mutter, »wir sollten vor allem Lillian für dieses Abendessen danken. Sie hat Stunden
damit verbracht, den Tisch zu decken. Er ist wirklich etwas ganz Besonderes.«
»Das macht der Holzschuh«, sagte Philip und neigte den Kopf ein wenig zur Seite, um ihn wie ein Kunstwerk
bewundernd zu betrachten. »Er gibt dem Ganzen die besondere Note. Kerzen, Silber und all das andere Zeug
kann jeder haben. Dazu braucht man nur Geld – aber dieser Schuh, so etwas muß einem einfallen.«
Rearden sagte nichts. Das Kerzenlicht glitt über sein bewegungsloses Gesicht wie über ein Porträt; das Porträt
zeigte den Ausdruck unpersönlicher Höflichkeit.
»Du hast deinen Wein noch gar nicht angerührt«, sagte seine Mutter. »Ich finde, du solltest dein Glas erheben,
um den Menschen dieses Landes zu danken, die dir soviel gegeben haben.«
»Henry ist nicht in der Stimmung, Mutter«, sagte Lillian. »Ich fürchte, das Erntedankfest ist nur für die ein
Feiertag, die ein reines Gewissen haben.« Sie hob ihr Weinglas, aber ehe sie es an den Mund führte, fragte sie:
»Du wirst dich doch wohl morgen vor Gericht nicht mit deinen Gegnern auseinandersetzen wollen, Henry?«
»Doch.«
Sie stellte ihr Glas hin. »Was willst du tun?«
»Das wirst du morgen erleben.«
»Du bildest dir doch wohl nicht ein, daß du damit durchkommst.«
»Ich weiß nicht, was du darunter verstehst.«
»Ist dir klar, daß die gegen dich erhobene Anklage äußerst ernst ist?«
»Ja.«
»Du hast zugegeben, daß du das Metall an Ken Danagger verkauft hast.«
»Ja.«
»Du kannst dafür zehn Jahre Gefängnis bekommen.«
»Ich glaube das nicht, aber es ist immerhin möglich.«
»Hast du die Zeitungen gelesen, Henry?« fragte Philip mit einem merkwürdigen Lächeln.
»Nein.«
»Das solltest du aber tun.«
»Ja? Warum?«
»Damit du siehst, als was sie dich bezeichnen.«
»Das ist interessant«, sagte Rearden; er meinte damit Philips vergnügtes Lächeln.
»Ich verstehe das nicht«, sagte seine Mutter. »Gefängnis? Sagtest du Gefängnis, Lillian? Henry, wird man
dich ins Gefängnis stecken?«
»Vielleicht.«
»Aber das ist doch lächerlich! Du mußt etwas dagegen tun!«
»Was?«
»Ich weiß es nicht. Ich verstehe nichts davon. Anständige Menschen kommen nicht ins Gefängnis. Tu etwas!
Bei Geschäften hast du immer gewußt, was du zu tun hattest.«
»Bei dieser Art von Geschäft nicht.«
»Das glaube ich nicht.« Ihre Stimme klang wie die eines verängstigten, verwöhnten Kindes. »Du sagst das
nur, um mich zu erschrecken.«
»Er spielt den Helden, Mutter«, sagte Lillian. Sie lächelte kalt, zu Rearden gewandt. »Findest du nicht, daß
deine Haltung töricht ist?«
»Nein.«
»Du weißt, daß niemand daran liegt, solche Fälle vor Gericht zu bringen. Es gibt Mittel und Wege, das zu
vermeiden, die Dinge freundschaftlich zu regeln – wenn man die richtigen Leute kennt.«
»Ich kenne die richtigen Leute nicht.«
»Denke an Orren Boyle. Er hat viel mehr und viel Schlimmeres getan als du mit deinem kleinen
Schwarzhandel, aber er ist klug genug, sich das Gericht vom Leibe zu halten.«
»Dann bin ich nicht klug genug.«
»Meinst du nicht, es wäre an der Zeit, daß du dich bemühst, dich den heutigen Verhältnissen anzupassen?«
»Nein.«
»Dann kann ich nicht begreifen, daß du so tust, als wärest du eine Art Opfer. Wenn du ins Gefängnis kommst,
ist es deine eigene Schuld.«
»Was meinst du mit ‘so tun’, Lillian?«
»Ach, ich weiß, du glaubst, du kämpfst für irgendein Prinzip – aber in Wirklichkeit ist es nur dein
unglaublicher Dünkel. Der einzige Grund für dein Handeln ist, daß du dir einbildest, im Recht zu sein.«
»Glaubst du, sie seien im Recht?«
Sie zuckte die Achseln. »Das ist ja gerade der Dünkel, von dem ich spreche – der Gedanke, daß es auf Recht
oder Unrecht ankommt. Dieses Darauf-Beharren, immer das Rechte zu tun, ist die unerträglichste Form der
Eitelkeit. Woher weißt du, was gerecht ist? Es ist nur eine Einbildung, um deinem eigenen Ich zu schmeicheln
und andere dadurch zu kränken, daß du dich ihnen gegenüber als den Überlegenen hinstellst.«
Er blickte sie mit gespanntem Interesse an. »Wie kann es andere kränken, wenn es nur eine Einbildung ist?«
»Muß ich besonders betonen, daß es bei dir nur Heuchelei ist? Darum finde ich deine Haltung so lächerlich.
Im menschlichen Leben geht es nicht um Recht oder Unrecht. Und du bist doch auch nur ein Mensch. Du bist
nicht besser als einer der Männer, denen du morgen gegenüberstehst. Ich finde, du solltest nicht vergessen, daß
es dir nicht zusteht, auf irgendeinem Prinzip zu beharren. Vielleicht bist du in diesem besonderen Fall ein Opfer.
Vielleicht spielen sie dir einen bösen Streich. Aber wenn schon. Sie tun es, weil sie schwach sind. Sie konnten
der Versuchung nicht widerstehen, sich deines Metalls zu bemächtigen und an deinem Gewinn teilzuhaben, denn
dies war ihre einzige Chance, reich zu werden. Warum solltest du ihnen das zum Vorwurf machen? Es geht
dabei nur um eine andere, ebenso hemmungslos ausgelebte Variante einer und derselben menschlichen
Schwäche. Für dich ist Geld keine Versuchung, weil es dir so leicht fällt, es zu verdienen. Aber du würdest
anderen Versuchungen nicht widerstehen und würdest genauso schimpflich straucheln. Ist es nicht so? Darum
hast du kein Recht, dich über sie moralisch zu entrüsten. Dir fehlt die moralische Überlegenheit, die du geltend
machen oder verteidigen könntest. Und wenn du sie nicht hast, was hat es dann für einen Sinn, einen Kampf zu
führen, den du doch nicht gewinnen kannst? Wer frei von jeder Schuld ist, könnte vielleicht eine gewisse
Befriedigung darin finden, ein Märtyrer zu sein. Aber du – was gibt dir das Recht, den ersten Stein zu werfen?«
Sie hielt inne, um die Wirkung ihrer Worte auf ihn zu beobachten. Aber sie nahm keine Wirkung wahr. Er
schien sie mit nur noch gespannterem Interesse anzusehen. Er hörte zu, als weckte das, was sie sagte, eine
unpersönliche wissenschaftliche Neugier in ihm. Es war nicht die Reaktion, die sie erwartet hatte.
»Ich glaube, du verstehst mich«, sagte sie.
»Nein«, antwortete er ruhig, »ich verstehe dich nicht.«
»Ich finde, du solltest dich von der Illusion deiner eigenen Vollkommenheit endlich befreien, denn du weißt
genau, daß es nur eine Illusion ist. Ich finde, du solltest lernen, mit anderen Menschen auszukommen. Die Zeit
der Helden ist vorüber. Dies ist die Zeit der Menschlichkeit in einem viel tieferen Sinn, als du es dir vorzustellen
vermagst. Man erwartet nicht mehr von den Menschen, daß sie Heilige sind oder für ihre Sünden bestraft
werden. Niemand hat recht oder unrecht. Wir sind alle Menschen, und der Mensch ist unvollkommen. Du wirst
morgen nichts gewinnen, wenn du beweist, daß sie unrecht haben. Du solltest großzügig sein und nachgeben,
einfach darum, weil es das Vernünftigste für dich ist. Gerade weil sie unrecht haben, solltest du schweigen. Sie
werden das zu schätzen wissen. Mach anderen Konzessionen, und sie werden dir Konzessionen machen. Leben
und leben lassen. Geben und nehmen. Nachgeben und hinnehmen. Das ist die Politik unserer Zeit – und du
solltest dich endlich mit ihr abfinden. Sage mir nicht, du seist zu gut dafür. Du weißt, du bist es nicht. Du weißt,
daß ich es weiß.«
Der Ausdruck in seinen Augen, die wie verträumt in die Ferne blickten, war nicht die Antwort auf das, was
sie sagte. Es war die Antwort auf die Stimme eines Mannes, die er in sich hörte: »Glauben Sie, daß Sie sich nur
einer Verschwörerbande gegenübersehen, die sich Ihres Reichtums bemächtigen will? Sie, der Sie die Quelle des
Reichtums kennen, sollten wissen, daß es viel mehr und etwas viel Schlimmeres ist als das.«
Er wandte seinen Blick Lillian zu. An seiner völligen inneren Gleichgültigkeit ermaß er, wie sehr ihr Ve rsuch
fehlgeschlagen war. Der summende Strom ihrer Beleidigungen war wie das Geräusch einer fernen Nietmaschine,
ein langes ohnmächtiges Drängen, das nichts in ihm erreichte. An jedem Abend, den er in den letzten drei
Monaten zu Hause verbracht hatte, hatte sie ihn immer wieder nachdrücklich an seine Schuld erinnert. Aber er
vermochte keine Schuld zu empfinden. Sie hatte ihn mit der Qual der Scham bestrafen wollen, doch sie hatte
ihm nur die Qual der Langeweile zugefügt.
Er erinnerte sich, er hatte an jenem Morgen im Wayne-Falkland-Hotel einen kurzen Augenblick lang in dem,
womit sie ihn bestrafen wollte, einen Fehler entdeckt, den er aber nicht genauer geprüft hatte. Jetzt machte er ihn
sich zum ersten Mal klar. Sie wollte ihn zwingen, unter dem Gefühl der Entehrung zu leiden. Aber sein eigenes
Ehrgefühl war ihre einzige Waffe. Sie wollte ihn zwingen, seine moralische Verderbtheit zuzugeben, aber nur
seine mo ralische Redlichkeit konnte so einem Urteil Bedeutung beimessen. Sie wollte ihn dadurch kränken, daß
sie ihn ihre Verachtung fühlen ließ, aber sie konnte ihn nur kränken, wenn er ihr Urteil respektierte. Sie wollte
ihn für den Schmerz bestrafen, den er ihr verursacht hatte, und sie benutzte ihren Schmerz wie ein Gewehr, mit
dem sie auf ihn zielte, als ob sie Mitleid von ihm erpressen und dadurch seine Qual noch steigern wollte. Aber
ihre einzige Waffe war sein Wohlwollen, seine Sorge um sie, sein Erbarmen. Ihre einzige Macht war die Macht
seiner Tugenden. Was jedoch würde werden, wenn er ihr das alles entzog?
Er konnte sich nur schuldig fühlen, dachte er, wenn er das Gesetz, das ihn schuldig sprach, als gerecht
anerkannte. Aber er erkannte es nicht an. Er hatte es nie getan. Seine Tugenden, all die Tugenden, die sie
brauchte, um ihn bestrafen zu können, gehorchten einem anderen Gesetz und einem anderen Maßstab. Er fühlte
keine Schuld, keine Scham, keine Reue. Er war sich nicht bewußt, unehrenhaft gehandelt zu haben. Welches
Urteil sie auch über ihn fällte, es ließ ihn gleichgültig. Schon längst hatte er die Achtung vor ihrem Urteil
verloren. Und das einzige, was ihn noch an sie band, war ein letzter Rest von Mitleid.
Aber was war das Gesetz, nach dem sie handelte? Welche Art von Gesetz erlaubte die Vorstellung einer
Strafe, die nur durch die Tugend des Opfers möglich war? Ein Gesetz, dachte er, das allein jene vernichtete, die
versuchten, sich daran zu halten; eine Strafe, unter der allein der Anständige litt, während der Unanständige
ungeschoren davonkam. Konnte man sich etwas Schändlicheres vorstellen, als Tugend mit Schmerz
gleichzusetzen, als die Tugend und nicht das Laster zum Ursprung und zur Antriebskraft des Leidens zu
machen? Wenn er der Schweinehund war, der zu sein sie ihm mit aller Gewalt einreden wollte, dann gingen ihn
seine Ehre und sein moralischer Wert nichts an. Wenn er es nicht war, was bezweckte sie dann damit?
Auf seine Tugend zu zählen und sie als ein Instrument der Qual zu benutzen, die Großzügigkeit des Opfers als
das einzige Mittel zu benutzen, um es zu erpressen, die Geschenke seines Wohlwollens anzunehmen und sie in
eine Waffe zu verwandeln, die den Schenkenden vernichtete… er saß still da und dachte über dies ungeheuerlich
Böse nach, das er zwar mit einem Namen zu bezeichnen vermochte, das er aber doch nicht für möglich halten
konnte.
Eine einzige Frage dröhnte in seinem Inneren: Wußte Lillian genau, was sie tat? War es eine bewußte Politik,
über deren Bedeutung sie sich vollkommen im klaren war? Ihn schauderte. Er haßte sie nicht genug, um es
glauben zu können.
Er blickte sie an. Sie war im Augenblick ganz in die Aufgabe versenkt, einen Plumpudding anzuschneiden,
der, von blauen Flammen umzingelt, auf einer silbernen Schale vor ihr stand. Der bläuliche Schein zuckte über
ihr Gesicht und ihren lachenden Mund. Mit einer eleganten, geschickten Bewegung tauchte sie ein silbernes
Messer in die Flammen. Die eine Schulter ihres schwarzen Samtkleides zierten Metallblätter in den roten,
goldenen und braunen Farben des Herbstes. Sie funkelten im Kerzenlicht.
Er konnte nicht von dem Eindruck loskommen, den er seit drei Monaten gehabt und immer wieder als
unvorstellbar verworfen hatte: daß ihre Rache nicht eine Form der Verzweiflung war, wie er es vermutete,
sondern daß sie sie genoß. Er konnte in ihrem Verhalten keine Spur von Schmerz entdecken. Sie hatte etwas
Zuversichtliches, wie er es nie zuvor an ihr bemerkt hatte. Zum ersten Mal schien sie sich in ihrem Heim zu
Hause zu fühlen. Obwohl sie alles im Hause nach ihrem eigenen Geschmack ausgesucht hatte, hatte sie immer
wie der tüchtige, äußerlich heitere Leiter eines erstklassigen Hotels gewirkt, der sich in seiner Stellung mit
bitterem Lächeln seiner Unterlegenheit dem Besitzer gegenüber bewußt ist. Die Heiterkeit war geblieben, aber
die Bitterkeit war vergangen. Sie hatte nicht an Gewicht zugenommen, aber ihre Züge hatten die Schärfe
verloren, und an ihre Stelle war ein weicherer milderer Ausdruck von Zufriedenheit getreten; selbst ihre Stimme
klang weicher.
Er hörte nicht, was sie sagte. Sie lachte im letzten Aufflackern der blauen Flammen, während er grübelte:
Wußte sie es? Er war sicher, daß er ein Geheimnis entdeckt hatte, das viel größer war als das Problem seiner
Ehe, daß er etwas begriffen hatte, das in der Welt viel verbreiteter war, als er es sich im Augenblick
einzugestehen wagte. Aber einen Menschen dessen für schuldig zu erklären, war ein Urteil, gegen das es keine
Berufung gab, und er wußte, er würde es niemand zutrauen, solange die Möglichkeit eines Zweifels blieb. Nein,
dachte er und sah Lillian an, verzweifelt um Großmut bemüht, nein, er würde es ihr nicht zutrauen. Im Namen
alles dessen, was sie an Charme und Stolz besaß, im Namen solcher Augenblicke, in denen er ein Lächeln der
Freude in ihrem Gesicht gesehen hatte, das Lächeln eines Menschen, im Namen der Liebe, die er, wenn auch nur
kurze Zeit, für sie empfunden hatte, würde er sie nicht als das Böse schlechthin verurteilen.
Der Butler stellte einen Teller Plumpudding vor ihn hin, und er hörte Lillians Stimme: »Wo warst du in den
letzten fünf Minuten, Henry – oder im letzten Jahrhundert? Du hast mir nicht geantwortet. Du hast kein Wort
von dem gehört, was ich sagte.«
»Ich habe es gehört«, erwiderte er ruhig. »Ich weiß nicht, was du erreichen möchtest.«
»Was für eine Frage!« sagte seine Mutter. »So kann doch nur ein Mann fragen. Sie versucht, dich davor zu
bewahren, ins Gefängnis zu kommen – das will sie erreichen.«
Das konnte wahr sein, dachte er. Vielleicht war in ihren kindisch feigen Überlegungen das Motiv ihrer
Bosheit das Verlangen, ihn zu schützen, ihn mürbe zu machen, damit er nach dem Rettungsanker eines
Kompromisses griff. Es ist möglich, dachte er, aber er wußte, daß er es nicht glaubte.
»Du bist immer unbeliebt gewesen«, sagte Lillian, »und das nicht nur aus dem einen oder anderen besonderen
Anlaß. Es ist deine unnachgiebige, störrische Grundhaltung. Die Männer, die über dich zu Gericht sitzen, wissen,
was du denkst. Darum gehen sie so scharf gegen dich vor, während sie jeden anderen ungeschoren lassen.«
»Nein, ich glaube nicht, daß sie wissen, was ich denke. Das werde ich ihnen morgen erst sagen müssen.«
»Wenn du ihnen nicht zeigst, daß du bereit bist nachzugeben und dich zu fügen, hast du keine Chance. Du
hast es ihnen zu schwer gemacht.«
»Nein. Ich habe es ihnen zu leicht gemacht.«
»Aber wenn sie dich ins Gefängnis stecken«, sagte seine Mutter, »was soll dann aus deiner Familie werden?
Hast du dir darüber Gedanken gemacht?«
»Nein.«
»Hast du nicht daran gedacht, in welche Schande du uns bringst?«
»Mutter, verstehst du, worum es in diesem Fall geht?«
»Nein, ich verstehe es nicht und will es auch gar nicht verstehen. Es ist ein schmutziges Geschäft und eine
schmutzige Politik. Jedes Geschäft ist nur schmutzige Politik, und jede Politik ist nur schmutziges Geschäft. Ich
hatte nie das Bedürfnis, davon etwas zu verstehen. Mir ist es gleich, wer recht und wer unrecht hat, aber ich
meine, ein Mann sollte zuerst an seine Familie denken. Weißt du nicht, was dies für uns bedeutet?«
»Nein, Mutter, ich weiß es nicht, und es interessiert mich auch nicht.«
Seine Mutter blickte ihn entsetzt an.
»Mir scheint, ihr habt alle eine sehr provinzielle Haltung«, sagte Philip plötzlich. »Niemand hier macht sich
Gedanken über die größeren sozialen Aspekte des Falls. Ich stimme nicht mit dir überein, Lillian. Ich verstehe
nicht, warum du sagst, sie spielten ihm eine Art bösen Streich und er sei im Recht. Ich glaube, er ist so schuldig,
wie man es nur sein kann. Mutter, ich kann dir die Sache ganz einfach erklären. Es ist nichts Ungewöhnliches
daran. Die Gerichte befassen sich mit Hunderten solcher Fälle. Geschäftsleute vergehen sich gegen die Gesetze,
die das Wohl aller schützen, um ihres persönlichen Gewinns willen. Sie profitieren vom Schwarzmarkt. Sie
bereichern sich, indem sie die Armen in einer Zeit, in der alles knapp ist, um ihren gerechten Anteil betrügen. Sie
verfolgen eine erbarmungslose unsoziale Politik, die nur auf rein eigennütziger Habgier beruht. Es hat keinen
Sinn, das zu bemänteln. Wir wissen es alle, und es ist verachtenswert.« Er sprach leichthin, als ob er einer
Gruppe von Jugendlichen etwas Selbstverständliches erklären würde. Sein Ton verriet die Sicherheit eines
Menschen, der weiß, daß die moralische Grundlage seines Standpunkts über alle Zweifel erhaben ist.
Rearden blickte ihn an, als musterte er einen Gegenstand, den er zum ersten Mal sah. Irgendwo in seinem
Inneren hörte er immer wieder in leiser unerbittlicher Monotonie die Stimme eines Mannes sagen: »Mit welchem
Recht? – Nach welchem Kodex? – Nach welchem Maßstab?«
»Philip«, sagte er, ohne die Stimme zu erheben, »sag das noch einmal, und du stehst im nächsten Augenblick
auf der Straße mit nichts als dem Anzug, den du anhast, und dem Kleingeld in deiner Tasche.«
Er hörte keine Antwort, keinen Laut, keine Bewegung. Er merkte, daß das Schweigen der drei nichts
Betroffenes hatte. Das Erschrecken in ihren Gesichtern war nicht das Erschrecken von Menschen beim
plötzlichen Explodieren einer Bombe, sondern das Erschrecken derer, die wissen, daß sie mit dem Feuer gespielt
haben. Keiner schrie auf, keiner protestierte, keiner stellte eine Frage. Sie wußten, daß es ihm Ernst war, und sie
wußten, was es bedeutete. Der dumpfe Ekel, den er spürte, sagte ihm, daß sie es schon lange vor ihm gewußt
hatten.
»Du… du wirst doch nicht deinen eigenen Bruder auf die Straße jagen«, sagte seine Mutter schließlich. Es
war keine Forderung, sondern eine Bitte.
»Doch.«
»Aber er ist dein Bruder. Sagt dir das gar nichts?«
»Nein.«
»Vielleicht geht er manchmal ein bißchen zu weit, aber er redet das nur so dahin, das ist dieses moderne
Geplapper. Er weiß nicht, was er sagt.«
»Dann wird es Zeit, daß er es lernt.«
»Sei nicht so hart gegen ihn. Er ist jünger als du und… und schwächer. Er… Henry, sieh mich nicht so an! Du
hast noch nie so ein Gesicht gemacht… Du solltest ihn nicht ängstigen. Du weißt, daß er dich braucht.«
»Weiß er es?«
»Du darfst nicht so hart gegen jemand sein, der dich braucht. Es wird dein Gewissen für den Rest deines
Lebens belasten.«
»Das wird es nicht.«
»Du mußt gütig sein, Henry.«
»Ich bin nicht gütig.«
»Du mußt etwas Mitleid haben.«
»Ich habe keines.«
»Ein guter Mensch vergibt.«
»Ich vergebe nicht.«
»Du willst doch nicht, daß ich von dir denke, du seist eigennützig?«
»Ich bin es.«
Philips Augen schweiften von dem einen zum anderen. Er sah wie ein Mensch aus, der fest geglaubt hat, auf
Granit zu stehen, und plötzlich entdeckt, daß es dünnes Eis ist, das überall um ihn herum bricht.
»Aber ich…«, begann er, hielt dann jedoch inne. Seine Stimme erinnerte an Schritte, die tastend die Festigkeit
des Eises erproben. »Aber habe ich denn keine Redefreiheit?«
»In deinem Haus, nicht in meinem.«
»Habe ich kein Recht auf meine eigene Meinung?«
»Auf deine Kosten, nicht auf meine.«
»Duldest du keine andere Meinung?«
»Nein, nicht, wenn ich die Rechnung bezahlen muß.«
»Geht es denn immer nur um Geld?«
»Ja. Es ist schließlich mein Geld.«
»Willst du es denn nicht unter einem hö…«, er wollte sagen »höheren«, sagte dann aber: »einem anderen
Aspekt betrachten?«
»Nein.«
»Aber ich bin nicht dein Sklave.«
»Bin ich deiner?«
»Ich weiß nicht, was du…« Er verstummte. Er wußte, was Rearden meinte.
»Nein«, sagte Rearden, »du bist nicht mein Sklave. Du kannst von hier weggehen, wann immer es dir
beliebt.«
»Davon… davon spreche ich nicht.«
»Aber ich.«
»Ich verstehe nicht…«
»Nein.«
»Du hast immer meine… meine politischen Ansichten gekannt. Du hast noch nie etwas dagegen eingewandt.«
»Das stimmt«, sagte Rearden ernst. »Vielleicht schulde ich dir eine Erklärung, wenn ich dich im unklaren
gelassen habe. Ich habe nie versucht, dich daran zu erinnern, daß du von meiner Gnade lebst. Ich glaubte, es sei
an dir, dich daran zu erinnern. Ich glaubte, jeder Mensch, der die Hilfe eines anderen annimmt, wüßte, daß der
gute Wille das einzige Motiv des Gebenden ist und daß er als Entgelt dafür den Anspruch auf den guten Willen
des anderen hat. Aber ich sehe jetzt, daß ich mich geirrt habe. Du hast unverdient alles, was du zum Leben
brauchtest, bekommen und hast daraus geschlossen, daß man sich auch Zuneigung nicht zu verdienen braucht.
Du hast daraus geschlossen, daß ich derjenige auf der Welt bin, auf den du ohne jedes Risiko spucken könntest,
gerade weil du in totaler Abhängigkeit von mir lebtest. Du hast daraus geschlossen, daß ich dich nicht daran
erinnern wollte und daß mir die Furcht, deine Gefühle zu verletzen, die Hände binden würde. Nun, laß es dir
klipp und klar sagen: Du bist ein Almosenempfänger, der seinen Kredit längst erschöpft hat. Ich habe nicht das
geringste Interesse an dir, deinem Schicksal oder deiner Zukunft. Ich habe keinerlei Grund, für dich
aufzukommen. Wenn du mein Haus verläßt, wird es mir gleich sein, ob du verhungerst oder nicht. Das ist deine
Situation hier, und wenn du bleiben willst, erwarte ich von dir, daß du dir dessen bewußt bist. Wenn nicht, dann
geh!«
Außer daß er den Kopf ein wenig in die Schultern zog, zeigte Philip keine Reaktion. »Glaubst du vielleicht,
mir gefällt das Leben hier?« sagte er mit schriller Stimme. »Wenn du glaubst, ich sei glücklich, dann irrst du
dich. Ich würde alles darum geben, hier wegzukommen.« Die Worte klangen herausfordernd, aber der Ton, in
dem sie gesagt wurden, hatte etwas seltsam Vorsichtiges. »Wenn du solche Gefühle hast, ist es das Beste für
mich zu gehen.« Die Worte klangen wie eine nüchterne Feststellung, aber die Stimme setzte ein Fragezeichen
dahinter. Er erhielt keine Antwort. »Du brauchst dir keine Sorgen um meine Zukunft zu machen. Ich brauche
niemand um Gefälligkeiten zu bitten. Ich kann für mich selber sorgen.« Die Worte waren an Rearden gerichtet,
aber Philips Augen blickten seine Mutter an. Sie blieb stumm. Sie rührte sich nicht einmal vor Angst. »Ich habe
mir immer gewünscht, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich habe mir immer gewünscht, in New York in der Nähe
meiner Freunde zu leben.« Die Stimme senkte sich und fügte nachdenklich kühl hinzu: »Natürlich stände ich
dann vor dem Problem, eine gewisse gesellschaftliche Stellung aufrechtzuerhalten… Es ist nicht meine Schuld,
wenn mir das erschwert wird, weil mein Bruder Millionär ist… Ich würde ein oder zwei Jahre nur genug Geld
brauchen, um mir eine Basis zu schaffen, die meinen…«
»Von mir wirst du es nicht bekommen.«
»Ich habe dich nicht darum gebeten. Glaube doch nicht, daß ich es nicht irgendwo anders bekommen könnte,
wenn ich es wollte! Glaube nur nicht, daß ich nicht fortgehen könnte! Ich würde sofort gehen, wenn ich nur an
mich zu denken hätte. Aber Mutter braucht mich, und wenn ich sie verlasse…«
»Erspare dir weitere Worte.«
»Und außerdem, du hast mich mißverstanden, Henry. Ich habe nichts gesagt, das dich beleidigen könnte. Ich
habe es nicht persönlich gemeint. Ich sprach nur von einem abstrakten soziologischen Blickpunkt aus über die
allgemeine politische Situation…«
»Verbreite dich nicht weiter darüber.« Rearden betrachtete Philips Gesicht. Philip hatte den Kopf halb
gesenkt, und seine Augen sahen zu ihm auf. Die Augen waren ausdruckslos, als ob alles an ihm abgeglitten
wäre. Kein Funke von Erregung, kein Gefühl war darin, weder Herausforderung noch Reue, weder Scham noch
Schmerz. In seinem verschleierten Blick war keine Reaktion auf die Wirklichkeit, kein Versuch, sie zu
verstehen, sie abzuwägen, ein gerechtes Urteil zu fällen, sondern nur ein stumpfer, festsitzender, unbewegter,
unreflektierter Haß.
»Erkläre mir nichts. Halt einfach den Mund.«
Der Ekel, der Rearden sein Gesicht abwenden ließ, enthielt ein leises Mitleid. Einen Augenblick lang hätte er
am liebsten seinen Bruder an den Schultern gepackt, ihn geschüttelt und ihm zugerufen: »Wie konntest du dir
dies antun? Wie konntest du es so weit kommen lassen, daß nur das noch übriggeblieben ist? Warum hast du das
kostbare Geschenk deines Lebens so vergeudet?…« Er sah weg. Er wußte, es war zwecklos.
In müder Verachtung bemerkte er, daß die drei am Tisch immer noch schwiegen. In all den Jahren, die hinter
ihm lagen, hatte seine Rücksicht auf sie ihm nichts als ihre boshaften Vorwürfe eingebracht, zu denen sie sich
durch ihre vermeintliche Rechtschaffenheit berechtigt glaubten. Wo war ihre Rechtschaffenheit jetzt? Dies war
für sie der Zeitpunkt, sich auf den Boden ihrer moralischen Grundsätze zu stellen – falls sie solche Grundsätze
hatten. Warum schleuderten sie ihm nicht all jene Anklagen entgegen, er sei grausam und eigennützig, die zur
ständigen Begleitmusik seines Lebens geworden waren? Was hatte es ihnen erlaubt, das jahrelang zu tun? Er
wußte, daß die Worte, die er in seinem Inneren hörte, der Schlüssel zu der Antwort waren: die Billigung durch
das Opfer.
»Laßt uns nicht streiten«, sagte seine Mutter mit müder, trüber Stimme. »Es ist Erntedankfest.«
Als er Lillian ansah fing er einen Blick auf, der ihm verriet, daß sie ihn schon lange beobachtete: Es war ein
Blick des Entsetzens. Er erhob sich. »Entschuldigt mich bitte jetzt«, sagte er.
»Wohin gehst du?« fragte Lillian scharf.
Er blickte sie einen Augenblick fest an, wie um das zu unterstreichen, was sie in seiner Antwort lesen würde:
»Ich fahre nach New York.«
Sie sprang auf. »Heute abend?«
»Jetzt gleich.«
»Du kannst heute abend nicht nach New York fahren!« Sie sagte das nicht laut, aber ihre Stimme hatte die
gebieterische Hilflosigkeit eines Schreis.
»Zu dieser Zeit kannst du dir das nicht leisten. Ich meine, du kannst es dir nicht leisten, deine Familie im
Stich zu lassen. Du solltest daran denken, daß man eine weiße Weste haben muß. Du bist nicht in einer Situation,
in der du dir etwas erlauben kannst, von dem du weißt, daß es verworfen ist.«
Nach welchen Grundsätzen, dachte Rearden, nach welchem Maßstab?
»Warum willst du heute abend nach New York fahren?«
»Ich glaube, Lillian, aus dem gleichen Grund, aus dem du mich festhalten willst.«
»Morgen ist deine Gerichtsverhandlung.«
»Eben darum.«
Er wandte sich zum Gehen, da sagte sie mit erhobener Stimme: »Ich will nicht, daß du fährst.« Er lächelte. Es
war das erste Mal seit drei Monaten, daß er sie anlächelte. Aber es war ein Lächeln, das zu sehen sie sich kaum
wünschen konnte. »Ich verbiete dir, uns heute abend allein zu lassen.«
Er drehte sich um und verließ den Raum.
Als er am Lenkrad seines Wagens saß, der mit sechzig Meilen in der Stunde über die vereisten Straße
Richtung New York fuhr, schüttelte er den Gedanken an seine Familie von sich ab. Das Bild ihrer Gesichter
verschwamm mit den kahlen Bäumen und den einsamen Häusern längs der Straße im Sog der Geschwindigkeit.
Es war wenig Verkehr, und er sah nur einzelne Lichter in den fernen Städten, an denen er vorüberfuhr. Die Leere
ringsum, das Fehlen jeder Geschäftigkeit war das einzige Zeichen eines Feiertags. Ein eisiger Wind ächzte in den
Fugen seines Wagens und schlug das Segeltuchverdeck gegen den Metallrahmen.
Er konnte es sich selber nicht erklären, wieso er plötzlich an seine Begegnung mit der ‘Amme’, dem Mann
aus Washington in seinem Werk, denken mußte.
Nachdem die Anklageschrift bei ihm eingegangen war, hatte er entdeckt, daß der junge Mann von seinem
Handel mit Danagger gewußt, aber niemand etwas gesagt hatte. »Warum haben Sie mich nicht bei Ihren
Freunden denunziert?« hatte er gefragt.
Ohne ihn anzusehen, hatte der junge Mann brüsk geantwortet: »Ich wollte es nicht.«
»Gehörte es nicht zu Ihren Aufgaben, gerade so etwas aufzudecken?«
»Doch.«
»Ihre Freunde wären außerdem entzückt gewesen, das zu hören.«
»Das weiß ich.«
»Wußten Sie nicht, was für eine wertvolle Information es war und was Sie aus Ihren Freunden in Washington
hätten herausholen können, von denen Sie mir mal gesagt haben – erinnern Sie sich? –, daß sie immer ‘Kosten
verursachen’?« Der junge Mann hatte nicht geantwortet. »Sie hätten dadurch eine Bombenkarriere machen
können.«
»Ich wußte es.«
»Warum haben Sie es sich dann nicht zunutze gemacht?«
»Ich wollte es nicht.«
»Warum nicht?«
»Das weiß ich nicht.«
Der junge Mann hatte verdrießlich dagestanden und war Reardens Blick ausgewichen, als ob er etwas
Unbegreiflichem in sich selbst ausweichen wollte. Rearden hatte gelacht. »Das sage ich Ihnen, Sie Nicht-
Absoluter, Sie spielen mit dem Feuer. Bringen Sie lieber schnell jemand um, ehe Sie Ihre Hemmungen zu stark
werden lassen, die gleichen, die Sie daran gehindert haben, zum Denunzianten zu werden – oder es ist aus mit
Ihrer Karriere.«
Der junge Mann hatte nicht geantwortet.
Heute morgen war Rearden wie gewöhnlich in sein Büro gegangen, obwohl das übrige Gebäude geschlossen
war. Zur Mittagszeit war er am Walzwerk vorbei gekommen. Und zu seinem Erstaunen hatte er dort die
»Amme« angetroffen. Der junge Mann stand allein in einer Ecke. Niemand beachtete ihn. Er sah mit einem
Anflug kindlicher Freude der Arbeit zu.
»Was machen Sie heute hier?« hatte Rearden gefragt. »Wissen Sie nicht, daß Feiertag ist?«
»Ich habe den Mädchen freigegeben, aber ich wollte schnell eine Arbeit fertig machen.«
»Was für eine Arbeit?«
»Ach, Briefe und… ich habe drei Briefe unterschrieben und meine Bleistifte gespitzt. Ich weiß, ich hätte das
heute nicht zu tun brauchen, aber ich hatte zu Hause nichts vor und… es zieht mich immer hierher.«
»Haben Sie keine Familie?«
»Nein… nicht der Rede wert. Wie ist es mit Ihnen, Mr. Rearden? Haben Sie eine?«
»Ich glaube schon… aber auch nicht der Rede wert.«
»Ich liebe das Werk. Ich treibe mich gern hier herum… Sie müssen bedenken, Mr. Rearden, daß ich
Metallurgie studiert habe.«
Als Rearden weiterging, blickte er sich noch einmal um und bemerkte, daß die »Amme« ihm nachsah wie ein
Junge dem Helden seiner Lieblingsabenteuergeschichte. Gott helfe dem armen kleinen Teufel, hatte er gedacht.
Gott helfe ihnen allen, dachte er, als er durch die dunklen Straßen einer kleinen Stadt fuhr und in
geringschätzigem Mitleid die Sprache ihres Glaubens benutzte, den er nie geteilt hatte. Auf Metallständern sah er
Zeitungen ausgehängt. Die schwarzen Buchstaben der Schlagzeilen schrien ins Leere: »Eisenbahnkatastrophe.«
Er hatte die Meldung am Nachmittag im Rundfunk gehört: Auf der Hauptlinie von Taggart Transcontinental
hatte sich in der Nähe von Rockland in Wyoming ein Unfall ereignet. Infolge eines Schienenbruchs war ein
Güterzug über den Rand einer Schlucht gestürzt. Es gab immer öfter Unfälle auf der Taggart-Hauptstrecke. Die
Gleise waren abgenutzt, die Gleise, die Dagny schon vor achtzehn Monaten hatte neu legen lassen wollen, als sie
ihm eine Reise von Küste zu Küste auf seinem eigenen Metall versprochen hatte.
Ein ganzes Jahr lang hatte sie die alten Gleise von stillgelegten Strecken für die Hauptstrecke verwendet.
Monatelang hatte sie mit den Männern von Jims Aufsichtsrat gekämpft, die sagten, der nationale Notstand sei
nur vorübergehend, und eine Strecke, die zehn Jahre lang gehalten habe, könne gut noch einen Winter lang
halten, bis sich die Verhältnisse, wie Mr. Wesley Mouch versprochen hatte, im Frühjahr bessern würden. Vor
drei Wochen hatte sie sie endlich dazu gebracht, den Kauf von sechzigtausend Tonnen neuer Gleise zu
genehmigen. Die Menge reichte zwar nur aus, um quer durch den Kontinent die schlechtesten Stellen des Netzes
auszubessern; aber mehr hatte Dagny von ihnen nicht erreichen können. Sie mußte das Geld Männern abringen,
die vor Angst taub waren: Die Frachteinnahmen gingen in einem Maß zurück, daß die Männer des Aufsichtsrats
zu zittern begannen und sich an Jims Behauptung klammerten, es sei das ertragreichste Jahr in der Geschichte
der Taggart-Eisenbahn. Sie mußte Stahlgleise bestellen. Es bestand keine Hoffnung, eine
»Notstandsgenehmigung« zum Kauf von Rearden Metal zu erhalten, und sie hatte keine Zeit, darum zu betteln.
Rearden blickte von den Schlagzeilen zu dem hellen Schein am Rande des Himmels, der über der fernen Stadt
New York hing; seine Hände packten das Lenkrad fester.
Es war halb zehn, als er die Stadt erreichte. Dagnys Wohnung war dunkel, als er mit seinem Schlüssel die Tür
öffnete. Er nahm den Telefonhörer ab und rief ihr Büro an. Sie meldete sich selber: »Taggart Transcontinental.«
»Weißt du nicht, daß Feiertag ist?« fragte er.
»Oh, Hank. Eisenbahnen haben keine Feiertage. Von wo rufst du an?«
»Aus deiner Wohnung.«
»Ich bin in einer halben Stunde fertig.«
»Gut. Bleib dort. Ich komme zu dir.«
Das Vorzimmer ihres Büros war dunkel, als er eintrat; nur in Eddie Willers Glasgehäuse brannte Licht. Eddie
schloß gerade seinen Schreibtisch ab und war im Begriff zu gehen. Verblüfft blickte er Rearden an.
»Guten Abend, Eddie. Was habt ihr so spät noch zu tun? Der Rockland-Unfall?«
Eddie seufzte. »Ja, Mr. Rearden.«
»Deswegen möchte ich mit Dagny sprechen – wegen der Schienen.«
»Sie ist noch hier.«
Er ging schon auf die Tür zu, als Eddie ihm nachrief: »Mr. Rearden…«
Er blieb stehen. »Ja?«
»Ich wollte sagen – weil Ihre Gerichtsverhandlung morgen ist… und was sie Ihnen auch im Namen des
Volkes antun werden… ich wollte Ihnen nur sagen, daß… es nicht in meinem Namen geschehen wird… selbst
wenn ich nichts dagegen vermag, außer Ihnen dies zu sagen.«
»Es bedeutet viel mehr, als Sie ahnen. Vielleicht mehr, als jeder von uns ahnt. Ich danke Ihnen, Eddie.«
Dagny blickte von ihrem Schreibtisch auf, als Rearden ihr Büro betrat. Er sah, wie sie ihn beobachtete, als er
näherkam, und merkte, wie die Müdigkeit aus ihren Augen wich. Er setzte sich auf die Kante des Schreibtischs.
Sie lehnte sich zurück, strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht, und ihre Schultern entspannten sich unter der
dünnen weißen Bluse.
»Dagny, ich wollte dir da etwas wegen der Schienen sagen, die du bestellt hast. Du sollst es noch heute abend
wissen.«
Sie blickte ihn aufmerksam an; der Ausdruck seines Gesichts übertrug auf ihres den gleichen Ausdruck stiller
feierlicher Spannung.
»Am 15. Februar soll ich Taggart Transcontinental sechzigtausend Tonnen Schienen liefern, das heißt Gleise
für eine dreihundert Meilen lange Strecke. Du wirst – für die gleiche Summe – achtzigtausend Tonnen
bekommen, das heißt Gleise für eine fünfhundert Meilen lange Strecke. Du weißt, welches Material billiger und
leichter ist als Stahl. Deine Schienen werden nicht aus Stahl, sondern aus Rearden Metal sein. Sage nichts
dagegen und stimme auch nicht zu. Ich brauche deine Einwilligung nicht. Du sollst weder einwilligen noch
etwas davon wissen. Ich tue es, und ich bin allein verantwortlich dafür. Wir werden es so machen, daß diejenigen
deiner Mitarbeiter, die wissen, daß du Stahl bestellt hast, nicht erfahren, daß du Rearden Metal bekommst, und
daß jene, die wissen, daß du Rearden Metal bekommen hast, nicht erfahren, daß du es nicht kaufen durftest. Wir
werden es so buchen, daß, wenn es je herauskommen sollte, niemand einem anderen die Schuld zuschieben kann
außer mir. Vielleicht nehmen sie an, daß ich einen deiner Mitarbeiter bestochen habe oder daß du davon wußtest,
aber sie werden es nicht beweisen können. Du solls t mir dein Wort geben, daß du es nie zugeben wirst, was auch
geschehen mag. Es ist mein Metall, und wenn man dabei ein Risiko auf sich nehmen muß, dann nehme ich das
allein auf meine Kappe. Ich habe das bereits seit dem Tag vor, an dem ich deinen Auftrag erhielt. Ich habe das
Kupfer dafür bei jemand bestellt, der mich nicht verraten wird. Ich wollte es dir eigentlich erst später sagen, aber
ich habe meine Meinung geändert. Du sollst es noch heute abend wissen – weil ich morgen des gleichen
Verbrechens wegen vor Gericht stehe.«
Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte sie zugehört. Als er den letzten Satz aussprach, sah er, wie sich ihre
Wangen und Lippen ein wenig verzogen; es war nicht eigentlich ein Lächeln, aber es enthielt ihre ganze
Antwort: Schmerz, Bewunderung, Verständnis.
Dann sah er, wie ihre Augen feucht wurden und bedenklich zuckten – er ergriff ihr Handgelenk, als ob der
feste Griff seiner Finger und die Strenge seines Blicks ihr die Stütze geben sollten, die sie brauchte – und er
sagte in fast hartem Ton: »Danke mir nicht – es ist kein Gefallen – ich tue es, um meine Arbeit ertragen zu
können. Ich werde sonst genauso zusammenbrechen wie Ken Danagger.«
»Gut, Hank«, flüsterte sie. »Ich werde dir nicht danken.«
Aber der Ton ihrer Stimme und der Blick ihrer Augen straften ihre Worte Lügen.
Er lächelte. »Gib mir dein Wort.«
Sie senkte den Kopf. »Ich gebe dir mein Wort.«
Er ließ ihr Handgelenk los. Ohne den Kopf zu heben, fügte sie hinzu: »Ich möchte dir nur noch das eine
sagen, daß, wenn sie dich morgen zu einer Gefängnisstrafe verurteilen, ich meine Arbeit niederlegen werde –
ohne darauf zu warten, daß der Zerstörer mich dazu veranlaßt.«
»Das wirst du nicht tun. Und ich glaube auch nicht, daß sie mich zu Gefängnis verurteilen werden. Ich glaube,
ich werde mit einer ganz geringen Strafe davonkommen. Ich habe eine bestimmte Vermutung – ich werde es dir
später erklären, wenn ich den Beweis dafür habe.«
»Was für eine Vermutung?«
»Wer ist John Galt?« Er lächelte und stand auf. »Das ist alles. Wir werden heute abend kein weiteres Wort
über meine Gerichtsverhandlung verlieren. Hast du nicht zufällig in deinem Büro etwas zu trinken?«
»Nein. Aber ich glaube, der Leiter meiner Verkehrsabteilung hat so etwas wie eine Bar in seinem
Aktenschrank.«
»Glaubst du, daß du dort einen Drink für mich klauen könntest, falls der Schrank nicht abgeschlossen ist?«
»Ich werde es versuchen.«
Er betrachtete das Porträt Nat Taggarts an der Wand ihres Büros – das Porträt eines jungen Mannes mit stolz
erhobenem Kopf –, bis sie mit einer Flasche Cognac und zwei Gläsern zurückkam. Er füllte stumm die Gläser.
»Weißt du, Dagny, das Erntedankfest ist ein Feiertag, den produktive Menschen eingeführt haben, um den
Erfolg ihrer Arbeit zu feiern.«
Die Bewegung seines Arms, als er sein Glas erhob, ging von dem Porträt Nat Taggarts zu ihr, zu ihm selbst,
zu den Häusern der Stadt hinter dem Fenster.
Schon vor einem Monat hatten die Leute, die den Gerichtssaal füllten, durch die Presse erfahren, daß sie den
Mann sehen würden, der ein habgieriger Feind der Gesellschaft war. Aber sie waren gekommen, um den Mann
zu sehen, der Rearden Metal erfunden hatte. Er stand auf, als die Richter ihn dazu aufforderten. Er trug einen
grauen Anzug, hatte hellblaue Augen und blondes Haar. Es waren nicht die Farben, die ihm das Eisig-
Unerbittliche gaben. Es war die Tatsache, daß der Anzug jene schlichte Eleganz besaß, wie man sie in jenen
Tagen selten sah; daß er in das strenge, luxuriöse Büro eines reichen Unternehmers gehörte, daß die Art, wie er
ihn trug, aus einer zivilisierten Epoche kam und nicht in diese Umgebung paßte.
Die Menge wußte aus den Zeitungen, daß er das Böse des grausamen Reichtums verkörperte, und so, wie sie
die Tugend der Keuschheit priesen und dann in einen Film rannten, auf dessen Plakaten eine halbnackte Frau zur
Schau gestellt war, kamen sie, um ihn zu sehen. Das Böse hatte wenigstens nicht die schale Hoffnungslosigkeit
einer Binsenweisheit, an die niemand glaubte und die niemand herauszufordern wagte. Sie blickten ihn ohne
Bewunderung an. Bewunderung war ein Gefühl, dessen sie längst nicht mehr fähig waren. Sie blickten ihn mit
Neugier und mit einem dumpfen Trotz denen gegenüber an, die ihnen gesagt hatten, es sei ihre Pflicht, ihn zu
hassen.
Vor ein paar Jahren hätten sie über den selbstbewußten Reichtum, den er ausstrahlte, gespottet. Aber heute
verhieß der schiefergraue Himmel, der durch das Fenster des Gerichtssaals hereinblickte, den ersten
Schneesturm eines langen harten Winters. Der letzte Tropfen Öl des Landes versickerte, und die
Kohlenbergwerke vermochten mit der hysterischen Jagd nach Brennstoff für den Winter nicht Schritt zu halten.
Die Menge in dem Gerichtssaal erinnerte sich daran, daß dies das Verfahren war, das sie Ken Danagger gekostet
hatte. Es gingen Gerüchte um, daß die Produktion von Danagger Coal binnen eines Monats sichtlich
zurückgegangen war. Die Zeitungen schrieben, das sei nur ein vorübergehender Zustand, bis Danaggers Vetter
die von ihm übernommene Firma reorganisiert habe. In der letzten Woche war auf den Titelseiten von einer
Katastrophe bei einem Bauvorhaben berichtet worden: Defekte Stahlträger waren eingestürzt und hatten vier
Arbeiter erschlagen. Die Zeitungen hatten nicht erwähnt, aber die Menge wußte, daß die Stahlträger von Orren
Boyles Associated Steel geliefert worden waren.
Die Leute saßen in dem Gerichtssaal in bedrücktem Schweigen und blickten die hochgewachsene graue
Gestalt an, nicht hoffnungsvoll – sie hatten die Fähigkeit zu hoffen verloren –, sondern mit einer
leidenschaftslosen Nüchternheit, hinter der ein schwaches Fragezeichen stand. Das Fragezeichen stand hinter all
den frommen Slogans, die sie seit Jahren gehört hatten. Die Zeitungen hatten gezetert, die Ursache der
Schwierigkeiten des Landes sei, wie es dieser Fall bewies, die eigennützige Habgier reicher Industrieller.
Männer wie Hank Rearden waren für die Lebensmittelverknappung, die fallende Temperatur und die berstenden
Dächer der Häuser des Landes verantwortlich. Wenn es nicht Männer gäbe, die gegen die Gesetze verstoßen und
die Regierungspläne durchkreuzen, wäre der Wohlstand längst erreicht. Und Männer wie Hank Rearden würden
sich von nichts anderem leiten lassen als vom Profitgedanken. Dies letzte wurde ohne jede Erklärung festgestellt,
als ob das Wort ‘Profitgedanke’ für sich schon der Nachweis des absolut Bösen wäre.
Die Menge erinnerte sich daran, daß die gleichen Zeitungen vor weniger als zwei Jahren geschrieben hatten,
die Produktion von Rearden Metal müsse verboten werden, denn sein Produzent gefährde aus Habgier das Leben
der Menschen; die Leute erinnerten sich daran, daß der Mann im grauen Anzug im Führerstand der ersten
Lokomotive gestanden hatte, die auf Schienen aus seinem Metall gefahren war, und daß er jetzt vor Gericht
stand, weil er das Verbrechen begangen hatte, der Öffentlichkeit eine Ladung Metall vorzuenthalten und sie aus
Gewinnsucht auf dem Markt anzubieten.
Entsprechend dem durch Verordnungen festgelegten Verfahren wurden Fälle dieser Art nicht von einem
Schwurgericht abgeurteilt, sondern von einem aus drei Richtern bestehenden Gericht, das von dem Büro für
Wirtschaftsplanung und Nationale Bodenschätze ernannt wurde. Das Verfahren, hatten die Verordnungen
bestimmt, sollte formlos und demokratisch sein. Die Richterbank war aus diesem Anlaß aus dem alten
Gerichtssaal entfernt und durch einen auf einer hölzernen Plattform stehenden Tisch ersetzt worden. Das gab
dem Raum eine Atmosphäre, die an eine Vereinsversammlung erinnerte, in der ein Vorstandsgremium den
geistig zurückgebliebenen Mitgliedern etwas weiszumachen versucht.
Einer der Richter, der die Funktion des Staatsanwalts hatte, hatte die Anklageschrift verlesen. »Sie können zu
Ihrer Verteidigung nunmehr das Wort ergreifen«, sagte er.
Zu der Plattform gewandt, antwortete Hank Rearden mit fester, besonders klarer Stimme: »Ich habe nichts zu
meiner Verteidigung vorzubringen.«
»Wollen Sie… «, stotterte der Richter – er hatte nicht erwartet, daß es so leicht werden würde – »…wollen Sie
damit sagen, daß Sie sich in jedem Fall dem Urteil dieses Gerichts beugen?«
»Ich erkenne das Recht dieses Gerichts, mich zu verurteilen, nicht an.«
»Wie?«
»Ich erkenne das Recht dieses Gerichts, mich zu verurteilen, nicht an.«
»Aber, Mr. Rearden, dies ist das gesetzlich eingesetzte Gericht zur Aburteilung dieser besonderen Kategorie
von Verbrechen.«
»Ich sehe in dem, was ich getan habe, kein Verbrechen.«
»Aber Sie haben zugegeben, daß Sie sich gegen die Vorschriften, die den Verkauf Ihres Metalls regeln,
vergangen haben.«
»Ich erkenne Ihr Recht, den Verkauf meines Metalls zu regeln, nicht an.«
»Muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß es nicht darauf ankommt, was Sie anerkennen?«
»Nein. Ich bin mir dessen voll bewußt und handle entsprechend.«
Er bemerkte die Stille im Raum. Nach den Regeln der komplizierten Vorspiegelung falscher Tatsachen, deren
sich all diese Leute zum gegenseitigen Vorteil bedienten, hätten sie seinen Standpunkt als unbegreiflich dumm
betrachten und vor Staunen und Spott unruhig werden müssen, aber sie waren es nicht, sie saßen mäuschenstill
da. Sie verstanden.
»Meinen Sie damit, daß Sie sich weigern, dem Gesetz zu gehorchen?« fragte der Richter.
»Nein. Ich halte mich an jeden Buchstaben des Gesetzes. Nach Ihrem Gesetz kann man über mein Leben,
meine Arbeit und mein Eigentum ohne meine Einwilligung verfügen. Gut, verfügen Sie über mich! Aber ich
beteilige mich nicht daran. Ich will mich nicht verteidigen, wo keine Verteidigung möglich ist, und ich werde
nicht die Illusion nähren helfen, daß es sich hier um ein gerechtes Gericht handelt.«
»Aber, Mr. Rearden, das Gesetz sieht ausdrücklich vor, daß Ihnen die Möglichkeit gegeben werden muß, Ihre
Ansicht über den Fall darzulegen und sich zu verteidigen.«
»Ein vor Gericht stehender Gefangener kann sich nur verteidigen, wenn von seinen Richtern ein objektives
Rechtsprinzip anerkannt wird, ein Prinzip, das seine Rechte wahrt, das sie nicht verletzen dürfen und auf das er
sich berufen kann. Das Gesetz, nach dem Sie urteilen, sagt, daß es keine Prinzipien gibt, daß ich keine Rechte
habe und daß Sie mit mir machen können, was Ihnen beliebt. Tun Sie das!«
»Mr. Rearden, das Gesetz, das Sie schmähen, beruht auf dem höchsten Prinzip – dem Wohl der
Allgemeinheit.«
»Wer ist die Allgemeinheit? Was betrachtet sie als ihr Wohl? Es hat eine Zeit gegeben, in der die Menschen
glaubten, das ‘Wohl’ sei ein Begriff, der durch einen Kodex moralischer Werte definiert werden muß, und daß
niemand das Recht hat, sein Wohl in der Verletzung der Rechte anderer zu suchen. Wenn man jetzt glaubt, daß
meine Mitmenschen mich in jeder ihnen genehmen Art für das opfern dürfen, was sie für ihr eigenes Wohl
halten, wenn sie glauben, daß sie sich meines Eigentums bemächtigen können, nur weil sie es brauchen – dann
handeln sie genauso wie ein Einbrecher. Mit dem Unterschied allerdings, daß der Einbrecher von mir nicht die
Billigung seiner Tat verlangt.«
Eine Anzahl von Plätzen auf der einen Seite des Gerichtssaals war für die prominenten Besucher reserviert,
die aus New York gekommen waren, um der Verhandlung beizuwohnen. Dagny saß reglos, und ihr Gesicht
zeigte nichts als gespannte Aufmerksamkeit. Eine Aufmerksamkeit, in der sich spiegelte, daß das, was er sagte,
auch über ihr Leben entschied. Eddie Willers saß neben ihr. James Taggart war nicht gekommen. Paul Larkin
saß vorgebeugt. Er hatte sein Gesicht wie die Schnauze eines Tiers vorgestreckt, und der Ausdruck der Angst
verwandelte sich jetzt in boshaften Haß. Mr. Mowen, der neben ihm saß, war ein harmloserer Mann mit
geringerem Begriffsvermögen. Seine Furcht war einfacherer Natur. Er lauschte in verwunderter Entrüstung und
flüsterte Larkin zu: »Großer Gott, jetzt ist es heraus! Jetzt hat er es geschafft. Jetzt wird das ganze Land davon
überzeugt sein, daß alle Geschäftsleute Feinde des Gemeinwohls sind!«
»Sollen wir das so verstehen«, fragte der Richter, »daß Sie Ihre eigenen Interessen über die der Öffentlichkeit
stellen?«
»Ich glaube, so eine Frage kann nur in einer Gesellschaft von Kannibalen gestellt werden.«
»Wie… wie meinen Sie das?«
»Ich glaube, daß es unter Menschen, die nicht das Unverdiente fordern und nicht Menschen opfern, keinen
Zusammenstoß der Interessen gibt.«
»Soll das heißen, daß, wenn die Öffentlichkeit es für notwendig hält, Ihre Gewinne zu beschneiden, Sie ihr
Recht dazu nicht sehen?«
»Doch. Die Öffentlichkeit kann zu jeder beliebigen Zeit meine Gewinne beschneiden – indem sie sich
weigert, meine Produkte zu kaufen.«
»Wir sprechen… von anderen Methoden.«
»Jede andere Methode der Beschneidung von Gewinnen ist die Methode von Plünderern – und als solche sehe
ich sie.«
»Mr. Rearden, dies ist wohl kaum die richtige Art, sich zu verteidigen.«
»Ich habe schon gesagt, daß ich mich nicht verteidigen will.«
»Aber das ist ja beispiellos! Ist Ihnen nicht die Schwere der Vorwürfe gegen Sie bewußt?«
»Sie interessieren mich nicht.«
»Sind Ihnen die möglichen Konsequenzen Ihres Standpunktes klar?«
»Vollkommen.«
»Es ist die Meinung dieses Gerichts, daß die vom Staatsanwalt dargelegten Fakten zu keiner Milde
berechtigen. Die Strafe, die dieses Gericht über Sie verhängen kann, ist äußerst schwer.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an!«
»Wie bitte?«
»Fällen Sie Ihr Urteil!«
Die drei Richter blickten einander an. Dann wandte sich ihr Sprecher wieder an Rearden. »Das hat es noch nie
gegeben«, sagte er.
»Das ist völlig regelwidrig«, sagte der zweite Richter. »Das Gesetz fordert, daß Sie Tatsachen zu Ihrer
Verteidigung vorbringen. Anderenfalls müssen Sie zu Protokoll geben, daß Sie sich der Entscheidung des
Gerichtes beugen.«
»Ich tue es nicht.«
»Aber Sie müssen es tun.«
»Meinen Sie damit, daß das, was Sie von mir erwarten, sozusagen ein freiwilliger Akt ist?«
»Ja.«
»Freiwillig tue ich nichts.«
»Aber das Gesetz fordert, daß das, was der Angeklagte zu seiner Verteidigung vorbringt, zu Protokoll
genommen wird.«
»Meinen Sie damit, daß Sie meine Hilfe brauchen, um dieses Verfahren legal zu machen?«
»Nein… Ja… Es soll damit der Form Genüge getan werden.«
»Ich werde Ihnen nicht helfen.«
Der dritte und jüngste Richter, der als Staatsanwalt fungiert hatte, rief ungeduldig: »Das ist lächerlich und
unfair! Wollen Sie, daß es so aussieht, als ob ein so prominenter Mann wie Sie verurteilt würde, ohne… «
Er hielt plötzlich inne. Irgendwo hinten im Gerichtssaal tat jemand einen langen Pfiff.
»Ich will«, sagte Rearden ernst, »daß jeder sieht, welcher Art dieses Verfahren ist. Wenn Sie meine Hilfe
brauchen, um das zu verschleiern, dann werde ich Ihnen nicht helfen.«
»Aber wir geben Ihnen doch die Möglichkeit, sich zu verteidigen – und Sie sind es, der sie ausschlägt.«
»Ich werde Ihnen nicht helfen, so zu tun, als ob ich diese Möglichkeit hätte. Ich werde Ihnen nicht helfen, den
Anschein der Rechtlichkeit zu wahren, wo Rechte nicht anerkannt werden. Ich werde Ihnen nicht helfen, den
Anschein des Vernunftmäßigen zu wahren, indem ich mich in eine Debatte einlasse, in der ein Revolver das
letzte Argument ist. Ich werde Ihnen nicht helfen, so zu tun, als ob Sie Recht sprechen würden.«
»Aber das Gesetz zwingt Sie, sich zu verteidigen!« Im Hintergrund des Gerichtssaals vernahm man ein
Lachen. »Das is t der schwache Punkt in Ihrer Theorie, meine Herren«, sagte Rearden ernst, »und ich werde
Ihnen nicht aus der Klemme helfen. Wenn Sie durch Zwang etwas von Menschen erreichen wollen, dann tun Sie
es. Aber Sie werden entdecken, daß Sie die freiwillige Mitarbeit Ihrer Opfer in viel größerem Maße brauchen, als
Sie es jetzt erkennen. Und Ihre Opfer sollen entdecken, daß ihr eigener Wille, den Sie nicht erzwingen können,
Sie überhaupt erst möglich macht. Ich bin entschlossen, mich nicht zu widersetzen und Ihnen zu gehorchen – so
wie Sie es von mir verlangen. Was immer Sie von mir verlangen, ich werde es tun, wenn Sie mir einen Revolver
vorhalten. Wenn Sie mich zu Gefängnis verurteilen, werden Sie mich durch bewaffnete Männer dorthin bringen
lassen müssen. Freiwillig werde ich keinen Schritt tun. Wenn Sie mich zu einer Geldstrafe verurteilen, werden
Sie mein Eigentum beschlagnahmen müssen, um die Geldstrafe einzutreiben. Freiwillig werde ich sie Ihnen
nicht bezahlen. Wenn Sie glauben, berechtigt zu sein, mich zu zwingen, dann benutzen Sie Ihre Revolver offen.
Ich werde Ihnen nicht helfen, Ihr Handeln zu verschleiern.«
Der älteste Richter beugte sich über den Tisch vor und sagte in spöttisch süßlichem Ton: »Sie sprechen, als ob
Sie für irgendein Prinzip kämpften, Mr. Rearden, aber in Wirklichkeit kämpfen Sie doch nur für Ihren Besitz,
nicht wahr?«
»Ja, natürlich. Ich kämpfe für meinen Besitz. Kennen Sie das Prinzip, das er darstellt?«
»Sie posieren als Freiheitskämpfer, aber es ist nur die Freiheit, Geld zu machen, um die es Ihnen geht.«
»Ja, gewiß. Alles, was ich begehre, ist die Freiheit, Geld zu machen. Wissen Sie, was diese Freiheit
einschließt?«
»Sie wollen doch bestimmt nicht, Mr. Rearden, daß Ihre Haltung mißverstanden wird. Sie wollen nicht den
weitverbreiteten Eindruck verstärken, daß Sie ein jeden sozialen Gewissens barer Mann sind, ein Mann, den das
Wohl seiner Mitmenschen nicht interessiert und der für seinen eigenen Profit arbeitet.«
»Ich arbeite nur für meinen eigenen Profit. Ich verdiene ihn.«
In der Menge hinter ihm stöhnte jemand, aber nicht aus Entrüstung, sondern aus Verwunderung, während die
Richter ihm gegenüber schwiegen. Er fuhr ruhig fort: »Nein, ich möchte nicht, daß meine Haltung
mißverstanden wird. Ich stelle das gern für das Protokoll fest. Ich stimme vollkommen mit allem überein, was
über mich in den Zeitungen geschrieben wird – mit den Tatsachen, aber nicht mit dem Werturteil. Ich arbeite für
nichts als für meinen eigenen Profit – den ich dadurch erziele, daß ich ein Produkt an Menschen verkaufe, die es
brauchen und es kaufen wollen und können. Ich produziere nicht zu ihrem Vorteil auf meine Kosten. Ich opfere
ihnen nicht meine Interessen, noch opfern sie mir ihre. Wir handeln als Gleiche in gegenseitiger Einwilligung
zum gegenseitigen Vorteil. Und ich bin stolz auf jeden Cent, den ich auf diese Art verdient habe. Ich bin reich,
und ich bin stolz auf jeden Cent, den ich besitze. Ich habe mein Geld durch eigene Anstrengung in freiem
Austausch und durch die freiwillige Zustimmung aller verdient, mit denen ich je Geschäfte gemacht habe; die
freiwillige Zustimmung derjenigen, die mich beschäftigt haben, als ich begann; die freiwillige Zustimmung
derjenigen, die jetzt für mich arbeiten; die freiwillige Zustimmung derjenigen, die meine Produkte kaufen. Ich
beantworte alle Fragen, die Sie mir nicht offen zu stellen wagen. Wünsche ich, meinen Arbeitern mehr zu
zahlen, als ihre Leistungen mir wert sind? Nein. Wünsche ich, meine Produkte für weniger zu verkaufen, als
meine Kunden mir zu zahlen bereit sind? Nein. Wünsche ich, sie mit Verlust zu verkaufen oder zu verschenken?
Nein. Wenn das ein Verbrechen ist, dann machen Sie mit mir, was Ihnen beliebt, entsprechend den Maßstäben,
an die Sie sich halten. Dies sind meine. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt, wie es jeder anständige Mensch
muß. Ich weigere mich, die Tatsache als Schuld anzuerkennen, daß ich lebe und daß ich arbeiten muß, um zu
leben. Ich weigere mich, die Tatsache als Schuld anzuerkennen, daß ich arbeiten kann und daß ich gut arbeiten
kann. Ich weigere mich, die Tatsache als Schuld anzuerkennen, daß ich besser arbeiten kann als die meisten
Menschen, die Tatsache, daß meine Arbeit von größerem Wert ist als die meiner Nachbarn und daß mehr
Menschen bereit sind, mich zu bezahlen. Ich weigere mich, mich für mein Können zu entschuldigen. Ich weigere
mich, mich für meinen Erfolg zu entschuldigen. Ich weigere mich, mich für mein Geld zu entschuldigen. Wenn
das ein Verbrechen ist, dann machen Sie es sich zunutze. Wenn die Öffentlichkeit findet, daß das ihren
Interessen schadet, dann lassen Sie die Öffentlichkeit mich vernichten. Dies sind meine Grundsätze, und ich
erkenne keine anderen an. Ich könnte Ihnen sagen, daß ich mehr für meine Mitmenschen getan habe, als was Sie
zu vollbringen je hoffen können. Aber ich sage es nicht, denn ich brauche das Wohl der anderen nicht als
Rechtfertigung meines Daseins und ich erkenne das Wohl der anderen auch nicht als Rechtfertigung dafür an,
daß sie sich meines Besitzes bemächtigen oder mein Leben vernichten. Ich sage nicht, daß das Wohl anderer das
Ziel meiner Arbeit war. Mein Wohl war mein Ziel. Und ich verachte Menschen, die auf ihr Wohl verzichten. Ich
könnte Ihnen sagen, daß Sie nicht dem Gemeinwohl dienen; daß das Wohl von niemand um den Preis von
Menschenopfern erreicht werden kann; daß, wenn Sie die Rechte eines Menschen verletzen, Sie die Rechte aller
verletzen, und daß eine Öffentlichkeit, die sich aus Rechtlosen zusammensetzt, zur Vernichtung verurteilt ist. Ich
könnte Ihnen sagen, daß Sie nur allgemeine Verwüstung erreichen werden und können – wie jeder Plünderer,
dem es schließlich an Opfern fehlt. Ich könnte es sagen, aber ich sage es nicht. Es ist nicht Ihre konkrete Politik,
die ich ablehne, sondern Ihre moralische Prämisse. Wenn es wahr wäre, daß Menschen ihr Wohl dadurch
erreichen könnten, daß sie einige Menschen zu Opfertieren machen, und wenn man von mir verlangen würde,
mich selbst zu verstümmeln für Menschen, die um den Preis meines Blutes weiterleben wollen, wenn man von
mir verlangen würde, den Interessen der Gesellschaft zu dienen, unter Absehung von und entgegen meinen
Interessen, würde ich mich weigern, ich würde es als das schlimmste Verbrechen verwerfen, ich würde mit aller
Macht, die ich besitze, dagegen kämpfen, ich würde gegen die ganze Menschheit kämpfen, wenn mir nur noch
eine Minute verbliebe, ehe ich ermordet würde. Ich würde kämpfen in der vollen Gewißheit der Gerechtigkeit
meines Kampfes und des Rechts jedes Menschen auf Leben. Täuschen Sie sich nicht über mich. Wenn es der
Glaube meiner Mitmenschen ist, die sich selbst als Öffentlichkeit bezeichnen, daß ihr Wohl Opfer fordert, dann
sage ich: Das Gemeinwohl sei verdammt, und ich will nichts damit zu tun haben!«
Die Menge brach in Beifall aus.
Rearden, der darüber mehr verblüfft war als seine Richter, drehte sich um. Er sah Gesichter, die vor Erregung
lachten, und Gesichter, die um Hilfe flehten. Er sah den Ausbruch ihrer stummen Verzweiflung. Er sah die seiner
eigenen gleiche Wut und Empörung, die sich in ihrem wilden Jubel Luft machten. Er sah bewundernde und
hoffnungsvolle Blicke. Daneben die Gesichter junger Revoluzzer-Typen und ihrer aggressiv ungepflegten
weiblichen Pendants. Die Sorte, die sich jedes Mal mokiert, wenn sie einen anständig gekleideten
Geschäftsmann sieht. Aber sie versuchten keine Gegendemonstration, sondern blieben stumm. Als er in die
Menge blickte, sahen die Menschen in seinem Gesicht, was die Drohungen der Richter nicht zu wecken
vermocht hatten: das erste Zeichen eines Gefühls.
Kurz darauf hörten sie, wie ein Hammer wütend auf den Tisch schlug und einer der Richter brüllte: »… sonst
lasse ich den Gerichtssaal räumen.«
Als er sich wieder dem Tisch zuwandte, schweiften Reardens Augen über die Reihen der Prominenten. Sein
Blick ruhte einen Moment auf Dagny, ein Blick, den nur sie verstand, als ob er sagte: »Es tut seine Wirkung.«
Wenn ihre Augen nicht so unnatürlich groß gewesen wären, hätte sie ruhig gewirkt. Eddie Willers lächelte auf
die Art, die bei einem Mann die Tränen ersetzt. Mr. Mowen machte ein bestürztes Gesicht. Paul Larkin starrte
auf den Fußboden. Weder in Bertram Scudders noch in Lillians Gesicht regte sich ein Muskel. Sie saß am Ende
einer Reihe, hatte die Beine übereinandergeschlagen, und eine Nerzstola fiel lässig von ihrer rechten Schulter zu
ihrer linken Hüfte herunter. Sie blickte Rearden an, ohne sich zu rühren.
Im Sturm der Gefühle, die in ihm tobten, wurde ihm ein leises Bedauern, eine Sehnsucht bewußt: Es gab ein
Gesicht, das zu sehen er gehofft, nach dem er von Beginn der Verhandlung an gesucht, dessen Präsenz er sich
mehr gewünscht hatte als die jedes anderen Gesichts. Aber Francisco d’Anconia war nicht gekommen.
»Mr. Rearden«, sagte der älteste Richter mit einem leutseligen, vorwurfsvollen Lächeln und breitete die Arme
aus: »Es ist höchst bedauerlich, daß Sie uns so völlig mißverstanden haben. Das macht alles so schwer, daß
Geschäftsleute uns nicht vertrauensvoll und freundschaftlich entgegenkommen. Sie scheinen zu glauben, daß wir
Ihre Feinde sind. Warum sprechen Sie von Menschenopfern? Warum verlieren Sie sich in solche Extreme? Wir
haben nicht die Absicht, Ihnen Ihr Eigentum zu nehmen oder Ihr Leben zu vernichten. Wir wollen Ihre
Interessen nicht schädigen. Wir sind uns Ihrer großartigen Leis tungen voll bewußt. Wir haben nur das eine Ziel,
den sozialen Druck auszugleichen und allen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Diese Verhandlung soll keine
Gerichtsverhandlung sein, sondern eine freundschaftliche Diskussion, die ein gegenseitigem Verständnis und
eine Zusammenarbeit erstrebt.«
»Wenn man mir einen Revolver vorhält, bin ich nicht zur Zusammenarbeit bereit.«
»Warum von Revolvern sprechen? Diese Sache ist nicht ernst genug, um solche Anspielungen zu
rechtfertigen. Wir sind uns durchaus bewußt, daß die Hauptschuld in diesem Fall bei Mr. Kenneth Danagger
liegt, der diese Gesetzesübertretung angestiftet, der Druck auf Sie ausgeübt und der seine Schuld dadurch
bekannt hat, daß er verschwunden ist, um der Verurteilung zu entgehen.«
»Nein. Wir haben es in gegenseitiger freiwilliger Vereinbarung getan.«
»Mr. Rearden«, sagte der zweite Richter, »Sie teilen vielleicht einige unserer Ideen nicht. Aber im Grunde
arbeiten wir für die gleiche Sache. Für das Wohl des Volkes. Wir sind uns klar darüber, daß Sie durch die
kritische Situation der Kohlenbergwerke und die außerordentliche Bedeutung des Brennstoffs für das
Gemeinwohl dazu verleitet worden sind, gesetzliche Vorschriften nicht zu beachten.«
»Nein. Ich habe mich dabei nur von dem Gedanken an meinen Profit und meine eigenen Interessen leiten
lassen. Wie sich das auf die Kohlenbergwerke und das Gemeinwohl ausgewirkt hat, das zu beurteilen, ist Ihre
Sache. Mir war das jedenfalls gleichgültig.«
Mr. Mowen blickte verwirrt um sich und flüsterte Paul Larkin zu: »Irgend etwas stimmt hier nicht.«
»Ach, halten Sie den Mund«, sagte Larkin.
»Ich bin sicher, Mr. Rearden«, sagte der älteste Richter, »daß Sie nicht wirklich glauben – noch daß es die
Öffentlichkeit glaubt –, daß wir Sie als Opfertier behandeln wollen. Wenn sich jemand diese falsche Vorstellung
gemacht haben sollte, dann liegt uns allen daran zu beweisen, daß es nicht wahr ist.«
Die Richter zogen sich zur Beratung zurück. Sie blieben nicht lange weg. Als sie zur Urteilsverkündung in
den Gerichtssaal zurückkehrten, umgab sie eine unheimliche Stille. Das Urteil lautete: fünftausend Dollar
Geldstrafe für Henry Rearden und – Aussetzung der Strafe.
Im brausenden Applaus, der durch den Gerichtssaal hallte, vernahm man spöttisches Gelächter. Der Applaus
galt Rearden, das Gelächter den Richtern.
Rearden stand reglos, er blickte sich nicht zu der Menge um, hörte kaum den Beifall und sah nur die Richter
an. In seinem Gesicht spiegelte sich kein Triumph, kein Stolz, nur eine bittere Verwunderung. Er erkannte
plötzlich, wie klein der Feind war, der die Welt zerstörte. Es kam ihm vor, als ob er nach einer jahrelangen Reise
durch eine verwüstete Landschaft, an den Ruinen großer Fabriken, den Trümmern mächtiger Maschinen, den
Körpern unbesiegbarer Menschen vorüber, auf den Zerstörer gestoßen wäre. Er hatte erwartet, einen Riesen zu
finden – und hatte eine Ratte gefunden, die sich beim ersten Geräusch der Schritte eines Menschen eiligst in ihr
Loch verkroch. Wenn das uns geschlagen hat, dachte er, dann liegt die Schuld bei uns.
Durch die Menschen, die sich um ihn drängten, wurde er in die Wirklichkeit zurückgeholt. Er lächelte in
Erwiderung ihres Lächelns, der glühenden Erregung ihrer Gesichter; es war eine leise Trauer in seinem Lächeln.
»Gott segne Sie, Mr. Rearden«, sagte eine alte Frau, die einen zerrissenen Schal um ihren Kopf gebunden
hatte. »Können Sie uns nicht retten, Mr. Rearden? Sie fressen uns bei lebendigem Leibe, und es hat keinen Sinn,
sich vorzumachen, daß sie nur hinter den Reichen her sind – wissen Sie, was uns geschieht?«
»Hören Sie, Mr. Rearden«, sagte ein Mann, der wie ein Fabrikarbeiter aussah, »es sind die Reichen, die uns in
den Abgrund stürzen. Sagen Sie diesen reichen Idioten, die so sehr darauf bedacht sind, alles zu verschenken,
daß sie, wenn sie ihre Paläste verschenken, unsere Haut mitverschenken.«
»Ich weiß«, sagte Rearden. Es ist unsere Schuld, dachte er. Wenn wir, die Beweger, die Versorger, die
Wohltäter der Menschheit, bereit sind, uns mit dem Brandmal des Bösen kennzeichnen zu lassen und stumm die
Bestrafung für unsere Tugenden zu ertragen – welche Art von »Wohl« erwarten wir dann in der Welt
triumphieren zu sehen? Er blickte auf die Menschen rings um sich. Sie hatten ihn heute umjubelt; sie hatten ihn
längs der Gleise der John-Galt -Linie umjubelt. Aber morgen würden sie von Wesley Mouch eine neue
Verordnung fordern und von Orren Boyle den Bau einer neuen Siedlung, während Boyles Stahlträger über ihren
Köpfen zusammenbrachen. Sie würden es tun, weil man ihnen sagen würde, daß sie – als Sünde – vergessen
müßten, was sie Hank Rearden hatte umjubeln lassen.
Warum waren sie bereit, ihren höchsten Augenblicken als Sünde zu entsagen? Warum waren sie gewillt, das
Beste in sich zu verraten? Was ließ sie glauben, daß diese Erde ein Reich des Bösen und ihre Verzweiflung ihr
natürliches Schicksal war? Er kannte den Grund nicht, aber er wußte, daß er ihn entdecken mußte. Es war ihm,
als würde sich in dem Gerichtssaal vor ihm eine entscheidende Frage stellen, die zu beantworten jetzt seine
Pflicht war.
Dies war die ihm auferlegte wirkliche Strafe, dachte er – zu entdecken, welche einfache, für den Einfältigsten
faßliche Idee die Menschheit dazu gebracht hatte, die Lehren anzunehmen, die zu ihrer Selbstvernichtung
führten.
»Hank, ich werde nie wieder glauben, es sei hoffnungslos«, sagte Dagny an dem Abend nach der
Gerichtsverhandlung. »Ich werde nie wieder in die Versuchung kommen, alles zu verlassen. Du hast bewiesen,
daß das Recht immer seinen Gang geht und immer siegt…« Sie hielt inne, fügte dann hinzu: »Vorausgesetzt, daß
man weiß, was Recht ist.«
Beim Abendessen am nächsten Tag sagte Lillian zu ihm: »Du hast also gewonnen.« Ihre Stimme klang
gleichgültig; sie sagte nichts weiter. Sie betrachtete ihn, als grüble sie über ein Rätsel.
Die »Amme« fragte ihn im Werk: »Mr. Rearden, was ist eine moralische Prämisse?«
»Das, was Ihnen sehr viele Schwierigkeiten bereiten wird.« Der junge Mann runzelte die Stirn, dann zuckte er
die Achseln und sagte lachend: »Gott, war das eine wundervolle Schau! Wie Sie es denen gegeben haben, Mr.
Rearden! Ich saß am Radio und habe vor Freude gebrüllt.«
»Woher wissen Sie, daß ich es ihnen gegeben habe?«
»Nun, das haben Sie doch getan, oder nicht?«
»Sind Sie dessen so sicher?«
»Ganz sicher.«
»Das, was Sie sicher macht, ist eine moralische Prämisse.«
Die Zeitungen hüllten sich in Schweigen. Nach der übertriebenen Aufmerksamkeit, die sie dem Fall
geschenkt hatten, taten sie jetzt so, als ob die Gerichtsverhandlung nicht der Erwähnung wert wäre. An
versteckten Stellen erschienen kurze Berichte, die so nichtssagend abgefaßt waren, daß kein Leser darin auch nur
die geringste Andeutung der Kontroverse entdecken konnte.
Die Geschäftsleute, denen er begegnete, schienen das Thema seiner Gerichtsverhandlung nicht berühren zu
wollen. Einige äußerten überhaupt nichts darüber, sondern wandten sich ab, und ihre Gesichter verrieten unter
der Maske der Gleichgültigkeit einen seltsamen Groll. Es war, als ob sie fürchteten, allein die Tatsache, daß sie
ihn ansahen, könne als Parteinahme gewertet werden. Andere wagten zu sagen: »Nach meiner Meinung,
Rearden, war es äußerst unklug von Ihnen… Mir scheint, dies ist kaum die Zeit, in der man sich Feinde machen
darf… Wir können es uns nicht leisten, Ärger zu erregen.«
»Wessen Ärger?« fragte er.
»Ich glaube, die Regierung wird das nicht gerade schätzen.«
»Sie haben ja gesehen, was das für Folgen hat.«
»Nun, ich weiß nicht… Die Öffentlichkeit wird es nicht hinnehmen. Man wird sich bestimmt sehr entrüsten.«
»Sie haben ja gesehen, wie die Öffentlichkeit es aufgenommen hat.«
»Nun, ich weiß nicht… Wir haben uns bemüht, all diesen Bezichtigungen eigennütziger Habgier keinen
Grund zu geben – und Sie haben dem Feind die Waffen geliefert.«
»Wollen Sie lieber mit dem Feind darin übereinstimmen, daß Sie kein Recht auf Ihren Gewinn und Ihren
Besitz haben?«
»O nein, nein. Gewiß nicht – aber warum immer so extrem sein? Es läßt sich stets eine mittlere Stellung
beziehen.«
»Eine mittlere Stellung zwischen Ihnen und Ihren Mördern?«
»Warum solche Worte gebrauchen?«
»War das, was ich vor Gericht gesagt habe, wahr oder nicht?«
»Es wird falsch zitiert und mißverstanden werden.«
»War es wahr oder nicht?«
»Die Öffentlichkeit ist zu dumm, um so etwas zu begreifen.«
»War es wahr oder nicht?«
»Es ist nicht die Zeit, sich mit seinem Reichtum zu brüsten, wenn die Bevölkerung hungert. Man stachelt sie
dadurch nur an, sich jeden Besitzes zu bemächtigen.«
»Aber können Sie sie davon abhalten, indem Sie ihnen sagen, daß Sie selbst kein Recht auf Ihren Reichtum
haben?«
»Nun, ich weiß nicht…«
»Das, was Sie in Ihrer Gerichtsverhandlung gesagt haben, gefällt mir nicht«, sagte ein anderer Mann. »Ich
kann Ihnen da überhaupt nicht zustimmen. Ich selber bin stolz darauf zu glauben, daß ich für das Gemeinwohl
und nicht nur für meinen eigenen Profit arbeite. Es ist mir ein lieber Gedanke, daß ich höhere Ziele habe, als nur
meine drei Mahlzeiten täglich und meine Hammond-Limousine.«
»Und mir ist gar nicht wohl bei der Vorstellung, daß es keine Verordnungen und keine Kontrollen geben
soll«, sagte ein anderer. »Ich gebe zu, daß die es ein bißchen zu toll treiben. Aber gar keine Kontrollen? Damit
bin ich nicht einverstanden. Ich glaube, einige Kontrollen sind notwendig. Die, die dem Gemeinwohl dienen.«
»Es tut mir leid, meine Herren«, sagte Rearden, »daß ich, um meinen Kopf zu retten, auch Ihre Köpfe retten
muß.«
Eine Gruppe von Geschäftsleuten, die von Mr. Mowen angeführt wurde, äußerte sich überhaupt nicht über die
Verhandlung. Aber eine Woche später teilte sie mit einem ungewöhnlichen Aufwand an Propaganda mit, dass
sie Geldmittel für einen Spielplatz für die Kinder der Arbeitslosen zur Verfügung gestellt hatte.
Bertram Scudder erwähnte die Gerichtsverhandlung in seinem Kommentar nicht. Aber zehn Tage später
schrieb er unter anderen Klatschgeschichten: »Die Tatsache, daß von allen sozialen Gruppen gerade seine
Kollegen Mr. Hank Rearden ablehnen, beweist hinreichend seinen öffentlichen Wert. Seine altmodische
Unerbittlichkeit scheint selbst diesen räuberischen Profitbaronen zuviel zu sein.«
An einem Dezemberabend – als die Straße hinter seinem Fenster vom vorweihnachtlichen Verkehr dröhnte –
saß Rearden in seinem Zimmer im Wayne-Falkland-Hotel und kämpfte mit einem Feind, der gefährlicher war als
Schwäche oder Angst: Ekel vor dem Gedanken, mit Menschen umgehen zu müssen. Er hatte kein Verlangen, auf
die Straße zu gehen, keine Lust, sich zu bewegen, als wäre er an seinen Stuhl und sein Zimmer angekettet.
Stundenlang hatte er versucht, ein Gefühl, das ihn wie Heimweh quälte, zu verdrängen: sein Wissen, daß der
einzige Mann, den zu sehen er sich sehnte, hier in diesem Hotel weilte.
In den letzten Wochen hatte er sich dabei ertappt, daß er, wenn er das Hotel betrat oder verließ, sich eine
Weile in der Halle aufhie lt, unnötig Zeit am Postschalter oder Zeitungsstand vertrödelte und die vorbeieilenden
Menschen beobachtete in der Hoffnung, Francisco unter ihnen zu sehen. Er hielt, wenn er allein im Restaurant
des Wayne-Falkland aß, den Blick unentwegt auf den Vorhang geheftet, der die Eingangstür verhüllte, und jetzt,
in seinem Zimmer, ertappte er sich bei dem Gedanken, daß sie nur ein paar Stockwerke voneinander getrennt
waren.
Er sprang mit einem selbstironischen Lachen auf. Er benahm sich, dachte er, wie eine Frau, die auf einen
Telefonanruf wartet und gegen die Versuchung ankämpft, der Qual ein Ende zu bereiten, indem sie selber anruft.
Es gab keinen Grund, dachte er, nicht zu Francisco d’Anconia zu gehen, wenn er sich das wünschte. Dennoch,
als er sich sagte, daß er es tun würde, spürte er in seiner Erleichterung über diesen Entschluß etwas, das einer
Kapitulation bedenklich nahe kam.
Er tat einen Schritt auf das Telefon zu, um Francisco anzurufen, blieb dann aber stehen. Das war es nicht, was
er wollte. Er wollte unangemeldet zu ihm gehen, so wie Francisco in sein Büro gekommen war. Das Recht
darauf war gleichsam eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen ihnen.
Auf seinem Weg zum Fahrstuhl dachte er: Er wird nicht da sein, oder wenn er da ist, wirst du ihn
wahrscheinlich in Gesellschaft irgendeines Flittchens finden, und das wird dir ganz recht geschehen. Aber der
Gedanke erschien ihm grotesk, denn er paßte so gar nicht zu dem Mann, den er an dem Stichloch des Hochofens
gesehen hatte. Zuversichtlich nach oben blickend, stand er im Fahrstuhl. Zuversichtlich ging er den Flur
hinunter, fühlte, wie seine Bitterkeit sich in Heiterkeit auflöste, und klopfte an die Tür.
»Herein«, rief Francisco. Seine Stimme klang seltsam abwesend.
Rearden öffnete die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Mitten auf dem Fußboden stand eine der
kostbarsten Lampen des Hotels mit einem Seidenschirm und warf einen Lichtkreis auf große Bogen
Zeichenpapier. Francisco d’Anconia lag in Hemdsärmeln, auf die Ellbogen gestützt, lang ausgestreckt auf dem
Bauch. Eine Haarsträhne hing ihm ins Gesicht. Er kaute an einem Bleistift, ganz vertieft in die komplizierte
Zeichnung, die vor ihm ausgebreitet war. Er blickte nicht auf. Er schien das Klopfen vergessen zu haben.
Rearden versuchte, die Zeichnung zu erkennen: Es sah aus wie der Teil eines Hochofens. Er starrte ihn
verwundert an. Hätte er die Macht gehabt, sein eigenes Bild von Francisco d’Anconia in die Wirklichkeit zu
übertragen, wäre dies das Bild gewesen, das er gesehen hätte: die Gestalt eines zielbewußt arbeitenden jungen
Mannes, der über einer schwierigen Aufgabe brütet.
Nach ein paar Sekunden hob Francisco den Kopf. Im nächsten Augenblick kniete er sich hin und sah Rearden
mit einem Lächeln ungläubiger Freude an. Dann ergriff er die Zeichnungen und schob sie hastig beiseite.
»Bei was habe ich Sie unterbrochen?« fragte Rearden.
»Ach, es war nichts Besonderes. Kommen Sie herein.« Er lächelte glücklich. Rearden wurde es plötzlich zur
Gewißheit, daß auch Francisco gewartet hatte, auf dies als einen Sieg, den er kaum zu erhoffen gewagt hatte.
»Was machen Sie gerade?« fragte Rearden.
»Ich habe nur ein bißchen gespielt.«
»Lassen Sie es mich sehen.«
»Nein.« Er erhob sich und stieß die Zeichnungen mit dem Fuß weg.
Rearden wurde bewußt, daß er, der es als ungehörig empfunden hatte, als Francisco sich in seinem Büro wie
zu Hause fühlte, sich jetzt selber dieser Ungehörigkeit schuldig machte: Er gab keine Erklärung für seinen
Besuch, sondern ging durch den Raum und setzte sich so selbstverständlich in einen Sessel, als ob dies sein
Zimmer wäre.
»Warum sind Sie nicht wiedergekommen, um mir zu Ende zu erzählen, was Sie begonnen hatten?« fragte er.
»Sie haben es ohne meine Hilfe glänzend selber zu Ende geführt.«
»Meinen Sie meine Gerichtsverhandlung?«
»Ja, ich meine Ihre Gerichtsverhandlung.«
»Woher wissen Sie das? Sie waren nicht dort.«
Francisco lächelte, denn der Ton, in dem Rearden das sagte, enthielt das Eingeständnis: Ich habe Sie vermißt.
»Können Sie sich nicht denken, daß ich jedes Wort davon im Rundfunk verfolgt habe? «
»Das haben Sie? Wie hat es Ihnen gefallen, Ihre eigenen Gedanken aus meinem Munde über den Äther zu
hören?«
»Es waren nicht meine Gedanken. Waren es nicht die, nach denen Sie immer gelebt haben?«
»Ja.«
»Ich habe Ihnen nur geholfen zu erkennen, daß Sie stolz darauf sein sollten, nach ihnen zu leben.«
»Ich bin froh, daß Sie es gehört haben.«
»Es war großartig, Mr. Rearden – und fast drei Generationen zu spät.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn ein einziger Geschäftsmann damals den Mut gehabt hätte zu sagen, daß er nur für seinen eigenen
Profit arbeitet – und es stolz zu sagen, dann hätte er die Welt gerettet.«
»Ich halte die Welt noch nicht für verloren.«
»Sie ist es auch nicht, sie wird es nie sein. Aber, ach Gott, was hätte er uns erspart!«
»Ich finde, wir müssen kämpfen, ganz gleich, in welcher Epoche wir leben.«
»Ja… Wissen Sie, ich würde Ihnen empfehlen, sich ein Protokoll Ihrer Verhandlung zu besorgen und noch
einmal zu lesen, was Sie gesagt haben. Und dann überlegen Sie, ob Sie wirklich konsequent danach handeln.«
»Meinen Sie, daß ich es nicht tue?«
»Das müssen Sie selber herausfinden.«
»Ich weiß, daß Sie mir noch viel zu sagen hatten, als wir in jener Nacht im Werk unterbrochen wurden.
Warum sagen Sie mir nicht, was Sie mir noch zu sagen hatten?«
»Es ist noch zu früh dafür.«
Francisco tat so, als wäre dieser Besuch nichts Außergewöhnliches, als betrachtete er ihn als etwas ganz
Natürliches – so wie er sich immer in Reardens Gegenwart verhalten hatte. Aber Rearden bemerkte, daß er nicht
so ruhig war, wie er erscheinen wollte. Er ging im Zimmer auf und ab, als könnte er so eines Gefühls Herr
werden, das er nicht zugeben wollte. Er hatte die Lampe vergessen, und sie stand noch immer auf dem Fußboden
als einzige Beleuchtung des Raums.
»Sie haben viele bittere Entdeckungen machen müssen, nicht wahr?« sagte Francisco. »Was sagen Sie zum
Verhalten Ihrer Kollegen?«
»Man konnte wohl nichts anderes erwarten.«
Mit aus Ärger über sein Mitleid verzerrter Stimme sagte Francisco: »Es ist jetzt schon zwölf Jahre her, und
dennoch läßt es mich immer noch nicht gleichgültig!« Ohne daß er es wollte, klang seine Stimme so, als ob er
versuchte, das Gefühl zu unterdrücken.
»Zwölf Jahre – seit was geschah?« fragte Rearden.
Francisco schwieg einen Augenblick, dann antwortete er ruhig: »Seit mir aufgegangen ist, was diese
Menschen tun.« Er fügte hinzu: »Ich weiß, was Sie jetzt durchmachen… und was Sie noch werden durchmachen
müssen.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Rearden.
»Wofür?«
»Für das, was Sie so krampfhaft zu verbergen suchen. Aber machen Sie sich keine Sorgen meinetwegen.
Noch kann ich es ertragen… Übrigens, ich bin nicht gekommen, weil ich mit Ihnen über mich oder gar die
Gerichtsverhandlung sprechen wollte.«
»Ganz gleich, von welchem Thema Sie sprechen wollen – ich bin froh, daß Sie hier sind.« Er sagte das
höflich scherzend, aber der Ton konnte nicht verschleiern, daß er es ehrlich meinte. »Worüber wollten Sie
sprechen?«
»Über Sie.«
Francisco blieb stehen. Er sah Rearden einen Augenblick lang an, dann antwortete er leise: »Gut.«
Wenn das, was Rearden empfand, sich über die Barriere seines Willens hinweg unmittelbar in Worte hätte
fassen lassen, hätte er geschrien: »Lassen Sie mich nicht im Stich. Ich brauche Sie. Ich kämpfe gegen sie alle, ich
habe bis an die Grenze meiner Kraft gekämpft, und ich bin dazu verurteilt, noch darüber hinaus zu kämpfen –
und als einzige Waffe brauche ich das Wissen eines einzigen Mannes, dem ich vertrauen, den ich achten und
bewundern kann.«
Statt dessen sagte er ruhig und schlicht – und die einzige Andeutung eines persönlichen Bandes zwischen
ihnen war dieser aufrichtige Ton, in dem man eine sachliche Feststellung macht und der die gleiche
Aufrichtigkeit bei dem Zuhörer voraussetzt: »Wissen Sie, ich glaube, daß das einzig wirkliche moralische
Verbrechen, das ein Mensch gegen einen anderen begehen kann, der Versuch ist, durch seine Worte oder Taten
den Eindruck des Widersprüchlichen, des Unmöglichen, des Irrationalen zu schaffen und so in seinem Opfer den
Vernunftbegriff zu erschüttern.«
»Das stimmt.«
»Wenn ich sage, daß dies das Dilemma ist, in das Sie mich gebracht haben, würden Sie mir helfen, indem Sie
mir eine persönliche Frage beantworten?«
»Ich werde es versuchen.«
»Ich brauche Ihnen nicht zu sagen – ich glaube, Sie wissen es –, daß Sie der gescheiteste Mann sind, dem ich
je begegnet bin. Wenn ich es auch immer noch nicht billigen kann, so beginne ich doch allmählich zu begreifen,
daß Sie sich weigern, von Ihren großen geistigen Fähigkeiten in der Welt von heute Gebrauch zu machen. Aber
was ein Mensch aus Verzweiflung tut, ist nicht unbedingt ein Schlüssel zu seinem Charakter. Ich habe immer
geglaubt, daß der Schlüssel dazu in dem liegt, womit er sich vergnügen will. Und das ist es, was ich
unbegreiflich finde: Wie können Sie, ganz gleich, was Sie aufgegeben haben, solange Sie am Leben bleiben
wollen, Freude darin finden, ein so wertvolles Leben wie das Ihre damit zu verbringen, daß Sie billigen Frauen
und Vergnügungen nachjagen, wie sie dem Hirn von Schwachköpfen entspringen?«
Francisco blickte ihn mit einem leisen amüsierten Lächeln an, als ob er sagen wollte: Nein? Sie wollten nicht
über sich selbst sprechen? Und was gestehen sie anderes ein als die verzweifelte Einsamkeit, die das Problem
meines Charakters für Sie im Augenblick wichtiger macht als jedes andere Problem?
Das Lächeln ging in ein gutmütiges Lachen über, als ob die Frage für ihn kein Problem einschlösse, kein
qualvolles Geheimnis zu enthüllen verlangte.
»Es gibt eine Möglichkeit, jedes Dilemma dieser Art zu lösen, Mr. Rearden. Prüfen Sie Ihre Prämissen.« Er
ließ sich heiter formlos auf dem Fußboden nieder, bereit zu einem Gespräch, das er genießen wollte. »Kommen
Sie aus eigener Erfahrung zu dem Schluß, daß ich ein sehr intelligenter Mann bin?«
»Ja.«
»Wissen Sie aus eigener Erfahrung, daß ich mein Leben damit verbringe, Frauen nachzujagen?«
»Sie haben es nie geleugnet.«
»Geleugnet? Es hat mich Mühe gekostet, diesen Eindruck zu erwecken.«
»Wollen Sie damit sagen, daß es nicht stimmt?«
»Wirke ich auf Sie wie ein Mann mit einem elenden Minderwertigkeitskomplex?«
»Um Himmels willen, nein!«
»Aber nur solche Männer verbringen ihr Leben damit, Frauen nachzujagen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Erinnern Sie sich daran, was ich über das Geld und über die Menschen gesagt habe, die das Gesetz von
Ursache und Wirkung umzustoßen versuchen? Über die Menschen, die den Geist dadurch zu ersetzen versuchen,
daß sie sich der Produkte des Geistes bemächtigen? Nun, der Mann, der sich selbst verachtet, versucht, durch
sexuelle Abenteuer Selbstachtung zu gewinnen – aber das ist unmöglich, denn das Geschlechtliche ist nicht
Ursache, sondern Wirkung und Ausdruck dessen, was ein Mann unter seinem eigenen Wert versteht.«
»Sie müssen das deutlicher erklären.«
»Ist es Ihnen je aufgegangen, daß es dabei um das gleiche geht? Die Menschen, die glauben, Reichtum
komme aus materiellen Quellen und habe keine geistige Wurzel oder Bedeutung, sind die Menschen, die – aus
dem gleichen Grunde – glauben, Sex sei etwas Physisches, das unabhängig von Geist, Willen oder Wertmaßstab
funktioniert. Sie glauben, daß der Körper eine Begierde erweckt und die Wahl für einen trifft. Ungefähr so, wie
wenn Eisenerz sich selber aus eigenem Willen in Eisenbahnschienen verwandeln würde. Liebe ist blind, sagen
sie. Sex ist der Vernunft unzugänglich und spottet der Macht aller Philosophen. Aber in Wirklichkeit ist die
sexuelle Wahl eines Mannes das Resultat und die Summe seiner tiefsten Überzeugungen. Sagen Sie mir, was ein
Mensch sexuell anziehend findet, und ich werde Ihnen sagen, worin seine ganze Lebensphilosophie besteht.
Zeigen Sie mir die Frau, mit der er schläft, und ich werde Ihnen sagen, wie er sich selbst einschätzt. Ganz gleich,
was man ihn Falsches über die Tugend der Selbstlosigkeit gelehrt hat, Sex ist die eigennützigste aller
Handlungen, etwas, das er aus keinem anderen Motiv als seinem eigenen Genuß tun kann – versuchen Sie sich
nur einmal vorzustellen, man täte es in einem Geist selbstloser Nächstenliebe –, ein Tun, das nicht in
Selbsterniedrigung möglich ist, sondern nur in Selbsterhöhung, nur in der Überzeugung, daß man begehrt wird
und des Begehrtseins würdig ist. Es ist ein Akt, der ihn zwingt, geistig ebenso wie körperlich nackt dazustehen
und sein wirkliches Ich als seinen Wertmaßstab anzunehmen. Er wird immer von der Frau angezogen werden,
die das Höchste dessen widerspiegelt, was er in sich sieht, der Frau, deren Hingabe es ihm erlaubt, ein Gefühl
der Selbstachtung zu erfahren – oder sich einzureden. Der Mann, der stolz seines eigenen Wertes gewiß ist, wird
sich den höchsten Frauentyp wünschen, den er finden kann, die Frau, die er bewundert, die stärkste, die am
schwersten zu erobern ist. Denn nur der Besitz einer Heldin wird ihm das Gefühl einer vollbrachten Tat geben,
nicht der Besitz einer hirnlosen Hure. Er sucht nicht… Was ist?« fragte er, als er plötzlich Reardens Blick
bemerkte, einen Blick, der viel mehr ausdrückte als das Interesse an einem abstrakten Gespräch.
»Fahren Sie fort«, sagte Rearden gespannt.
»Er sucht nicht seinen Wert zu gewinnen, er sucht ihn auszudrücken. Es besteht kein Konflikt zwischen den
Maßstäben seines Geistes und den Begierden seines Körpers. Aber der Mann, der von seiner eigenen
Wertlosigkeit überzeugt ist, wird sich zu einer Frau hingezogen fühlen, die er verachtet – denn in ihr wird sich
sein eigenes geheimes Selbst spiegeln, sie wird ihn von der nüchternen Wirklichkeit befreien, in der er ein
Betrüger ist; sie wird ihm die vorübergehende Illusion seines eigenen Wertes geben und ihm für eine kurze Zeit
dazu verhelfen, dem moralischen Kodex zu entfliehen, der ihn verdammt. Sehen Sie sich doch den scheußlichen
Mischmasch an, zu dem die meisten Männer ihr sexuelles Leben machen – und sehen Sie sich den Mischmasch
der Widersprüche an, den sie für ihre moralische Philosophie halten! Das eine ergibt sich aus dem anderen.
Liebe ist unsere Antwort auf unsere höchsten Werte – und kann nichts anderes sein. Wenn ein Mann seine Werte
und seine Lebensanschauung verfälscht, wenn er behauptet, daß Liebe nicht Selbstgenuß, sondern
Selbstverleugnung ist, daß Tugend nicht Stolz, sondern Mitleid oder Schmerz oder Schwäche oder Opfer ist, daß
die edelste Liebe nicht der Bewunderung, sondern der Barmherzigkeit entspringt, nicht als Antwort auf Werte,
sondern auf Mängel, dann hat er sich in zwei Teile geteilt. Sein Körper wird ihm nicht gehorchen, er wird nicht
reagieren, er wird ihn der Frau gegenüber, die er zu lieben behauptet, impotent machen und ihn zum niedrigsten
Hurentyp hinziehen, den er finden kann. Sein Körper wird immer der äußersten Logik seiner tiefsten
Überzeugung folgen; wenn er glaubt, daß Mängel Werte sind, hat er das Leben als böse verdammt, und nur das
Böse wird ihn anziehen. Er hat sich selber verdammt, und er wird erkennen, Verderbtheit ist das einzige, das zu
genießen er würdig ist. Er hat Tugend dem Schmerz gleichgestellt, und er wird erkennen, daß das Laster der
einzige Bereich des Vergnügens ist. Dann wird er schreien, sein Körper erzeuge aus sich lasterhafte Begierden,
gegen die sein Geist nichts vermag, daß Sex Sünde, daß wahre Liebe ein rein geistiges Gefühl ist. Und
schließlich wird er sich fragen, warum die Liebe ihm nichts bringt als Langeweile und Sex nichts als Scham.«
Rearden blickte auf und sagte leise, ohne daß er merkte, daß er laut dachte: »Zumindest… habe ich die andere
Auffassung nie geteilt… ich habe es nie als Schuld empfunden, Geld zu verdienen.«
Francisco entging der Sinn des ersten Wortes. Er lächelte und sagte: »Verstehen Sie jetzt, daß es das gleiche
ist? Nein, Sie würden sich nie einen Teil ihres schändlichen Glaubens zu eigen machen. Sie würden ihn sich nie
aufzuzwingen vermögen. Wenn Sie versuchten, Sex als böse zu verdammen, würden Sie gegen Ihren Willen
immer noch nach der richtigen moralischen Prämisse handeln. Sie würden von der edelsten Frau angezogen
werden, der Sie begegnen. Sie würden immer eine Heldin begehren. Sie würden der Selbstverachtung unfähig
sein. Sie würden nicht zu glauben vermögen, daß das Leben böse ist und daß Sie eine in einer unmöglichen Welt
gefangene hilflose Kreatur sind. Sie sind der Mann, der sein Leben damit verbringt, die Materie nach seinem
Geist zu formen. Sie sind der Mann, der wissen würde, daß Sex, wenn man ihn aus dem Kodex der Werte
herausnimmt, genauso wie eine Idee, die sich nicht im Handeln ausdrückt, verächtliche Heuchelei ist, wie die
platonische Liebe – und genauso wie ein Handeln, das nicht von einer Idee geleitet wird, der Selbstbetrug eines
Dummkopfes ist. Es ist das gleiche, und Sie würden es wissen. Ihre unversehrte Selbstachtung würde es wissen.
Sie würden keine Frau begehren können, die Sie verachten. Nur der Mann, der die Reinheit einer von jeder
Begierde freien Liebe preist, ist der Verworfenheit einer Begierde fähig, die frei von Liebe ist. Aber die meisten
sind zwiespältige Geschöpfe, die verzweifelt zwischen beidem hin und her schwanken. Die eine Hälfte ist der
Mann, der Geld, Fabriken, Wolkenkratzer und seinen eigenen Körper verachtet, er hat unklare Gefühle über
nicht faßbare Dinge wie den Sinn des Lebens und seinen Anspruch auf Tugend. Und er schreit vor
Verzweiflung, weil er für die Frauen, die er achtet, nichts empfinden kann, sich aber in einer unwiderstehlichen
Leidenschaft an eine Hure aus der Gosse gebunden fühlt. Er ist der Mann, den man einen Idealisten nennt. Die
andere Hälfte ist der Mann, den man lebensnah nennt, der Mann, der Prinzipien, Abstraktionen, Kunst,
Philosophie und seinen eigenen Geist verachtet. Er betrachtet den Erwerb materielle r Güter als das einzige Ziel
des Lebens – und er lacht über die Notwendigkeit, sich über ihren Zweck oder ihren Ursprung Gedanken machen
zu müssen. Er erwartet von ihnen, daß sie ihm Vergnügen bereiten – und er wundert sich, warum er, je mehr er
bekommt, desto weniger fühlt. Er ist der Mann, der seine Zeit damit verbringt, Frauen nachzulaufen. Es ist ein
dreifacher Betrug, den er gegen sich selbst verübt. Er wird sein Bedürfnis nach Selbstachtung nicht anerkennen,
da er über so etwas wie moralische Werte höhnt; dennoch empfindet er die tiefe Selbstverachtung, die dem
Glauben entspringt, er sei nur Fleisch. Er wird es nicht zugeben, aber er weiß, daß Sex der physische Ausdruck
der Achtung vor den persönlichen Werten ist. So versucht er, indem er sich der Wirkung hingibt, das zu
erreichen, was die Ursache hätte sein sollen. Er versucht, durch die Frauen, die sich ihm hingeben, ein Gefühl
seines eigenen Wertes zu gewinnen – aber er vergißt, daß die Frauen, die er aufliest, weder Charakter, noch
Urteil, noch einen Wertmaßstab haben. Er sagt sich, es gehe ihm nur um die körperliche Lust, stellt aber fest, daß
er seiner Frauen in einer Woche oder einer Nacht überdrüssig ist, daß er berufsmäßige Huren verachtet und daß
er sich an der Vorstellung weidet, anständige Mädchen zu verführen, die um seinetwillen eine große Ausnahme
machen. Es ist die Erfüllung, die er sucht und nie findet. Wie kann die Eroberung eines geistlosen Körpers
beglücken? Nun, das ist Ihr Schürzenjäger. Trifft die Schilderung auf mich zu?«
»Du lieber Gott, nein.«
»Dann können Sie beurteilen, ohne mich erst danach zu fragen, wie vielen Frauen ich in meinem Leben
nachgelaufen bin.«
»Aber warum ist dann in den letzten Jahren – waren es nicht zwölf? – auf den Titelseiten der Zeitungen
immer wieder die Rede von Ihnen gewesen?«
»Ich habe eine Menge Geld für die prunkvollsten und gewöhnlichsten Parties ausgegeben, die man sich
vorstellen kann, und viel Zeit darauf verschwendet, mit den entsprechenden Frauen gesehen zu werden. Was das
übrige betrifft…« Er hielt inne und sagte dann: »Ich habe einige Freunde, die das wissen, aber Sie sind der erste,
dem ich es gegen meine eigenen Grundsätze anvertraue: Ich habe nie mit einer dieser Frauen, mit denen ich mich
zeigte, geschlafen. Ich habe nie eine von ihnen angerührt.«
»Ich glaube Ihnen. Aber das ist noch unglaublicher als das, was Sie mir sagen.«
Die neben ihm auf dem Boden stehende Lampe warf ihren Schein auf Franciscos Gesicht, als er sich
vorbeugte. Das Gesicht hatte einen Ausdruck von unschuldiger Heiterkeit. »Wenn Sie sich diese Titelseiten
genauer ansehen, werden Sie sehen, daß ich nie etwas gesagt habe. Es waren die Frauen, die darauf brannten,
daß Berichte in den Zeitungen erschienen, die nahelegten, daß es auf eine große Romanze hindeutete, wenn sie
mit mir in einem Restaurant gesehen wurden. Diese Frauen sind auf das gleiche aus wie die Schürzenjäger. Sie
treibt nur das Verlangen, durch die Anzahl und den Ruf der Männer, die sie erobern, ihren eigenen Wert zu
gewinnen. Es ist lediglich um einen Grad unehrlicher, weil der Wert, den sie suchen, nicht einmal in dem Tun
selbst liegt, sondern in dem, wie es auf die anderen Frauen wirkt, wie es deren Neid entfacht. Ich habe diesen
Huren gegeben, was sie wollten – aber was sie buchstäblich wollten –, ohne ihnen das vorzuspiegeln, was sie
erwarteten und was ihnen das eigentliche Wesen ihres Verlangens verbarg. Glauben Sie, sie wollten mit mir oder
irgendeinem Mann schlafen? Sie würden eines so echten und ehrlichen Begehrens nicht fähig sein. Sie wollten
Nahrung für ihre Eitelkeit – und ich habe sie ihnen gegeben. Ich habe ihnen die Möglichkeit gegeben, vor ihren
Freunden zu prunken und sich selbst in den Skandalspalten in der Rolle großer Verführerinnen zu sehen. Aber
wissen Sie, daß das genau die gleiche Wirkung hat wie das, was Sie in Ihrer Gerichtsverhandlung getan haben?
Wenn man einen schändlichen Betrug zunichte machen will, dann muß man sich ihm vollkommen fügen und
darf nichts von sich aus dazutun, was ihn verschleiern könnte. Diese Frauen verstanden es. Sie haben erkannt,
daß es einen nicht befriedigt, wenn man von anderen um eine Tat beneidet wird, die man gar nicht vollbracht hat.
Statt Selbstachtung haben die Liebesromanzen mit mir, von denen in den Zeitungen die Rede war, ihr
Minderwertigkeitsgefühl nur gesteigert: Jede von ihnen weiß, daß sie es versucht hat und gescheitert ist. Wenn
sie ihren Wert danach bemißt, ob es ihr gelungen ist, mit mir zu schlafen, so weiß sie, daß sie dessen nie würdig
sein könnte. Ich glaube, diese Frauen hassen mich mehr als jeder andere Mensch auf der Welt. Aber mein
Geheimnis wird nie ans Licht kommen – denn jede von ihnen ist davon überzeugt, sie sei die einzige, die
gescheitert ist, während alle anderen erfolgreich gewesen sind, und darum wird sie nur um so leidenschaftlicher
unsere Liebe beteuern und nie jemand die Wahrheit verraten.«
»Aber was haben Sie damit Ihrem eigenen Ruf angetan?«
Francisco zuckte die Achseln. »Alle, die ich achte, werden die Wahrheit über mich früher oder später
erfahren, die anderen« – sein Gesicht wurde hart –, »die anderen betrachten das, was ich wirklich bin, als böse.
Sollen sie das haben, was ihnen lieber ist, das, als was ich auf den Titelseiten erscheine!«
»Aber wofür? Nur um ihnen eine Lektion zu erteilen?«
»O nein! Ich wollte als Playboy bekannt sein.«
»Warum?«
»Ein Playboy ist ein Mann, der nichts dafür kann, daß ihm das Geld zwischen den Fingern hindurchrinnt.«
»Warum wollten Sie eine so häßliche Rolle spielen?«
»Zur Tarnung.«
»Weshalb?«
»Aus einem ganz persönlichen Grunde.«
»Was für einem Grunde?«
Francisco schüttelte den Kopf. »Verlangen Sie nicht von mir, daß ich es Ihnen sage. Ich habe Ihnen schon
mehr gesagt, als ich Ihnen hätte sagen dürfen. Sie werden zudem das übrige sowieso bald erfahren.«
»Wenn es mehr ist, als was Sie mir hätten sagen dürfen, warum haben Sie es mir dann gesagt?«
»Weil… weil ich durch Sie zum ersten Mal seit Jahren die Geduld verloren habe.« Aus seiner Stimme klang
wieder ein unterdrücktes Gefühl heraus. »Weil von allen, die ich kenne, Sie der einzige sind, der die Wahrheit
über mich erfahren sollte. Weil ich wußte, daß Sie einen Playboy mehr verachten würden als jede andere Art von
Mensch – wie ich es auch tun würde. Playboy? Ich habe in meinem ganzen Leben nur eine Frau geliebt und liebe
sie noch und werde sie immer lieben!«
Ohne daß er es wollte, brachen diese Worte aus ihm heraus, und er fügte mit leiser Stimme hinzu: »Ich habe
das nie jemand gestanden… nicht einmal ihr.«
»Haben Sie sie verloren?«
Francisco blickte in die Ferne. Dann antwortete er mit tonloser Stimme: »Ich hoffe nicht.«
Der Schein der Lampe fiel von unten auf sein Gesicht, und Rearden konnte seine Augen nicht sehen, nur den
Zug des Duldens und einer seltsam feierlichen Resignation um seinen Mund. Rearden wußte, daß dies eine
Wunde war, in der man nicht weiter bohren durfte.
Wie es so oft bei ihm geschah, schlug Franciscos Stimmung plötzlich um, und er sagte: »Nun, es wird nicht
mehr lange dauern.« Dann sprang er lächelnd auf.
»Da Sie mir vertrauen«, sagte Rearden, »möchte ich Ihnen zum Entgelt ein Geheimnis beichten. Sie sollen
wissen, wie sehr ich Ihnen schon vertraute, bevor ich herkam. Und vielleicht werde ich später Ihre Hilfe
brauchen.«
»Sie sind der einzige von denen, die noch übrig sind, dem ich gern helfen würde.«
»Es ist vieles an Ihnen, das ich nicht verstehe, aber des einen bin ich gewiß: Sie sind kein Freund der
Plünderer.«
»Nein, das bin ich nicht.« Ein leises Lächeln huschte über Franciscos Gesicht, als wollte er damit die
Bedeutung dieser Worte verkleinern.
»Ich weiß darum, daß Sie mich nicht verraten werden, wenn ich Ihnen sage, daß ich weiterhin Rearden Metal
in jeder Menge an Kunden meiner eigenen Wahl verkaufen werde, wo immer sich dazu eine Gelegenheit bietet.
Ich bin gerade dabei, eine zwanzigmal so große Menge zu liefern wie die, für die man mich verurteilt hat.«
Francisco, der ein Stück von ihm entfernt auf der Lehne eines Sessels saß, beugte sich vor und blickte ihn eine
lange Weile stumm an. »Glauben Sie, daß Sie sie damit bekämpfen?« fragte er dann.
»Nun, wie würden Sie es nennen? Zusammenarbeit?«
»Sie waren bereit, Rearden Metal für sie zu produzieren, obwohl Sie daran nichts verdienten, Ihre Freunde
verloren und herumstreunende Lumpen sich bereichern ließen, die die Möglichkeit hatten, Sie zu berauben, und
deren Schmähungen Sie einsteckten dafür, daß Sie sie am Leben erhielten. Jetzt sind Sie dazu bereit zu dem
Preise, die Rolle eines Verbrechers und das Risiko auf sich zu nehmen, in jedem Augenblick ins Gefängnis
geworfen zu werden – um ein System am Leben zu erhalten, das nur durch die Opfer dieses Systems, dadurch,
daß sie seine Gesetze brechen, funktionieren kann.«
»Ich tue es nicht für ihr System, sondern für Kunden, die ich dem System nicht auf Gnade und Ungnade
ausliefern kann. Ich habe die Absicht, dieses System zu überdauern. Ich werde mir nicht von ihnen in den Arm
fallen lassen, ganz gleich, wie schwer sie es mir machen – und will die Welt nicht ihnen überlassen, selbst wenn
ich der einzige bin, der übrigbleibt. Gerade jetzt ist dieser illegale Auftrag für mich wichtiger als mein ganzes
Werk.«
Francisco schüttelte langsam den Kopf und fragte nach kurzem Schweigen: »Welchem Ihrer Freunde in der
Kupferindustrie geben Sie diesmal das wertvolle Privileg, Sie zu denunzieren?«
Rearden lächelte. »Diesmal nicht. Diesmal habe ich mit einem Mann zu tun, dem ich vertrauen kann.«
»Wirklich? Wer ist es?«
»Sie.«
Francisco setzte sich aufrecht. »Wie?« fragte er, und seine Stimme klang so leise, daß es ihm fast gelang, das
Stöhnen zu verbergen.
Rearden lächelte. »Wußten Sie nicht, daß ich jetzt einer Ihrer Kunden bin? Ich habe mich dazu einiger
Strohmänner und eines Decknamens bedient. Aber ich brauche Ihre Hilfe, damit nicht einer Ihrer Mitarbeiter
versucht, dem auf den Grund zu gehen. Ich brauche das Kupfer. Ich brauche es rechtzeitig. Und es ist mir
gleichgültig, ob man mich später verhaftet, wenn ich dies nur schaffe. Ich weiß, Sie haben alles Interesse an Ihrer
Firma, Ihrem Reichtum, Ihrer Arbeit verloren, weil Sie nicht mit Plünderern wie Boyle und Taggart
zusammenarbeiten wollen. Aber wenn alles, was Sie mir gesagt haben, Ihr voller Ernst ist, wenn ich der letzte
bin, den Sie noch achten, dann werden Sie mir helfen, weiterzuleben und sie zu schlagen. Ich habe nie jemand
um Hilfe gebeten. Ich erbitte die Ihre. Ich brauche Sie. Ich vertraue Ihnen. Sie haben immer Ihre Bewunderung
für mich bekannt. Nun, mein Leben liegt in Ihrer Hand – wenn Sie es wollen. Eine Ladung d’Anconia-Kupfer ist
gerade für mich auf dem Wege. Sie hat San Juan am 5. Dezember verlassen.«
»Wie?!«
Es war ein Schrei nackten Entsetzens. Francisco war aufgesprungen und versuchte nicht mehr, irgend etwas
zu verbergen.
»Am 5. Dezember?«
»Ja«, sagte Rearden bestürzt.
Francisco lief zum Telefon. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen keine Geschäfte mit d’Anconia Copper
machen!« Es war der halb klagende, halb zornige Schrei der Verzweiflung. Seine Hand griff nach dem Telefon,
fuhr aber zurück. Er umklammerte die Tischkante, als wollte er sich daran hindern, den Hörer abzunehmen, und
er stand mit gesenktem Kopf da; wie lange, hätten weder er noch Rearden sagen können. Rearden war wie
gelähmt von dem Anblick des qualvollen Kampfes, den er allein an Franciscos Reglosigkeit ablesen konnte. Er
ahnte nicht, worum es bei dem Kampf ging. Er wußte nur, daß Francisco in diesem Moment die Macht hatte,
etwas zu verhindern, und daß er seine Macht nicht gebrauchen wollte. Als Francisco den Kopf hob, sah Rearden
ein vom Leiden so verzerrtes Gesicht, daß seine Züge fast ein hörbarer Schmerzensschrei waren, und noch
furchtbarer war, daß dieses Gesicht einen Ausdruck der Entschlossenheit hatte, als ob die Entscheidung gefällt
und dies der Preis dafür wäre.
»Francisco… was haben Sie?«
»Hank, ich… « Er schüttelte den Kopf, hielt inne und reckte sich dann auf. »Mr. Rearden«, sagte er mit einer
Stimme, die die Kraft, die Verzweiflung und die besondere Würde einer Bitte hatte, von der er wußte, daß sie
vergeblich war: »Wenn die Zeit kommt, daß Sie mich verdammen, daß Sie an jedem Wort, das ich Ihnen gesagt
habe, zweifeln: Ich schwöre Ihnen – bei der Frau, die ich liebe –, daß ich Ihr Freund bin.«
Drei Tage später, als Rearden von blinder Wut über einen Verlust und von Haß geschüttelt wurde, sah er
Franciscos Gesicht wieder vor sich, wie es in diesem Augenblick ausgesehen hatte. Er sah es wieder vor sich,
obwohl er neben dem Radio in seinem Büro stand, obwohl er dachte, daß er sich jetzt vom Wayne-Falkland-
Hotel fernhalten mußte, oder er würde Francisco d’Anconia auf der Stelle erschießen. Er sah es, während er
hörte, daß drei mit Kupfer beladene Schiffe auf dem Wege von San Juan nach New York von Ragnar
Danneskjöld angegriffen und versenkt worden waren. Er sah es immer wieder vor sich, und er wußte, daß er viel
mehr als das Kupfer mit diesen Schiffen verloren hatte.

V. Konto überzogen

Es war der erste Fehlschlag in der Geschichte von Rearden Steel. Zum ersten Mal wurde ein Auftrag nicht wie
versprochen ausgeführt. Aber am 15. Februar, als die Lieferung der Schienen an Taggart fällig war, spielte das
für niemand mehr eine Rolle.
Der Winter hatte früh begonnen. Er hatte schon in den letzten Novembertagen begonnen. Man sagte, es sei
der härteste Winter seit Menschengedenken, und niemand könne die ungewöhnliche Strenge der Schneestürme
zur Last gelegt werden. Niemand wollte sich daran erinnern, daß es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der der
Schnee nicht, ohne daß Maßnahmen ergriffen wurden, durch unbeleuchtete Straßen fegte und auf die Dächer
ungeheizter Häuser fiel, nicht den Zugverkehr zum Stillstand brachte und nicht Hunderte von Leichen
zurückließ.
In der letzten Dezemberwoche, verspäteten sich erstmalig die Brennstofflieferungen von Danagger Coal an
Taggart Transcontinental. Danaggers Vetter erklärte, er könne nichts dafür; er habe, sagte er, den
Sechsstundentag einführen müssen, um die Moral der Männer zu heben, die nicht so zu arbeiten schienen, wie
sie es in den Tagen seines Vetters Kenneth getan hatten. Die Männer seien lustlos und nachlässig geworden,
sagte er, weil sie durch die harte Disziplin der früheren Direktion erschöpft seien; er könne nichts dafür, wenn
einige der Werkmeister und Vorarbeiter ohne Grund die Arbeit niedergelegt hätten, Männer, die seit zehn oder
zwanzig Jahren bei der Gesellschaft beschäftigt gewesen waren; er könne nichts dafür, daß es zu Reibereien
zwischen seinen Arbeitern und der neuen Werksleitung gekommen war, obwohl die neuen Männer viel liberaler
seien als die alten Sklaventreiber; es müsse sich alles nur erst einspielen. Er könne nichts dafür, sagte er, daß die
für Taggart Transcontinental bestimmte Ladung vor dem festgesetzten Liefertermin dem Büro des
Welthilfswerks überlassen worden war, um in den Volksstaat England verschifft zu werden; es sei ein Notstand;
das englische Volk hungere, da alle staatlichen Fabriken des Landes geschlossen seien – und Miss Taggart sei
unvernünftig, denn es handele sich ja nur um eine Verzögerung von einem Tag.
Es war nur eine Verzögerung von einem Tag. Sie verursachte eine dreitägige Verspätung des Güterzuges Nr.
386, der mit neunundfünfzig Waggons Salat und Orangen von Kalifornien nach New York unterwegs war. Der
Güterzug Nr. 386 wartete auf Abstellgleisen, an Kohlenstationen, auf den verspäteten Brennstoff. Als der Zug in
New York ankam, mußten der Salat und die Orangen in den East River geschüttet werden: Sie hatten schon
vorher zu lange in den Lagerhäusern Kaliforniens warten müssen, da nur noch wenige Güterzüge fuhren und auf
Grund der Verordnung Lokomotiven keinen Zug von mehr als sechzig Wagen ziehen durften. Niemand außer
deren Freunden und Kunden bemerkte, daß drei Orangenzüchter in Kalifornien ebenso wie zwei Salatzüchter in
Imperial Valley Pleite machten. Niemand bemerkte die Schließung eines Kommissionshauses in New York,
einer Installationsfirma, der das Kommissionshaus Geld schuldete, einer Bleirohrfabrik, die die
Installationsfirma beliefert hatte. Wenn Menschen hungern, schrieben die Zeitungen, braucht man sich nicht um
die Pleiten von Unternehmen zu kümmern, die nur für den privaten Profit arbeiten.
Die Kohlenladung, die vom Büro des Welthilfswerks über den Atlantik befördert wurde, erreichte den
Volksstaat England nicht. Sie wurde von Ragnar Danneskjöld gekapert.
Als Mitte Januar Danagger Coal zum zweiten Mal die Brennstofflieferungen an Taggart Transcontinental
verzögerte, erklärte Danaggers Vetter telefonisch, er könne nichts dafür: Seine Bergwerke hätten drei Tage lang
schließen müssen, da das Schmieröl für die Maschinen ausgegangen war. Die Lieferung an Taggart
Transcontinental verspätete sich um vier Tage.
Mr. Quinn von Quinn Ball Bearing, der vor einigen Jahren von Connecticut nach Colorado gezogen war,
wartete eine Woche auf den Güterzug, der den von ihm bestellten Rearden-Stahl brachte. Als der Zug ankam,
waren die Tore seiner Kugellagerfabrik geschlossen.
Niemand beachtete die Schließung einer Motorenfabrik in Michigan, die auf eine Lieferung von Kugellagern
wartete, während ihre Maschinen stillstanden und ihre Arbeiter den vollen Lohn erhielten, oder die Schließung
eines Sägewerks, das auf einen neuen Motor wartete, oder die Schließung eines Holzplatzes in Iowa, der kein
Material mehr bekommen konnte, oder den Bankrott einer Baufirma in Illinois, die, da sie das Holz nicht zur
Zeit bekam, die mit ihr abgeschlossenen Verträge nicht ausführen konnte und entdeckte, daß man die Käufer
ihrer Häuser auf die schneebedeckten Landstraßen geschickt hatte, um nach etwas zu suchen, das es nicht mehr
gab.
Der Schneesturm, der Ende Januar kam, blockierte die Pässe in den Rocky Mountains, und drei Meter hohe
Schneewälle türmten sich quer über die Hauptstrecke von Taggart Transcontinental. Die Männer, die die Strecke
freizumachen versuchten, gaben nach ein paar Stunden auf: Die Schneepflüge gaben einer nach dem anderen den
Geist auf. Man hatte die Pflüge immer wieder mühsam zusammengeflickt, obwohl sie eigentlich schon seit zwei
Jahren schrottreif waren. Die neuen Pflüge waren nicht geliefert worden. Der Hersteller hatte seine Firma
schließen müssen, da er von Orren Boyle nicht den benötigten Stahl bekommen konnte.
Drei nach Westen fahrende Züge blieben auf den Abstellgleisen des Winston-Bahnhofs hoch in den Rockys
stecken, wo die Hauptstrecke von Taggart Transcontinental die nordwestliche Ecke von Colorado durchschnitt.
Fünf Tage lang konnte ihnen niemand zu Hilfe kommen. Des Sturms wegen kam kein Zug an sie heran. Der
letzte der von Lawrence Hammond hergestellten Lastwagen hatte auf der gefrorenen Gebirgsstraße eine Panne,
die sich nicht mehr reparieren ließ. Das beste der einst von Dwight Sanders hergestellten Flugzeuge startete,
erreichte aber den Winston-Bahnhof nie. Es war schon so abgenutzt, daß es einem Sturm nicht mehr standhalten
konnte.
Durch das Schneetreiben blickten die in den Zügen gefangenen Fahrgäste auf die Lichter der Hütten von
Winston. Aber am Abend des zweiten Tages erloschen die Lichter. Am Abend des dritten gingen in den Zügen
die Lichter, die Heizungen und das Essen aus. Wenn sich der Sturm einmal für kurze Zeit legte und kein Schnee
mehr fiel, sah man hinter dem Schweigen einer schwarzen Leere, in der die lichtlose Erde und der sternlose
Himmel ineinander übergingen, meilenfern in südlicher Richtung eine kleine, im Winde flackernde Flamme. Es
war Wyatts Fackel.
Am Morgen des sechsten Tages, als die Züge weiterfahren konnten und die Hänge von Utah, Nevada und
Kalifornien hinunterfuhren, bemerkte das Zugpersonal die rauchlosen Schornsteine und die geschlossenen Tore
kleiner Fabriken am Rande des Schienenstrangs, die bei der letzten Fahrt dort vorbei noch nicht geschlossen
waren.
»Stürme sind höhere Gewalt«, schrieb Bertram Scudder, »und niemand kann für das Wetter verantwortlich
gemacht werden.«
Die von Wesley Mouch festgesetzten Kohlenrationen gestatteten es, die Wohnungen drei Stunden täglich zu
heizen. Es gab kein Brennholz, kein Metall, um neue Öfen herzustellen, keine Werkzeuge, um die Wände der
Häuser für neue Installationen zu durchbohren. In Behelfsöfen aus Steinen und Ölkanistern verbrannten
Professoren die Bücher ihrer Bibliotheken, und Obstzüchter verbrannten die Bäume ihrer Obstplantagen.
»Entbehrungen stärken den Geist eines Volkes«, schrieb Bertram Scudder »und schmieden den edlen Stahl der
sozialen Disziplin. Opfer sind der Zement, der die Menschensteine zu dem großen Gebäude der Gesellschaft
zusammenfügt.«
»Der Nation, die einst geglaubt hat, daß Größe durch Produktion erreicht wird sagt man jetzt, daß sie durch
Elend erreicht wird«, sagte Francisco d’Anconia in einem Presseinterview. Aber es wurde nicht gedruckt.
Nur die Vergnügungsindustrie nahm in diesem Winter einen großen Aufschwung. Die Menschen kratzten ihr
letztes Geld zusammen und verzichteten auf ihre Mahlzeiten, um in die Kinos zu strömen, um für ein paar
Stunden dem Zustand von Tieren zu entgehen, die nur in der Angst leben zu verhungern. Im Januar wurden alle
Kinos, Nachtklubs und Kegelbahnen auf Anweisung von Wesley Mouch aus Gründen der Kohlenersparnis
geschlossen. »Vergnügen ist kein wesentlicher Bestandteil des Lebens«, schrieb Bertram Scudder.
»Sie müssen lernen, eine philosophische Haltung einzunehmen«, sagte Dr. Simon Pritchett zu einer jungen
Studentin, die mitten in einer Vorlesung plötzlich in hysterisches Schluchzen ausbrach. Sie war gerade von einer
freiwilligen Hilfsexpedition zum Lake Superior zurückgekehrt. Sie hatte eine Mutter gesehen, die die Leiche
ihres verhungerten Sohnes in den Armen hielt.
»Es gibt nichts Absolutes«, sagte Dr. Pritchett. »Die Wirklichkeit ist nur eine Illusion. Woher weiß diese
Frau, daß ihr Sohn tot ist? Woher weiß sie, daß er je gelebt hat?«
Menschen mit flehenden Augen und verzweifelten Gesichtern strömten in Zelte, wo Evangelisten in
triumphierender Freude verkündeten, daß der Mensch sich nicht mit der Natur zu messen vermag, daß sein
Wissen ein Betrug ist, daß sein Geist versagt, daß er für die Sünde des Hochmuts, für seinen Glauben an seinen
Verstand bestraft wird – und daß nur der Glaube an die Macht der mystischen Geheimnisse ihn vor dem Bersten
einer Schiene oder dem Platzen des letzten Reifens an seinem letzten Lastwagen schützen kann. »Liebe ist der
Schlüssel zu den mystischen Geheimnissen«, schrien die Evangelisten, »Liebe und selbstlose Aufopferung für
die Bedürftigen.« Orren Boyle brachte den Bedürftigen ein selbstloses Opfer. Er verkaufte dem Büro des
Welthilfswerks für die Verschiffung in den Volksstaat Deutschland zehntausend Tonnen Baustahl, die eigentlich
für Atlantic Southern bestimmt waren. »Es war ein schwerer Entschluß«, sagte er, mit einem feuchten,
verschwommenen Blick der Redlichkeit zu dem entsetzten Vorstandsvorsitzenden von Atlantic Southern, »aber
für mich war die Tatsache ausschlaggebend, daß Sie eine gutverdienende Firma sind, während das deutsche Volk
in einem Zustand beispiellosen Elends lebt. Ich habe darum nach dem Prinzip gehandelt, daß die Bedürftigkeit
allem anderen vorgeht. Im Zweifelsfalle muß man auf den Schwachen und nicht auf den Starken Rücksicht
nehmen.« Der Vorstandsvorsitzende von Atlantic Southern hatte gehört, daß Orren Boyles einflußreichster
Freund in Washington einen Freund im Versorgungsministerium des Volksstaates Deutschland hatte. Aber
niemand konnte sagen, und es machte auch keinen Unterschied, ob das oder das Prinzip der Opferbereitschaft
Boyles Beweggrund gewesen war: Wenn Boyle ein Heiliger der Lehre der Selbstlosigkeit gewesen wäre, hätte er
genau das tun müssen, was er getan hatte. Dieser Gedanke ließ den Vorstandsvorsitzenden von Atlantic Southern
verstummen. Er wagte nicht einzugestehen, daß ihn seine Eisenbahn mehr interessierte als das deutsche Volk; er
wagte nicht gegen das Prinzip der Opferbereitschaft zu streiten.
Während des ganzen Januar war der Mississippi gestiegen. Er war durch die Stürme angeschwollen, und
Strömung drängte gegen Strömung und zermalmte jedes Hindernis auf ihrem Wege. An einem Abend in der
ersten Februarwoche, als Hagel den Fluß peitschte, stürzte die Mississippi-Brücke von Atlantic Southern unter
einem Schnellzug zusammen. Die Lokomotive und die ersten fünf Schlafwagen versanken mit den Eisenträgern
in den schwarzen Fluten. Die übrigen Wagen blieben auf den ersten drei Bogen stehen. Sie hielten.
»Wer sein letztes Hemd verschenkt, darf sich nicht wundern, wenn er friert«, sagte Francisco. Das
Wutgeschrei, das die Wortführer der Öffentlichkeit gegen ihn erhoben, war größer als ihr Interesse für die
entsetzliche Katastrophe auf dem Fluß.
Man raunte, daß der Chefingenieur von Atlantic Southern, darüber verzweifelt, daß alle Versuche gescheitert
waren, den für die Verstärkung der Brücke benötigten Stahl zu erhalten, vor sechs Monaten seinen Posten mit
der Begründung niedergelegt hatte, die Brücke sei nicht mehr sicher. Er hatte der größten New Yorker Zeitung
einen Brief geschrieben, in dem er die Öffentlichkeit warnte, aber der Brief war nicht veröffentlicht worden.
Man flüsterte, die ersten drei Bogen der Brücke hätten gehalten, weil sie mit Rearden Metal verstärkt worden
waren. Aber mehr als fünfhundert Tonnen habe die Eisenbahn nach dem Verteilungsgerechtigkeitsgesetz nicht
bekommen können.
Als einziges Ergebnis der amtlichen Untersuchungen wurden zwei Brücken über den Mississippi, die
kleineren Eisenbahngesellschaften gehörten, gesperrt. Eine der beiden Gesellschaften meldete Konkurs an; die
andere legte eine Nebenstrecke still, riß die Gleise heraus und baute eine Strecke zur Mississippi-Brücke von
Taggart-Transcontinental. Das gleiche tat Atlantic Southern.
Die große Taggart-Brücke in Bedford in Illinois war von Nat Taggart gebaut worden. Er hatte jahrelang mit
der Regierung kämpfen müssen. Denn die Flußschiffer hatte Klage erhoben, Eisenbahnen seien eine unlautere
Konkurrenz für die Schiffahrt und darum eine Bedrohung des Gemeinwohls, weshalb Eisenbahnbrücken über
den Mississippi als Behinderung des Schiffsverkehrs verboten werden müßten. Die Gerichte hatten den Abriß
der Brücke verfügt und Nathaniel Taggart empfohlen, seine Reisenden mit Booten über den Fluß zu befördern.
Er hatte den Kampf mit einer Stimme Mehrheit beim höchsten Gericht gewonnen. Seine Brücke war jetzt das
einzige noch verbliebene größere Bindeglied, das den Kontinent zusammenhielt. Dagny hatte es sich zur
striktesten Pflicht gemacht, die Taggart-Brücke, was immer man sonst auch vernachlässigen mußte, stets in
tadellosem Zustand zu erhalten.
Die vom Büro des Welthilfswerks über den Atlantik in den Volksstaat Deutschland geschickte Stahlladung
hatte ihr Ziel nie erreicht. Sie war von Ragnar Danneskjöld gekapert worden. Aber niemand außerhalb des Büros
erfuhr davon, denn die Zeitungen hatten längst aufgehört, über Ragnar Danneskjölds Raubzüge zu berichten.
Erst als die Öffentlichkeit die zunehmende Verknappung bemerkte und dann das Verschwinden elektrischer
Bügeleisen, Toaster, Waschmaschinen und aller anderen elektrischen Geräte vom Markt, begann man, Fragen zu
stellen und auf das Flüstern zu hören. Man hörte, daß kein Kupfer-Schiff einen Hafen der Vereinigten Staaten
erreichte, daß keine von d’Anconia Copper kommende Ladung an Ragnar Danneskjöld vorbeikam.
An nebligen Winterabenden erzählten Seeleute im Hafen flüsternd, Ragnar Danneskjöld kapere stets die als
Spenden bestimmten Schiffsladungen, rühre aber nie das Kupfer an. Er versenke die d’Anconia-Schiffe mit ihren
Ladungen; er lasse die Besatzungen in Rettungsbooten entkommen; aber das Kupfer werde auf den Meeresgrund
befördert. Sie erzählten es wie eine dunkle Sage, die sich nicht erklären ließ. Niemand vermochte den Grund zu
entdecken, warum Danneskjöld das Kupfer nicht nahm.
In der zweiten Februarwoche verbot eine Verordnung aus Gründen der Kupferdraht- und Stromersparnis den
Verkehr von Fahrstühlen über den fünfundzwanzigsten Stock hinaus. Die Stockwerke darüber mußten geräumt
werden, und die dorthin führenden Treppen wurden mit rohen Brettern vernagelt. Bei dringendem Bedarf
wurden durch eine Sondergenehmigung Ausnahmen zugelassen. Es handelte sich dabei um ein paar der größeren
Unternehmen und der elegantesten Hotels. Die Spitzen der Städte wurden abgeschnitten.
Die Bewohner von New York hatten sich nie um das Wetter kümmern müssen. Stürme waren nur eine
unangenehme Nebensächlichkeit, durch die sich der Verkehr verlangsamte und vor den Türen hell erleuchteter
Läden Pfützen entstanden. In Regenmänteln, Pelzen und Abendschuhen gegen den Wind angehend, hatten die
Menschen das Gefühl gehabt, daß der Sturm ein lästiger Eindringling war. Jetzt, wenn ihnen in den Straßen der
Schnee ins Gesicht wirbelte, spürten sie in dumpfem Entsetzen, daß sie die Eindringlinge waren und daß der
Wind freie Bahn hatte.
»Vergiß es, Hank. Es spielt für uns gar keine Rolle mehr«, sagte Dagny, als er ihr mitteilte, daß er die
Schienen nicht würde liefern können; er hatte keinen Kupferlieferanten aufzutreiben vermocht. »Vergiß es,
Hank.«
Er antwortete nicht. Er konnte den ersten Fehlschlag von Rearden Steel nicht vergessen.
Am Abend des 15. Februar entgleiste durch das Bersten einer Schwelle eine Lokomotive in Winston in
Colorado, in einem Bezirk, in dem die neuen Schienen hätten gelegt werden sollen. Der Stationsvorsteher von
Winston seufzte und forderte einen Hilfstrupp und einen Kran an. Es war nur einer der kleineren Unfälle, die in
seinem Abschnitt fast täglich passierten. Er war allmählich daran gewöhnt.
An diesem Abend stapfte Rearden mit hochgeschlagenem Mantelkragen und tief ins Gesicht gezogenem Hut
bis zu den Knien im Schnee durch eine verlassene Zeche, wo die Kohlen im Tagebau gefördert wurden. Sie lag
in einem gottverlassenen Winkel von Pennsylvania. Er überwachte das Aufladen von Kohle auf Lastwagen, die
er besorgt hatte. Die Zeche gehörte niemand; niemand konnte sich die Kosten leisten, sie in Gang zu halten.
Aber ein junger Mann mit einer schroffen Stimme und dunklen, zornigen Augen, der aus dieser Gegend kam, in
der die Leute hungerten, hatte eine Schar von Arbeitslosen zusammengetrommelt und mit Rearden die Lieferung
der Kohle vereinbart. Sie förderten sie bei Nacht, lagerten sie in versteckten Dolen. Sie wurden bar bezahlt, und
es wurden weder Fragen gestellt noch beantwortet. Schuldig des glühenden Verlangens, am Leben zu bleiben,
handelten sie und Rearden wie Wilde, ohne Rechte, Verträge oder irgendeinen Schutz, mit nichts als
gegenseitigem Einverständnis und einem unerbittlichen Einhalten des gegebenen Worts. Rearden wußte nicht
einmal den Namen des jungen Anführers der Schar. Er beobachtete ihn, wie er die Wagen belud, und dachte, daß
dieser junge Mann, wäre er eine Generation früher geboren, ein Großindustrieller geworden wäre. Jetzt würde er
wahrscheinlich in wenigen Jahren sein junges Leben als gewöhnlicher Krimineller beenden.
Dagny wohnte an diesem Abend einer Sitzung des Taggart-Aufsichtsrats bei. Man saß an einem polierten
Tisch in einem pompösen Sitzungssaal, der ungenügend geheizt war. Die Männer, die in ihrer jahrzehntelangen
Laufbahn sich durch ausdruckslose Gesichter, unverbindliche Worte und tadellose Kleidung getarnt hatten,
wirkten jetzt durch ihre sich über den Bäuchen spannenden Pullover, die Schals, die sie sich um den Hals
gewickelt hatten, und das Husten, das nur allzuhäufig wie das Knattern eines Maschinengewehrs in die
Diskussion hineinhallte, nackt und bloß.
Sie bemerkte, daß Jim seine übliche Glätte verloren hatte. Er hatte den Kopf in die Schultern gesteckt, und
seine Augen schweiften immer wieder unruhig von Gesicht zu Gesicht. Ein Mann aus Washington saß am Tisch
unter ihnen. Niemand wußte genau, welche Funktion oder welchen Titel er hatte. Aber das war auch nicht
notwendig. Sie wußten, er war der Mann aus Washington. Er hieß Mr. Weatherby. Er hatte ergrauende Schläfen,
ein langes, schmales Gesicht und einen Mund, der aussah, als ob er seine Gesichtsmuskeln spannen müßte, um
ihn geschlossen zu halten. Dadurch bekam sein sonst ausdrucksloses Gesicht etwas Affektiertes. Die Mitglieder
des Aufsichtsrats wußten nicht, ob er als Gast, beratender oder eigentlicher Leiter des Aufsichtsrats anwesend
war.
»Mir scheint«, sagte der Vorsitzende, »das Hauptproblem, über das wir beraten müssen, ist die Tatsache, daß
die Schienen unserer Hauptlinie in einem kläglichen, um nicht zu sagen kritischen Zustand sind…« Er hielt inne
und fügte dann vorsichtig hinzu: »…während die einzigen guten Schienen, die wir besitzen, die der John-Galt-
…. ich meine, der Rio-Norte-Linie sind.«
In dem gleichen vorsichtigen Ton der Hoffnung, daß ein anderer das, was er eigentlich sagen wollte,
aussprechen würde, sagte einer der Männer: »Wenn wir bedenken, in welcher kritischen Verfassung sich unsere
Bahnanlagen befinden, und bedenken, daß die einzigen guten Schienen auf einer mit Verlust arbeitenden
Nebenlinie abgenutzt werden…« Er unterbrach sich und sagte nicht, welche Konsequenzen zu ziehen waren.
»Nach meiner Meinung«, sagte ein dünner, blasser Mann mit sorgfältig gestutztem Schnauzbart, »ist die Rio-
Norte-Linie zu einer finanzielle Last geworden, die wir nicht mehr lange tragen können – das heißt, wenn nicht
gewisse Umstellungen erfolgen, die…« Er vollendete den Satz nicht und blickte Mr. Weatherby an, aber Mr.
Weatherby machte ein Gesicht, als ob er es nicht merkte.
»Jim«, sagte der Vorsitzende, »ich glaube, Sie sollten Mr. Weatherby die Lage erklären.«
Taggarts Stimme hatte noch ihre langerprobte Glätte, aber es war die Glätte eines Stückes Stoff, das straff
über einen zerbrochenen Gegenstand aus Glas gespannt ist, dessen scharfe Kanten hier und dort durch den Stoff
hindurchdringen: »Ich glaube, man ist sich allgemein darüber im klaren, daß der Hauptfaktor, unter dem jede
Eisenbahngesellschaft im Lande zu leiden hat, das ungewöhnliche Ausmaß der Firmenzusammenbrüche ist.
Obwohl dies nur ein vorübergehender Zustand ist, ist die Lage der Eisenbahnen im Augenblick geradezu
verzweifelt. Vor allem im Gebiet des Netzes von Taggart Transcontinental ist die Anzahl der Fabriken, die
geschlossen haben, so groß, daß unsere Finanzen dadurch zerrüttet sind. Bezirke und Strecken, die uns immer
unsere stabilsten Einnahmen eingebracht haben, arbeiten jetzt mit Verlust. Ein auf ein großes Frachtvolumen
zugeschnittener Fahrplan kann nicht für drei Kunden aufrechterhalten werden, wo es einmal sieben gewesen
sind. Wir können ihnen nicht die gleichen Transportmittel zur Verfügung stellen, wenigstens nicht zu… unseren
gegenwärtigen Tarifen.«
Er sah Mr. Weatherby an, aber Mr. Weatherby schien es nicht zu merken. »Mir scheint«, sagte Taggart, und
die scharfen Kanten in seiner Stimme wurden noch schärfer, »daß der von unseren Kunden eingenommene
Standpunkt unfair ist. Die meisten von ihnen haben sich über ihre Konkurrenten beschwert und haben die
verschiedensten Maßnahmen ergriffen, um auf ihrem Gebiet die Konkurrenz auszuschalten. Die meisten von
ihnen sind jetzt praktisch die Alleinbesitzer ihrer Märkte, dennoch weigern sie sich einzusehen, daß eine
Eisenbahngesellschaft einer einzigen Fabrik nicht die Tarife gewähren kann, die durch die Produktion eines
ganzen Gebietes möglich waren. Wir lassen unsere Züge für sie mit Verlust verkehren, dennoch haben sie sich
gegen jede… Erhöhung der Tarife ausgesprochen.«
»Gegen jede Erhöhung?« fragte Mr. Weatherby milde.
»Wenn gewisse Gerüchte, denen zu glauben ich mich weigere, stimmen…«, sagte der Vorsitzende und
verstummte plötzlich, weil seiner Stimme allzu deutlich die Angst anzumerken war.
»Jim«, sagte Mr. Weatherby freundlich, »ich glaube, es wäre das Beste, wenn wir das Thema der
Tariferhöhung nicht weiter erwähnen würden.«
»Ich habe gar nicht ernstlich vorgehabt, die Tarife im Augenblick zu erhöhen«, sagte Taggart hastig. »Ich
habe das nur erwähnt, um das Bild abzurunden.«
»Aber, Jim«, sagte ein alter Mann mit einer zitternden Stimme, »ich glaubte, Ihr Einfluß bei – ich meine Ihre
Freundschaft mit Mr. Mouch würde dafür bürgen… «
Er verstummte, weil die anderen ihn streng anblickten, da er ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen hatte:
Man erwähnte einen Fehlschlag dieser Art nicht, man sprach nicht von den geheimnisvollen Wegen Jims
mächtiger Freundschaften oder warum sie versagt hatten.
»Es ist so«, sagte Mr. Weatherby leichthin, »Mr. Mouch hat mich hergeschickt, um mit Ihnen über die von der
Eisenbahnergewerkschaft geforderte Lohnerhöhung und die von den Spediteuren geforderte Tarifsenkung zu
sprechen.«
Er sagte das in einem Ton ruhiger Bestimmtheit. Er wußte, daß all diese Männer schon darüber im Bilde
waren, daß über die Forderungen seit Monaten in den Zeitungen berichtet wurde; er wußte, daß diese Männer
nicht die Tatsache fürchteten, sondern daß man sie bei Namen nannte – als existierte die Tatsache nicht, sondern
als hätten erst seine Worte die Macht, sie existent zu machen; er wußte, sie hatten darauf gewartet, ob er diese
Macht ausüben würde; er gab ihnen zu verstehen, daß er es tun würde.
Nach langem Schweigen sagte James Taggart in dem beißenden, nervösen Ton, der zornig klingen soll, aber
nur Unsicherheit verrät: »Ich würde die Bedeutung von Buzzy Watts vom National Shippers Council nicht
überschätzen. Er macht eine Menge Lärm und gibt eine Menge kostspieliger Dinners in Washington, aber ich
würde empfehlen, das nicht zu ernst zu nehmen.«
»Hören Sie, Clem, ich weiß, daß Wesley sich in der letzten Woche geweigert hat, ihn zu empfangen.«
»Das stimmt. Wesley ist ein sehr beschäftigter Mann.«
»Und ich weiß, daß zu der Party von Gene Lawson vor zehn Tagen Buzzy Watts nicht eingeladen war. Aber
sonst praktisch alle.«
»So ist es«, sagte Mr. Weatherby ruhig.
»Ich würde darum nicht zuviel auf Buzzy Watts geben, Clem, und ich würde mir deswegen keine Sorgen
machen.«
»Wesley ist ein unparteiischer Mann«, sagte Mr. Weatherby. »Ein Mann, der nur an seine Pflicht gegenüber
der Allgemeinheit denkt. Er stellt die Interessen des Landes als Ganzes über alles andere.« Taggart setzte sich
aufrecht; von allen Gefahrensignalen, die er kannte, waren diese Bemerkungen die schlimmsten. »Niemand kann
bestreiten, Jim, daß Wesley Sie als einsichtsvollen Geschäftsmann, wertvollen Ratgeber und einen seiner engsten
persönlichen Freunde hochschätzt.« Taggart warf ihm einen raschen Blick zu: Dies war noch schlimmer. »Aber
niemand kann sagen, daß Wesley zögern würde, seine persönlichen Gefühle und Freundschaften zu opfern, wenn
es um das Wohl der Allgemeinheit geht.«
In Taggarts Gesicht spiegelte sich nichts. Das, was ihn entsetzte, ließ sich nicht in Worten oder in einer
Bewegung der Gesichtsmuskeln ausdrücken. Das Entsetzen war sein Kampf gegen einen Gedanken, den er sich
selbst nicht eingestand: Er selber war so lange und bei so vielen verschiedenen Gelegenheiten »die
Allgemeinheit« gewesen, daß er wußte, was es bedeutete, wenn dieser magische Titel, dieser heilige Titel, dem
sich keiner zu widersetzen wagte, zusammen mit dem Wohl auf die Person Buzzy Watts übertragen wurde.
Aber was er fragte, und er fragte es hastig, war: »Sie wollen damit doch wohl nicht sagen, daß ich meine
persönlichen Interessen je über das Wohl der Allgemeinheit stellen würde?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Mr. Weatherby mit einem Blick, der fast ein Lächeln war. »Gewiß nicht. Sie
nicht, Jim. Ihr Gemeinsinn und Ihr Verständnis sind zu gut bekannt. Darum erwartet Wesley von Ihnen, daß Sie
die beiden Seiten der Lage sehen.«
»Ja, natürlich«, sagte Taggart, der in der Falle saß.
»Nun, betrachten Sie die gewerkschaftliche Seite der Frage. Vielleicht können Sie es sich nicht leisten, ihnen
eine Lohnerhöhung zu gewähren, aber wie sollen sie leben, wenn die Lebenskosten eine so schwindelnde Höhe
erreicht haben? Sie müssen essen. Das ist das Wichtigste, Eisenbahn hin, Eisenbahn her.« Mr. Weatherbys Ton
hatte etwas sanft Gerechtes, als ob er eine Formel aufsagte, die man benutzt, um etwas ganz anderes
auszudrücken. Und sie verstanden das auch alle. Er blickte Taggart fest an, um das, was er nicht aussprach,
besonders zu betonen. »Die Eisenbahnergewerkschaft hat fast eine Million Mitglieder. Mit den Familien,
unmündigen Kindern und armen Verwandten – und wer hat heutzutage keine armen Verwandten? – ergibt das
fast fünf Millionen Stimmen. Personen, meine ich. Wesley muß das in Betracht ziehen. Er muß die
psychologische Seite sehen. Und dann denken Sie an die Öffentlichkeit! Ihre derzeitigen Tarife sind zu einer Zeit
festgesetzt worden, als jeder Geld verdiente. Aber so wie die Dinge heute liegen, sind die Transportkosten zu
einer Last geworden, die sich niemand leisten kann. Im ganzen Land jammern die Menschen darüber.« Er blickte
Taggart fest an. Er blickte ihn nur an, aber sein Blick war wie ein Wink. »Es sind ungeheuer viele, Jim. Sie sind
im Augenblick über ungeheuer viele Dinge nicht sehr glücklich. Eine Regierung, die die Eisenbahntarife senken
würde, wäre des Dankes vieler gewiß.«
Das Schweigen, das ihm antwortete, war wie ein so tiefes Loch, daß man keinen Laut von dem hörte, was auf
seinem Grund zerschellte. Taggart wußte, wie sie es alle wußten, für welches uneigennützige Motiv Mr. Mouch
immer bereit sein würde, seine persönlichen Freundschaften zu opfern.
Es war das Schweigen und daß sie nichts sagen wollte, daß sie mit dem festen Entschluß hergekommen war,
nicht zu sprechen, aber dem nun doch nicht widerstehen konnte, was Dagnys Stimme so schrill und hart klingen
ließ: »Haben Sie nun endlich das, was Sie die ganzen Jahre haben wollten, meine Herren?«
Die Schnelligkeit, mit der sich die Augen der Männer ihr zuwandten, war eine ungewollte Antwort auf einen
unerwarteten Ton, aber die Schnelligkeit, mit der sie die Augen abwandten – um den Tisch, die Wände, alles,
nur nicht sie anzusehen –, war die bewußte Antwort auf das, was die Worte sagten.
In dem Schweigen, das folgte, kam es ihr vor, als würde der Groll der Männer die Luft im Raum schwer
machen, und sie wußte, es war nicht Groll gegen Mr. Weatherby, sondern gegen sie. Sie hätte es ertragen, wenn
sie nur ihre Frage unbeantwortet gelassen hätten, aber was ihr Brechreiz verursachte, war der doppelte Betrug: so
zu tun, als ignorierten sie sie, und dann in ihrer eigenen Art zu antworten.
Der Vorsitzende sagte, ohne sie anzusehen und mit einer bewußt gleichgültigen Stimme, aber zugleich mit
einer bestimmten Betonung: »Es wäre alles in Ordnung, alles hätte sich gut ausgewirkt, wenn nicht die falschen
Männer, wie Buzzy Watts und Chick Morrison, in so mächtigen Stellungen wären.«
»Ach, ich würde mir Chick Morrisons wegen keine Sorgen machen«, sagte der blasse Mann mit dem
Schnurrbart. »Er hat keine Verbindungen zu den höchsten Stellen. Keine wirklichen jedenfalls. Wen man
fürchten muß, ist Tinky Holloway.«
»Ich sehe die Lage nicht als so hoffnungslos an«, sagte ein dicker Mann, der einen grünen Schal trug. »Joe
Dunphy und Bud Hazleton stehen Wesley sehr nahe. Wenn ihr Einfluß überwiegt, können wir ohne Sorge sein.
Dennoch, Chalmers und Holloway sind gefährlich.«
»Ich kann mit Kip Chalmers fertig werden«, sagte Taggart.
Mr. Weatherby war der einzige im Raum, dem es nichts ausmachte, Dagny anzusehen; aber jedesmal, wenn
sein Blick auf ihr ruhte, nahm er nichts wahr; sie war der einzige Mensch im Raum, den er nicht sah.
»Ich glaube«, sagte Mr. Weatherby wie nebenbei, wobei er Taggart anblickte, »Sie sollten Wesley einen
Gefallen tun.«
»Wesley weiß, daß er immer auf mich zählen kann.«
»Nun, ich habe gedacht, wenn Sie der Gewerkschaft die Lohnerhöhung gewähren, können wir die Frage der
Tarifsenkung vorläufig fallenlassen.«
»Das kann ich nicht!« Es klang fast wie ein Schrei. »Die National Alliance of Railroads hat sich einmütig
gegen die Lohnerhöhungen ausgesprochen und jedes Mitglied verpflichtet, sie abzulehnen.«
»Das meine ich ja gerade«, sagte Mr. Weatherby sanft. »Wesley muß einen Keil in diesen Standpunkt des
Verbandes treiben. Wenn eine Eisenbahngesellschaft wie Taggart Transcontinental nachgäbe, würde das Wesley
sehr helfen. Er würde das zu schätzen wissen.«
»Aber, großer Gott, Clem, wenn ich das täte, könnte ich auf Grund der Vorschriften der Vereinigung vor
Gericht gestellt werden.«
Mr. Weatherby lächelte: »Vor was für ein Gericht? Lassen Sie das Wesleys Sorge sein!«
»Aber, hören Sie, Clem, Sie wissen – Sie wissen es genauso wie ich –, daß wir es uns nicht leisten können.«
Mr. Weatherby zuckte die Achseln. »Das ist ein Problem, mit dem Sie fertig werden müssen.«
»Aber wie, um Gottes willen?«
»Ich weiß es nicht. Das ist Ihre Sache, nicht unsere. Sie wollen doch nicht, daß die Regierung Ihnen sagt, wie
Sie Ihre Eisenbahn leiten müssen?«
»Nein, natürlich nicht, aber…«
»Unsere Aufgabe ist es nur, dafür zu sorgen, daß die Menschen gerechte Löhne und anständige
Transportmittel erhalten. Das andere liegt bei Ihnen. Aber freilich, wenn Sie sagen, daß Sie es nicht können,
warum dann…«
»Das habe ich nicht gesagt«, rief Taggart hastig, »ich habe nicht ein Wort davon gesagt.«
»Gut«, sagte Mr. Weatherby freundlich. »Wir wissen, daß Sie fähig sind, einen Weg zu finden.«
Er blickte Taggart an. Taggart blickte Dagny an.
»Nun, das war nur so ein Gedanke«, sagte Mr. Weatherby und lehnte sich in seinem Sessel zurück, als wollte
er sich bescheiden in den Hintergrund verziehen. »Nur ein Gedanke, den Sie sich durch den Kopf gehen lassen
sollten. Ich bin hier nur Gast. Ich will mich nicht einmischen. Der Zweck der Sitzung war, die Lage der…
Nebenlinien zu besprechen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte der Vorsitzende und seufzte. »Ja. Wenn jemand einen konstruktiven Vorschlag zu machen hat… «
Er wartete, aber niemand antwortete. »Ich glaube, die Lage ist uns allen klar.« Er wartete. »Es scheint erwiesen,
daß wir es uns nicht leisten können, weiterhin einige unserer Nebenlinien in Betrieb zu halten… die Rio-Norte-
Linie insbesondere… und deshalb ist es angezeigt…«
»Ich glaube«, sagte der blasse Mann mit dem Schnurrbart in einem unerwartet zuversichtlichen Ton, »daß wir
jetzt Miss Taggart hören sollten.« Er beugte sich mit einem hoffnungsvoll listigen Blick vor. Da Dagny nicht
antwortete, sondern sich ihm nur zuwandte, fragte er: »Was haben Sie zu sagen, Miss Taggart?«
»Nichts.«
»Wie bitte?«
»Alles, was ich zu sagen hatte, war in dem Bericht enthalten, den Jim Ihnen vorgelesen hat.« Ihre Stimme
klang klar und ruhig.
»Haben Sie keine Vorschläge zu machen?«
»Nein.«
»Aber als Stellvertretende Vorstandsvorsitzende und Betriebsleiterin müssen Sie doch Interesse an der Politik
unserer Gesellschaft haben.«
»Ich habe keinen Einfluß auf die Politik dieser Gesellschaft.«
»Aber wir würden so gern Ihre Meinung hören.«
»Ich habe keine Meinung.«
»Miss Taggart«, sagte er im förmlichen Ton eines Befehls, »es kann Ihnen doch nicht entgangen sein, daß
unsere Nebenlinien nur mit einem großen Defizit verkehren und daß wir von Ihnen erwarten, dafür zu sorgen,
daß sie sich bezahlt machen.«
»Wie?«
»Das weiß ich nicht. Das ist Ihre Aufgabe, nicht die unsere.«
»Ich habe in meinem Bericht die Gründe genannt, warum das jetzt unmöglich ist. Sollte ich einige Tatsachen
übersehen haben, dann nennen Sie sie mir bitte.«
»Das kann ich auch nicht. Wir erwarten, daß Sie einen Weg finden, der es möglich macht. Unsere Aufgabe ist
es nur, dafür zu sorgen, daß die Aktionäre einen gerechten Gewinn erhalten. Die Voraussetzungen dafür müssen
Sie schaffen. Sie wollen doch nicht, daß wir annehmen, Sie seien Ihrer Aufgabe nicht gewachsen und…«
»Ich bin ihr nicht gewachsen.«
Der Mann öffnete den Mund, wußte aber nicht, was er sagen sollte; er blickte sie verblüfft an und fragte sich,
warum das altbewährte Rezept hier versagt hatte.
»Miss Taggart«, fragte der Mann mit dem grünen Schal, »haben Sie in Ihrem Bericht sagen wollen, daß die
Lage der Rio-Norte-Linie kritisch ist?«
»Ich habe festgestellt, daß sie hoffnungslos ist.«
»Was schlagen Sie dann vor?«
»Ich schlage nichts vor.«
»Wollen Sie sich vor der Verantwortung drücken?«
»Was glauben Sie denn, was Sie tun?« sagte sie in ruhigem Ton, zu allen gewandt. »Rechnen Sie damit, ich
werde nicht sagen, daß Sie die Verantwortung tragen, daß es Ihre verdammte Politik ist, die uns dahin gebracht
hat, wo wir sind? Nun, ich sage es.«
»Miss Taggart, Miss Taggart«, sagte der Vorsitzende in einem bittend vorwurfsvollen Ton, »wir wollen doch
friedlich miteinander umgehen. Spielt es jetzt eine Rolle, wer die Schuld trägt? Wir wollen nicht über frühere
Fehler streiten. Wir müssen alle zusammenhalten, um unsere Gesellschaft durch diese verzweifelte Notlage
hindurchzubringen.«
Ein grauhaariger, vornehmer Mann, der während der ganzen Sitzung geschwiegen hatte und dessen bitterer
Blick verriet, daß er dieses ganze Theater für sinnlos hielt, sah Dagny auf eine Art an, in der sich Sympathie
ausgedrückt hätte, hätte er auch nur noch die geringste Hoffnung gehabt. Er erhob die Stimme nur so weit, daß
ein Ton beherrschter Empörung herausklang, und sagte: »Herr Vorsitzender, wenn wir hier praktische Lösungen
suchen, dann möchte ich empfehlen, daß wir über die uns aufgezwungene Beschränkung der Länge und
Schnelligkeit unserer Züge sprechen. Von allen Praktiken ist dies die verhängnisvollste. Ihre Aufhebung würde
zwar nicht all unsere Probleme lösen, aber sie würde eine ungeheure Erleichterung bedeuten. Bei der großen
Knappheit an Lokomotiven und der erschreckenden Knappheit an Brennstoff ist es verbrecherischer Wahnsinn,
eine Lokomotive sechzig Wagen ziehen zu lassen, wenn sie hundert ziehen könnte, und sie eine Strecke in vier
Tagen zurücklegen zu lassen, die sie in drei Tagen zurücklegen könnte. Ich schlage vor, daß wir die Zahl der
Spediteure überschlagen, die wir ruiniert haben, und der Bezirke, die wir durch die Einschränkungen und
Verzögerungen des Verkehrs zugrunde gerichtet haben, und daß wir dann…«
»Hoffen Sie nicht darauf«, fiel ihm Mr. Weatherby scharf ins Wort. »Träumen Sie nicht von Widerrufen! Wir
würden das nie in Betracht ziehen. Wir würden uns so etwas nicht einmal anhören.«
»Herr Vorsitzender«, fragte der grauhaarige Mann ruhig, »soll ich fortfahren?«
Der Vorsitzende breitete die Arme aus und lächelte hilflos: »Das wäre wohl wenig sinnvoll«, antwortete er.
»Ich glaube, wir sollten uns lieber auf die Diskussion über die Rio-Norte-Linie beschränken«, sagte James
Taggart. Ein langes Schweigen folgte.
Der Mann mit dem grünen Schal wandte sich an Dagny. »Miss Taggart«, fragte er traurig und behutsam,
»sind Sie der Meinung, daß, wenn – dies ist nur eine hypothetische Frage – das rollende Material und die
Schienen der Rio-Norte-Linie verfügbar wären, dadurch der Verkehr auf unserer transkontinentalen
Hauptstrecke gesichert wäre?«
»Es würde eine Hilfe sein.«
»Die Schienen der Rio-Norte-Linie«, sagte der blasse Mann mit dem Schnurrbart, »sind besser als alle
anderen im Land und können jetzt zu keinem Preis gekauft werden. Die Strecke dieser Linie ist dreihundert
Meilen lang, das heißt, es sind über vierhundert Meilen Gleise aus reinem Rearden Metal. Würden Sie sagen,
Miss Taggart, daß wir es uns nicht leisten können, diese unübertrefflichen Schienen auf einer Strecke zu
verschwenden, auf der es keinen größeren Verkehr mehr gibt?«
»Das müssen Sie beurteilen.«
»Lassen Sie es mich so ausdrücken: Würde es etwas nützen, wenn diese Schienen für unsere Hauptstrecke
verwandt würden, die so dringend der Wiederherstellung bedarf?«
»Es würde helfen.«
»Miss Taggart«, fragte der Mann mit der zitternden Stimme, »würden Sie sagen, daß noch bedeutende
Kunden für die Rio-Norte-Linie vorhanden sind?«
»Ted Nielsen von Nielsen Motors. Sonst keiner.«
»Würden Sie sagen, daß die Betriebskosten der Rio-Norte-Linie dazu benutzt werden könnten, den
finanziellen Engpaß im übrigen Netz zu überwinden?«
»Es würde helfen.«
»Haben Sie dann als unsere für die Betriebsleitung verantwortliche Stellvertretende Vorstandsvorsitzende… «
Er hielt inne. Sie wartete, blickte ihn an, und er sagte: »Nun…«
»Was wollten Sie fragen?«
»Ich wollte sagen… haben Sie dann als unsere Stellvertretende Vorstandsvorsitzende nicht gewisse Schlüsse
zu ziehen?«
Sie erhob sich und blickte die um den Tisch herumsitzenden Männer an. »Meine Herren«, sagte sie, »ich weiß
nicht, welche Art von Selbstbetrug Sie vermuten läßt, daß, wenn ich die Entscheidung fälle, die Sie fällen
wollen, ich die Verantwortung dafür tragen werde. Vielleicht glauben Sie, daß ich, wenn ich der Linie den
Todesstoß versetze, auch der Mörder bin – da Sie wissen, daß dies die letzte Phase eines sich über eine lange
Zeit erstreckenden Mordes ist. Es ist mir unvorstellbar, was Sie durch so eine Täuschung zu erreichen glauben,
und ich werde Ihnen nicht helfen, das zu inszenieren. Der Todesstoß wird ebenso Ihr Werk sein wie all das
andere.«
Sie wandte sich zum Gehen. Der sich halb erhebende Aufsichtsratsvorsitzende fragte hilflos: »Aber, Miss
Taggart… «
»Bitte, bleiben Sie sitzen. Führen Sie die Diskussion bitte fort, und nehmen Sie die Abstimmung vor, in der
ich keine Stimme haben werde. Ich werde mich der Stimme enthalten. Ich werde der Abstimmung beiwohnen,
wenn Sie es wollen, aber nur als Angestellte. Ich werde nicht so tun, als ob ich irgend etwas anderes wäre.« Von
neuem wandte sie sich zum Gehen, aber die Stimme des grauhaarigen Mannes hielt sie fest. »Miss Taggart, dies
ist keine offizielle Frage. Ich frage es nur aus persönlicher Neugier: Würden Sie mir bitte Ihre Ansicht über die
Zukunft des Netzes von Taggart Transcontinental sagen?«
Mit sanfter Stimme antwortete sie, ihn dabei verständnisvoll ansehend: »Ich habe aufgehört, über die Zukunft
oder das Eisenbahnnetz nachzudenken. Ich habe die Absicht, solange es noch möglich ist, Züge fahren zu lassen.
Aber ich glaube nicht, daß es noch lange möglich sein wird.« Sie ging von dem Tisch ans Fenster und ließ sie
unbeteiligt fortfahren. Sie blickte auf die Stadt. Jim hatte die Genehmigung erhalten, die Fahrstühle bis in den
obersten Stock des Taggart-Gebäudes fahren zu lassen. Von hier oben wirkte die Stadt flach und öde. Nur ein
paar einsame Streifen erleuchteten Glases ragten noch durch das Dunkel zum Himmel auf. Sie hörte nicht auf die
Stimmen der Männer hinter ihr. Sie wußte nicht, wie lange ihr Gespräch hin- und herwogte, die Worte, die
gegeneinander stießen und einander anstachelten, wie die Männer versuchten, zurückzuweichen und einen
anderen vorzuschieben – ein Ringen, nicht um sich durchzusetzen, sondern um einem unwilligen Opfer eine
Erklärung abzupressen – ein Kampf, in dem die Entscheidung nicht durch den Sieger, sondern durch den
Verlierer gefällt werden mußte:
»Es scheint mir… Es ist, glaube ich… Es muß nach meiner Meinung… Wenn wir annähmen… Es ist nur ein
Vorschlag… Ich unterstelle nicht… Wenn wir beide Seiten betrachten… Nach meiner Ansicht ist es
unbezweifelbar… Es scheint mir eine unverkennbare Tatsache zu sein…«
Sie wußte nicht, wer es war, der höflich sagte: »…und darum beantrage ich, daß die John-Galt-Linie
stillgelegt wird.«
Etwas, dachte sie, hatte ihn die Linie beim richtigen Namen nennen lassen.
Du hast es auch ertragen müssen, schon vor Generationen. Es war genauso hart für dich, genauso schlimm,
aber du hast dich davon nicht aufhalten lassen. War es wirklich so schlimm und scheußlich wie dieses? Es spielt
keine Rolle, nur die Formen sind verschieden, aber es ist der gleiche Schmerz. Und du hast dich durch den
Schmerz nicht aufhalten lassen oder durch irgend etwas, das du tragen mußtest. Du hast dich nicht aufhalten
lassen. Du hast dich nicht darein geschickt. Du hast ihm ins Auge gesehen, und diesem muß ich ins Auge sehen.
Du hast gekämpft, und ich werde auch kämpfen müssen. Du hast es getan. Ich werde es versuchen… Sie hörte in
ihrem Inneren diesen stillen Schwur, und es dauerte einige Zeit, bis ihr bewußt wurde, daß sie zu Nat Taggart
sprach.
Die nächste Stimme, die sie hörte, war die Mr. Weatherbys: »Einen Augenblick. Ist Ihnen klar, daß Sie eine
Genehmigung brauchen, bevor Sie eine Nebenlinie stillegen können?«
»Großer Gott, Clem?« schrie Taggart in unverhülltem Entsetzen. »Das wird doch keine Schwierigkeiten
machen… «
»Ich würde dessen nicht zu sicher sein. Vergessen Sie nicht, daß Sie ein öffentliches Unternehmen sind und
man von Ihnen erwartet, daß Sie für Transportmöglichkeiten sorgen, ob Sie dabei Geld verdienen oder nicht.«
»Aber Sie wissen doch, daß es unmöglich ist!«
»Nun, für Sie ist es gut, für Sie ist es die Lösung Ihres Problems, wenn Sie diese Linie stillegen. Aber was
wird es für uns bedeuten? Welche Gefühle wird es in der Öffentlichkeit erwecken, wenn ein ganzer Staat wie
Colorado praktisch über keine Verkehrsmittel verfügt? Freilich, wenn Sie Wesley etwas geben, um das
auszugleichen, wenn Sie den Lohnforderungen der Gewerkschaft zustimmen… «
»Ich kann es nicht. Ich habe der Vereinigung mein Wort gegeben.«
»Ihr Wort? Nun, tun Sie, was Sie wollen. Wir wollen die Vereinigung nicht zwingen. Wir haben es lieber,
wenn es freiwillig geschieht, aber es sind schwierige Zeiten, und niemand weiß, was noch alles geschehen kann.
Bei all den Pleiten und den sinkenden Steuereinnahmen sind wir vielleicht in Anbetracht dessen, daß wir über
fünfzig Prozent der Taggart-Obligationen besitzen – gezwungen, die Einlösung der Eisenbahnobligationen
binnen sechs Monaten zu fordern.«
»Was?« schrie Taggart.
»… oder früher.«
»Aber das können Sie doch nicht! O Gott, das können Sie nicht. Es war doch ausgemacht, daß das
Moratorium fünf Jahre dauern sollte. Es war ein Vertrag, eine Verpflichtung! Wir haben damit gerechnet!«
»Eine Verpflichtung? Sind Sie nicht etwas hinter Ihrer Zeit zurückgeblieben, Jim? Es gibt keine
Verpflichtungen außer der Notwendigkeit des Augenblicks. Die ursprünglichen Besitzer dieser Obligationen
haben auch mit der Einlösung gerechnet.«
Dagny brach in Lachen aus.
Sie konnte nicht dagegen an, und sie konnte nicht widerstehen. Sie konnte die Gelegenheit nicht ungenutzt
lassen, Ellis Wyatt, Andrew Stockton, Lawrence Hammond und all die anderen zu rächen. Sich vor Lachen
schüttelnd, sagte sie:
»Ich danke Ihnen, Mr. Weatherby.«
Mr. Weatherby sah sie erstaunt an. »Wie?« fragte er kalt.
»Ich wußte es. Ich wußte, daß wir für diese Obligationen so oder so würden zahlen müssen. Wir zahlen.«
»Miss Taggart«, sagte der Vorsitzende streng, »glauben Sie nicht, daß dieses ‘Ich wußte es’ sinnlos ist?
Davon zu reden, was hätte geschehen können, wenn wir anders gehandelt hätten, ist rein theoretische
Spekulation. Wir können uns nicht in Theorien ergehen, wir müssen uns lebensnah mit der augenblicklichen
Realität auseinandersetzen.«
»Richtig«, sagte Mr. Weatherby. »Das müssen Sie sein – lebensnah. Wir bieten Ihnen einen Handel an. Sie
tun etwas für uns, und wir werden etwas für Sie tun. Sie bewilligen der Gewerkschaft die Lohnforderungen, und
wir geben Ihnen die Genehmigung, die Rio-Norte-Linie stillzulegen.«
»Na gut«, sagte James Taggart mit erstickter Stimme.
Am Fenster stehend, hörte sie, wie sie darüber abstimmten. Man faßte den Beschluß, die John-Galt-Linie in
sechs Wochen, am 31. März, stillzulegen.
Es kommt nur darauf an, die nächsten Augenblicke durchzustehen, dachte sie. Kümmere dich um die nächsten
Augenblicke und dann um die nächsten, und nach einer Weile wird es leichter werden; nach einer Weile wirst du
es überwinden. Was sie sich für die nächsten Augenblicke vornahm, war, ihren Mantel anzuziehen und den
Raum zu verlassen.
Dann mußte sie in einem Fahrstuhl durch das stille, dunkle Taggart-Gebäude hinunterfahren und darauf die
dunkle Halle durchqueren.
Mitten in der Halle blieb sie stehen. Ein Mann lehnte an der Wand, als ob er auf jemand wartete – und sie war
es, auf die er wartete, denn er blickte sie fest an. Sie erkannte ihn nicht sofort, weil sie sicher war, daß das
Gesicht, das sie sah, zu dieser Stunde ihr unmöglich in dieser Halle begegnen konnte.
»Hi, Slug«, sagte er leise.
Sich einer längst vergangenen Zeit erinnernd, antwortete sie: »Hi, Frisco.«
»Haben sie John Galt endgültig ermordet?«
Sie bemühte sich, den Augenblick in eine zeitlich richtige Reihenfolge zu setzen. Die Frage gehörte der
Gegenwart an, aber das ernste Gesicht kam aus den Tagen auf dem Hügel am Hudson, in denen er noch die volle
Bedeutung dieser Frage für sie verstanden hätte.
»Woher wußtest du, daß sie es heute abend tun würden?« fragte sie.
»Es ist seit Monaten klar, daß das der nächste Schritt auf ihrer nächsten Sitzung sein würde.«
»Warum bist du hergekommen?«
»Um zu sehen, wie du es aufgenommen hast.«
»Möchtest du darüber lachen?«
»Nein, Dagny, ich möchte nicht darüber lachen.«
Sie sah nicht den leisesten Anflug von Spott in seinem Gesicht und antwortete vertrauensvoll: »Ich weiß
nicht, wie ich es aufnehme.«
»Ich weiß es.«
»Ich habe es erwartet. Ich wußte, daß sie es tun mußten, und darum kommt es nur darauf an, damit fertig zu
werden.« Heute abend, wollte sie sagen, sagte aber:
»Mit all der Arbeit und den Einzelheiten.«
Er faßte sie am Arm. »Laß uns irgendwo hingehen, wo wir etwas zusammen trinken können.«
»Francisco, warum lachst du nicht über mich? Du hast immer über diese Linie gelacht.«
»Das werde ich morgen tun, wenn ich sehe, wie du dich mit all der Arbeit und den Einzelheiten abplagst.
Nicht heute abend.«
»Warum nicht?«
»Komm. Du bist nicht in der Verfassung, darüber zu sprechen.«
»Ich… Nein, ich glaube, ich bin es nicht.«
Er führte sie auf die Straße hinaus, und sie merkte, wie sie stumm im gleichen Schritt mit ihm ging, und
spürte, daß seine Finger ihren Arm immer noch festhielten. Er winkte ein vorüberfahrendes Taxi heran und hielt
ihr den Wagenschlag auf. Sie gehorchte ihm ohne Fragen. Sie fühlte sich erleichtert wie ein Schwimmer, der
nicht mehr gegen die Wogen anzukämpfen braucht. Der Anblick eines Mannes, der sicher und entschlossen
handelte, war wie ein ihr in der Minute zugeworfener Rettungsring, in der sie alle Hoffnung aufgeben wollte, daß
es so etwas noch gab. Die Erleichterung lag nicht darin, daß sie sich von der Verantwortung befreite, sondern in
dem Anblick eines Menschen, der sie auf sich zu nehmen vermochte.
»Dagny«, sagte er mit Blick auf die an ihnen vorübergleitende Stadt, »denke an den Mann, der als erster daran
gedacht hat, einen Eisenträger herzustellen. Er wußte, was er sah, was er dachte und was er wollte. Er sagte
nicht: ‘Mir scheint’, und er nahm nicht Befehle von denen an, die sagten: ‘Nach meiner Meinung’.«
Sie lachte verwundert. Wie richtig er es erraten hatte: Er hatte das Gefühl des Ekels in ihr erraten, das Gefühl,
einem Sumpf entfliehen zu müssen.
»Sieh um dich«, sagte er. »Eine Stadt ist die erstarrte Form des menschlichen Mutes – des Mutes der
Menschen, die als erste an jeden Bolzen, jede Niete, jeden Generator gedacht haben, die nötig waren, um dieses
zu schaffen. Des Mutes, nicht zu sagen: ‘Mir scheint’, sondern: ‘Es ist’, und sich allein auf das eigene Urteil zu
verlassen. Du bist nicht allein. Diese Menschen gibt es. Es hat sie immer gegeben. Es gab einmal eine Zeit, in
der menschliche Wesen, der Pest und jedem Sturm auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, in Höhlen kauerten.
Hätten Typen wie die Mitglieder deines Aufsichtsrats sie aus den Höhlen herausbringen und hierhin verpflanzen
können?« Er deutete auf die Stadt.
»Lieber Himmel, nein.«
»Dann ist das für dich der Beweis, daß es noch andere Menschen gibt.«
»Ja«, sagte sie begierig, »Ja.«
»Denke an sie und vergiß deinen Aufsichtsrat.«
»Francisco, wo sind sie jetzt – die anderen?«
»Niemand will sie jetzt haben.«
»Aber ich will sie haben, ach Gott, wie sehr sehne ich mich nach ihnen!«
»Wenn du sie haben willst, dann wirst du sie auch finden.« Er fragte sie nicht nach der John-Galt -Linie, und
sie sprach erst davon, als sie an einem Tisch im Dämmerlicht in einer Nische saßen und sie den Stiel eines
Glases zwischen ihren Fingern sah. Sie hatte kaum bemerkt, wie sie hierhergekommen waren. Es war ein stilles,
teures Restaurant, das wie ein geheimer Schlupfwinkel wirkte. Sie sah einen kleinen glänzenden Tisch unter
ihrer Hand, das Leder eines runden Polsters hinter ihren Schultern und die dunkelblauen Spiegel der Nische, die
sie daran hinderten, die anderen zu sehen, die sich mit ihrem Schmerz oder ihrer Freude hier vor der Welt
versteckten. Francisco lehnte sich gegen den Tisch und beobachtete sie, und es war ihr, als lehnte sie sich an den
festen aufmerksamen Blick seiner Augen.
Sie sprachen nicht von der Linie, aber plötzlich sagte sie: »Ich denke an den Abend des Tages, an dem Nat
Taggart erfahren hatte, daß er den Bau der Brücke einstellen mußte, der Brücke über den Mississippi. Er hatte zu
der Zeit kaum Geld. Denn die Menschen fürchteten sich vor der Brücke. Sie bezeichneten sie als ein sinnloses
Wagnis. Am Morgen hatte er gehört, daß die Flußschiffahrtsgesellschaften ihn verklagt hatten. Sie forderten,
seine Brücke als eine Bedrohung des Gemeinwohls abzureißen. Drei Bogen der Brücke schoben sich schon in
den Fluß hinein. Am gleichen Tage versuchte der Mob aus der Umgebung, den Bau zu zerstören, und legte Feuer
an das Holzgerüst. Seine Arbeiter verließen ihn. Einige, weil sie Angst hatten, andere, weil sie von den
Schiffahrtsgesellschaften bestochen waren, und die meisten, weil er sie schon seit Wochen nicht hatte entlohnen
können. Den ganzen Tag hindurch erhielt er Briefe von Leuten, die Optionen auf Aktien von Taggart
Transcontinental gezeichnet hatten und nun einer nach dem anderen einen Rückzieher machten. Gegen Abend
kamen Vertreter zweier Banken zu ihm, die seine letzte Hoffnung waren. Sie erschienen auf der Baustelle am
Fluß in dem alten Eisenbahnwagen, in dem er wohnte. Die Tür stand auf und gab den Blick auf die schwarze
Ruine frei mit den noch rauchenden Holzresten unter dem verbogenen Stahl. Er hatte mit den Banken wegen
einer Anleihe verhandelt, aber der Vertrag war noch nicht unterschrieben. Die Vertreter der Banken sagten ihm,
er solle seine Brücke aufgeben. Er werde den Prozeß bestimmt verlieren. Und falls die Brücke vorher fertig
wäre, würde er die Anweisung erhalten, sie abzureißen. Wenn er freiwillig verzichten würde, sagten sie, um
seine Fahrgäste auf Booten über den Fluß zu befördern, wie es andere Eisenbahngesellschaften taten, könnte der
Vertrag bestehen bleiben, und er würde das Geld bekommen, um seine Linie auf dem anderen Ufer in westlicher
Richtung weiterzubauen. Wenn nicht, würde er das Geld nicht bekommen. Sie fragten ihn, was er dazu zu sagen
hätte. Er sagte kein Wort, nahm den Vertrag, riß ihn mitten durch, gab ihn zurück und ging hinaus. Er ging zu
der Brücke, an den Bogen entlang bis zum letzten Pfeiler. Dort kniete er sich hin, ergriff die Werkzeuge, die die
Arbeiter hatten liegen lassen, und begann, das Stahlgerüst von den Trümmern freizulegen. Sein Chefingenieur
sah ihn dort mit der Axt in der Hand allein über dem weiten Fluß, als die Sonne hinter ihm im Westen unterging,
dort, wohin seine Linie führen sollte. Er arbeitete die ganze Nacht hindurch. Bis zum Morgen hatte er sich einen
Plan zurecht gelegt, was er tun würde, um die richtigen Partner zu finden, Partner mit Urteilsvermögen – sie zu
finden, zu überzeugen, das Geld aufzutreiben und die Brücke weiterzubauen.«
Sie sprach mit leiser Stimme und sah, während sie den Stiel ihres Glases immer wieder in den Fingern drehte,
auf das golden schimmernde Getränk hinunter. Sie verriet kein Gefühl, aber ihre Stimme hatte die inbrünstige
Monotonie eines Gebetes: »Francisco… wenn er jene Nacht überleben konnte, wie darf ich mich dann beklagen?
Was spielt es für eine Rolle, was ich jetzt fühle. Er hat die Brücke gebaut. Ich muß sie für ihn erhalten. Ich darf
nicht zulassen, daß es ihr ebenso ergeht wie der Brücke von Atlantic Southern. Es ist mir fast, als hätte er es
gewußt. Wenn ich es zuließe, hätte er es in jener Nacht gewußt, als er allein dort oben über dem Fluß war…
Nein, das ist Unsinn. Ich denke einfach, jeder der weiß, was Nat Taggart in jener Nacht fühlte, jeder, der sich
vorstellen kann, was er fühlte… Ich würde ihn verraten, wenn ich es geschehen ließe – und das kann ich nicht.«
»Dagny, wenn Nat Taggart jetzt lebte, was würde er tun?«
Ohne es zu wollen, antwortete sie mit einem kurzen bitteren Lachen: »Er würde auch nicht nur eine Minute
noch bleiben!« Aber dann verbesserte sie sich: »Nein, er würde bleiben. Er würde Mittel und Wege finden, sie
zu bekämpfen.«
»Wie?«
»Das weiß ich nicht.«
Sie merkte, daß er sie mit behutsamer, gespannter Aufmerksamkeit beobachtete, als er sich vorbeugte und
fragte: »Dagny, die Männer deines Aufsichtsrats sind Nat Taggart nicht ebenbürtig, nicht wahr? Es gibt keine
Art des Wettstreits, in dem sie ihn schlagen könnten. Er hätte nichts von ihnen zu befürchten, denn sie haben
nicht einmal ein Tausendstel von seinem Verstand, seinem Willen, seiner Kraft.«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Warum haben dann in der ganzen Menschheitsgeschichte die Nat Taggarts, die die Welt gestalten, sie immer
gewonnen – und sie dann an die Männer der Aufsichtsräte verloren?«
»Ich… ich weiß es nicht.«
»Wie könnten Leute, die nicht einmal wagen, sich eine Meinung über das Wetter zu bilden, Nat Taggart
bekämpfen? Wie könnten sie sich dessen, was er vollbracht hat, bemächtigen, wenn er sich entschließen würde,
es zu verteidigen? Dagny, er hat mit jeder Waffe, die er besaß, gekämpft, außer der wichtigsten. Sie hätten nicht
siegen können, wenn wir – er und wir alle – ihnen die Welt nicht überlassen hätten.«
»Ja. Du hast sie ihnen überlassen. Ellis Wyatt hat es getan. Ken Danagger hat es getan. Ich werde es nicht
tun.«
Er lächelte. »Wer hat die John-Galt-Linie für sie gebaut?« Er sah nur, wie ihr Mund leicht zuckte, aber er
wußte, daß diese Frage wie ein Schlag auf eine offene Wunde war.
Dennoch antwortete sie ruhig: »Ich.«
»Damit sie so endet?«
»Für die Männer, die nicht durchgehalten haben, nicht kämpfen wollten und es schließlich aufgegeben
haben.«
»Siehst du denn nicht ein, daß kein anderes Ende möglich war?«
»Nein.«
»Wieviel Ungerechtigkeit bist du bereit zu ertragen?«
»Soviel, wie ich zu bekämpfen vermag.«
»Was wirst du jetzt tun? Morgen?«
Sie blickte ihn fest an, und in ihren Augen flackerte ein leiser Stolz, der ihre Ruhe noch unterstrich. »Ich
werde mit dem Abreißen beginnen.«
»Was willst du abreißen?«
»Die John-Galt-Linie. Ich werde sie sozusagen mit meinen eigenen Händen nach meinen eigenen
Anweisungen abreißen. Ich werde erst alle Vorbereitungen für die Stillegung treffen, dann werde ich die
Schienen abreißen und mit ihnen die transkontinentale Strecke ausbessern. Es gibt da eine Menge zu tun. Es wird
mich in Atem halten.« Der plötzlich, wenn auch kaum merkbar veränderte Ton ihrer Stimme verriet, daß sie
innerlich nicht mehr ganz so ruhig war: »Weißt du, ich freue mich darauf. Ich bin froh, daß ich es selber tun
muß. Darum hat Nat Taggart jene Nacht hindurch gearbeitet, nur um tätig zu bleiben. Solange man noch etwas
tun kann, ist alles nicht so schlimm. Und ich weiß, daß ich wenigstens die Hauptlinie retten werde.«
»Dagny«, sagte er, und sie fragte sich, warum sie das Gefühl hatte, daß er sie ansah, als ob sein eigenes
Schicksal von ihrer Antwort abhinge, »und wenn es die Hauptstrecke wäre, die du zerstückeln müßtest?«
Ohne Zögern antwortete sie: »Dann würde ich mich von der letzten Lokomotive überfahren lassen!« Aber
gleich darauf fügte sie hinzu: »Nein, das ist nur Selbstmitleid. Ich würde es nicht tun.«
Leis e sagte er: »Ich wußte, daß du es nicht tun würdest, aber du würdest wünschen, du könntest es.«
»Ja.«
Er lächelte, ohne sie dabei anzusehen. Es war ein spöttisches Lächeln, aber zugleich ein Lächeln des
Schmerzes, und der Spott galt ihm selbst. Sie fragte sich, wieso sie dessen gewiß war. Doch sie kannte sein
Gesicht so gut, daß sie immer wußte, was er fühlte, auch wenn sie den Grund nicht mehr erraten konnte. Sie
kannte sein Gesicht so gut, dachte sie, wie sie jede Linie seines Körpers kannte, wie sie diesen Körper auch jetzt
noch sehen konnte, wie sie ihn plötzlich unter seiner Kleidung sah, nur ein paar Zentimeter von ihr entfernt in
der intimen Enge der Nische. Er wandte ihr wieder den Blick zu, und eine jähe Veränderung im Ausdruck seiner
Augen ließ sie erkennen, daß er wußte, was sie dachte. Er blickte weg und erhob sein Glas:
»Nun…«, sagte er, »trinken wir auf Nat Taggart!«
»Und auf Sebastián d’Anconia?« fragte sie, bereute es aber im gleichen Augenblick, denn es hatte wie Spott
geklungen, den sie nicht gewollt hatte. Aber sie sah einen seltsam funkelnden Glanz in seinen Augen, und er
antwortete fest, mit einem leisen stolzen Lächeln: »Ja – und auf Sebastián d’Anconia!«
Ihre Hand zitterte ein wenig, und sie vergoß ein paar Tropfen auf das viereckige Stück Papierspitze, das auf
der dunklen glänzenden Plastikplatte des Tisches lag. Sie sah, wie er sein Glas in einem Zuge leerte. Die rasche
Bewegung seiner Hand ließ sie wie die Geste eines feierlichen Schwurs erscheinen. Sie dachte plötzlich, dies
war das erstemal in zwölf Jahren, daß er aus eigenem Antrieb zu ihr gekommen war.
Er hatte sich benommen, als wäre er sicher, sich in der Gewalt zu haben, als wollte er seine Sicherheit auf sie
übertragen, damit sie ihre wiedergewänne. Er hatte ihr nicht die Zeit gelassen, sich darüber zu wundern, daß sie
hier zusammen waren. Jetzt hatte sie, ohne es sich erklären zu können, das Gefühl, daß er die Zügel hatte
schießenlassen. Es dauerte nur die wenigen Augenblicke, die sie schwiegen und sie, als er das Gesicht von ihr
abgewandt hatte, nur sein bewegungsloses Profil sah –, aber es war ihr, als ränge jetzt er darum, etwas
wiederzugewinnen.
Sie fragte sich, warum er heute abend gekommen war, und merkte, daß ihm das, was er sich vorgenommen
hatte, vielleicht gelungen war: Er hatte sie über den schlimmsten Augenblick hinweggebracht, er hatte ihr eine
unschätzbare Waffe gegen die Verzweiflung gegeben – das Wissen, daß ein lebendiger kluger Mensch sie
angehört und verstanden hatte. Aber warum hatte er das tun wollen? Warum hatte er sie über die Stunde ihrer
Verzweiflung hinweggebracht – nach all den Jahren, in denen er ihr soviel Leid zugefügt hatte? Warum hatte
ihm daran gelegen zu sehen, wie sie das Ende der John-Galt-Linie aufnahm? Sie wurde sich bewußt, daß dies die
Frage war, die sie ihm in der Halle des Taggart-Gebäudes nicht gestellt hatte.
Dies war das Band zwischen ihnen, dachte sie: daß sie nie erstaunt sein würde, wenn er in dem Moment kam,
in dem sie ihn am nötigsten brauchte, und daß er immer wissen würde, wann er kommen mußte. Dies war die
Gefahr: daß sie ihm vertraute, obwohl sie wußte, daß es nur eine neue Art von Falle sein konnte; obwohl sie sich
daran erinnerte, daß er immer jene verriet, die ihm vertrauten.
Er hatte die Arme auf dem Tisch verschränkt, beugte sich vor und blickte starr geradeaus. Plötzlich sagte er,
ohne sich ihr zuzuwenden: »Ich denke an die fünfzehn Jahre, die Sebastián d’Anconia auf die Frau warten
mußte, die er liebte. Er wußte nicht, ob er sie je wiederfinden würde, ob sie überhaupt noch lebte… ob sie auf
ihn wartete. Aber er wußte, daß sie in seinem Kampf nicht an seiner Seite sein durfte und er sie erst rufen konnte,
wenn er gesiegt hatte. Und so wartete er und tröstete sich mit der Liebe anstelle der Hoffnung, zu der er nicht
berechtigt war. Aber als er sie über die Schwelle seines Hauses trug als die erste Señora d’Anconia einer neuen
Welt, wußte er, daß der Kampf gewonnen war.«
In den Tagen ihres leidenschaftlichen Glücks hatte er ihr gegenüber nie angedeutet, daß er daran dachte, sie
würde einmal die Señora d’Anconia werden. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob sie überhaupt gewußt
hatte, was sie ihm bedeutete. Aber der Augenblick endete in einem unsichtbaren Erschauern: Sie konnte nicht
glauben, daß die Erfahrungen der letzten zwölf Jahre die Dinge, von deren Möglichkeit sie soeben gehört hatte,
zulassen könnten. Dies war die neue Falle, dachte sie. »Francisco«, fragte sie mit harter Stimme, »was hast du
Hank Rearden angetan?«
Er starrte sie an, erschrocken darüber, daß sie in diesem Augenblick an diesen Namen denken konnte.
»Warum?« fragte er.
»Er hat mir einmal gesagt, du bist der einzige Mann, den er je geliebt hat. Aber als ich ihn das letzte Mal sah,
sagte er, er würde dich erschießen, wenn er dich sähe.«
»Hat er nicht gesagt, warum?«
»Nein.«
»Hat er nichts darüber gesagt?«
»Nein.« Sie sah ihn seltsam lächeln. Es war ein Lächeln der Trauer, der Dankbarkeit und der Sehnsucht. »Ich
habe ihn gewarnt, daß du ihm Böses zufügen würdest, als er mir sagte, daß du der einzige Mann bist, den er
liebt.«
Wie ein plötzlicher Schrei brach es aus ihm heraus: »Er war der einzige Mann – mit einer Ausnahme –, für
den ich mein Leben hingegeben hätte.«
»Wer ist die Ausnahme?«
»Der Mann, für den ich es hingegeben habe.«
»Wie meinst du das?«
Er schüttelte den Kopf, als hätte er mehr gesagt, als er gewollt hatte, und antwortete nicht.
»Was hast du Rearden angetan?«
»Ich werde es dir später einmal sagen, jetzt nicht.«
»Ist es das, was du immer jenen antust, die… dir sehr viel bedeuten?«
Er blickte sie mit einem Lächeln an, das die strahlende Aufrichtigkeit der Unschuld und des Schmerzes hatte.
»Weißt du«, sagte er sanft, »ich könnte sagen, daß es das ist, was sie mir immer angetan haben.« Er fügte hinzu:
»Aber ich werde es nicht tun. Ich war der Täter und der Wissende.« Er stand auf: »Wollen wir gehen? Ich werde
dich nach Hause bringen.«
Sie erhob sich, und er hielt ihr ihren Mantel hin. Es war ein weiter, loser Mantel, und seine Hände schlugen
ihn um ihren Körper zusammen. Sie spürte, daß sein Arm einen Augenblick länger, als sie es merken sollte, auf
ihren Schultern liegen blieb.
Sie blickte sich nach ihm um. Aber er stand merkwürdig still und starrte auf den Tisch hinunter. Beim
Aufstehen hatten sie die Deckchen aus Papierspitze beiseitegeschoben, und sie sah in die Plastikplatte des
Tisches ein paar Worte eingeritzt. Man hatte versucht, sie zu entfernen, aber sie waren trotzdem noch zu lesen.
»Wer ist John Galt?«
In einer jähen Anwandlung von Zorn schob sie die Deckchen zurück, um die Worte zu bedecken. Er lachte.
»Ich kann es beantworten«, sagte er. »ich kann dir sagen, wer John Galt ist.«
»Wirklich? Jeder scheint ihn zu kennen, aber jeder erzählt eine andere Geschichte.«
»Sie sind trotzdem alle wahr – all die Geschichten, die du über ihn gehört hast.«
»Nun, und wie ist die deine? Wer ist er?«
»John Galt ist Prometheus, der sich eines anderen besonnen hat. Nachdem er jahrhundertelang von den Geiern
dafür zerfleischt worden ist, daß er den Menschen das Feuer der Gö tter gebracht hat, hat er seine Ketten
zerbrochen und das Feuer wieder fortgenommen – bis zu dem Tage, an dem die Menschen den Geiern den
Garaus machen.«

Das Band der Schwellen wand sich in weiten Kurven um Granitfelsen an den Berghängen von Colorado
entlang. Die Hände in den Manteltaschen, ging Dagny über die Schwellen, und ihre Augen blickten in die Ferne,
die jetzt jede Bedeutung verloren hatte. Nur die vertraute Bewegung, mit der sie ihre Schritte den
Zwischenräumen zwischen den Schwellen anpaßte, erinnerte sie noch daran, daß sie hier auf einer
Eisenbahnstrecke ging.
Graue Watte, die weder aus Nebel noch aus Wolken bestand, hing in schlaffen Bäuschen zwischen Himmel
und Bergen. Der Himmel sah dadurch wie eine alte rissige Matratze aus, deren Füllung auf die Gipfel herabfiel.
Harscher Schnee, der weder zum Frühling noch zum Winter paßte, bedeckte den Boden. Feuchtigkeit war in der
Luft, und hin und wieder spürte Dagny ein eisiges Stechen in ihrem Gesicht, das weder von Regentropfen noch
von Schneeflocken kam. Das Wetter schien sich davor zu scheuen, eine klare Stellung zu beziehen, und blieb in
einer Art Schwebezustand, ohne sich zu entscheiden. Aufsichtsratswetter, dachte sie. Das Licht war so
verschwommen, daß sie nicht sagen konnte, ob dies der Nachmittag oder der Abend des 31. März war. Aber der
31. März war es bestimmt. Das war eine Gewißheit, die sich nicht leugnen ließ.
Sie war mit Hank Rearden nach Colorado gekommen, um jede Art von Maschinen zu kaufen, die man
vielleicht in den geschlossenen Fabriken fand. Es war wie das hastige Stöbern im Rumpf eines großen Schiffes,
das jeden Augenblick in den Fluten versinken würde. Sie hätten ihre Angestellten damit beauftragen können,
aber sie waren selber gekommen, beide von dem gleichen uneingestandenen Motiv getrieben: Sie konnten dem
Verlangen nicht widerstehen, der Fahrt des letzten Zuges beizuwohnen, so wie jemand dem Verlangen nicht
widerstehen kann, einem toten Freund die letzte Ehre zu erweisen, obwohl er weiß, daß er sich damit nur selber
martert.
Sie hatten Maschinen von zweifelhaften Eigentümern auf eine nicht gerade legale Weise gekauft, weil
niemand sagen konnte, wer berechtigt war, über die großen toten Firmen zu verfügen, und niemand kommen
würde, um die Verkäufe zu beanstanden. Sie hatten alles gekauft, was aus der schon ausgeweideten Nielsen-
Motorenfabrik weggeschafft werden konnte. Ted Nielsen hatte eine Woche nach der Bekanntmachung, daß die
Linie stillgelegt würde, seine Firma mit unbekanntem Ziel verlassen. Sie war sich wie ein Lumpensammler
vorgekommen, aber diese Jagd hatte ihr geholfen, die letzten Tage zu überstehen. Als ihr bewußt geworden war,
daß ihr bis zur Abfahrt des letzten Zuges noch drei leere Stunden blieben, hatte sie sich zu einem Spaziergang
hinaus ins Freie entschlossen, um dem Schweigen der Stadt zu entgehen. Sie war aufs Geratewohl über sich
windende Bergpfade gegangen, allein zwischen Felsen und Schnee, und hatte versucht, das Denken durch
Bewegung zu ersetzen, denn sie wußte, daß sie diesen Tag durchstehen mußte, ohne an den Sommer zu denken,
in dem sie auf der Lokomotive des ersten Zuges gefahren war. Aber wie zufällig ging sie über den
Eisenbahndamm der John-Galt-Linie zurück. Und sie wußte, daß sie das gewollt hatte, daß sie deswegen
hinausgegangen war.
Es war ein bereits stillgelegtes Stück Strecke. Es waren dort keine Signallichter, keine Weichen, keine
Telephondrähte mehr. Nur das lange Band der Holzschwellen zog sich noch über den Boden, eine Kette ohne
Schienen, die einem bloßgelegten Rückgrat glich. Und als ihr einsamer Wächter stand an einem verlassenen
Bahnübergang ein Pfahl mit einem Schild: »Achtung! Eisenbahn!«
Die früh einbrechende Dämmerung senkte sich zusammen mit dem Nebel über die Täler, als Dagny zu der
Fabrik kam. Hoch oben an der glänzenden Kachelfassade stand: »Roger Marsh, Electrical Appliances.« Der
Mann, der sich selbst an seinen Schreibtisch hatte ketten wollen, dachte sie, um ihn nicht zu verlassen. Das
Gebäude glich einem Toten, der eben die Augen geschlossen hat und von dem man hofft, daß er sie noch einmal
aufschlagen wird. Es war ihr, als müßten jeden Augenblick die Lichter hinter den grauen Fenstern unter den
langen flachen Dächern aufflammen. Dann sah sie eine zerbrochene Scheibe. Ein junger Rowdy hatte aus lauter
Mutwillen einen Stein hineingeschleudert, und sie sah den hohen trockenen Stengel einer einzelnen Pflanze, die
auf der Treppe des Haupteingangs wuchs. In einer jähen Aufwallung blinden Hasses und der Empörung über die
Dreistigkeit des Unkrauts, wohl wissend, wer der Feind war, als dessen Vorbote es wuchs, lief sie auf die
Pflanze zu, kniete nieder und riß sie mit den Wurzeln aus. Wie sie da auf der Treppe einer geschlossenen Fabrik
kniete und in das unendliche Schweigen der Berge starrte, dachte sie: Was willst du hier?
Es war fast dunkel, als sie das Ende der Schwellen erreichte, die sie zu der Stadt Marshville zurückführten.
Marshville war schon seit Monaten die Endstation der Linie gewesen, da Wyatt Junction längst vorher
geschlossen worden war. Dr. Ferris’ Plan, die Ölfelder wieder in Betrieb zu nehmen, war in diesem Winter
aufgegeben worden.
Die Laternen brannten und hingen, eine lange Kette immer kleiner werdender gelber Kugeln, über den toten
Straßen von Marshville. Alle besseren Häuser waren unbewohnt – die hübschen, soliden Häuser, die mit
bescheidenen Kosten gut gebaut und gut erhalten worden waren. Auf den Rasenflächen standen verblichene
Schilder mit der Aufschrift: Zu verkaufen. Aber in den Fenstern der billigen, geschmacklosen Häuser, die schon
verfallenen Elendshütten glichen, obwohl sie erst vor wenigen Jahren errichtet worden waren, sah sie Licht. Dort
wohnten die Menschen, die nicht fortgezogen waren, die Menschen, die nie über eine Woche hinausblickten. Im
erleuchteten Wohnzimmer eines dieser Häuser mit einsackendem Dach und Wänden voller Risse sah sie einen
großen neuen Fernsehapparat. Wie lange, glaubten diese Leute wohl, würden die Elektrizitätswerke Colorados
noch in Betrieb sein? Dann schüttelte sie den Kopf: Diese Menschen hatten nie gewußt, daß es überhaupt
Elektrizitätswerke gab.
In der Hauptstraße von Marshville reihte sich ein dunkles Schaufenster an das andere. All diese Läden hatten
Pleite gemacht. Alle Luxusläden sind dahin, dachte sie, als sie die Firmenschilder betrachtete, und dann zuckte
sie zusammen, weil ihr bewußt wurde, daß, was sie jetzt als Luxus bezeichnete, einst dem Ärmsten erreichbar
gewesen war: Kleiderpflege, elektrische Geräte, Tankstelle, Drugstore und Discount-Markt. Nur noch ein paar
kleine Lebensmittelgeschäfte und Kneipen waren geöffnet.
Auf dem Bahnsteig drängte sich eine große Menschenmenge. Die grellen Bogenlampen beleuchteten ihn wie
eine Bühne, auf der jede Bewegung von den ringsum wie ein Amphitheater unsichtbar aufsteigenden, in Dunkel
gehüllten Bergen wahrnehmbar war. Die Menschen schleppten Kisten und Kasten, trugen ihre Kinder auf Armen
und Schultern, feilschten an den Fahrkartenschaltern und wirkten so verängstigt, daß man hätte glauben können,
sie hätten nur den Wunsch, sich auf den Boden zu werfen und verzweifelt zu schreien. In ihrer Angst verriet sich
etwas wie Schuld: Es war nicht die Furcht, die dem Begreifen entspringt, sondern der Weigerung zu begreifen.
Der letzte Zug stand auf dem Bahnsteig, und seine Fenster bildeten einen langen Lichtstreifen. Der Dampf der
Lokomotive, der keuchend zwischen den Rädern hervordrang, hatte nicht wie sonst den heiteren Klang einer
aller Fesseln ledigen, zum Vorwärtsstürmen bereiten Kraft. Es war ein Klang wie ein Ringen nach Luft, das man
zu hören fürchtet, aber bei dem man noch mehr fürchtet, daß es aufhören könne. Fern am Ende der erleuchteten
Wagenreihe sah sie den kleinen roten Punkt einer an ihrem Salonwagen befestigten Laterne. Hinter der Laterne
war nichts als schwarze Leere. Der Zug war völlig überfüllt, und das hysterische Kreischen, das aus dem
Stimmengewirr herausklang, war das Flehen um einen Platz in den Gängen und in den Übergängen von einem
Wagen zum anderen. Ein paar Menschen, die nicht mitfuhren, beobachteten halb gelangweilt, halb neugierig das
Schauspiel. Sie waren gekommen, als wüßten sie, daß dies das letzte Ereignis war, dem sie in ihrer Stadt und
vielleicht in ihrem Leben je wieder beiwohnen würden.
Sie ging hastig durch die Menge und bemühte sich dabei, niemand anzusehen. Einige wußten, wer sie war,
aber die meisten wußten es nicht. Sie sah eine alte Frau mit einem zerrissenen Schal über den Schultern und
einem verwitterten Gesicht, das von einem lebenslangen Kampf zeugte. Der Blick der Frau war ein
hoffnungsloser Hilferuf. Ein unrasierter junger Mann mit einer goldumrandeten Brille stand auf einer Lattenkiste
unter einer Bogenlampe und brüllte den an ihm Vorübereilenden zu: »Wie, das soll sich nicht mehr lohnen?
Guckt euch doch den Zug an! Er ist proppenvoll! Das ist doch wirklich noch ein Geschäft! Nur sie können nichts
mehr daran verdienen. Darum lassen sie euch zugrunde gehen, diese habgierigen Parasiten!« Eine Frau mit
zerzaustem Haar stürzte auf Dagny zu, schwenkte zwei Fahrkarten und zeterte etwas von einem falschen Datum.
Dagny schob die Menschen beiseite, um sich bis ans Ende des Zuges durchzukämpfen. Aber ein ausgemergelter
Mann mit den ausdruckslosen Augen jemandes, der an nichts mehr glaubt, lief auf sie zu und schrie: »Für Sie ist
alles in Ordnung. Sie haben einen guten Mantel und einen Salonwagen, aber uns wollen Sie keine Züge mehr
geben, Sie und all die eigennützigen…« Er hielt jäh inne und sah jemand hinter ihr an. Sie spürte, wie eine Hand
ihren Ellbogen packte: Es war Hank Rearden. Er geleitete sie zu ihrem Wagen. Als sie seinen Blick sah, verstand
sie, warum die Menschen ihnen aus dem Wege gingen. Am Ende des Bahnsteigs sagte ein blasser, dicker Mann
zu einer weinenden Frau: »So ist es immer in der Welt gewesen. Für die Armen wird es keine Chance geben, bis
die Reichen vernichtet sind.« Hoch über der Stadt flackerte in der schwarzen Unendlichkeit Wyatts Fackel im
Wind.
Rearden stieg in den Wagen, aber sie blieb auf den Stufen stehen, um den Augenblick des endgültigen
Abschieds hinauszuzögern. Sie hörte den Ruf: »Einsteigen.« Sie blickte auf die Menschen, die auf dem
Bahnsteig zurückblieben, wie jemand auf jene blickt, die der Abfahrt des letzten Rettungsbootes zusehen.
Der Zugführer stand unten am Fuß der Stufen mit seiner Laterne in der einen und seiner Uhr in der anderen
Hand. Er sah auf die Uhr und dann zu ihr hinauf. Sie schloß die Augen und senkte den Kopf. Sie sah seine
Laterne durch die Luft schwingen, als sie sich abwandte. Das Anrucken der Räder auf den Schienen aus Rearden
Metal wurde für sie durch den Anblick Reardens leichter. Sie öffnete die Tür und ging in ihren Wagen.
Lillian Rearden wußte, daß es einen besonderen Grund geben mußte, als James Taggart sie aus New York
anrief und sagte: »Nein, ich habe keinen besonderen Grund. Ich wollte nur wissen, wie es Ihnen geht und ob Sie
mal wieder in die Stadt kommen. Ich habe Sie seit einer Ewigkeit nicht gesehen und dachte gerade, wir könnten
in der nächsten Woche einmal in New York zusammen zu Mittag essen.«
»Warten Sie, was für einen Tag haben wir heute? Den 2. April? Ich will eben mal auf meinen Kalender sehen.
Das könnte gehen. Ich habe morgen in New York Besorgungen zu machen, und es wäre mir ein Vergnügen,
durch Sie die Kosten für mein Mittagessen zu sparen.« Jim Taggart wußte, daß sie nichts zu besorgen hatte und
daß das Mittagessen der einzige Zweck ihrer Fahrt in die Stadt sein würde.
Sie trafen sich in einem vornehmen, sehr teuren Restaurant, das viel zu vornehm und viel zu teuer war, um je
in den Klatschspalten erwähnt zu werden. Es gehörte nicht zu der Art von Lokalen, die James Taggart – immer
auf Selbstdarstellung aus – sonst besuchte. Er wollte nicht, daß man sie zusammen sah, schloß sie daraus.
Die leise Andeutung eines heimlichen Vergnügens blieb in ihrem Gesicht, während sie ihn von gemeinsamen
Freunden, dem Theater und dem Wetter sprechen hörte, darauf bedacht, aus dem Unwichtigen eine Art
Schutzwall um sich zu bauen. Sie saß elegant zurückgelehnt und weidete sich an seinem sinnlosen Theater und
der Tatsache, daß er sich um ihretwillen dazu verpflichtet fühlte. Sie wartete mit geduldiger Neugier darauf zu
entdecken, weshalb er sich mit ihr verabredet hatte.
»Ich glaube, Sie verdienen ein Schulterklopfen oder eine Medaille oder sonst etwas, Jim«, sagte sie, »dafür,
daß Sie trotz all Ihrer geschäftlichen Schwierigkeiten so bemerkenswert fröhlich sind. Haben Sie nicht gerade die
beste Strecke Ihrer Eisenbahn stillgelegt?«
»Ach, das ist nur ein kleiner finanzieller Rückschlag, weiter nichts. In einer Zeit wie dieser muß man auf
Einschränkungen gefaßt sein. Wenn man den allgemeinen Zustand des Landes betrachtet, geht es uns noch ganz
gut. Jedenfalls besser als allen übrigen.« Er zuckte die Achseln und fügte hinzu: »Außerdem ist es
Ansichtssache, ob die Rio-Norte-Linie unsere beste Strecke war. Meine Schwester ist die einzige, die das
geglaubt hat. Es war ihre Lieblingsstrecke.«
Sie hörte die leise Schadenfreude aus seinen Worten heraus, lächelte und sagte: »Ja, ja.«
Er sah unter seiner gewölbten Stirn zu ihr auf, als ob er damit die Erwartung, daß sie ihn verstand, betonen
wollte, und sagte: »Wie hat er es aufgenommen?«
»Wer?« Sie verstand ihn sehr gut.
»Ihr Mann.«
»Was aufgenommen?«
»Die Stillegung dieser Linie.«
Sie lächelte heiter. »Sie haben die gleiche richtige Vermutung wie ich und ich weiß wahrlich Bescheid.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie wußten, wie er das aufnehmen würde. Genauso wie Sie wissen, wie es Ihre Schwester aufgenommen hat.
Und Sie haben darum einen doppelten Trost in Ihrem Kummer.«
»Was hat er in den letzten Tagen gesagt?«
»Er war über eine Woche in Colorado, und darum… « Sie hielt inne. Ohne zu überlegen, hatte sie
unbeschwert zu antworten begonnen, aber plötzlich wurde ihr bewußt, daß Taggart trotz des beiläufigen Tons
mit seiner Frage etwas Bestimmtes verfolgte und daß er damit bereits auf den Zweck ihres Treffens anspielte; sie
schwieg eine Sekunde, dann fuhr sie noch unbeschwerter fort: »…weiß ich es nicht. Aber er muß jetzt jeden Tag
zurückkommen.«
»Ist er immer noch so, wie soll ich sagen, widerborstig?«
»O Jim, das wäre eine Untertreibung!«
»Es war doch eigentlich zu hoffen, daß die Ereignisse ihn lehren würden, behutsamer zu werden.«
Es machte ihr Spaß, ihm nicht zu zeigen wie gut sie ihn verstand. »Ach, ja«, sagte sie unschuldig, »es wäre
wunderbar, wenn etwas ihn je ändern könnte.«
»Er macht sich alles selber unnütz schwer.«
»Das hat er immer getan.«
»Aber früher oder später werden wir alle durch die Ereignisse gezwungen, etwas nachgiebiger zu werden.«
»Man hat ihm schon viele Charaktereigenschaften zugeschrieben, aber Nachgiebigkeit war nie darunter.«
»Nun, die Dinge ändern sich und die Menschen mit ihnen. Es ist schließlich ein Naturgesetz, daß sich die
Tiere ihrer Umwelt anpassen müssen. Und ich möchte hinzufügen, daß Anpassungsfähigkeit die
Charaktereigenschaft ist, die im Augenblick von anderen Gesetzen als Naturgesetzen am unerbittlichsten
gefordert wird. Wir haben eine sehr schwere Zeit vor uns, und es würde mir sehr leid tun, wenn Sie die Folgen
seiner Starrköpfigkeit tragen müßten. Es wäre für mich – als Ihren Freund – furchtbar, Sie in jener Gefahr zu
sehen, der er entgegengeht, falls er nicht lernt mitzumachen.«
»Wie reizend von Ihnen, Jim«, sagte sie lächelnd.
Er sprach seine Sätze bewußt langsam aus, vorsichtig zwischen Wort und Ton balancierend, um das richtige
Maß des Halbklaren zu erreichen. Er wollte, daß sie verstand, aber er wollte nicht, daß sie es voll und ganz, bis
zur Wurzel, verstand. Denn es war das Wesen dieser modernen Sprache, die er meisterlich beherrschte, sich
weder selbst noch andere etwas bis zur Wurzel verstehen zu lassen.
Es hatte nicht vieler Worte bedurft, daß er Mr. Weatherby verstand. Bei seinem letzten Aufenthalt in
Washington hatte er Mr. Weatherby klargemacht, daß eine Senkung der Bahntarife ein tödlicher Schlag sein
würde. Die Lohnerhöhungen waren bewilligt worden, aber die geforderte Tarifsenkung bildete immer noch ein
Thema für die Zeitungen – und Taggart hatte gewußt, was es bedeutete, wenn Mr. Mouch ihnen gestattete, sich
weiter darüber zu verbreiten. Er hatte gewußt, daß das Messer ihm noch immer an der Kehle saß. Mr. Weatherby
hatte auf seine Vorstellungen nicht geantwortet, sondern hatte unverbindlich gesagt: »Wesley hat so viele
schwierige Probleme. Wenn er jedem eine Atempause geben sollte – finanziell gesprochen –, müßte er ein
bestimmtes Notstandsprogramm einführen, und Sie können sich ja denken, wie das sein würde. Aber Sie wissen,
wie die rückschrittlichen Elemente des Landes darüber zetern würden. Ein Mann wie Rearden zum Beispiel! Wir
wollen nicht mehr solche Schaustellungen haben, wie er sie gerne aufzieht. Wesley würde eine Menge dafür
geben, wenn jemand dafür sorgen würde, daß Rearden nicht immer aus der Reihe tanzt. Aber ich glaube, das
schafft niemand. Doch ich mag mich irren. Sie wissen das vielleicht besser, Jim, da Rearden sozusagen Ihr
Freund ist, der auf Ihre Parties kommt und so.«
Taggart sah Lillian über den Tisch hinweg in die Augen und sagte: »Freundschaft, finde ich, ist das
Wertvollste im Leben – und es wäre unrecht, wenn ich Ihnen meine nicht bewiese.«
»Aber ich habe nie an ihr gezweifelt.«
Er senkte seine Stimme und sagte im drohenden Ton einer Warnung: »Ich glaube, ich sollte Ihnen als Freund
sagen, obwohl es vertraulich ist, daß man an hohen, an sehr hohen Stellen über die Haltung Ihres Mannes redet.
Ich bin sicher, Sie wissen, was ich meine.«
Dies war es, warum er Lillian Rearden haßte, dachte Taggart: Sie kannte das Spiel, aber sie spielte es mit
ihren eigenen unvermuteten Variationen. Es war gegen alle Regeln, ihn plötzlich anzusehen, ihm ins Gesicht zu
lachen und – nach all diesen Bemerkungen, die suggerierten, daß sie kaum etwas verstand – ohne alle
Umschweife klar zu machen, daß sie nur allzu viel verstand. Sie sagte: »Aber mein Lieber, natürlich weiß ich,
was Sie meinen. Sie meinen, es war nicht der Zweck dieses wirklich ausgezeichneten Essens, daß Sie mir einen
Gefallen tun wollten, sondern daß ich Ihnen einen Gefallen tun sollte. Sie glauben, daß Sie in Gefahr sind und
daß Sie den Dienst, den ich Ihnen erweise, an hoher Stelle zu Ihrem Vorteil ausnutzen können. Und Sie wollen
mich an mein Versprechen erinnern, Ihnen die ‘Ware zu liefern’.«
»Die Art, wie er sich vor Gericht aufgeführt hat, war kaum das, was ich ‘die Ware liefern’ nennen würde«,
sagte er ärgerlich. »Es war jedenfalls nicht das, was Sie mich hatten erwarten lassen.«
»O nein, das war es nicht«, sagte sie sanft. »Das war es gewiß nicht. Aber, mein Lieber, dachten Sie etwa, ich
wußte nicht, daß er nach seinem Verhalten vor Gericht an hoher Stelle nicht beliebt sein würde? Glaubten Sie
wirklich, mir damit einen Dienst zu erweisen, daß Sie mir das vertraulich mitteilten?«
»Aber es ist wahr. Ich habe gehört, wie man über ihn gesprochen hat, und darum glaubte ich, Sie darüber in
Kenntnis setzen zu sollen.«
»Ich bin sicher, daß es wahr ist. Ich weiß, daß sie über ihn sprechen. Ich weiß ebenso, daß sie, wenn sie etwas
in der Hand hätten, um ihm zu schaden, das sofort nach der Gerichtsverhandlung gegen ihn ausgespielt hätten.
Wie froh wären sie gewesen, wenn sie’s gekonnt hätten! Und darum weiß ich, daß er als einziger von Ihnen allen
im Augenblick in keinerlei Gefahr ist. Ich weiß, daß sie ihn fürchten. Merken Sie, wie gut ich verstehe, was Sie
meinen?«
»Nun, wenn Sie das glauben, dann muß ich für meinen Teil sagen, ich verstehe Sie überhaupt nicht. Ich weiß
nicht, was Sie eigentlich wollen.«
»Ich stelle die Dinge nur richtig, damit Sie wissen, daß ich weiß, wie sehr Sie mich brauchen. Und jetzt,
nachdem das geschehen ist, werde ich Ihnen meinerseits die Wahrheit sagen: Ich habe Sie nicht hintergangen.
Ich habe nur versagt. Ich habe ebensowenig wie Sie erwartet, daß er sich vor Gericht so aufführen würde. Sogar
noch weniger. Ich hatte einen guten Grund, das nicht zu erwarten. Aber irgend etwas ist schiefgegangen. Ich
weiß nicht, was. Ich versuche, es herauszubekommen. Wenn ich es herausbekomme, werde ich mein
Versprechen halten. Dann können Sie es sich als Ihr Verdienst anrechnen und Ihren Freunden an hoher Stelle
sagen, Sie hätten ihm die Waffen aus der Hand geschlagen.«
»Lillian«, sagte er nervös, »ich meinte es ehrlich, als ich sagte, mir liege viel daran, Ihnen einen Beweis
meiner Freundschaft zu geben – und wenn ich darum irgend etwas für Sie tun kann… «
Sie lachte. »Ich wußte, daß Sie es ehrlich meinten. Aber Sie können nichts für mich tun. Sie können mir nicht
den geringsten Ge fallen erweisen. Ich verlange keine Gegenleistung von Ihnen. Ich bin ein völlig
geschäftsuntüchtiger Mensch. Ich begehre nichts von Ihnen als Entgelt. Sie werden also immer nur von meiner
Gnade abhängig sein, Jim.«
»Aber warum wollen Sie es dann überhaupt tun? Was haben Sie davon?«
Sie lehnte sich lächelnd zurück. »Dieses Mittagessen. Daß ich Sie hier sehe. Daß ich weiß, daß Sie zu mir
kommen mußten.«
Taggarts verschleierte Augen funkelten ärgerlich. Dann kniff er sie zusammen, lehnte sich ebenfalls zurück,
und sein Gesicht entspannte sich zu einem Ausdruck spöttischer Befriedigung. Sogar nach seinen Maßstäben,
deren schmierige Korruptheit er sich nicht eingestand, konnte er erkennen, wer von ihnen beiden von dem
anderen mehr abhing und verachtungswürdiger war.
Nachdem sie sich an der Tür des Restaurants verabschiedet hatten, begab sie sich zu Reardens Suite im
Wayne-Falkland-Hotel, in der sie gelegentlich in seiner Abwesenheit wohnte. Fast eine halbe Stunde lang ging
sie nachdenklich in dem Salon auf und ab. Dann nahm sie mit einer lässigen Bewegung, aber mit der zielsicheren
Miene eines Menschen, der einen Entschluß gefaßt hat, den Telefonhörer ab. Sie rief Reardens Büro im Werk an
und fragte Miss Ives, wann sie ihn zurückerwartete.
»Mr. Rearden wird morgen früh mit dem Comet in New York ankommen, Mrs. Rearden«, sagte Miss Ives mit
ihrer klaren, höflichen Stimme.
»Morgen? Das ist wunderbar. Miss Ives, würden Sie mir einen Gefallen tun? Würden Sie bei mir zu Hause
anrufen und Gertrude sagen, daß ich nicht zum Abendessen komme. Ich bleibe über Nacht in New York.«
Sie legte den Hörer auf, sah auf die Uhr und rief den Floristen im Wayne-Falkland an. »Hier ist Mrs. Henry
Rearden«, sagte sie. »Würden Sie bitte zwei Dutzend Rosen in das Abteil meines Mannes im Comet schicken? –
Ja, heute nachmittags wenn der Comet in Chicago eintrifft – Nein, ohne Karte – nur die Blumen… Ich danke
Ihnen sehr.«
Dann überlegte sie, ob sie Balph Eubank oder Bertram Scudder anrufen sollte, entschied sich schließlich für
Balph Eubank und verabredete sich mit ihm zum Abendessen und zu einem Theaterbesuch. Darauf nahm sie ein
Bad, und während sie wohlig entspannt in dem warmen Wasser lag, blätterte sie in einer Zeitschrift, die sich mit
volkswirtschaftlichen Problemen befaßte.
Am späten Nachmittag rief der Blumenhändler sie an. »Unser Büro in Chicago hat uns mitgeteilt, daß die
Blumen nicht ausgeliefert werden können, Mrs. Rearden«, sagte er. »Mr. Rearden befindet sich nicht im
Comet.«
»Sind Sie sicher?« fragte sie.
»Ganz sicher, Mrs. Rearden. Der Bote hat auf dem Bahnhof in Chicago festgestellt, daß auf den Namen Mr.
Rearden kein Abteil reserviert ist. Wir haben uns darauf mit dem New Yorker Büro von Taggart
Transcontinental in Verbindung gesetzt, um uns zu vergewissern, daß das auch stimmt, und man hat uns gesagt,
Mr. Reardens Name stehe nicht auf der Passagierliste des Comet.«
»Aha… Dann streichen Sie den Auftrag bitte. Ich danke Ihnen.«
Sie saß einen Augenblick lang stirnrunzelnd neben dem Telefon, dann rief sie Miss Ives an. »Entschuldigen
Sie bitte meine Zerstreutheit, Miss Ives, aber ich war so in Eile und habe es mir nicht aufgeschrieben, und nun
weiß ich nicht mehr ganz genau, was Sie mir eigentlich gesagt haben. Sagten Sie, mein Mann käme morgen
zurück? Mit dem Comet?«
»Ja, Mrs. Rearden.«
»Haben Sie nichts von einem Aufschub oder einer Veränderung in seinen Plänen gehört?«
»Nein. Ich habe sogar erst vor einer Stunde mit ihm gesprochen. Er rief mich vom Bahnhof in Chicago an und
sagte, er mü sse sich beeilen, denn der Comet fahre gleich ab.«
»Schönen Dank.«
Kaum daß sie den Hörer aufgelegt hatte, sprang sie auf und ging wieder im Salon auf und ab, aber diesmal in
nervöser Unruhe. Dann blieb sie plötzlich stehen. Ihr war ein Gedanke gekommen. Wenn ein Mann sich unter
falschem Namen ein Abteil reservieren ließ, gab es nur einen Grund: Er reiste nicht allein.
Ein befriedigtes Lächeln huschte über ihr Gesicht: Dies war eine Gelegenheit, die sie nicht erwartet hatte.
Lillian Rearden, die ungefähr in der Mitte des Zuges auf dem Bahnsteig stand, beobachtete die Fahrgäste, die
aus dem Comet ausstiegen. Ihr Mund lächelte ein wenig. Ihre sonst leblosen Augen funkelten. Sie sah von einem
Gesicht zum anderen und reckte den Kopf mit dem linkischen Eifer eines Schulmädchens. Sie malte sich schon
das Gesicht aus, das Rearden machen würde, wenn er sie, mit seiner Geliebten neben sich, dort stehen sähe.
Ihre Augen musterten hoffnungsvoll jedes auffallende junge weibliche Wesen, das aus dem Zug stieg. Es war
schwierig, den Überblick zu behalten. Kaum waren die ersten Fahrgäste ausgestiegen, schien es, als würde der
Zug aus den Fugen gehen, und auf den Bahnsteig ergoß sich ein dichter Menschenstrom, der, wie von einem
Vakuum angezogen, in eine Richtung flutete. Sie konnte kaum einzelne Personen unterscheiden. Das grelle Licht
der Lampen in der staubigen, öligen Dunkelheit ließ die ihr entgegenkommenden Menschen wie ein
durchgehendes Band erscheinen. Es kostete sie große Anstrengung, sich dem unsichtbaren Druck der Be wegung
entgegenzustemmen.
Als sie Rearden schließlich in der Menge entdeckte, bekam sie einen Schock: Sie hatte ihn nicht aus einem
Wagen aussteigen sehen, aber dort kam er, von irgendwo weit am Ende des Zuges, auf sie zu. Er war allein. Er
bewegte sich mit seiner typischen zielbewußten Eile und hatte die Hände in den Taschen seines Trenchcoats
vergraben. Er hatte keine Begleitung, keine Frau und auch sonst niemand. Nur ein Gepäckträger folgte ihm mit
einer Tasche, die sie als seine erkannte.
In der Wut ihrer Enttäuschung hielt sie um so erregter nach einer Frau Ausschau, die er hinter sich gelassen
haben konnte. Sie war sicher, sofort zu erkennen, wer in Betracht kam. Aber sie sah keine, die es hätte sein
können. Da bemerkte sie, daß der letzte Wagen des Zuges ein Salonwagen war und daß eine Frau davor stand,
die mit einem Bahnbeamten sprach, eine Frau, die keinen Nerz und keinen Schleier trug, sondern einen
Sportmantel aus rauhem Stoff, der die unvergleichliche Eleganz eines schlanken Körpers unterstrich, dessen
selbstbewußte Haltung klar machte: Es war die Eigentümerin und Leiterin dieses Bahnhofs: Dagny Taggart. In
diesem Augenblick ging Lillian Rearden ein Licht auf.
»Lillian, was ist denn los?«
Sie hörte Reardens Stimme, spürte, wie seine Hand ihren Arm ergriff, und sah, daß er sie anstarrte, als traute
er seinen Augen nicht. In ihrem Gesicht lag der Ausdruck blanken, richtungslosen Entsetzens.
»Was ist geschehen? Warum bist du hier?«
»Ich… Guten Tag, Henry… Ich bin nur gekommen, um dich abzuholen… Es hat keinen besonderen Grund…
Ich wollte dich nur abholen.« Das Entsetzen war aus ihrem Gesicht gewichen, aber sie sprach mit einer seltsam
matten Stimme. »Ich wollte dich sehen. Es war ein Impuls, ein jäher Impuls, und ich konnte ihm nicht
widerstehen, weil…«
»Aber du… du siehst krank aus.«
»Nein… mir war vielleicht nur einen Augenblick nicht ganz wohl, es ist hier so stickig… Ich konnte der
Versuchung nicht widerstehen zu kommen, weil ich an die Zeit denken mußte, als du dich gefreut hättest, mich
zu sehen… Es war die Illusion eines Augenblicks, die ich mir wieder schaffen wollte…« Die Worte klangen wie
eine auswendig gelernte Lektion.
Sie wußte, daß sie etwas sagen mußte, während sie sich innerlich bemühte, die volle Bedeutung ihrer
Entdeckung zu begreifen. Die Worte gehörten zu ihrem ursprünglichen Plan, ihm Rosen ins Abteil zu schicken.
Sie hatte sie sich dafür als Begrüßung zurechtgelegt. Er antwortete nicht, sondern musterte sie nur mit
gerunzelter Stirn.
»Ich habe dich vermißt, Henry. Ich weiß, was ich damit bekenne. Aber ich erwarte nicht mehr, daß das irgend
etwas für dich bedeutet.« Die Worte paßten nicht zu dem gespannten Gesicht, den Lippen, die sich mühsam
bewegten, den Augen, die immer wieder von ihm weg den Bahnsteig hinunterblickten. »Ich wollte… ich wollte
dich überraschen.« Ein Ausdruck kühler Entschlossenheit kehrte in ihr Gesicht zurück.
Er nahm ihren Arm, aber sie wich ein wenig zu betont zurück. »Hast du mir nichts zu sagen, Henry?«
»Was soll ich dir sagen?«
»Ist es dir so unangenehm, daß deine Frau auf den Bahnhof gekommen ist, um dich abzuholen?« Sie blickte
den Bahnsteig hinunter: Dagny Taggart kam auf sie zu, aber er sah sie nicht.
»Laß uns gehen«, sagte er.
Sie rührte sich nicht vom Fleck. »Ist es dir…«, fragte sie.
»Was?«
»Ist es dir so unangenehm?«
»Nein, es ist mir nicht unangenehm. Ich verstehe es nur nicht.«
»Erzähl mir von deiner Reise. Es war doch bestimmt sehr schön?«
»Komm. Wir können uns zu Hause unterhalten.«
»Wann habe ich jemals Gelegenheit gehabt, mich mit dir zu Hause zu unterhalten?« Sie sprach langsam, als
ob sie Zeit gewinnen wollte aus einem Grunde, den er nicht erraten konnte. »Ich hatte gehofft, auf diese Weise
für ein paar Augenblicke deine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken – zwischen Zügen und geschäftlichen
Verabredungen und all den wichtigen Dingen, die dich Tag und Nacht beschäftigen, all deinen großen
Leistungen wie… Guten Tag, Miss Taggart«, sagte sie mit schriller, lauter Stimme.
Rearden drehte sich um. Dagny ging an ihnen vorüber, blieb dann aber stehen.
»Guten Tag!« sagte sie zu Lillian und verneigte sich leicht mit ausdruckslosem Gesicht.
»Es tut mir so leid, Miss Taggart«, sagte Lillian lächelnd, »Sie müssen es mir vergeben, daß ich nicht die für
die Gelegenheit passenden Beileidsworte weiß.« Sie bemerkte, daß Dagny und Rearden einander nicht begrüßt
hatten. »Sie kommen doch von der Beerdigung des Kindes zurück, das Sie von meinem Mann haben?«
Dagnys Mund zeigte eine Andeutung von Erstaunen und Verachtung. Sie verabschiedete sich mit einem
Nicken und ging weiter.
Lillian musterte Reardens Gesicht scharf und mit besonderem Nachdruck.
Er sah sie verwirrt und gleichgültig zugleich an.
Sie sagte nichts. Sie folge ihm ohne ein Wort, als er sich zum Gehen wandte. Auch als sie im Taxi zum
Wayne-Falkland-Hotel fuhren, blieb sie stumm und wandte das Gesicht halb von ihm ab. Beim Anblick ihres
verzerrten Mundes war er sicher, daß sie sich innerlich vor Wut kaum fassen konnte. Er hatte ihr nie irgendein
starkes Gefühl angemerkt.
Als sie allein in seinem Zimmer waren, wandte sie ihm ihr Gesicht zu. »Das ist sie also?« fragte sie.
Er hatte das nicht erwartet. Er blickte sie an, als ob er seinen Ohren nicht traute.
»Dagny Taggart ist deine Geliebte, nicht wahr?«
Er antwortete nicht.
»Ich habe zufällig erfahren, daß du kein Abteil im Zug hattest. Daher weiß ich, wo du die letzten vier Nächte
geschlafen hast. Willst du es zugeben, oder möchtest du, daß ich ihr Zugpersonal und ihre Dienstboten von
Detektiven verhören lasse? Ist es Dagny Taggart?«
»Ja«, antwortete er ruhig.
Ihr Mund verzog sich zu einem häßlichen Lachen. Sie blickte an ihm vorüber. »Ich hätte es wissen sollen. Ich
hätte es mir denken müssen. Darum hat es nicht geklappt!«
Bestürzt fragte er: »Was hat nicht geklappt?«
Sie trat einen Schritt zurück, wie um sich an seine Gegenwart zu erinnern. »Hast du… als sie in unserem
Hause war, zu der Party… hast du damals schon…?«
»Nein, erst danach.«
»Die über jeden Vorwurf und jede weibliche Schwäche erhabene große Geschäftsfrau«, sagte sie. »Der große
Geist, der allem Körperlichen weit entrückt ist…« Sie lachte. »Das Armband…«, sagte sie mit einem stillen
Blick, der die Worte so klingen ließ, als tropften sie wie zufällig aus dem siedenden Strom in ihrem Innern. »Das
ist es, was sie dir bedeutet hat, das ist die Waffe, die sie dir gegeben hat.«
»Wenn dir wirklich klar ist, was du sagst – ja.«
»Glaubst du, daß ich das einfach so hinnehme?«
»Hinnehme…?« Er blickte sie ungläubig, in kalter, erstaunter Neugier an.
»Darum hast du bei deiner Gerichtsverhandlung…« Sie hielt inne.
»Was ist mit meiner Gerichtsverhandlung?«
Sie zitterte am ganzen Leibe. »Du bist dir natürlich im klaren darüber, daß ich das nicht weiterhin dulden
werde!«
»Was hat das mit meiner Gerichtsverhandlung zu tun?«
»Ich werde nicht zulassen, daß sie deine Geliebte ist, sie nicht. Jede andere, nur sie nicht.«
Er ließ einen Augenblick verstreichen, dann fragte er ruhig: »Warum?«
»Ich werde es nicht zulassen! Du wirst diese Beziehung aufgeben!«
Er blickte sie ausdruckslos an, aber die Festigkeit seines Blicks traf sie wie seine gefährlichste Antwort.
»Du wirst die Beziehung aufgeben. Du wirst sie verlassen. Du wirst sie nie wiedersehen!«
»Lillian, wenn du darüber mit mir reden willst, dann sei dir über das eine im klaren: Nichts in der Welt wird
mich dazu bringen, auf sie zu verzichten.«
»Aber ich verlange es!«
»Ich habe dir bereits gesagt, du kannst alles verlangen, nur das nicht.« Er sah, wie die Angst in ihren Augen
stärker wurde: Es war kein Blick des Verstehens, sondern einer wilden Weigerung zu verstehen – als ob sie ihre
heftige Erregung in eine Nebelwand verwandeln wollte, als ob sie hoffte, daß diese Nebelwand sie nicht blind
für die Wirklichkeit machen würde, sondern daß die Wirklichkeit dadurch aufhören würde zu existieren.
»Aber ich habe das Recht, es zu verlangen! Dein Leben gehört mir. Es ist mein Besitz. Mein Besitz – durch
deinen eigenen Eid. Du hast geschworen, meinem Glück zu dienen. Nicht deinem – meinem! Was hast du für
mich getan? Du hast mir nichts gegeben, du hast nichts geopfert, du hast dich immer nur für dich selber
interessiert – deine Arbeit, dein Werk, dein Talent, deine Geliebte! Und wie ist es mit mir? Ich habe den ersten
Anspruch! Ich präsentiere ihn zur Einlösung! Du bist das Konto, das mir gehört!«
Es war der Blick in seinem Gesicht, der ihre Stimme greller klingen ließ, bis sie zu einem Schrei des
Entsetzens wurde. Sie sah weder Ärger, noch Schmerz, noch Schuld, sondern den einen unverwundbaren Feind:
Gleichgültigkeit.
»Hast du an mich gedacht?« schrie sie ihn an. »Hast du daran gedacht, was du mir antust? Du hast kein Recht,
das fortzusetzen, wenn du weißt, daß du mich jedesmal Höllenqualen erleiden läßt, wenn du mit dieser Frau
schläfst! Ich kann das nicht ertragen. Ich kann es nicht einen Augenblick ertragen, das zu wissen! Willst du mich
deiner tierischen Begierde opfern? Bist du so verkommen und eigennützig? Kannst du dir deine Lust um den
Preis meines Leidens erkaufen? Kannst du es fortsetzen, wenn du mir damit das antust?«
Er fühlte nichts als Leere. Befremdet beobachtete er, was er in der Vergangenheit nur erahnt hatte und was er
jetzt in seiner ganzen häßlichen Sinnlosigkeit sah: das Schauspiel des von wütendem Haß erfüllten Flehens um
Mitleid, das aus Drohungen und Forderungen bestand.
»Lillian«, sagte er sehr ruhig, »ich würde es fortsetzen, selbst wenn es dein Leben kosten sollte.«
Sie hörte es. Sie hörte mehr, als sie bereit war zu wissen und in seinen Worten zu hören. Was ihn erschreckte,
war, daß sie nicht aufschrie, sondern daß er statt dessen sah, wie sie plötzlich merkwürdig ruhig wurde. »Du hast
kein Recht…«, sagte sie müde. Es war der hilflose Ton eines Menschen, der weiß, daß seine eigenen Worte
bedeutungslos sind.
»Welchen Anspruch du auch immer auf mich haben magst«, sagte er, »kein Mensch kann von einem anderen
verlangen, daß er sich selbst auslöscht.«
»Bedeutet sie dir so viel?«
»Noch viel mehr.«
Ein nachdenklicher Ausdruck kehrte in ihr Gesicht zurück. Aber in ihrem Gesicht hatte er etwas Tückisches.
Sie blieb stumm.
»Lillian, ich bin froh, daß du die Wahrheit weißt. Jetzt kannst du mit nüchternem Verstand entscheiden. Du
kannst dich von mir scheiden lassen oder du kannst verlangen, daß alles so bleibt wie bisher. Es bleibt dir keine
andere Wahl. Es ist alles, was ich dir bieten kann. Ich glaube, du weißt, daß es mir am liebsten wäre, du würdest
dich scheiden lassen. Aber ich verlange keine Opfer. Ich weiß nicht, welche Art von Trost du in unserer Ehe
findest. Aber wenn du ihn findest, werde ich nicht die Scheidung von dir fordern. Ich weiß nicht, warum du mich
jetzt noch festhalten möchtest. Ich weiß nicht, was ich dir bedeute. Ich weiß nicht, was du suchst, welcher Art
dein Glück ist oder was du aus einer Situation gewinnen willst, die ich als unerträglich für uns beide betrachte.
Nach jedem meiner Maßstäbe hättest du dich schon längst scheiden lassen müssen. Nach jedem meiner
Maßstäbe wird die Aufrechterhaltung unserer Ehe ein schändlicher Betrug sein. Aber meine Maßstäbe sind nicht
deine. Ich verstehe deine nicht. Ich habe sie nie verstanden, doch ich werde sie respektieren. Wenn dies die Art
deiner Liebe zu mir ist, wenn es dir eine Befriedigung gibt, dich meine Frau nennen zu können, dann werde ich
dir das nicht nehmen. Da ich es bin, der sein Wort gebrochen hat, will ich dafür sühnen, soweit ich nur kann. Du
weißt natürlich, daß ich einen dieser modernen Richter kaufen und jederzeit die von mir gewünschte Scheidung
erreichen könnte. Ich werde es nicht tun. Ich werde mein Wort halten, wenn du es so wünschst, aber dies ist die
einzige Form, in der ich es halten kann. Nun entscheide dich. Doch wenn du dich entscheidest, bei mir zu
bleiben, darfst du nie zu mir über sie sprechen. Du darfst ihr nie zeigen, daß du es weißt, wenn du ihr künftig
begegnest. Du darfst nie an diesen Teil meines Lebens rühren.«
Sie sah ihn an und streifte dabei alles Damenhafte von sich ab, als wäre dieses Sichgehenlassen eine Form der
Herausforderung, als läge ihr nichts mehr daran, sich seinetwegen um ihre äußere Erscheinung zu bemühen.
»Miss Dagny Taggart…«, sagte sie und lachte. »Die Superfrau, die über jeden Verdacht gewöhnlicher,
durchschnittlicher Ehefrauen erhaben war. Die Frau, die sich nur für das Geschäft interessierte und die mit
Männern wie ein Mann umging. Die Frau mit dem großen Intellekt, die dich platonisch bewunderte, nur deines
Genies, deines Werks und deines Metalls wegen!« Sie lachte von neuem auf. »Ich hätte es wissen sollen, daß sie
nur eine Hure ist, die dich auf die gleiche Weise begehrt, wie jede Hure dich begehren würde – weil du im Bett
deine Sache genauso verstehst wie am Schreibtisch, wenn ich so etwas überhaupt beurteilen kann. Aber sie wird
das besser zu schätzen wissen als ich, da sie Fähigkeiten jeder Art anbetet und da sie wahrscheinlich mit jedem
Mann ihrer Eisenbahn im Bett gelegen hat.«
Sie verstummte, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben begriff, an welcher Art von Blick man erkennt, daß
ein Mann des Mordes fähig ist. Aber er sah sie nicht an. Sie war sich nicht sicher, ob er sie überhaupt sah oder
ihre Stimme hörte.
Er hörte seine eigene Stimme Lillians Worte zu Dagny sagen, in dem Schlafzimmer von Ellis Wyatts Haus,
durch dessen Jalousien die Strahlen der Sonne fielen. Er sah in den Nächten, die hinter ihm lagen, Dagnys
Gesicht in den Augenblicken, in denen sich sein Körper von ihrem löste und sie mit einem strahlenden Blick still
dalag, der mehr war als ein Lächeln, ein Blick der Jugend, der Morgenfrühe, der Dankbarkeit für das eigene
Leben. Und er sah Lillians Gesicht, wie er es im Bett neben sich gesehen hatte, ein lebloses Gesicht mit
ausweichenden Augen, mit einem leisen Spott auf den Lippen und dem Ausdruck eines Menschen, der mit dem
anderen eine schmutzige Schuld teilt. Er sah, wer der Ankläger und wer der Angeklagte war; er sah die
Niedertracht, die das Unvermögen für eine Tugend hält und die Lebenskraft als Sünde verdammt; er sah mit der
Klarheit einer unmittelbaren Wahrnehmung in jähem Erschrecken die Schande dessen, was einmal seine eigene
Überzeugung gewesen war.
Es war nur ein Augenblick, eine Feststellung ohne Worte, ein Wissen, das ihm sein Gefühl ohne
Dazwischenschaltung des Verstandes vermittelte. Das Erschrecken machte ihm Lillians Anwesenheit und den
Klang ihrer Worte wieder bewußt. Die erschien ihm plötzlich als etwas Unwichtiges, mit dem er sich trotzdem
befassen mußte.
»Lillian«, sagte er mit monotoner Stimme, die ihr nicht einmal die Ehre des Zorns gewährte, »du darfst nie
über sie zu mir sprechen. Wenn du es je wieder tust, werde ich dir antworten, wie ich einem Straßenjungen
antworten würde: Ich werde dich schlagen. Weder du noch sonst jemand hat über sie zu reden.«
Sie blickte ihn an. »Wirklich?« sagte sie. Es klang seltsam beiläufig, als hätte sie etwas ganz anderes im Sinn.
Sie schien über etwas nachzudenken, das ihr plötzlich einfiel.
In müdem Erstaunen sagte er: »Ich glaubte, du würdest froh sein, die Wahrheit zu entdecken. Ich glaubte, es
wäre dir lieber zu wissen – um der Art von Liebe oder Achtung willen, die du für mich empfunden hast –, daß
ich dich nicht wegen einer billigen Zufallsbekanntschaft betrogen habe, daß es dabei nicht um eine Tänzerin
ging, sondern um das reinste und ernsteste Gefühl meines Lebens.«
Die wilde Bewegung, mit der sie sich zu ihm umdrehte, war ebenso ungewollt wie der nackte Haß, der ihr
Gesicht verzerrte. »Du verdammter Idiot!«
Er schwieg. Mit der leisen Andeutung eines heimlich spöttischen Lächelns kehrte ihre Fassung zurück. »Du
erwartest wohl eine Antwort von mir«, sagte sie. »Nein, ich werde mich nicht von dir scheiden lassen. Erhoffe
dir das nie. Es bleibt alles zwischen uns, wie es war – wenn es das ist, was du mir angeboten hast, und wenn du
glaubst, daß es so weitergehen kann. Du mußt wissen, ob du alle moralischen Prinzipien verhöhnen und so
weiterleben kannst!«
Er hörte nicht hin, als sie ihren Mantel ergriff und sagte, daß sie nach Hause wollte. Er achtete kaum darauf,
als sich die Tür hinter ihr schloß. Er stand reglos, von einem Gefühl überwältigt, das er nie zuvor erlebt hatte. Er
wußte, er würde später nachdenken, nachdenken und verstehen müssen, aber im Augenblick wollte er sich nur
ganz dem Wunder dieses Gefühls hingeben.
Es war ein Gefühl der Freiheit, als würde er allein in einem grenzenlosen Raum reiner Luft stehen und sich
nur noch daran erinnern, daß eine Last von seinen Schultern genommen war. Es war das Gefühl einer
unendlichen Erlösung. Es war das Wissen, daß es ihm gleich war, was Lillian empfand, was sie litt oder was aus
ihr wurde, und mehr noch: Es war ihm nicht nur gleich, sondern es war das strahlende, schuldlose Wissen, daß es
ihn gar nicht zu berühren brauchte.
VI. Das Wundermetall

»Aber kommen wir damit durch?« fragte Wesley Mouch. Seine Stimme klang schrill vor Ärger und Angst.
Niemand antwortete ihm. James Taggart saß reglos auf dem Rand eines Sessels. Orren Boyle klopfte mit einer
wütenden Bewegung die Asche von seiner Zigarre ab. Dr. Floyd Ferris lächelte. Mr. Weatherby kniff die Lippen
zusammen. Fred Kinnan, der dem Gewerkschaftsverband Amalgamated Labor of America vorstand, hörte auf,
im Büro auf und ab zu gehen und setzte sich auf die Fensterbank. Eugene Lawson, der gebückt und wie
abwesend die Blumen in einer Vase auf einem kleinen Glastisch neu geordnet hatte, reckte sich grollend. Mouch
saß an seinem Schreibtisch, und seine Hand lag auf einem Blatt Papier. Es war Eugene Lawson, der schließlich
sagte: »Das scheint mir nicht die Frage zu sein, die man sich stellen muß. Wir dürfen uns nicht durch
gewöhnliche Schwierigkeiten darin beirren lassen, daß es ein allein vom Gemeinwohl bestimmter edler Plan ist.
Er dient dem Wohl des Volkes. Das Volk braucht ihn. Das Bedürfnis geht allem voran, darum haben wir an
nichts anderes zu denken.«
Niemand wandte etwas dagegen ein oder griff es auf. Sie machten Gesichter, als ob Lawson es mit seinen
Worten nur schwerer gemacht hätte, die Diskussion fortzusetzen. Aber ein kleiner Mann, der bescheiden im
besten Sessel des Zimmers saß, abseits von den anderen, zufrieden, daß niemand ihn beachtete, und dennoch
gewahr, daß sich alle seiner Anwesenheit bewußt waren, sah Lawson und dann Mouch an und sagte strahlend
heiter: »So ist es richtig, Wesley.
Schwächen Sie es etwas ab, geben Sie ihm eine gefällige Form, und lassen Sie es von Ihren Presseleuten
preisen – und dann sind Sie aller Sorgen ledig.«
»Ja, Mr. Thompson«, sagte Mouch verdrießlich.
Mr. Thompson, das Staatsoberhaupt, war ein Mann, der die Eigenschaft besaß, nie aufzufallen. Er brauchte
nur mit zwei anderen zusammen zu sein, und schon war er nicht mehr zu unterscheiden. Und wenn man ihn
allein sah, ließ er unwillkürlich an eine Gruppe unzähliger Menschen denken, denen er allen ähnelte. Niemand
wußte, wie er eigentlich aussah: Seine Fotos waren zwar auf den Umschlagseiten der Zeitschriften ebenso häufig
erschienen wie die seiner Vorgänger im Amt, aber die Leute waren nie ganz sicher, welche Fotos ihn darstellten
und welche Bilder eines »Postbeamten« oder eines »Geistesarbeiters« waren, die die Artikel aus dem
Alltagsleben der Durchschnittsbürger begleiteten – außer daß Mr. Thompsons Kragen für gewöhnlich zerkn ittert
waren. Er hatte breite Schultern, einen schlanken Körper, borstiges Haar, einen großen Mund, und sein Alter war
schwer zu bestimmen: Er konnte ebensogut ein abgekämpfter Vierziger wie ein ungewöhnlich kräftiger
Sechziger sein. Obwohl er schon riesige Macht besaß, war er unaufhörlich bemüht, sie auszudehnen, weil das
jene von ihm erwarteten, die ihn in sein Amt geschoben hatten. Er hatte das Listige des Unintelligenten und die
wilde Energie des Faulen. Das einzige Geheimnis seines Aufstiegs im Leben war die Tatsache, daß er ein
Produkt des Zufalls war, es wußte und nichts anderes erstrebte.
»Selbstverständlich müssen Maßnahmen ergriffen werden. Drastische Maßnahmen«, sagte James Taggart,
wobei er sich nicht an Mr. Thompson, sondern an Wesley Mouch wandte. »Es kann nicht mehr lange so
weitergehen.« Seine Stimme klang kämpferisch und zitternd zugleich.
»Nehmen Sie es nicht so schwer, Jim«, sagte Orren Boyle. »Es muß etwas getan werden, und zwar schnell!«
»Sehen Sie mich nicht an«, sagte Wesley Mouch. »Ich kann nichts dafür. Ich kann nichts dafür, daß die Leute
sich weigern mitzuarbeiten. Ich bin gebunden. Ich brauche größere Vollmachten.«
Mouch hatte sie alle als seine Freunde und persönlichen Ratgeber zu einer privaten, inoffiziellen Konferenz
über die nationale Krise nach Washington gerufen. Aber wie sie ihn da vor sich sahen, vermochten sie nicht zu
entscheiden, ob sein Verhalten anmaßend oder weinerlich war, ob er ihnen drohte oder um ihre Hilfe flehte.
»Tatsache ist«, sagte Mr. Weatherby in einem förmlichen, sachlichen Ton, »daß in der Zwölfmonatsperiode,
die am 1. Januar zu Ende gegangen ist, sich die Zahl der Firmenzusammenbrüche gegenüber der
vorangegangenen Zwölfmonatsperiode verdoppelt hat. Seit dem 1. Januar hat sie sich verdreifacht.«
»Seien Sie sicher: Sie halten es für ihre eigene Schuld«, sagte Dr. Ferris ruhig.
»Wie?« sagte Wesley Mouch und sah ihn mit einem durchbohrenden Blick an.
»Was Sie auch tun, entschuldigen Sie sich nicht«, sagte Dr. Ferris. »Sorgen Sie dafür, daß sie sich schuldig
fühlen.«
»Ich entschuldige mich nicht«, rief Mouch. »Man kann mir keine Vorwürfe machen. Ich brauche größere
Vollmachten.«
»Aber es ist ihre eigene Schuld«, sagte Eugene Lawson aggressiv zu Dr. Ferris. »Es ist ihr Mangel an
sozialem Geist. Sie weigern sich anzuerkennen, daß Produktion nicht ein privates Vergnügen, sondern eine
öffentliche Pflicht ist. Sie haben kein Recht, Pleite zu machen, ganz gleich, wie die Verhältnisse auch werden.
Sie müssen weiterproduzieren. Das ist ein sozialer Imperativ. Die Arbeit, die einer tut, ist nicht seine persönliche
Angelegenheit. Ein persönliches Leben gibt es nicht. Das zu lernen, müssen wir sie zwingen.«
»Gene Lawson weiß genau, wovon ich rede«, sagte Dr. Ferris mit einem leisen Lächeln, »obwohl er selber
nicht die geringste Ahnung hat, daß er es weiß.«
»Was soll die Bemerkung?« fragte Lawson mit erhobener Stimme.
»Lassen wir das«, sagte Wesley Mouch in befehlendem Ton.
»Es ist mir gleich, was Sie zu tun beschließen, Wesley«, sagte Mr. Thompson, »und es interessiert mich auch
nicht, wenn die Geschäftsleute darüber zetern. Sorgen Sie nur dafür, daß die Presse auf Ihrer Seite ist. Dessen
müssen Sie ganz sicher sein.«
»Ich habe sie auf meiner Seite«, sagte Mouch.
»Ein Redakteur, der zur falschen Zeit dagegenschießt, könnte uns mehr schaden als zehn verärgerte
Millionäre.«
»Das stimmt, Mr. Thompson«, sagte Dr. Ferris. »Aber können Sie mir einen Redakteur nennen, der das
weiß?«
»Vermutlich nicht«, sagte Mr. Thompson befriedigt.
»Auf welche Menschentypen wir bei unserer Planung auch zählen«, sagte Dr. Ferris, »es gibt ein
altmodisches Wort, das wir ohne Sorge vergessen können: daß man auf die Klugen und Anständigen zählen
muß. Wir brauchen auf sie keine Rücksicht zu nehmen. Sie passen nicht mehr in die Zeit.«
James Taggart blickte zum Fenster. Über den breiten Straßen Washingtons sah man am Himmel blaue Flecke,
das blasse Blau des Aprils, und ein paar Sonnenstrahlen, die die Wolken durchbrachen. In der Ferne erhob sich,
von der Sonne beschienen, ein leuchtendes Monument: Es war ein hoher weißer Obelisk, der zum Gedenken an
den Mann errichtet worden war, den Dr. Ferris zitiert hatte und dem zu Ehren die Stadt ihren Namen trug. James
Taggart blickte weg.
»Ich schätze die Bemerkungen des Professors nicht«, sagte Lawson laut und mürrisch.
»Halten Sie den Mund«, sagte Wesley Mouch. »Dr. Ferris spricht nicht theoretisch, sondern praktisch.«
»Nun, wenn Sie praktisch sprechen wollen«, sagte Fred Kinnan, »dann lassen Sie mich Ihnen sagen, daß wir
uns in einer Zeit wie dieser um Geschäftsleute keine Sorgen machen können. Wir müssen an Arbeitsplätze
denken. Wir brauchen mehr Arbeitsplätze für das Volk. In meinen Gewerkschaften muß jeder, der arbeitet, fünf
andere, die keine Arbeit haben, miternähren, ohne all seine hungernden Verwandten mitzurechnen. Wenn Sie
meinen Rat hören wollen – ich weiß, Sie werden nicht begeistert davon sein, aber es ist nur ein Gedanke –,
erlassen Sie eine Verordnung, die jede Firma im Land verpflichtet, ein Drittel mehr Arbeitskräfte einzustellen.«
»Großer Gott«, schrie Taggart, »sind Sie wahnsinnig? Wir können kaum unsere Löhne zahlen. Wir haben
nicht einmal genug Arbeit für unsere derzeitige Belegschaft! Ein Drittel mehr? Wir hätten für sie überhaupt
keine Verwendung!«
»Wen interessiert es, ob Sie Verwendung für sie haben?« sagte Fred Kinnan. »Wir brauchen Arbeitsplätze.
Geht das Bedürfnis nicht allem anderen voraus – auch Ihren Profiten?«
»Es geht nicht um die Profite«, sagte Taggart hastig. »Ich habe nichts von Profiten gesagt. Ich habe Ihnen
keinen Grund gegeben, mich zu beleidigen. Es geht nur darum, woher wir das Geld nehmen sollen, um unsere
Leute zu bezahlen – wenn die Hälfte unserer Züge leer fährt und es nicht genug Fracht gibt, um auch nur einen
Güterwagen zu füllen.« Seine Stimme senkte sich plötzlich zu einem Ton behutsamer Nachdenklichkeit:
»Dennoch, wir verstehen die Notlage der arbeitenden Menschen, und – das ist nur ein Gedanke – wir könnten
vielleicht eine zusätzliche Anzahl einstellen, wenn man uns erlaubt, unsere Frachttarife zu verdoppeln, die…«
»Haben Sie den Verstand verloren?« brüllte Orren Boyle. »Ich gehe schon an Ihren jetzigen Tarifen fast
zugrunde. Ich zittere jedesmal, wenn ein verdammter Güterwagen in das Werk hinein- oder aus ihm herausfährt.
Ich verblute an den Tarifen. Ich kann sie einfach nicht bezahlen – und da wollen Sie sie noch verdoppeln?«
»Es ist nicht entscheidend, ob Sie sie bezahlen können oder nicht«, sagte Taggart kalt. »Sie müssen darauf
vorbereitet sein, einige Opfer zu bringen. Die Öffentlichkeit braucht Eisenbahnen. Das Bedürfnis steht an erster
Stelle – über Ihren Profiten.«
»Was für Profite?« rief Orren Boyle. »Wann habe ich je irgendwelche Profite gemacht? Niemand kann mich
bezichtigen, eine gewinnbringende Firma zu leiten! Sehen Sie sich meine Bilanz mal an, und sehen Sie sich die
Bücher eines gewissen Konkurrenten von mir an, der alle Kunden, alles Rohmaterial, alle technischen Vorteile
und das Monopol auf geheime Formeln an sich gebracht hat, und dann sagen Sie mir, wer der Profitjäger ist! –
Aber natürlich, die Öffentlichkeit braucht Eisenbahnen, und vielleicht wäre es mir möglich, eine gewisse
Tariferhöhung zu verdauen, wenn ich – das ist nur ein Gedanke –, wenn ich eine Geldbeihilfe bekäme, die mich
über das nächste Jahr oder die nächsten beiden Jahre hinwegbrächte, bis ich wieder flott bin und…«
»Was? Wieder?« brüllte Mr. Weatherby, seine förmliche Höflichkeit verlierend. »Wie viele Anleihen haben
Sie schon von uns bekommen und wie viele Zahlungsaufschübe und Moratorien? Sie haben nicht einen Cent
zurückgezahlt, und da einer nach dem anderen von Ihnen Pleite macht und die Steuereinnahmen immer mehr
zurückgehen – wo, glauben Sie, sollen wir das Geld auftreiben, um Ihnen damit unter die Arme zu greifen?«
»Es gibt auch noch Firmen, die nicht Pleite machen«, sagte Boyle leise. »Ihre Leute haben keine
Entschuldigung dafür, daß sich all diese Not und all dieses Elend im ganzen Land ausbreiten – solange es
Menschen gibt, die nicht Pleite machen.«
»Ich kann nichts dafür«, schrie Wesley Mouch. »Ich kann nichts dagegen tun. Ich brauche größere
Vollmachten.«
Sie wußten nicht, was Mr. Thompson bewogen hatte, dieser besonderen Konferenz beizuwohnen. Er hatte
bisher wenig gesagt, aber interessiert zugehört. Es schien, als ob da etwas wäre, das er erfahren wollte, und er
sah jetzt aus, als ob er es erfahren hätte. Er erhob sich und lächelte heiter.
»Los, Wesley«, sagte er, »bringen Sie die Verordnung Nr. 10-289 heraus! Sie werden keinerlei
Schwierigkeiten damit haben.«
Alle waren, wenn auch nur widerstrebend, aufgesprungen. Wesley Mouch blickte auf das Blatt Papier, das vor
ihm lag, und sagte dann in einem mißmutigen Ton: »Wenn Sie wollen, daß ich das tue, müssen Sie den totalen
Notstand erklären.«
»Ich werde ihn jederzeit erklären, wenn Sie bereit sind.«
»Es sind da gewisse Schwierigkeiten, die…«
»Das überlasse ich Ihnen. Arbeiten Sie die Verordnung ganz nach Ihrem Wunsch aus. Das ist Ihre Aufgabe.
Lassen Sie mich morgen oder übermorgen den Rohentwurf sehen, aber behelligen Sie mich nicht mit den
Einzelheiten. Ich muß in einer halben Stunde eine Ansprache im Rundfunk halten.«
»Die Hauptschwierigkeit ist, daß ich nicht sicher bin, ob das Gesetz uns wirklich dazu ermächtigt, gewisse
Bestimmungen der Verordnung Nr. 10-289 in Kraft zu setzen. Ich fürchte, man kann sich dagegen wehren.«
»Ach, wir haben so viele Notstandsgesetze erlassen, daß, wenn Sie sie einmal alle durchdenken, Sie sicherlich
etwas finden werden, das jeden Einspruch unmöglich macht.«
Mr. Thompson wandte sich mit einem kollegialen Lächeln den anderen zu. »Ich verlasse Sie jetzt, damit Sie
alle Mängel ausbügeln können«, sagte er. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie nach Washington gekommen
sind, um uns zu helfen. Ich freue mich, Sie gesehen zu haben.«
Sie warteten, bis sich die Tür hinter ihm schloß. Dann setzten sie sich wieder.
Sie kannten den Wortlaut der Verordnung Nr. 10-289 nicht, aber sie wußten ungefähr, was sie enthielt. Sie
wußten es schon längst, auf jene besondere Art, die darin besteht, Geheimnisse vor sich selbst zu wahren und das
Wissen nicht in Worte zu übertragen. Und nach der gleichen Methode wünschten sie jetzt, es wäre ihnen
möglich, nicht den Wortlaut der Verordnung hören zu müssen. Es galt, solche Augenblicke wie diesen zu
vermeiden. Sie wünschten, daß die Verordnung in Kraft gesetzt wurde. Sie wünschten, sie könnte ohne Worte in
Kraft gesetzt werden, so daß sie nicht zu wissen brauchten, daß das, was sie taten, das war, was es war. Niemand
hatte je gesagt, daß die Verordnung Nr. 10-289 das letzte Ziel seiner Bemühung sei. Dennoch, schon vor
Generationen hatten Menschen dafür gearbeitet, sie möglich zu machen, und monatelang war jede ihrer
Bestimmungen durch unzählige Reden, Artikel, Predigten und Leitartikel vorbereitet worden von zielbewußten
Stimmen, die vor Ärger aufschrien, wenn jemand ihr Ziel mit Namen nannte.
»Die Lage ist jetzt folgendermaßen«, sagte Wesley Mouch. »Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes
waren im vorletzten Jahr besser als im letzten, und im letzten Jahr besser als in diesem. Wenn es im gleichen
Tempo weitergeht, werden wir nicht noch ein weiteres Jahr durchhalten können. Unser einziges Ziel muß darum
sein, die Stellung zu halten, stillzustehen, um wieder in Schwung zu kommen, um die völlige Stabilität zu
erreichen. Man hat der Freiheit eine Chance gegeben, und sie hat versagt. Deshalb sind schärfere Kontrollen
notwendig. Da die Menschen unfähig und nicht bereit sind, ihre Probleme freiwillig zu lösen, müssen sie dazu
gezwungen werden.« Er unterbrach sich, nahm das Blatt Papier in die Hand und fuhr dann in einem weniger
förmlichen Ton fort: »Es läuft darauf hinaus, daß wir, so wie die Dinge liegen, zwar existieren, es uns aber nicht
leisten können, uns zu rühren. Wir müssen darum stillstehen. Wir müssen stillstehen. Wir müssen diese Lumpen
zwingen stillzustehen!«
Er hatte den Kopf in die Schultern gezogen und blickte die anderen mit dem Ärger eines Mannes an, der die
Schwierigkeiten des Landes als eine persönliche Beleidigung betrachtete. So viele Männer, die sein Wohlwollen
suchten, hatten sich vor ihm gefürchtet, daß er jetzt handelte, als ob sein Ärger eine Lösung für alles wäre, als ob
sein Ärger allmächtig wäre, als ob er nur ärgerlich zu werden brauchte. Dennoch: Die Männer, die in einem
Halbkreis stumm vor seinem Schreibtisch saßen, waren sich nicht sicher, ob die im Raum anwesende Furcht ihre
eigene war oder ob die hinter dem Schreibtisch kauernde Gestalt die Angst einer in die Enge getriebenen Ratte
ausstrahlte.
Wesley Mouch hatte ein langes, eckiges Gesicht und einen abgeplatteten Schädel, der durch den kurzen
Haarschnitt noch platter wirkte. Seine Unterlippe hing mürrisch herunter, und seine hellbraunen Pupillen sahen
wie Eidotter aus, die in dem nicht ganz durchsichtigen Weiß verschwammen. Seine Gesichtsmuskeln bewegten
sich ruckartig, aber in dieser Bewegung drückte sich nichts aus. Kein Mensch hatte ihn je lächeln sehen.
Wesley Mouch stammte aus einer Familie, die viele Generationen hindurch weder Armut noch Reichtum
noch Vornehmheit gekannt hatte; sie hatte dennoch an ihrer eigenen Tradition festgehalten: Es waren lauter
Akademiker, und sie blickten darum auf die Geschäftsleute verächtlich herab. Die Diplome der Familie hatten
immer wie ein Vorwurf gegen die Welt an der Wand gehangen, denn die Diplome hatten nicht automatisch die
materiellen Äquivalente der durch sie bescheinigten geistigen Werte geschaffen. Unter den zahlreichen
Verwandten der Familie war ein reicher Onkel. Er hatte sein Geld erheiratet, und als alter Witwer hatte er
Wesley als seinen Liebling unter seinen vielen Neffen und Nichten ausgewählt, denn Wesley war der
durchschnittlichste von allen, und darum, dachte Onkel Julius, der sicherste. Onkel Julius machte sich nichts aus
glänzend begabten Leuten. Ihm lag auch nichts daran, die Mühe der Verwaltung seines Geldes auf sich zu
nehmen: Darum betraute er Wesley mit dieser Aufgabe. Als Wesley sein Abschlußexamen machte, gab es kein
Geld mehr zu verwalten. Onkel Julius machte Wesleys Gerissenheit dafür verantwortlich und schrie, Wesley sei
ein skrupelloser Projektemacher. Aber Wesley hatte überhaupt keine Pläne gehabt, und er hätte nicht sagen
können, wo das Geld geblieben war. Auf der Oberschule war Wesley Mouch einer der schlechtesten Schüler und
hatte jene leidenschaftlich beneidet, die die besten waren. Auf der Universität hatte er gelernt, daß er sie gar
nicht zu beneiden brauchte. Nach seinem Examen nahm er eine Stellung in der Werbeabteilung einer Firma an,
die ein Mittel gegen Hühneraugen herstellte. Das Mittel verkaufte sich gut, und er stieg zum Leiter der Abteilung
auf. Er übernahm dann die Leitung der Werbung für ein Haarwuchsmittel, einen patentierten Büstenhalter, eine
neue Seife, eine Limonade – und wurde schließlich der Leiter der Werbeabteilung eines Automobilkonzerns. Er
versuchte, Autos zu verkaufen, als ob sie ein Mittel gegen Hühneraugen wären, aber sie verkauften sich nicht. Er
schob das seinem zu geringen Werbeetat in die Schuhe. Der Generaldirektor des Autokonzerns emp fahl ihn an
Rearden. Rearden führte ihn in Washington ein – Rearden, dem alle Voraussetzungen fehlten, um die Tätigkeit
eines Lobbyisten beurteilen zu können. Es war James Taggart, der ihn im Büro für Wirtschaftsplanung und
Nationale Bodenschätze unterbrachte – er sollte Rearden betrügen, um dadurch Orren Boyle beizustehen, der
dafür Dan Conway vernichtete. Von da an förderte man Wesley Mouch aus dem gleichen Grund, aus dem Onkel
Julius ihn ausgewählt hatte; es waren Menschen, die glaubten, Mittelmäßigkeit sei ungefährlich. Die Männer, die
jetzt vor seinem Schreibtisch saßen, hatte man gelehrt, das Kausalgesetz sei ein Aberglaube und man müsse sich
mit der Situation des Augenblicks befassen, ohne nach der Ursache zu fragen. Gemäß der Situation des
Augenblicks waren sie zu dem Schluß gekommen, daß Wesley Mouch ein äußerst geschickter und gerissener
Mann war, da Millionen zur Macht drängten, er aber der einzige war, der sie erreicht hatte. Ihre Art zu denken
brachte sie gar nicht darauf, daß Wesley Mouch den Kräften gegenüber, die losgelassen wurden, um einander zu
vernichten, eine Null war.
»Dies ist nur ein roher Entwurf der Verordnung 10-289«, sagte Wesley Mouch, »den Gene, Clem und ich
skizziert haben, um Ihnen eine allgemeine Vorstellung davon zu geben. Wir möchten Ihre Ansichten, Vorschläge
usw. hören, da Sie die Vertreter der Arbeiter, der Industrie, des Verkehrswesens und der Intelligenz sind.«
Fred Kinnan stand von der Fensterbank auf und setzte sich auf die Lehne eines Sessels. Orren Boyle spuckte
den Stummel seiner Zigarre aus. James Taggart blickte auf seine Hände hinunter. Dr. Ferris war der einzige, der
sich in seiner Haut wohl zu fühlen schien.
»Im Namen des Gemeinwohls«, las Wesley Mouch vor, »zum Schutz der Sicherheit des Volkes, zur
Erlangung einer völligen Gleichheit und Stabilität wird für die Dauer des nationalen Notstandes verfügt…
Punkt eins: Alle Arbeiter, Angestellten und sonstigen Lohnempfänger bleiben von jetzt an an ihrem
Arbeitsplatz. Sie dürfen ihn weder aufgeben, noch entlassen werden, noch ihren Beruf wechseln.
Zuwiderhandlungen werden mit Gefängnis bestraft. Die Strafe wird durch ein Gremium festgesetzt, das vom
Büro für Wirtschaftsplanung und Nationale Bodenschätze berufen wird. Alle Personen, die das Alter von
zweiundzwanzig Jahren erreichen, müssen sich bei diesem Gremium melden, das ihnen den Arbeitsplatz zuteilt,
an dem sie nach seiner Meinung den Interessen der Nation am nützlichsten sind.
Punkt zwei: Alle Industrie- und Handelsunternehmen jeder Art müssen ihren Betrieb aufrechterhalten. Die
Besitzer solcher Unternehmen dürfen weder ihre Firmen verlassen, noch sich zur Ruhe setzen, noch sie
schließen, verkaufen oder anderen übereignen. Bei Zuwiderhandlung wird ihr Betrieb verstaatlicht, und ihr
gesamtes Eigentum verfällt dem Staat.
Punkt drei: Alle Patente und Urheberrechte, die sich auf Erfindungen, Formeln, Verfahren und Arbeiten jeder
Art beziehen, müssen der Nation mittels Schenkungsurkunden, die von den Eigentümern solcher Patente und
Urheberrechte freiwillig unterzeichnet werden, als Notstandsschenkung übereignet werden. Das Amt für
Vereinheitlichung wird dann – um monopolistische Praktiken auszuschließen – die Benutzung dieser Patente und
Urheberrechte allen Bewerbern ohne Unterschied genehmigen, um veraltete Produkte aufzugeben und der
ganzen Nation das Beste verfügbar zu machen. Es dürfen keine der bestehenden Warenzeichen oder
Schutzmarken benutzt oder Urheberrechte geltend gemacht werden. Jedes früher patentierte Erzeugnis soll mit
einem neuen Namen bezeichnet und von allen Fabrikanten unter dem gleichen, vom Amt für Vereinheitlichung
gewählten Namen verkauft werden. Alle privaten Handelszeichen werden hiermit abgeschafft.
Punkt vier: Nach Herausgabe dieser Verordnung dürfen keine Verfahren, Erzeugnisse oder Waren jeglicher
Art, die bisher noch nicht auf dem Markt sind, erzeugt, erfunden, hergestellt oder verkauft werden. Das Patent-
und Urheberrecht wird hiermit aufgelöst.
Punkt fünf: Alle Unternehmen, Konzerne, Gesellschaften und Personen, die irgend etwas produzieren, mü ssen
künftig im Jahr die gleiche Menge an Waren produzieren, die sie in dem der Berechnung zugrunde liegenden
Jahr produziert haben, nicht mehr oder weniger. Dieses Jahr endet mit dem Tag, an dem diese Verordnung
herausgegeben wird. Über- oder Unterproduktion wird mit einer vom Amt für Vereinheitlichung festgesetzten
Geldstrafe geahndet.
Punkt sechs: Jede Person jeden Alters, Geschlechts, jeder Klasse und jeden Einkommens muß künftig jährlich
den gleichen Geldbetrag für Einkäufe von Waren ausgeben, den sie während des der Berechnung zugrunde
gelegten Jahres ausgegeben hat, nicht mehr und nicht weniger. Wer mehr oder weniger kauft, wird mit einer vom
Amt für Vereinheitlichung festgesetzten Geldbuße bestraft.
Punkt sieben: Alle Löhne, Preise, Einkommen, Dividenden, Gewinne, Zinsen und sonstigen Einkommen jeder
Art bleiben so, wie sie am Tage der Herausgabe dieser Verordnung sind.
Punkt acht: Alle sich aus dieser Verordnung ergebenden Fälle und in ihr nicht besonders vorgesehenen
Bestimmungen werden durch das Amt für Vereinheitlichung, dessen Entscheidungen endgültig sind, geregelt
bzw. erlassen.«
Selbst die vier Männer, die zugehört hatten, besaßen noch so viel Würde, daß sie eine Minute lang reglos
dasaßen und ein flaues Gefühl empfanden.
James Taggart nahm als erster das Wort. Seine Stimme klang leise, aber wie ein unterdrückter Schrei: »Nun,
warum nicht? Warum sollten sie haben, was wir nicht haben? Warum soll es ihnen besser gehen als uns? Wenn
wir zugrunde gehen, wollen wir dafür sorgen, daß wir alle zusammen zugrunde gehen. Wir wollen dafür sorgen,
daß ihnen keine Chance zum Überleben bleibt!«
»Über einen äußerst vernünftigen Plan, der dem Wohl jedes einzelnen dienen wird, so etwas zu sagen, ist
wirklich sehr merkwürdig«, sagte Orren Boyle in schrillem Ton und blickte Taggart dabei in entsetztem
Erstaunen an.
Dr. Ferris lachte.
Taggarts Augen schienen schärfer zu sehen, und er sagte mit lauterer Stimme: »Ja, natürlich, es ist ein äußerst
vernünftiger Plan. Er ist notwendig, lebensnah und gerecht. Er wird die Probleme eines jeden lösen. Er wird es
jedem ermöglichen, sich sicher zu fühlen und die Hände in den Schoß zu legen.«
»Er wird dem Volk Sicherheit geben«, sagte Eugene Lawson und verzog seinen Mund zu einem Lächeln.
»Sicherheit – das ist es, was die Leute wollen. Und warum sollen sie sie nicht bekommen, wenn sie sie wollen?
Nur weil eine Handvoll Reicher dagegen Einwände erheben wird?«
»Es sind nicht die Reichen, die Einwände erheben werden«, sagte Dr. Ferris gelangweilt. »Die Reichen faseln
mehr von Sicherheit als alle anderen. Haben Sie das noch nicht bemerkt?«
»Nun, wer wird dann Einwände erheben?« fragte Lawson. Dr. Ferris lächelte vielsagend, antwortete aber
nicht.
Lawson blickte weg. »Zur Hölle mit ihnen! Warum sollten wir uns um die Sorgen machen? Wir müssen die
Welt zum Wohle der kleinen Leute regieren. Die Intelligenz ist an allen Schwierigkeiten der Menschheit schuld.
Der menschliche Verstand ist die Wurzel allen Übels. Dies ist die Zeit des Herzens. Unsere Sorge darf nur dem
Schwachen, dem Demütigen, dem Kranken und Armen gelten.« Seine Unterlippe verzog sich lüstern. »Die
Großen sind auf der Welt, um den Kleinen zu dienen. Wenn sie sich weigern, ihre moralische Pflicht zu erfüllen,
werden wir sie dazu zwingen müssen. Es hat einmal ein Zeitalter der Vernunft gegeben, aber wir sind darüber
hinaus. Dies ist das Zeitalter der Liebe.«
»Halten Sie den Mund«, schrie James Taggart.
Alle starrten ihn an. »Um Himmels willen, Jim, was haben Sie?« sagte Orren Boyle zitternd.
»Nichts«, sagte Taggart, »nichts… Wesley, hindern Sie ihn bitte daran, weiterzusprechen.«
Mouch, dem unbehaglich zumute war, sagte: »Aber ich kann nicht verstehen…«
»Hindern Sie ihn am Weiterreden. Wir brauchen uns doch so etwas nicht anzuhören.«
»Nein, aber… «
»Dann wollen wir fortfahren.«
»Was soll das bedeuten?« fragte Lawson. »Ich finde das unmöglich, ich finde das…« Aber da niemand der
anderen ihm einen ermutigenden Blick zuwarf, hielt er inne, und sein Mund verzog sich zu einem gehässigen
Schmollen.
»Wir wollen fortfahren«, sagte Taggart erregt.
»Was ist mit Ihnen?« fragte Orren Boyle und versuchte, sich darüber klarzuwerden, was mit ihm selber war
und warum er plötzlich Angst spürte.
»Genie ist ein Aberglaube, Jim«, sagte Dr. Ferris langsam mit seltsamer Betonung, als ob er wüßte, daß er
aussprach, woran sie alle dachten, was aber keiner mit Namen nannte. »Es gibt keinen Intellekt. Der Verstand
eines Menschen ist das Produkt seiner Umwelt, die Summe der Einflüsse, die auf ihn eingewirkt haben. Niemand
erfindet etwas. Der Mensch reflektiert nur das, was in der sozialen Atmosphäre liegt. Ein Genie ist ein
intellektueller Straßenkehrer und ein gieriger Horter der Ideen, die rechtmäßig der Gesellschaft gehören, der er
sie gestohlen hat. Alles Denken ist Diebstahl. Wenn wir die Privatvermögen abschaffen, werden wir eine
gerechte Verteilung des Reichtums erreichen; wenn wir das Genie abschaffen, werden wir eine gerechtere
Verteilung der Ideen erreichen.«
»Sind wir hier, um geschäftlich zu sprechen oder um uns gegenseitig auf den Arm zu nehmen?« fragte Fred
Kinnan.
Sie wandten sich ihm zu. Er war ein muskulöser Mann von plumpem Äußeren. Aber sein Gesicht hatte
erstaunlich feingezeichnete Züge, und seine ständig hochgezogenen Mundwinkel erweckten den Eindruck, als
lächelte er unentwegt überlegen. Die Hände in den Taschen, saß er auf der Lehne des Sessels und blickte Mouch
lächelnd an wie ein abgebrühter Polizist einen Ladendieb.
»Ich möchte nur das eine sagen, daß es ratsam wäre, das Amt für Vereinheitlichung mit meinen Männern zu
besetzen«, sagte er. »Sorgen Sie ja dafür! Sonst lasse ich Ihren Punkt eins platzen wie eine Seifenblase.«
»Ich beabsichtige natürlich, einen Vertreter der Arbeiterschaft in dieses Amt zu berufen«, sagte Mouch
trocken, »ebenso einen Vertreter der Industrie, der Geistesarbeiter und jeder kleinen Gruppe von…«
»Keine Vertreter kleinerer Gruppen«, sagte Fred Kinnan ruhig. »Nur Vertreter der Arbeiterschaft. Punktum.«
»Verdammt noch mal, dann haben Sie ja alle Karten in der Hand«, brüllte Orren Boyle.
»Gewiß«, sagte Fred Kinnan.
»Aber damit können Sie ja jeder Firma das Messer an die Kehle setzen.«
»Was, denken Sie, will ich sonst?«
»Das ist ungerecht«, brüllte Boyle. »Das werde ich nicht zulassen. Sie haben kein Recht! Sie…«
»Recht?« sagte Kinnan unschuldig. »Sprechen wir von Rechten?«
»Aber ich meine, schließlich gibt es fundamentale Eigentumsrechte…«
»Hören Sie mal, mein Lieber, Sie wollen doch den Punkt drei?«
»Nun, ich…«
»Dann reden Sie lieber kein Wörtchen mehr von Besitzrechten. Halten Sie den Mund ganz fest zu!«
»Mr. Kinnan«, sagte Dr. Ferris, »Sie dürfen nicht in den altmodischen Fehler der Verallgemeinerung
verfallen. Unsere Politik muß flexibel sein. Es gibt keine absoluten Prinzipien, die…«
»Sagen Sie das lieber zu Jim Taggart, Doc«, sagte Fred Kinnan. »Ich weiß, wovon ich rede. Das kommt
daher, weil ich nie auf der Universität gewesen bin.«
»Ich erhebe Einspruch gegen Ihre diktatorische Methode«, sagte Boyle.
Kinnan drehte ihm den Rücken zu und sagte: »Hören Sie, Wesley, meine Leute werden Punkt eins nicht
schätzen. Wenn ich die Dinge in die Hand bekomme, kann ich vielleicht erreichen, daß sie ihn schlucken. Wenn
nicht, werden sie es nicht tun. Entscheiden Sie sich!«
»Nun…«, sagte Mouch und hielt inne.
»Um Himmels willen, Wesley, was wird mit uns?« rief Taggart.
»Sie werden zu mir kommen«, sagte Kinnan, »wenn Sie etwas von dem Amt wollen, aber ich werde das Amt
leiten. Ich und Wesley.«
»Glauben Sie, daß das Land dem zustimmen wird?« rief Taggart.
»Hören Sie mit dem Selbstbetrug auf«, sagte Kinnan. »Das Land? Wenn es keine Prinzipien mehr gibt – und
ich nehme an, der Doktor hat recht –,wenn es keine Regeln für dieses Spiel gibt und es nur darum geht, wer wen
beraubt, dann stehen hinter mir mehr Leute als hinter Ihnen. Es gibt mehr Arbeiter als Arbeitgeber, vergessen Sie
das nicht, meine Herren.«
»Das ist eine seltsame Einstellung«, sagte Taggart hoheitsvoll, »einer Maßnahme gegenüber, die ja schließlich
nicht den eigennützigen Zielen von Arbeitern oder Arbeitgebern, sondern dem Wohl der Allgemeinheit dienen
soll.«
»Richtig«, sagte Kinnan liebenswürdig, »sprechen wir einmal in Ihrer Sprache. Wer ist die Allgemeinheit?
Wenn es auf die Qualität ankommt, dann sind Sie es nicht, Jim, und auch nicht Orren Boyle. Wenn es auf
Quantität ankommt, dann bin bestimmt ich es, denn ich habe die Quantität hinter mir.« Sein Lächeln
verschwand, und mit einem plötzlichen Blick müder Bitterkeit fügte er hinzu: »Nur sage ich nicht, daß ich für
das Wohl meiner Leute arbeite, denn ich weiß, ich tue das nicht. Ich weiß, daß ich die armen Teufel der
Sklaverei ausliefere und weiter nichts. Und sie wissen es ebenso. Aber sie wissen auch, daß ich ihnen hin und
wieder einen Brocken hinwerfen muß, wenn ich die Zügel in der Hand behalten will, während sie von Ihnen
allen überhaupt nichts bekämen. Und darum, wenn sie sich schon einmal einer Peitsche beugen müssen, ist es
ihnen lieber, ich habe sie in der Hand als Sie – Sie geschwätzigen, Tränen vergießenden, fromm tuenden
Verteidiger des Gemeinwohls! Glauben Sie, daß es außer Ihrem Akademikergeschmeiß auch nur einen
Dorftrottel gibt, den Sie an der Nase herumführen können? Ich bin ein Gangster – aber ich weiß es, und meine
Leute wissen es, und sie wissen, daß ich dafür zahlen werde. Nicht aus Herzensgüte und auch nicht einen Cent
mehr, als ich unbedingt muß, aber darauf können sie immerhin zählen. Gewiß, es macht mich manchmal krank,
es macht mich gerade in diesem Augenblick krank. Aber ich habe diese Art von Welt nicht geschaffen. Sie
haben sie geschaffen, und so spiele ich das Spiel mit, das Sie sich ausgedacht haben, und ich werde es so lange
spielen, wie es läuft. Es wird freilich für keinen von uns lange laufen.«
Er erhob sich. Niemand antwortete ihm. Er ließ seinen Blick langsam von Gesicht zu Gesicht schweifen und
schließlich auf Wesley Mouch ruhen.
»Bekomme ich das Amt, Wesley?« fragte er wie nebenbei.
»Die Auswahl der geeigneten Mitarbeiter ist nur eine technische Frage«, sagte Mouch freundlich. »Ich denke,
wir werden später darüber sprechen, Sie und ich.«
Jeder im Raum wußte, daß das soviel bedeutete wie ja. »Okay«, sagte Kinnan. Er ging wieder zum Fenster,
setzte sich auf die Fensterbank und steckte sich eine Zigarette an. Aus einem uneingestandenen Grunde blickten
die anderen Dr. Ferris an, als ob sie Hilfe bei ihm suchten.
»Lassen Sie sich nicht von Worten verwirren«, sagte Dr. Ferris milde. »Mr. Kinnan ist ein ausgezeichneter
Redner, aber er hat keinen Sinn für die praktische Realität. Er kann nicht dialektisch denken.«
Sie schwiegen wieder eine Weile, dann sagte James Taggart plötzlich: »Mir ist das gleichgültig. Es hat nichts
zu sagen. Er wird nichts auszurichten vermögen. Es wird alles so bleiben, wie es ist. Niemand wird etwas ändern
dürfen, außer… « Er wandte sich unvermittelt an Wesley Mouch. »Wesley, nach Punkt vier müssen wir alle
Forschungsabteilungen, experimentellen Laboratorien, wissenschaftlichen Stiftungen und alle übrigen
Institutionen dieser Art schließen. Wir müssen sie verbieten.«
»Ja, richtig«, sagte Mouch. »Ich hatte das vergessen. Wir werden das in ein paar Zeilen festlegen müssen.« Er
suchte nach einem Bleistift und kritzelte dann einige Worte an den Rand des Blattes.
»Damit hat die Mittelvergeudung ein Ende«, sagte James Taggart. »Wir hören auf, uns in der Jagd nach dem
Unerprobten und Unbekannten zu übertrumpfen. Wir brauchen uns keine Gedanken über neue Erfindungen mehr
zu machen. Wir brauchen kein Geld mehr für nutzlose Experimente zu verschwenden, nur um mit
überehrgeizigen Konkurrenten Schritt zu halten.«
»Ja«, sagte Orren Boyle. »Niemand sollte erlaubt sein, Geld für etwas Neues zu verschwenden, bis jeder vom
Alten genug hat. Schließen wir all diese verdammten Forschungslaboratorien – und je eher, desto besser.«
»Ja«, sagte Wesley Mouch, »wir werden sie schließen. Alle.«
»Das State Science Institute auch?« fragte Fred Kinnan.
»O nein«, sagte Mouch, »Das ist etwas anderes. Das gehört der Regierung. Außerdem zielt es nicht auf
Gewinn ab. Und es wird genügen, um dem wissenschaftlichen Fortschritt auf allen Gebieten Rechnung zu
tragen.«
»Es wird vollauf genügen«, sagte Dr. Ferris.
»Und was wird aus den Ingenieuren, Professoren und so weiter, wenn Sie alle Laboratorien schließen?« fragte
Fred Kinnan. »Womit sollen sie sich dann ihren Lebensunterhalt verdienen?«
»Ach«, sagte Wesley Mouch und kratzte sich am Kopf. Er wandte sich an Mr. Weatherby. »Werden wir ihnen
eine Unterstützung zahlen, Clem?«
»Nein«, sagte Mr. Weatherby. »Wozu? Es sind zu wenige, um Lärm schlagen zu können. Auf die paar kommt
es gar nicht an.«
»Ich nehme an«, sagte Mouch, zu Dr. Ferris gewandt, »daß Sie einige von ihnen übernehmen können, Floyd.«
»Einige ja«, sagte Dr. Ferris langsam, als ob er jede Silbe auskostete, »die, die zur Mitarbeit bereit sind.«
»Und was wird aus den übrigen?« fragte Fred Kinnan.
»Sie werden warten müssen, bis das Amt für Vereinheitlichung eine Verwendung für sie findet«, sagte
Wesley Mouch.
»Und wovon werden sie inzwischen leben?«
Mouch zuckte die Achseln. »In Zeiten nationalen Notstandes wird es immer ein paar Opfer geben. Dagegen
kann man nichts machen, das war schon immer so.«
»Wir sind berechtigt, das zu tun«, schrie Taggart plötzlich herausfordernd in die Stille des Raumes. »Es muß
sein. Es muß sein, nicht wahr?« Niemand antwortete. »Wir haben das Recht, unsere Existenz zu schützen!«
Niemand widersprach ihm, aber mit vor Leidenschaft bebender Stimme fuhr er fort: »Zum ersten Mal seit
Jahrhunderten werden wir sicher sein. Jeder wird wissen, wohin er gehört und wohin jeder andere gehört und
welche Arbeit jeder zu tun hat. Und wir werden nicht mehr jedem mit einer neuen Idee dahergelaufen
kommenden Verrückten auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sein. Niemand wird uns aus dem Geschäft
vertreiben, unsere Märkte stehlen, uns unterbieten oder uns zum alten Eisen werfen. Niemand wird uns eine
verdammte neue Erfindung anbieten und uns zwingen, uns sofort zu entscheiden, ob wir unser Hemd verlieren
wollen, wenn wir sie nicht kaufen, aber jemand anders sie kauft. Wir werden nichts mehr zu entscheiden haben.
Niemand wird noch eine Entscheidung erlaubt sein. Es wird alles ein für allemal entschieden sein.« Seine Augen
schweiften wie flehend von einem Gesicht zum anderen. »Es ist schon genug erfunden worden, genug für
jedermanns Komfort, warum sollte man ihnen gestatten, weiter zu erfinden? Warum sollten wir ihnen erlauben,
uns alle paar Schritte den Boden unter den Füßen wegzuziehen? Warum sollten wir in ewiger Unsicherheit
weiterleben müssen? Sollen wir die Zufriedenheit der ganzen Menschheit der Gier einiger weniger
Nonkonformisten opfern? Wir brauchen sie nicht, wir brauchen sie nicht im geringsten! Wir sollten diese Helden
Verehrung abschütteln! Helden? Sie haben in der ganzen Geschichte nur Unheil gestiftet. Sie haben die
Menschheit in einen wilden Wettlauf gejagt, ohne Atempause, ohne Ruhe, ohne Entspannung, ohne Sicherheit.
Sie mußte laufen, um sie einzuholen… Immer, ohne Ende… Und wenn wir sie endlich einholen, sind sie schon
wieder Jahre weiter… Sie lassen uns keine Chance… Sie haben uns nie eine Chance gelassen…« Seine Augen
wanderten ruhelos hin und her; er blickte zum Fenster, sah dann aber hastig wieder weg. Er wollte den weißen
Obelisk in der Ferne nicht sehen. »Wir sind mit ihnen fertig. Wir haben gewonnen. Dies ist unser Zeitalter.
Unsere Welt. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten, zum ersten Mal seit Beginn der industriellen Revolution
werden wir Sicherheit haben!«
»Nun, dies ist wohl die anti-industrielle Revolution«, sagte Fred Kinnan.
»Es ist äußerst seltsam, daß Sie so etwas bemerken«, rief Wesley Mouch. »Wir dürfen das der Öffentlichkeit
nicht sagen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde es der Öffentlichkeit nicht sagen.«
»Es ist ein totaler Trugschluß«, sagte Dr. Ferris. »Es ist eine Feststellung, die auf Unwissenheit beruht. Jeder
Sachverständige hat längst zugegeben, daß eine Planwirtschaft das Höchstmaß an produktiver Leistungsfähigkeit
erreicht und daß Zentralisierung zur Superindustrialisierung führt.«
»Zentralisierung bricht die Macht der Monopole«, sagte Boyle.
»Wie das denn nun wieder?« höhnte Kinnan.
Boyle entging der spöttische Ton, und er antwortete ernst: »Sie bricht die Macht der Monopole. Sie führt zur
Demokratisierung der Industrie. Sie macht alles jedem erreichbar. Hat es zum Beispiel einen Sinn, daß ich in
einer Zeit wie dieser, in der ein so ungeheurer Mangel an Eisenerz herrscht, mein Geld, meine Arbeit und die
nationalen Bodenschätze verschwende, um altmodischen Stahl herzustellen, wenn es ein viel besseres Metall
gibt, das ich herstellen könnte? Ein Metall, das jeder haben will, aber niemand bekommen kann. Ist das
wirtschaftlich oder sozial gesund oder demokratisch gerecht? Warum soll ich dieses Metall nicht herstellen
dürfen, und warum sollen die Leute es nicht bekommen, wenn sie es brauchen? Nur des privaten Monopols eines
eigennützigen einzelnen wegen? Sollen wir unsere Rechte seinen persönlichen Interessen opfern?«
»Hören Sie auf, Mann«, sagte Fred Kinnan. »Was Sie da sagen, habe ich schon in den gleichen Zeitungen
gelesen wie Sie.«
»Ihre Haltung gefällt mir nicht«, sagte Boyle in einem plötzlich biederen Ton, wobei er ein Gesicht machte,
das in einer Kneipe der Auftakt zu einem Faustkampf gewesen wäre. Er setzte sich aufrecht, gestützt von den
Artikeln auf vergilbtem Zeitungspapier, die er vor seinem inneren Auge sah:
»Dürfen wir in einer Zeit äußerster öffentlicher Not die Kraft der Gesellschaft für die Herstellung veralteter
Produkte verschwenden? Sollen wir die vielen darben lassen, nur weil die wenigen uns die besseren Waren
vorenthalten und uns die modernen Methoden nicht überlassen? Sollen wir durch den Aberglauben der
Patentrechte am Fortschritt gehindert werden?
Ist die private Industrie nicht offensichtlich unfähig, mit der augenblicklichen Wirtschaftskrise fertig zu
werden? Wie lange zum Beispiel sollen wir uns die unangenehme Knappheit an Rearden Metal mit ansehen? Die
Öffentlichkeit schreit danach, aber man hat das Verlangen nicht stillen können.
Wann werden wir der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit und den Privilegien ein Ende machen? Warum soll
Rearden der einzige sein, der Rearden Metal herstellen darf?«
»Ihre Haltung behagt mir nicht«, sagte Orren Boyle. »Solange wir die Rechte der Arbeiter achten, verlangen
wir von Ihnen, daß Sie auch die Rechte der Industriellen achten.«
»Welche Rechte welcher Industriellen?« fragte Kinnan ironisch.
»Ich neige zu der Ansicht«, sagte Dr. Ferris hastig, »daß Punkt zwei im Augenblick vielleicht der wichtigste
von allen ist. Wir müssen dem ein Ende machen, daß Industrielle sich vom Geschäft zurückziehen und
verschwinden. Wir müssen sie daran hindern. Sonst geht unsere ganze Wirtschaft zugrunde.«
»Warum tun sie das nur?« fragte Taggart nervös. »Wohin gehen sie alle?«
»Niemand weiß es«, sagte Dr. Ferris. »Wir konnten keinen Hinweis und keine Erklärung dafür finden. Aber
das muß ein Ende haben. In Zeiten der Krise ist der Dienst an der Wirtschaft für die Nation ebenso wichtig wie
der Militärdienst. Jeder, der seinen Posten verläßt, sollte als Deserteur betrachtet werden. Ich habe empfohlen,
die Todesstrafe für diese Männer einzuführen, aber Wesley wollte dem nicht zustimmen.«
»Nun mal langsam«, sagte Fred Kinnan mit einer seltsamen leisen Stimme. Er saß plötzlich völlig reglos da,
hatte die Arme verschränkt und blickte Ferris so an, daß alle anderen im Raum merkten, daß Ferris eben zum
Mord angestiftet hatte. »Ich will von Todesstrafe in der Industrie nichts hören.«
Dr. Ferris zuckte die Achseln.
»Wir dürfen uns nicht in Extremen verlieren«, sagte Mouch hastig.
»Wir dürfen das Volk nicht erschrecken. Wir wollen es auf unserer Seite haben. Unser Hauptproblem ist, wird
es… wird es das überhaupt alles hinnehmen?«
»Es wird«, sagte Dr. Ferris.
»Ich mache mir einige Sorgen«, sagte Eugene Lawson, »über die Punkte drei und vier. Die Übernahme der
Patente ist richtig. Niemand denkt daran, Industrielle zu verteidigen. Aber wie steht es mit den Urheberrechten?
Damit macht man sich die Intellektuellen zu Gegnern, und das ist gefährlich. Es ist eine geistige Angelegenheit.
Bedeutet Punkt vier nicht, daß von jetzt an keine neuen Bücher geschrieben oder veröffentlicht werden können?«
»Ja«, sagte Mouch, »das bedeutet es. Aber wir können für das Verlagswesen keine Ausnahme machen. Es is t
eine Industrie wie jede andere. Wenn wir sagen: keine neuen Produkte, dann gilt das für alle.«
»Aber es geht um geistige Güter«, sagte Lawson in einem Ton, aus dem nicht rationaler Respekt, sondern
abergläubische Ehrfurcht sprach.
»Solange sie geistig bleiben, lassen wir sie ja auch unangetastet. Aber wenn man ein Buch druckt, wird es
eine Handelsware – und wenn wir bei einer Handelsware eine Ausnahme machen, fangen auch andere an, aus
der Reihe zu tanzen, und dann wir kriegen wir da nie Ordnung rein.«
»Ja, das stimmt. Aber…«
»Seien Sie kein Idiot, Gene«, sagte Dr. Ferris. »Sie wollen doch wohl nicht, daß einige widerspenstige
Schreiberlinge Abhandlungen herausbringen, die unser ganzes Programm zunichte machen? Wenn Sie jetzt das
Wort Zensur aussprechen, werden sie alle Zeter und Mordio schreien. Dafür sind sie noch nicht reif. Aber wenn
Sie das Geistige beiseite lassen und es zu einer einfachen materiellen Angelegenheit machen, nicht zu einer
Sache der Ideen, sondern nur zu einer Sache von Papier, Druckerschwärze und Druckpressen – dann erreichen
Sie Ihr Ziel viel reibungsloser. Sie sorgen dafür, daß nichts Gefährliches gedruckt oder gehört wird. Wegen einer
materiellen Frage wird niemand auf die Barrikaden gehen.«
»Ja, aber… aber ich glaube, die Schriftsteller werden davon nicht erbaut sein.«
»Sind Sie sicher?« fragte Wesley Mouch mit einem Blick, der fast ein Lächeln war. »Vergessen Sie nicht, daß
nach Punkt fünf die Verleger so viele Bücher veröffentlichen müssen, wie sie in dem der Berechnung zugrunde
gelegten Jahr veröffentlicht haben. Da es keine neuen geben wird, werden sie einige der alten neu auflegen – und
das Publikum wird sie kaufen müssen. Es gibt viele wertvolle Bücher, die nie eine gerechte Chance gehabt
haben.«
»Ach«, sagte Lawson. Er erinnerte sich daran, daß er Mouch vor zwei Wochen mit Balph Eubank gemeinsam
hatte zu Mittag essen sehen. Dann schüttelte er den Kopf und runzelte die Stirn. »Ich mache mir trotzdem
Sorgen. Die Intellektuellen sind unsere Freunde. Wir dürfen sie nicht verlieren. Sie können uns unendliche
Schwierigkeiten bereiten.«
»Das werden sie nicht tun«, sagte Fred Kinnan. »Die Intellektuellen, an die Sie denken, sind die ersten, die
herumschwadronieren, wenn sie sich sicher fühlen, und die ersten, die beim geringsten Anzeichen von Gefahren
die Klappe halten. Jahrelang bespucken sie den, der sie ernährt, und sie lecken dem die Hand, der ihnen vor die
Fresse haut. Haben sie nicht jedes Land Europas, eins nach dem anderen, den Komitees der Plünderer
ausgeliefert? So wie auch dieses hier? Haben sie sich nicht die Lunge aus dem Leibe geschrien, um jede
Alarmanlage zu übertönen und um jedes Schloß für die Plünderer aufzubrechen? Haben Sie sie seitdem auch nur
Piep sagen hören? Haben sie nicht geschrien, sie seien die Freunde der Arbeiterschaft? Haben Sie sie ihre
Stimmen gegen die in Ketten Schmachtenden, die Sklavenlager, den Vierzehnstundentag und die durch den
Skorbut ansteigende Todeskurve in den Volksstaaten Europas erheben hören? Nein, aber Sie hören sie den
armen Ausgepeitschten sagen, Hunger sei Wohlstand, Sklaverei sei Freiheit, Folterkammern seien Bruderliebe
und daß, wenn die armen Teufel das nicht verstehen, es ihre eigene Schuld ist, daß sie leiden; die gemarterten
Körper in den Gefängniszellen seien für all ihr Elend verantwortlich und nicht die wohlwollenden Führer!
Intellektuelle? Sie sollten sich um jede andere Menschenart sorgen, aber nicht um die modernen Intellektuellen:
Sie werden alles schlucken. Selbst von der lausigsten Ratte in der Hafenarbeitergewerkschaft könnte ich das
nicht mit solcher Sicherheit sagen: Selbst so ein Kerl kann sich plötzlich daran erinnern, daß er ein Mensch ist –
und dann werde ich ihn nicht in Schach halten können. Aber die Intellektuellen? Die haben das längst vergessen.
Ich nehme an, ihre ganze Erziehung hatte nur das eine Ziel, sie das vergessen zu machen. Tun Sie den
Intellektuellen an, was Sie wollen – sie werden es hinnehmen.«
»Dies eine Mal«, sagte Dr. Ferris, »stimme ich mit Mr. Kinnan überein. Ich stimme mit den von ihm
vorgebrachten Fakten, nicht mit seinen Gefühlen, überein. Sie brauchen sich der Intellektuellen wegen keine
Sorgen zu machen, Wesley. Nehmen Sie nur ein paar von ihnen in den Dienst der Regierung, und schicken Sie
sie aus, um genau das zu predigen, was Mr. Kinnan erwähnt hat: daß die Schuld bei den Opfern liegt. Geben Sie
ihnen einigermaßen gute Gehälter und äußerst wohlklingende Titel – und sie werden ihre Urheberrechte
vergessen und Besseres für Sie leisten als ganze Scharen von Beamten, die die Durchführung dieser Verordnung
erzwingen.«
»Ja«, sagte Mouch, »ich weiß.«
»Die Gefahr, um die ich mir Sorgen mache, wird aus einem ganz anderen Sektor kommen«, sagte Dr. Ferris
nachdenklich. »Sie werden wahrscheinlich eine Menge Schwierigkeiten mit diesen freiwilligen
Schenkungsurkunden haben, Wesley.«
»Ich weiß«, sagte Mouch düster. »Das ist der Punkt, bei dem ich auf Thompsons Hilfe hoffte. Aber ich
glaube, er kann uns da nicht helfen. Wir haben nicht die gesetzliche Befugnis, uns der Patente zu bemächtigen.
Es gibt zwar Haufen von Klauseln in Dutzenden von Gesetzen, die sich so dehnen lassen, daß sie dafür
ausreichen würden – fast, aber nicht ganz. Jeder Industriekapitän, der es auf einen Testfall würde ankommen
lassen wollen, hätte eine sehr gute Chance, uns zu schlagen. Und wir müssen den Schein der Gesetzmäßigkeit
wahren – anderenfalls wird es das Volk nicht hinnehmen.«
»Genauso ist es«, sagte Dr. Ferris. »Es ist äußerst wichtig, daß diese Patente uns freiwillig übereignet werden.
Selbst wenn wir ein Gesetz hätten, das eine völlige Verstaatlichung zuließe, würde es viel besser sein, sie als ein
Geschenk zu bekommen. Wir wollen den Leuten die Illusion lassen, daß sie immer noch im Besitz ihrer privaten
Eigentumsrechte sind. Und die meisten von ihnen werden mitspielen. Sie werden die Schenkungsurkunden
unterzeichnen. Es muß nur entsprechend laut von einer patriotischen Pflicht geredet werden und daß jeder, der
sich weigert, ein Gierschlund ist, und sie werden es unterzeichnen. Aber…« Er hielt inne.
»Ich weiß«, sagte Mouch, der sichtlich immer nervöser wurde. »Es wird, glaube ich, hier und dort ein paar
ihrer Zeit hinterherhinkende Lumpen geben, die ihre Unterschrift verweigern. Aber sie werden nicht prominent
genug sein, um Lärm schlagen zu können. Nie mand wird darauf hören. Ihre eigenen Gemeinden und Freunde
werden sich gegen ihren Egoismus wenden, und so werden wir keinerlei Schwierigkeiten haben. Wir werden
einfach die Patente übernehmen – und jene Kerle werden nicht die Nerven oder das Geld haben, um einen
Probefall zu inszenieren, aber…« Er verstummte.
James Taggart lehnte sich in seinem Sessel zurück und beobachtete die anderen; er begann, die Unterhaltung
zu genießen.
»Ja«, sagte Dr. Ferris, »daran denke ich auch. Ich denke an einen gewissen Industriekapitän, der in der Lage
ist, uns in Stücke zu hauen. Ob wir uns davon erholen werden oder nicht, ist schwer zu sagen. Gott weiß, was in
einer hysterischen Zeit wie der gegenwärtigen und in einer so delikaten Situation wie dieser möglich ist. Eines
kann alles aus dem Gleichgewicht bringen, kann das ganze Werk in die Luft sprengen, und wenn da jemand ist,
der das tun will, dann tut er es. Er tut es und kann es. Er kennt die wirkliche Lage. Er weiß, was nicht gesagt
werden darf – und er fürchtet sich nicht, es zu sagen. Er kennt die eine gefährliche, verhängnisvoll gefährliche
Waffe. Er ist unser Todfeind.«
»Wer?« fragte Lawson.
Dr. Ferris zögerte, zuckte die Achseln und antwortete dann: »Der schuldlose Mensch.«
Lawson starrte ihn entsetzt an. »Was meinen Sie, und von wem sprechen Sie?«
James Taggart lächelte.
»Ich meine, es gibt keine Möglichkeit, einen Menschen zu entwaffnen«, sagte Dr. Ferris, »außer durch seine
Schuld, durch alles, was er selber als Schuld angenommen hat. Wenn ein Mensch jemals ein Zehncentstück
gestohlen hat, können Sie ihm die für einen Bankraub vorgesehene Strafe auferlegen, und er wird sie annehmen.
Er wird jede Art des Elends ertragen, er wird das Gefühl haben, daß er nichts Besseres verdient. Wenn es nicht
genug Schuld in der Welt gibt, müssen wir sie schaffen. Wenn wir einen Menschen lehren, daß es ein Vergehen
ist, Frühlingsblumen anzusehen, und er glaubt uns und tut es doch – dann können wir mit ihm machen, was wir
wollen. Er wird sich nicht verteidigen. Er wird sich dessen nicht würdig fühlen. Er wird nicht kämpfen. Aber
retten Sie uns vor dem Mann, der nach seinen eigenen Maßstäben lebt, retten Sie uns vor dem Menschen mit
reinem Gewissen! Er ist der, der uns schlagen wird.«
»Sprechen Sie von Henry Rearden?« fragte Taggart mit klarer Stimme.
Dieser Name, den sie nicht hatten aussprechen wollen, ließ sie einen Augenblick lang erschrocken schweigen.
»Und was wäre, wenn ich ihn meinte?« fragte Dr. Ferris behutsam.
»Ach nichts«, sagte Taggart. »Nur, wenn Sie ihn meinten, würde ich Ihnen sagen, daß ich Henry Rearden in
der Hand habe. Er wird unterzeichnen.«
Nach ihren unausgesprochenen Regeln erkannten sie alle am Ton seiner Stimme, daß er nicht bluffte.
»Gott, Jim, nein«, stöhnte Wesley Mouch.
»Ja«, sagte Taggart, »ich war auch erstaunt, als ich erfuhr, was ich erfuhr. Ich hatte das nicht erwartet. Alles,
aber das nicht.«
»Ich freue mich, das zu hören«, sagte Mouch vorsichtig. »Es ist eine bedeutungsvolle Information. Sie könnte
sogar sehr wertvoll sein.«
»Wertvoll – ja«, sagte Taggart verbindlich. »Wann gedenken Sie, die Verordnung zu erlassen?«
»Wir müssen uns beeilen. Es darf nicht vorher publik werden. Ich erwarte, daß Sie es alle strikt vertraulich
behandeln. Ich würde sagen, daß wir in einigen Wochen soweit sind.«
»Glauben Sie nicht, daß es ratsam wäre – bevor alle Preise stabilisiert sind –, die Angelegenheit der
Eisenbahntarife zu regeln? Ich dachte an eine kleine, aber äußerst notwendige Erhöhung.«
»Wir werden darüber miteinander sprechen«, sagte Mouch entgegenkommend, »vielleicht läßt es sich
machen.«
Er wandte sich zu den anderen. Boyle machte ein langes Gesicht. »Es müssen noch viele Einzelheiten
ausgearbeitet werden, aber ich bin sicher, daß unser Programm auf keine größeren Schwierigkeiten stoßen wird.«
Er sprach im Ton und der Art eines Mannes, der sich an ein großes Publikum wendet. Seine Stimme klang forsch
und fast heiter. »Man muß mit einigen Unebenheiten rechnen. Wenn eins nicht klappt, werden wir es mit etwas
anderem probieren. Es unverdrossen immer von neuem zu versuchen, ist das einzige pragmatische Gesetz des
Handelns. Wir werden es immer wieder versuchen. Wenn sich eine Schwierigkeit ergibt, müssen wir daran
denken, daß sie nur vorübergehend ist, nur für die Dauer des nationalen Notstandes.«
»Sagen Sie«, fragte Kinnan, »wie soll der Notstand enden, wenn alles stillstehen muß?«
»Seien Sie nicht theoretisch«, sagte Mouch ungeduldig. »Wir müssen uns mit der Situation des Augenblicks
befassen. Kümmern Sie sich nicht um kleinere Einzelheiten. Die Hauptsache ist, daß unsere Politik in ihren
großen Linien klar umrissen ist. Wir werden die Macht haben. Wir werden jedes Problem lösen und jede Frage
beantworten können.«
Fred Kinnan lachte. »Wer ist John Galt?«
»Sagen Sie das nicht!« rief Taggart.
»Ich habe eine Frage über Punkt sieben zu stellen«, sagte Kinnan. »Es heißt darin, daß alle Löhne, Preise,
Einkommen, Dividenden, Gewinne und so weiter mit dem Erlaß der Verordnung stabil bleiben müssen. Die
Steuern auch?«
»O nein!« sagte Mouch laut. »Wie können wir sagen, welche Summen wir in der Zukunft benötigen?« Kinnan
schien zu lächeln. »Was wollen Sie?« sagte Mouch ärgerlich.
»Nichts«, sagte Kinnan. »Ich habe nur gefragt.«
Mouch lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ich muß Ihnen allen sagen, ich habe es sehr begrüßt, daß Sie
hergekommen sind und uns Ihre Meinung haben wissen lassen. Es war eine große Hilfe für uns.« Er beugte sich
vor, um auf den auf seinem Schreibtisch stehenden Kalender zu blicken. Einen Augenblick starrte er darauf,
während er mit dem Bleistift spielte, dann stieß er mit der Bleistiftspitze auf ein Datum und zeichnete einen
Kreis darum. »Die Verordnung 10-289 wird am Morgen des 1. Mai in Kraft treten.« Alle nickten zustimmend.
Niemand sah seinen Nachbarn an.
James Taggart erhob sich, ging zum Fenster und zog die Jalousie herunter, um den weißen Obelisken nicht
mehr sehen zu müssen.
Im ersten Augenblick des Erwachens blickte Dagny verwundert auf die Türme fremder Gebäude, die sich von
einem blaßblauen Himmel abhoben. Dann sah sie die verrutschte Naht des dünnen Strumpfs an ihrem Bein,
spürte einen Schmerz in ihren Hüftmuskeln und merkte, daß sie auf der Couch in ihrem Büro lag. Die Zeiger der
Uhr auf ihrem Schreibtisch standen auf Viertel nach sechs, und die ersten Sonnenstrahlen ließen die Ränder der
Wolkenkratzer hinter dem Fenster silbern erglänzen. Das letzte, an das sie sich erinnerte, war, daß sie sich auf
die Couch gelegt hatte, um für zehn Minuten auszuruhen, als hinter dem Fenster schwarze Nacht war und die
Uhr halb vier zeigte. Mühsam erhob sie sich und fühlte sich völlig zerschlagen. Die auf dem Schreibtisch
brennende Lampe über den Stapeln von Papieren, die Dagnys freudlose unvollendete Arbeit waren, wirkte
sinnlos in der Morgenhelle. Ein paar Minuten lang versuchte sie, nicht an die Arbeit zu denken, während sie sich
an dem Schreibtisch vorüber in ihren Waschraum schleppte und sich kaltes Wasser übers Gesicht laufen ließ. Als
sie in das Büro zurückkam, war die Erschöpfung wie weggeweht. Ganz gleich, welche Nacht ihm
vorausgegangen war, sie hatte nie einen Morgen erlebt, an dem sie nicht eine stille Erregung in sich aufsteigen
fühlte, die zu einer angespannten Energie in ihrem Körper und einem Hunger nach Handeln in ihrem Geist
wurde – denn dies war der Beginn des Tages, und es war ein Tag ihres Lebens. Sie blickte auf die Stadt hinunter.
Die Straßen waren noch leer und verlassen, wodurch sie breiter wirkten, und in der leuchtenden Reinheit der
Frühlingsluft schienen sie auf die Verheißung all der Größe zu warten, die in dem sich bald durch sie
ergießenden Lebensstrom Gestalt annehmen würde. Das Kalenderblatt in der Ferne verkündete: 1. Mai. Dagny
setzte sich an ihren Schreibtisch und lächelte trotzig über ihre widerwärtige Arbeit. Sie haßte die Berichte, die sie
zu Ende lesen mußte, aber es war nun einmal ihre Aufgabe, es war ihre Eisenbahn, es war Morgen. Sie zündete
sich eine Zigarette an und dachte, daß sie noch vor dem Frühstück mit dieser Arbeit fertig werden würde. Sie
knipste die Lampe aus und zog die Papiere zu sich heran.
Es waren Berichte von den Direktoren der vier Bezirke des Taggart-Netzes. Die Blätter waren ein mit
Schreibmaschine geschriebener Schrei der Verzweiflung über den trostlosen Zustand des rollenden Materials.
Ein Bericht betraf einen Unfall auf der Hauptlinie in der Nähe von Winston in Colorado. Auch der neue
Haushaltsplan der Betriebsabteilung war darunter, in dem die von Jim in der letzten Woche erreichten
Tariferhöhungen berücksichtigt waren. Sie versuchte, die Hoffnungslosigkeit zu ersticken, als sie ihre Augen
langsam über die Zahlen des Haushaltsplans gleiten ließ: All diese Berechnungen gingen von der Voraussetzung
aus, daß das Frachtvolumen unverändert bleiben und die Tariferhöhung zu Ende des Jahres zusätzliche
Einnahmen ergeben würde. Sie wußte, daß die Frachten weiter schrumpfen würden, daß die Tariferhöhung
wenig ändern würde, daß am Ende dieses Jahres ihre Verluste größer denn je wären.
Als sie von den Blättern aufblickte, bemerkte sie mit leiser Überraschung, daß es auf der Uhr fünf Minuten
vor halb zehn war. Sie hatte die üblichen morgendlichen Geräusche im Vorzimmer ihres Büros, wo ihre
Mitarbeiter mit ihrer Tagesarbeit begannen, kaum wahrgenommen. Sie fragte sich, warum niemand zu ihr
hereingekommen und warum ihr Telefon stumm geblieben war. Eigentlich hätte es um diese Stunde schon sehr
geschäftig zugehen müssen. Sie blickte auf ihren Kalender, auf dem vermerkt war, daß McNeil Car Foundry in
Chicago sie um neun Uhr wegen der neuen Güterwagen anrufen würde, auf die Taggart Transcontinental schon
seit sechs Monaten wartete.
Sie nahm den Hörer des Hausapparates ab, um ihre Sekretärin anzurufen. Die Sekretärin sagte verwundert:
»Miss Taggart, Sie sind hier in Ihrem Büro?«
»Ich habe in der letzten Nacht wieder einmal hier geschlafen. Ich wollte es eigentlich nicht, habe es dann aber
doch getan. Hat McNeil angerufen?«
»Nein, Miss Taggart.«
»Verbinden Sie mich sofort, wenn der Anruf kommt.«
»Ja, Miss Taggart.«
Sie legte den Hörer auf und fragte sich, ob sie es sich einbildete oder ob die Stimme ihrer Sekretärin
tatsächlich seltsam geklungen hatte.
Ihr war vor Hunger etwas flau im Kopf, und sie dachte, es wäre das Beste, sie ginge hinunter, um eine Tasse
Kaffee zu trinken, aber erst mußte sie noch den Bericht des Chefingenieurs zu Ende lesen, und so zündete sie
sich eine neue Zigarette an. Der Chefingenieur war unterwegs und überwachte die mit den von der toten John-
Galt-Linie stammenden Rearden Metal-Schienen vorgenommene Reparatur der Hauptstrecke. Sie hatte die
Streckenabschnitte gewählt, die am dringendsten repariert werden mußten. Als sie seinen Bericht aufschlug, las
sie voll Ärger und Entsetzen, daß er die Arbeit in dem Gebirgsabschnitt von Winston in Colorado eingestellt
hatte. Er empfahl eine Änderung der Pläne: Er schlug vor, die für Winston vorgesehenen Schienen für die
Reparatur der Strecke Washington-Miami zu benutzen. Er nannte seine Gründe: Auf dieser Strecke war in der
letzten Woche ein Zug entgleist, und Mr. Tinky Holloway aus Washington, der mit ein paar Freunden in dem
Zug gesessen hatte, war mit dreistündiger Verspätung angekommen; man hatte dem Chefingenieur berichtet, daß
Mr. Holloway darüber äußerst ungehalten gewesen war. Obwohl vom rein technischen Gesichtspunkt – hieß es
in dem Bericht des Chefingenieurs – die Gleise der Miami -Linie in besserem Zustand seien als die des Winston-
Abschnitts, müsse man vom soziologischen Gesichtspunkt aus daran denken, daß die Miami-Linie von viel
bedeutenderen Reisenden benutzt wurde; darum empfahl der Chefingenieur, Winston noch eine Weile warten zu
lassen und eine obskure Gebirgsstrecke zugunsten einer Strecke zu opfern, auf der »Taggart Transcontinental es
sich nicht leisten kann, einen schlechten Eindruck zu machen«.
Sie las und machte zornig mit dem Bleistift Randbemerkungen auf die Seiten des Berichts, da sie es für die
erste und wichtigste Pflicht dieses Tages hielt, diesen Wahnsinn zu unterbinden.
Das Telefon läutete.
»Ja?« fragte sie, den Hörer ergreifend. »McNeil?«
»Nein«, sagte die Stimme ihrer Sekretärin. »Señor Francisco d’Anconia.«
Eine Sekunde lang blickte sie verstört auf die Sprechmuschel, dann sagte sie: »Gut. Geben Sie ihn mir.«
Gleich darauf hörte sie Franciscos Stimme. »Du bist also trotzdem in deinem Büro«, sagte er in einem
spöttischen und energis chen Ton.
»Wo sollte ich deiner Meinung nach sonst sein?«
»Wie gefällt dir das neue Moratorium?«
»Was für ein Moratorium?«
»Das Moratorium für den Verstand.«
»Wovon redest du?«
»Hast du die heutigen Zeitungen nicht gelesen?«
»Nein.«
Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er leise, mit veränderter ernster Stimme: »Du solltest mal einen
Blick hineinwerfen, Dagny.«
»Das werde ich tun.«
»Ich rufe dich später nochmal an.«
Sie legte den Hörer auf und drückte dann auf den Knopf des Haustelefons. »Bringen Sie mir eine Zeitung«,
sagte sie zu ihrer Sekretärin.
»Ja, Miss Taggart«, antwortete die Sekretärin düster. Es war Eddie Willers, der hereinkam und die Zeitung
auf ihren Schreibtisch legte. Der Ausdruck seines Gesichts sagte das gleiche, was sie aus dem Ton von
Franciscos Stimme herausgehört hatte: die Vorwarnung einer Katastrophe.
»Keiner von uns wollte der erste sein, der es dir mitteilt«, sagte er sehr ruhig und ging hinaus.
Als sie sich ein paar Augenblicke später von ihrem Schreibtisch erhob, fühlte sie, daß sie ihren Körper völlig
in der Gewalt hatte und daß sie ihn zugleich gar nicht spürte. Sie stand fest auf dem Boden. Alles im Raum nahm
sie ungewöhnlich deutlich wahr, und dennoch sah sie nichts rings um sich. Aber sie wußte, daß sie die Fäden
eines Spinnennetzes würde sehen können, wenn sie es müßte, genauso wie sie mit traumwandlerischer Sicherheit
am First eines Daches würde entlanggehen können. Sie konnte nicht wissen, daß sie das Zimmer mit den Augen
eines Menschen ansah, der den Begriff und die Fähigkeit des Zweifels verloren hat und der nur noch ein einziges
Ziel vor sich sehen kann. Sie wußte nicht, daß, was so ungestüm schien und was sie dennoch wie eine
ungewohnte Ruhe in sich fühlte, die Kraft der vollen Sicherheit war – und daß die Wut, die ihren Körper
schüttelte, die Wut, die sie mit der gleichen leidenschaftlichen Gleichgültigkeit bereit machte, entweder zu töten
oder zu sterben, ihre Liebe zur Redlichkeit war, die einzige Liebe, der sie ihr ganzes Leben geweiht hatte.
Mit der Zeitung in der Hand ging sie aus ihrem Büro hinaus und dann durch den Flur. Sie wußte, als sie durch
das Vorzimmer ging, daß die Gesichter ihrer Mitarbeiter sich ihr zuwandten, doch es war ihr, als wären sie
meilenweit weg.
Sie ging schnell, aber mühelos den Flur hinunter, mit dem gleichen Gefühl des Wissens, daß ihre Füße
wahrscheinlich den Boden berührten, aber daß sie es nicht spürte. Sie wußte nicht, wieviel Räume sie
durchschnitt, um Jims Büro zu erreichen, oder ob ihr auf ihrem Weg jemand begegnet war. Sie kannte ihren Weg
und die Tür, die sie aufreißen mußte, um unangemeldet einzutreten und bis zu seinem Schreibtisch zu gehen.
Als sie vor ihm stand, hatte sie die Zeitung zusammengerollt. Sie schleuderte sie ihm ins Gesicht. Die Zeitung
streifte seine Wange und fiel dann auf den Teppich.
»Das ist meine Kündigung, Jim«, sagte sie. »Ich will nicht als Sklave oder Sklaventreiber arbeiten.«
Sie hörte sein Stöhnen nicht, denn im gleichen Augenblick warf sie schon die Tür hinter sich zu.
Sie ging in ihr Büro zurück und machte im Vorzimmer Eddie ein Zeichen, ihr zu folgen. Mit klarer und
ruhiger Stimme sagte sie: »Ich habe gekündigt.«
Er nickte stumm.
»Ich weiß noch nicht, was ich in der Zukunft tun werde. Ich werde erst einmal verreisen, um darüber
nachzudenken und einen Entschluß zu fassen. Wenn du nachkommen willst, ich bin in der Hütte in Woodstock.«
Es war eine alte Jagdhütte in einem Wald der Berkshire Mountains, die sie von ihrem Vater geerbt hatte und wo
sie seit Jahren nicht gewesen war.
»Ich würde gern mitkommen«, flüsterte er, »ich würde auch gern gehen, aber… aber ich kann es nicht. Ich
bringe es nicht über mich.«
»Wirst du mir dann einen Gefallen tun?«
»Natürlich.«
»Schreib mir nichts über die Eisenbahn. Ich will nichts davon hören. Ve rrate niemand, wo ich bin, außer Hank
Rearden. Wenn er nach mir fragt, erzähle ihm von der Hütte und sag ihm, wie man dorthin kommt. Aber
niemand sonst. Ich will niemand sehen.«
»Gut.«
»Versprichst du’s mir?«
»Selbstverständlich.«
»Sobald ich weiß, was aus mir wird, werde ich es dich wissen lassen.«
»Ich werde darauf warten.«
»Das ist alles, Eddie.«
Er wußte, daß jedes Wort wohl überlegt war und daß sie in diesem Augenblick einander nichts weiter sagen
konnten. Er verneigte sich, darin alles ausdrückend, was er empfand, und verließ dann das Büro.
Der Bericht des Chefingenieurs lag noch auf ihrem Schreibtisch, und es ging ihr durch den Kopf, daß sie ihm
sofort befehlen müsse, die Arbeit an dem Winstonabschnitt wieder aufzunehmen, aber dann fiel ihr ein, daß das
jetzt nicht mehr ihre Sache war. Sie spürte keinen Schmerz. Sie wußte, daß der Schmerz später kommen und daß
es ein qualvoller Schmerz sein würde, daß die Betäubung des Augenblicks eine ihr nicht danach, sondern davor
gegönnte Atempause war, die es ihr ermöglichen sollte, ihn zu ertragen. Aber darauf kam es nicht an. Wenn das
von mir gefordert wird, dann werde ich es tragen, dachte sie.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und rief Rearden in seinem Werk in Pennsylvania an.
»Guten Tag, meine Liebste«, sagte er. Er sagte es schlicht und deutlich, als ob er es sagen wollte, weil es wahr
– und richtig – war, und er mußte an den Begriffen wahr und richtig festhalten.
»Hank, ich habe gekündigt.«
»Ach so.« Es klang, als hätte er es erwartet.
»Niemand ist zu mir gekommen, um mich zu holen, kein Zerstörer. Vielleicht hat es überhaupt nie einen
Zerstörer gegeben. Ich weiß noch nicht, was ich als nächstes tun werde, aber ich muß erst einmal fort, damit ich
eine Weile lang niemand von ihnen sehen muß. Dann werde ich mich entscheiden. Ich weiß, daß du nicht gleich
mit mir kommen kannst.«
»Nein. Sie erwarten von mir, daß ich binnen zwei Wochen ihre Schenkungsurkunde unterzeichne. Ich will
hier sein, wenn die zwei Wochen abgelaufen sind.«
»Brauchst du mich nicht in den beiden Wochen?«
»Nein. Es ist für dich schlimmer als für mich. Du hast keine Möglichkeit, sie zu bekämpfen. Aber ich habe
sie. Ich glaube, ich bin froh, daß sie das getan haben. Es ist klar und endgültig. Mach dir keine Sorgen
meinetwegen. Ruh dich aus. Ruh dich erst einmal von all dem aus.«
»Ja.«
»Wohin fährst du?«
»Aufs Land. In eine Jagdhütte in den Berkshires, die mir gehört. Wenn du mich dort aufsuchen willst, wird
Eddie Willers dir sagen, wie du hinkommst. Ich werde in zwei Wochen zurück sein.«
»Willst du mir einen Gefallen tun?«
»Ja.«
»Komm nicht zurück. Bleib dort, bis ich dich hole.«
»Aber ich möchte hier sein, wenn es passiert.«
»Überlaß das mir.«
»Was auch immer sie dir antun, ich will, daß sie mir das gleiche antun.«
»Überlaß das mir. Liebste, verstehst du nicht? Ich glaube, was ich im Augenblick am meisten wünsche, ist das
gleiche, was du wünschst: niemand von ihnen zu sehen. Aber ich muß für eine Weile hier bleiben. Und so wird
es mir helfen zu wissen, daß du wenigstens außer ihrer Reichweite bist. Ich möchte etwas haben, an das ich mich
innerlich anlehnen kann. Es wird nur eine kleine Weile dauern, dann hole ich dich. Verstehst du?«
»Ja, mein Geliebter. Bis dahin also.«
Es war ganz leicht, ihr Büro zu verlassen und die weiten Flure des Taggart-Gebäudes hinunterzugehen.
Geradeaus blickend, ging sie in ruhigem, gleichmäßigem Schritt, ohne jede Eile, in dem Wissen, daß dies ein
endgültiger Abschied war. Sie ging durch die Halle des Terminals. Sie sah die Statue Nathaniel Taggarts. Aber
sie sah keinen Schmerz und keinen Vorwurf in seinem Gesicht. Sie spürte nur die noch stärker in ihr
aufsteigende Liebe; sie wußte, daß sie sich mit ihm vereinen würde, nicht im Tod, sondern in dem, was sein
Leben gewesen war.
Der erste Mann, der das Rearden-Stahlwerk verließ, war Tom Colby, der Meister des Walzwerkes und
Vorsitzende der Rearden-Stahlarbeiter-Gewerkschaft. Zehn Jahre lang hatte man ihn im ganzen Lande
beschimpft, weil er eine Firmengewerkschaft leitete und nie einen ernstlichen Konflikt mit der Fabrikleitung
gehabt hatte. Das stimmte: Es hatte nie einen Grund für einen Konflikt gegeben; Rearden zahlte höhere Löhne
als die von irgendeiner Gewerkschaft festgesetzten Tarife. Er forderte dafür die besten Arbeitskräfte, die sich
überhaupt finden ließen, und bekam sie auch.
Als Tom Colby ihm sagte, daß er gehen wollte, nickte Rearden, ohne etwas dazu zu sagen oder eine Frage zu
stellen.
»Ich will unter diesen Bedingungen nicht arbeiten«, fügte Colby ruhig hinzu, »und ich will nichts dazu tun,
daß die Männer weiter arbeiten. Sie vertrauen mir. Ich will nicht der Judas sein, der sie in die Sklaverei führt.«
»Wovon wollen Sie leben?« fragte Rearden.
»Ich habe mir soviel gespart, daß es für etwa ein Jahr reicht.«
»Und danach?«
Colby zuckte die Achseln.
Rearden dachte an den jungen Mann mit den zornigen Augen, der wie ein Verbrecher nachts heimlich Kohle
förderte. Er dachte an all die dunklen Straßen, die Gassen, die Hinterhöfe des Landes, wo die Besten des Landes
jetzt von Gelegenheitsarbeit, von Tauschhandel, von dunklen Geschäften lebten. Er dachte an das Ende dieses
Weges.
Tom Colby schien seine Gedanken zu erraten. »Ihr Weg wird genauso enden wie meiner, Mr. Rearden«, sagte
er. »Werden Sie ihnen Ihren Kopf übereignen?«
»Nein.«
»Und danach?«
Rearden zuckte die Achseln.
Colbys Augen beobachteten ihn einen Augenblick lang, blasse, listige Augen in einem von der Glut des
Hochofens gegerbten Gesicht mit vom Ruß eingeprägten Falten. »Man hat uns jahrelang gesagt, Sie seien mein
Gegner, Mr. Rearden. Aber Sie sind es nicht. Orren Boyle und Fred Kinnan sind Ihre und meine Gegner.«
»Ich weiß es.«
Die »Amme« hatte nie Reardens Büro betreten, als ob sie das Gefühl hätte, dort nicht hineingehen zu dürfen.
Der junge Mann versuchte immer, Rearden außerhalb des Büros abzufangen. Die Verordnung hatte es ihm noch
mehr zur Aufgabe gemacht, der Wachhund des Werkes zu sein, der darauf aufzupassen hatte, ob zuviel oder
zuwenig produziert wurde. Ein paar Tage später hielt er Rearden in einem Gang zwischen den Reihen der
Hochöfen an. Das Gesicht des jungen Mannes hatte einen seltsam grimmigen Ausdruck.
»Mr. Rearden«, sagte er, »ich wollte Ihnen sagen, daß, wenn Sie das Zehnfache der Ihnen zugestandenen
Menge an Rearden Metal, Stahl oder Eisen oder sonst etwas produzieren und es an jeden im Land zu jedem Preis
schwarz verkaufen wollen – dann tun Sie es. Ich werde Ihnen dabei helfen. Ich werde die Bücher und die
Berichte fälschen, ich werde falsche Zeugenaussagen beibringen, ich werde eidesstattliche Versicherungen
fälschen, ich werde einen Meineid leisten – und Sie werden sich darum keine Sorgen zu machen brauchen, es
wird keinerlei Schwierigkeiten geben.«
»Und warum wollen Sie das tun?« fragte Rearden lächelnd, aber sein Lächeln verschwand, als er den jungen
Mann ernst antworten hörte:
»Weil ich endlich einmal etwas Anständiges tun will.«
»Das ist nicht die Art, anständig zu sein«, begann Rearden, hielt dann aber jäh inne, da ihm bewußt wurde,
daß es die einzige noch mögliche Art war, und gegen wieviel geistige Korruption dieser junge Mann hatte
ankämpfen müssen, bis er diese bedeutsame Entdeckung gemacht hatte.
»Ich glaube, das ist nicht das richtige Wort«, sagte der junge Mann treuherzig, »ich glaube, es ist ein dummes
altmodisches Wort. So meinte ich es nicht. Ich meinte…«, es war ein plötzlicher Aufschrei des Zornes, »Mr.
Rearden, sie haben nicht das Recht, das zu tun.«
»Was?«
»Ihnen Rearden Metal wegzunehmen.«
Rearden lächelte und sagte mitleidig: »Vergessen Sie das, Sie Nichtabsoluter. Es gibt keine Rechte.«
»Ich weiß, daß es sie nicht gibt. Aber ich meine… ich meine, die dürfen das nicht tun.«
»Warum nicht?« Er konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.
»Mr. Rearden, unterzeichnen Sie die Schenkungsurkunde nicht. Unterzeichnen Sie sie aus Prinzip nicht.«
»Ich werde sie nicht unterzeichnen. Aber es gibt keine Prinzipien.«
»Ich weiß, daß es sie nicht gibt.« In vollem Ernst leierte er wie ein gewissenhafter Schüler herunter: »Ich
weiß, daß alles relativ ist, daß niemand etwas wissen kann, daß die Vernunft eine Illusion ist und daß es keine
Wirklichkeit gibt. Aber ich spreche nur von Rearden Metal. Unterzeichnen Sie nicht, Mr. Rearden. Moral oder
keine Moral, Prinzipien oder keine Prinzipien, unterzeichnen Sie nicht – denn es ist unrecht.«
Niemand sonst erwähnte die Verordnung in Reardens Gegenwart. Alle im Werk schwiegen. Die Männer
sprachen nicht mit ihm, wenn er in die Werkhallen kam, und er bemerkte, daß sie auch untereinander nicht
sprachen. Das Personalbüro erhielt keine förmlichen Kündigungen. Aber jeden zweiten Morgen erschienen ein
oder zwei Männer nicht zur Arbeit und kamen nicht wieder. Wenn man bei ihnen zu Hause Erkundigungen nach
ihnen einziehen wollte, entdeckte man, daß die Wohnungen leer und die Männer verschwunden waren. Das
Personalbüro meldete diese Fälle von Desertion nicht weiter, wie es das der Verordnung nach tun sollte. Statt
dessen sah Rearden immer mehr fremde Gesichter unter den Arbeitern, die müden, abgezehrten Gesichter
Langzeitarbeitsloser, und hörte, daß man sie mit den Namen der fortgegangenen Männer anredete. Er stellte
keine Fragen. Im ganzen Land herrschte Schweigen. Er wußte nicht, wieviel Industrielle am 1. und 2. Mai
verschwunden waren und ihre Firmen dem Staat hinterlassen hatten. Er zählte zehn unter seinen Kunden,
darunter auch McNeil von McNeil Car Foundry in Chicago. Er hatte keine Möglichkeit, etwas über die anderen
zu erfahren; in den Zeitungen erschienen keine Berichte. Die Titelseiten waren plötzlich voll von Berichten über
Springfluten, Verkehrsunfälle, Schulausflüge und Goldene Hochzeiten.
Auch in seinem eigenen Hause herrschte Schweigen. Lillian war Mitte April zur Erholung nach Florida
gereist. Dieser Einfall, den er sich nicht erklären konnte, hatte ihn verwundert; seit sie verheiratet waren, war es
die erste Reise, die sie allein machte. Philip ging ihm mit einem ängstlichen Blick aus dem Wege. Seine Mutter
starrte Rearden in vorwurfsvoller Verblüffung an; sie sagte nichts, aber sie brach in seiner Gegenwart in Tränen
aus und tat so, als müßten ihre Tränen als das Wichtigste der Katastrophe betrachtet werden, deren Nahen sie
fühlte.
Am Morgen des 15. Mai saß er am Schreibtisch in seinem Büro im Werk und beobachtete die Farben des
Rauchs, der in den klaren blauen Himmel stieg. Hin und wieder schoß wie Hitzewellen durchsichtiger Rauch
auf, den man nur daran wahrnahm, daß die Gebäude dahinter zu zittern schienen; es waren Streifen eines roten
Rauches und langsam aufsteigende Säulen eines gelben und helle, fließende Spiralen eines blauen und der
dichte, breite Strom des sich ergießenden Metalls, der wie ein aufgerollter Ballen Seide aussah und in der
Sommersonne perlmuttfarben schimmerte. Das Haustelefon auf seinem Schreibtisch summte, und Miss Ives’
Stimme sagte: »Dr. Floyd Ferris möchte Sie sprechen, er ist aber nicht angemeldet, Mr. Rearden.« Trotz der
strengen Förmlichkeit verriet sich in ihrem Ton die Frage: »Soll ich ihn hinauswerfen?«
Ein leises Erstaunen, kaum mehr als ein Ausdruck der Gleichgültigkeit, spiegelte sich in Reardens Gesicht: Er
hatte diesen besonderen Sendboten nicht erwartet. »Er soll hereinkommen«, antwortete er ruhig.
Dr. Ferris lächelte nicht, als er auf Reardens Schreibtisch zuging; sein Blick sagte nur, Rearden wisse
allzugut, daß er Grund zum Lächeln hatte und es darum unterlassen konnte.
Ohne darauf zu warten, daß er aufgefordert wurde, setzte sich Ferris dem Schreibtisch gegenüber; er hatte
eine Aktentasche bei sich, die er auf seine Knie legte; er benahm sich, als wären Worte überflüssig, da sein
Wiedererscheinen in diesem Büro bereits alles sagte.
Rearden beobachtete ihn in geduldigem Schweigen.
»Da die Frist für die Unterzeichnung der nationalen Schenkungsurkunden heute um Mitternacht abläuft«,
sagte Dr. Ferris im Ton eines Geschäftsmannes, der einem Kunden eine besondere Höflichkeit erweist, »bin ich
gekommen, um mir Ihre Unterschrift zu holen, Mr. Rearden.«
Er schwieg mit einer Miene, die verriet, daß jetzt der andere das Wort hatte.
»Fahren Sie fort«, sagte Rearden. »Ich höre Ihnen zu.«
»Ja, ich muß wohl erklären«, sagte Dr. Ferris, »warum wir Ihre Unterschrift möglichst früh haben möchten; es
soll durch den Rundfunk bekanntgegeben werden. Obwohl das Schenkungsprogramm ohne jede Schwierigkeit
durchgeführt worden ist, sind da noch einige eigensinnige Individualisten, die noch nicht unterzeichnet haben –
kleine Fische, deren Patente gar nicht so sehr wichtig sind, aber, Sie verstehen, daß wir um des Prinzips willen
auf ihre Unterschrift nicht verzichten können. Diese Leute warten, glauben wir, erst ab, was Sie tun werden. Sie
haben sehr viele Anhänger im Volk, Mr. Rearden, viel mehr, als Sie ahnen, und ohne daß Sie sich ihrer zu
bedienen wissen. Darum wird die Meldung, daß Sie unterschrieben haben, die letzten Widerstandshoffnungen
beseitigen, und bis Mitternacht werden die noch ausstehenden Unterschriften gegeben und so das Programm
planmäßig erfüllt sein.«
Rearden wußte, Dr. Ferris hätte, wenn er auch nur den geringsten Zweifel hegte, daß er nachgeben würde,
nicht so gesprochen.
»Fahren Sie fort«, sagte Rearden ruhig. »Sie sind noch nicht fertig.«
»Sie wissen – wie Sie es bei Ihrer Gerichtsverhandlung bewiesen haben – wie wichtig es ist und warum es
wichtig ist, daß all dieser Besitz uns mit der freiwilligen Zustimmung der Opfer übereignet wird.« Dr. Ferris
öffnete seine Aktentasche. »Hier ist die Schenkungsurkunde, Mr. Rearden. Wir haben sie bereits ausgefüllt, und
Sie brauchen nur noch Ihren Namen darunter zu setzen.«
Das Stück Papier, das er vor Rearden hinlegte, sah wie ein kleines Universitätsdiplom aus, auf dem der Text
in altmodischer Schrift gedruckt und die besonderen Einzelheiten mit Schreibmaschine eingefügt waren. Es
wurde darin festgestellt, daß Henry Rearden hiermit der Nation alle Rechte an der als Rearden Metal bekannten
Metallegierung übereignete, die fortan von allen, die es wünschten, hergestellt werden konnte und den von den
Vertretern des Volkes gewählten Namen »Wundermetall« tragen würde. Auf das Papier blickend, fragte sich
Rearden, ob es ein absichtlicher Hohn auf die Anständigkeit oder eine so niedrige Einschätzung der Opfer war,
daß die für diesen Text Verantwortlichen ihn auf ein Papier gedruckt hatten, auf dem eine blasse Zeichnung der
Freiheitsstatue zu sehen war. Sein Blick wandte sich langsam Dr. Ferris zu. »Sie wären nicht hergekommen«,
sagte er, »wenn Sie nicht etwas in der Hand hätten, mit dem Sie mich erpressen können. Was ist es?«
»Ich habe natürlich schon erwartet«, sagte Dr. Ferris, »daß Sie das wissen würden. Darum sind keine langen
Erklärungen notwendig.« Er griff wieder in seine Aktentasche. »Wollen Sie das Material sehen? Ich habe ein
paar Proben mitgebracht.«
Wie ein geübter Falschspieler, der mit einer raschen Handbewegung einen ganzen Kartenfächer auf den Tisch
schlägt, breitete er vor Rearden eine Reihe glänzender Fotokopien aus. Es waren Fotokopien der Meldezettel von
Hotels und Motels, auf denen in Reardens Handschrift die Namen Mr. und Mrs. J. Smith standen.
»Sie wissen es natürlich«, sagte Dr. Ferris milde, »aber Sie möchten vielleicht wissen, ob wir wissen, daß
Mrs. J. Smith Miss Dagny Taggart is t.«
Reardens Gesicht blieb ausdruckslos. Er hatte sich nicht über die Fotokopien gebeugt, sondern blickte mit
ernster Aufmerksamkeit auf sie hinunter, als ob er aus dieser Perspektive etwas an ihnen entdeckte, das er noch
nicht gewußt hatte.
»Wir haben noch eine große Anzahl weiterer Beweise«, sagte Dr. Ferris und warf eine Fotokopie der
Rechnung des Juweliers für den Rubinanhänger auf den Schreibtisch. »Es liegt Ihnen gewiß nichts daran, die
eidesstattlichen Versicherungen von Tages - und Nachtportiers zu sehen. Sie enthalten nichts, was für Sie neu
sein würde, außer der großen Anzahl von Zeugen, die wissen, wo Sie in den letzten beiden Jahren Ihre Nächte in
New York verbracht haben. Sie dürfen es diesen Leuten nicht allzusehr verübeln. Es ist ein interessantes
Merkmal von Epochen wie unserer, daß die Menschen fürchten, Dinge zu sagen, die sie sagen möchten, und,
wenn man sie verhört, Angst davor haben, Dinge zu verschweigen, von denen sie lieber nichts sagen würden.
Damit muß man rechnen. Aber Sie würden erstaunt sein, wenn Sie wüßten, wer uns den ersten Hinweis gegeben
hat.«
»Ich weiß es«, sagte Rearden, mit einer Stimme, die keine Reaktion verriet. Die Reise nach Florida war ihm
nicht mehr unerklärlich.
»In diesem Material ist nichts, was Ihnen persönlich schaden kann«, sagte Dr. Ferris. »Wir wußten, daß keine
Form persönlicher Beleidigung Sie je zum Nachgeben bringen würde. Darum sage ich Ihnen frei heraus, daß dies
Ihnen nicht das geringste anhaben wird. Es wird nur Miss Taggart etwas anhaben.«
Rearden blickte ihn jetzt fest an, aber Dr. Ferris fragte sich, warum es ihm war, als ob das ruhige,
verschlossene Gesicht sich immer weiter von ihm entfernte.
»Wenn diese Affäre durch solche Experten in der Kunst des Anschwärzens wie Bertram Scudder im ganzen
Lande bekannt wird«, sagte Dr. Ferris, »dann wird sie Ihrem Ruf keineswegs schaden. Ein paar neugierige
Blicke und ein paar hochgezogene Augenbrauen in ein paar spießigen Salons, das wird alles sein. Im übrigen
wird man Sie ungeschoren lassen. Affären dieser Art sind für einen Mann nichts Ungewöhnliches. Es wird sogar
Ihren Ruf steigern. Es wird Ihnen eine Aura romantischen Glanzes bei Frauen und Männern geben; es wird
Ihnen, weil man Sie um diese ungewöhnliche Eroberung beneiden wird, einen gewissen Nimbus geben. Aber
was es für Miss Taggart bedeuten wird – mit ihrem makellosen Namen, ihrem über jeden Skandal erhabenen
Ruf, ihrer besonderen Stellung als Frau in einem ausgesprochen männlichen Beruf –, was es für sie bedeuten
wird, was sie in den Augen jedes Menschen, dem sie begegnet, lesen, was sie von jedem Mann, mit dem sie zu
tun hat, hören wird, das sich vorzustellen, überlasse ich Ihrer Phantasie – und dann können Sie Ihre Schlüsse
daraus ziehen.«
Rearden fühlte nichts als eine große Stille und eine große Klarheit. Es war, als ob eine Stimme ihm streng
sagte: »Jetzt ist es soweit, die Bühne ist erleuchtet, nun sieh hin!« Und nackt in dem grellen Licht stehend, sah er
hin, ruhig, feierlich, frei von Angst, von Schmerz, von Hoffnung, nur mit dem einen Verlangen zu wissen.
Zu seinem Erstaunen hörte ihn Dr. Ferris langsam im leidenschaftslosen Ton einer abstrakten Feststellung
etwas sagen, was nicht seinem Zuhörer zu gelten schien: »All Ihre Berechnungen beruhen auf der Tatsache, daß
Miss Taggart eine tugendhafte Frau ist und nicht die Hure, als die Sie sie hinstellen.«
»Ja, natürlich«, sagte Dr. Ferris.
»Und daß dies für mich viel mehr bedeutet als ein gelegentliches Abenteuer.«
»Natürlich.«
»Wenn Miss Taggart und ich der Abschaum wären, als den Sie uns erscheinen lassen, dann würde Ihr
Material wirkungslos verpuffen.«
»Ja, das würde es.«
»Wenn unsere Beziehung so verderbt wäre, wie Sie es behaupten, dann hätten Sie keine Möglichkeit, uns
etwas anzutun.«
»Nein.«
»Wir wären dann außerhalb der Reichweite Ihrer Macht.«
»Ja, allerdings.«
Es war nicht Dr. Ferris, zu dem Rearden sprach. Er sah eine lange Reihe von Männern, die sich von Platon an
durch die Jahrhunderte zog und deren Erbe und Endergebnis ein kleiner unfähiger Professor mit dem Äußeren
eines Gigolos und der Seele eines Strolches war.
»Ich habe Ihnen einmal die Möglichkeit geboten, mit uns zusammenzuarbeiten«, sagte Dr. Ferris. »Sie haben
sie ausgeschlagen. Jetzt sehen Sie die Folgen. Wie ein Mann von Ihrer Intelligenz glauben konnte, daß er durch
ehrliches Spiel gewinnen würde, ist mir unvorstellbar.«
»Aber wenn ich mit Ihnen zusammengearbeitet hätte«, sagte Rearden so leidenschaftslos wie vorher, als
spräche er nicht über sich selbst, »was hätte ich dann von Orren Boyle erbeuten können?«
»Ach, es gibt immer genug Dummköpfe in der Welt, die man enteignen kann.«
»Wie Miss Taggart, wie Ken Danagger, wie Ellis Wyatt, wie mich?«
»Wie jeden, der unvernünftig sein will.«
»Sie meinen, daß es nicht vernünftig ist, auf der Erde zu leben, nicht wahr?«
Er wußte nicht, ob Dr. Ferris ihm antwortete. Er hörte nicht mehr zu. Er sah das lange Gesicht Orren Boyles
vor sich mit den schmalen Schlitzen der Schweineaugen, das wabbelige Gesicht Mr. Mowens mit den Augen, die
jedem Sprecher und jeder Tatsache eilig auswichen – er sah sie wie Affen, die gelernt haben, die Bewegungen
des Menschen nachzumachen, das zu tun, was nötig war, um Rearden Metal herzustellen, ohne zu wissen und
überhaupt begreifen zu können, was in dem Laboratorium von Rearden Steel in zehn Jahren leidenschaftlicher
Hingabe an eine qualvolle Arbeit vor sich gegangen war. Es paßte, daß sie es jetzt ‘Wundermetall’ nennen
wollten. ‘Wunder’ war das einzige Wort, mit dem sie die zehn Jahre und die geistige Kraft, die das Rearden
Metal geschaffen hatten, bezeichnen konnten. In ihren Augen konnte das Metall nur ein Wunder sein, das
Produkt einer unbekannten, unbegreiflichen Ursache, ein Gegenstand der Natur, der nicht erklärt zu werden,
sondern dessen man sich nur zu bemächtigen brauchte wie eines Steins oder einer Pflanze, die dafür da sind, daß
man sie sich nimmt – »sollen wir die vielen darben lassen, nur weil die wenigen uns die besseren Waren
vorenthalten und uns die modernen Methoden nicht überlassen?«
Wenn ich nicht gewußt hätte, daß mein Leben von meinem Verstand und meiner Anstrengung abhängt, sagte
er lautlos zu der Reihe der Männer, die sich durch die Jahrhunderte zog, wenn ich es nicht zu meinem höchsten
moralischen Ziel gemacht hätte, meine ganze Kraft und meine ganze geistige Fähigkeit einzusetzen, um leben
und weiterkommen zu können, hättet ihr nichts gefunden, was ihr mir hättet rauben können, nichts, durch das ihr
selber hättet leben können. Es sind nicht meine Sünden, die ihr benutzt, um mich zu beleidigen, sondern meine
Tugenden – meine von euch selbst anerkannten Tugenden, da euer Leben von ihnen abhängt, da ihr sie braucht,
da ihr nicht meine Leistung zu zerstören, sondern euch ihrer zu bemächtigen versucht.«
Er erinnerte sich an die Stimme des Gigolos der Wissenschaft, der zu ihm gesagt hatte: »Wir wollen die
Macht, und es ist uns ernst. Ihr wart vorsichtige Spieler, aber wir kennen den wirklichen Trick.« Wir wollten
nicht die Macht, sagte er zu den geistigen Vorfahren des Gigolos, und wir lebten nicht von dem, was wir
verdammten, wir betrachteten das produktive Können eines Menschen als seine Tugend – und der Grad seiner
Tugend war für uns das Maß seines Lohns. Wir zogen keinen Vorteil aus dem, was wir als böse ansahen – wir
brauchten keine Bankräuber, damit unsere Banken arbeiten konnten, keine Mörder, damit wir unser Leben
schützen konnten. Aber ihr braucht die Produkte des Könnens eines Mannes; dennoch verkündet ihr, daß
produktives Können böser Egoismus ist, und für euch ist der Grad der Produktivität eines Mannes das Maß
seines Verlustes. Wir lebten nach dem, was wir für gut hielten, und bestraften das, was wir für schlecht hielten.
Ihr lebt nach dem, was ihr als böse anprangert, und bestraft das, von dem ihr wißt, daß es gut ist.
Er erinnerte sich an die Strafe, die Lillian ihm hatte auferlegen wollen, die Strafe, die in ihrer
Ungeheuerlichkeit über sein Begreifen gegangen war und er sah jetzt, wie sie uneingeschränkt angewendet
wurde, als ein Denksystem, als eine Lebensart und im Weltmaßstab. Da war sie: die Strafe, die die Tugend des
Opfers brauchte, um wirksam zu werden. Daß er Rearden Metal erfunden hatte, wurde als Grund seiner
Enteignung benutzt. Dagnys Ehre und ihr tiefes Gefühl füreinander als ein Werkzeug der Erpressung, einer
Erpressung, von der die Verderbten bewahrt blieben. Und in den Volksstaaten Europas wurden Millionen von
Menschen in Knechtschaft gehalten, mittels ihres Verlangens nach Leben, mittels ihrer für Zwangsarbeit
verwandten Kraft, mittels ihrer Fähigkeit, ihre Herren zu ernähren, mittels des Geiselsystems ihrer Liebe zu ihren
Kindern, Frauen oder Freunden, mittels der Liebe, des Könnens und der Freude als Futter für Drohungen und
Köder für Erpressung, mit der an Furcht gebundenen Liebe, dem an Strafe gebundenen Können, dem an
Enteignung gebundenen Ehrgeiz, mit Erpressung als Gesetz, mit der Bewahrung vor Schmerz und jedem
Verzicht auf Freude als dem einzigen Ansporn zur Anstrengung und der einzigen Belohnung für die Leistung –
Menschen, die mittels dessen, was sie an Lebenskraft besaßen und was sie an Freude im Leben fanden, versklavt
wurden. Dies war das Gesetz, das die Welt angenommen hatte, und dies war der Schlüssel zu dem Gesetz: daß es
die Liebe des Menschen zum Leben in einen Kreislauf der Qual einspannte, so daß nur der Mensch, der nichts zu
bieten hatte, nichts zu fürchten brauchte, so daß die Tugenden, die das Leben möglich machten, und die Werte,
die ihm einen Sinn gaben, zu den Werkzeugen seiner Zerstörung wurden, so daß das Beste im Menschen zum
Folterwerkzeug und das menschliche Leben auf der Erde sinnlos wurde.
»Sie besaßen den Kodex des Lebens«, sagte die Stimme eines Mannes, die er nicht vergessen konnte, »was ist
dann deren Kodex?«
Warum hatte die Welt ihn angenommen? dachte er. Wie hatten die Opfer einen Kodex billigen können, der sie
auf Grund der Tatsache, daß sie lebten, schuldig sprach… und dann wurde ihm plötzlich mit Schrecken bewußt:
Hatte er es nicht auch getan? Hatte er nicht den Kodex der Selbstverdammung sanktioniert? Dagny, dachte er,
und die Tiefe ihres Gefühls füreinander… Die Erpressung, vor der die Verderbten bewahrt bleiben würden…
hatte auch er es nicht einst Verderbtheit genannt? Hatte er ihr nicht als erster all die Beleidigungen zugefügt, die
der menschliche Abschaum ihr jetzt in aller Öffentlichkeit zu zufügen androhte? Hatte er nicht das höchste
Glück, das ihm je zuteil geworden war, als Schuld hingenommen?
»Sie, die Sie nicht auch nur ein Prozent Unreinheit in einer Metallegierung dulden würden«, sagte die
unvergessene Stimme zu ihm, »was haben Sie in Ihrem moralischen Kodex geduldet?«
»Nun, Mr. Rearden«, sagte Dr. Ferris, »verstehen Sie mich jetzt? Bekommen wir das Metall, oder werden wir
aus Miss Taggarts Schlafzimmer einen Schauplatz für die Öffentlichkeit machen müssen?«
Er sah Dr. Ferris nicht. Er sah – in der übergrellen Klarheit, die wie ein Scheinwerfer ihm das verborgenste
Rätsel erleuchtete – den Tag, an dem er Dagny zum ersten Mal begegnet war. Wenige Monate zuvor war sie
Stellvertretende Vorstandsvorsitzende von Taggart Transcontinental geworden. Er hatte eine Zeitlang die
Gerüchte, daß die Eisenbahn von Jim Taggarts Schwester geleitet wurde, sehr skeptisch aufgenommen. In jenem
Sommer, als er immer verzweifelter darüber wurde, daß Taggart einen Auftrag auf Schienen für eine neue
Strecke immer wieder hinausschob und widerrief, einen Auftrag, den Taggart immer von neuem erteilte,
abänderte und zurückzog, sagte ihm jemand, daß er, wenn er bei Taggart Transcontinental etwas Vernünftiges
erreichen wollte, am besten mit Jims Schwester sprach. Er rief ihr Büro an, um einen Termin zu vereinbaren, und
bestand darauf, sie noch am gleichen Nachmittag zu sprechen. Ihre Sekretärin sagte ihm, Miss Taggart sei an
diesem Nachmittag an der Baustelle der neuen Strecke am Milford-Bahnhof zwischen New York und
Philadelphia, würde sich aber freuen, ihn dort zu sehen, wenn er es wünschte. Nur widerwillig begab er sich zu
der Verabredung. Alle Geschäftsfrauen, die er kannte, waren ihm zuwider, und er hatte das Gefühl, Eisenbahnen
seien kein Spielzeug für eine Frau. Er erwartete, eine verwöhnte Erbin zu treffen, die ihren Namen und ihr
Geschlecht als Ersatz für ihr Können benutzte, eine überelegante, übergepflegte Frau, ähnlich der Direktrice
eines Warenhauses.
Er stieg aus dem letzten Wagen eines langen Zuges aus, weit hinter dem Bahnsteig des Milford-Bahnhofs.
Rings um sich sah er ein Gewirr von Gleisen, Güterwagen, Kränen und Dampfwalzen, das sich von der
Hauptstrecke den Hang einer Schlucht hinunterzog, wo Männer am Unterbau für die neue Strecke arbeiteten. Er
begann, zwischen den Gleisen auf den Bahnhof zuzugehen, und blieb dann stehen. Auf einem Niederbordwagen
stand hoch oben auf einer Maschine ein junge Frau. Sie sah in die Schlucht hinunter, reckte den Kopf, und ihr
Haar wehte im Wind. Ihr schlichtes graues Kostüm schmiegte sich wie eine dünne Metallschicht an ihren
schlanken Körper, der sich vom Himmel und der sonnenüberfluteten Landschaft abhob. Ihre Haltung hatte die
unbefangene Selbstverständlichkeit ungehemmten Selbstvertrauens. Ge spannt und zielbewußt beobachtete sie
die Arbeit, mit dem Blick des Könners, der sich seines Könnens freut. Sie machte ein Gesicht, als wäre dies ihr
Platz, ihr Augenblick und ihre Welt, als wäre Freude ein natürlicher Zustand für sie. Ihr Gesicht war der
lebendige Ausdruck einer tätigen lebendigen Intelligenz. Ein Jungmädchengesicht mit einem Frauenmund. Sie
schien sich ihres Körpers nur als eines Instruments bewußt zu sein, das ihrem Ziel so diente, wie sie es wollte.
Hätte er sich kurz zuvor gefragt, ob er das Bild einer Frau in sich trüge, so wie er sich wünschte, daß sie aussah,
hätte er mit einem Nein geantwortet; aber als er sie sah, wußte er, daß dies das Bild war und daß er es schon seit
Jahren in sich trug. Doch er sah sie nicht wie eine Frau. In der kindlichen Freude dieses Augenblicks hatte er
ganz vergessen, wo er war und was er hier wollte. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, wie selten ihm der Anblick
von etwas zuteil wurde, das ihm wirklich gefiel, das er um seiner selbst willen liebte und an dem er nichts
auszusetzen hatte. Mit einem leisen Lächeln blickte er zu ihr auf, als betrachtete er eine Statue oder eine
Landschaft, und was er empfand, war die reine Freude an dem Anblick, die reinste ästhetische Freude, die er je
erlebt hatte.
Ein Weichensteller kam vorbei. Rearden deutete auf die junge Frau und fragte: »Wer ist das?«
»Dagny Taggart«, sagte der Weichensteller und ging weiter. Rearden war es, als ob die Worte ihm die Kehle
zuschnürten; er hatte das Gefühl, daß etwas in ihn eindrang, das ihm einen Augenblick lang den Atem nahm, ein
Strom, der dann langsam durch seinen Körper fuhr und ihn eine Schwere spüren ließ, die alles in ihm erstickte
bis auf eines. Mit einer unnatürlichen Klarheit war er sich des Orts, wo er sich befand, des Namens der Frau und
alles dessen, was er bedeutete, bewußt. Aber das alles hatte sich in einen äußeren Kreis zurückgezogen und war
zu einem Druck geworden, der ihn allein in der Mitte dieses Kreises ließ, als Sinn und Wesen des Kreises – und
das einzig Wirkliche war seine Begierde, diese Frau zu besitzen, jetzt, hier, oben auf dem Güterwagen unter
freiem Himmel – sie zu besitzen, bevor sie ein Wort miteinander gesprochen hatten, als das erste ihrer
Begegnung, weil es alles sagen würde, und weil sie es längst verdient hatten.
Sie drehte langsam den Kopf, und ihre Augen begegneten seinen, und als sie ihn ansah, war er sicher, daß sie
seinen Blick verstand, daß er sie wie in einem Bann gefangen hielt, daß sie sich dieses Gefühl aber nicht
eingestehen wollte. Dann schweiften ihre Augen weiter, und er sah, wie sie mit einem Mann sprach, der neben
dem Wagen stand und sich Notizen machte. Zweierlei wurde ihm zugleich bewußt: seine Rückkehr in die
Wirklichkeit und ein bohrendes Schuldgefühl. Einen Augenblick lang hatte er das entsetzliche Gefühl, sich
selber hassen zu müssen – ein Gefühl, das um so furchtbarer war, weil etwas in ihm sich dagegen auflehnte und
er sich dadurch nur noch schuldiger fühlte. Es war keine äußere Instanz, sondern sein Inneres, das ihn verurteilte,
und dieses Urteil lautete: So bist du also, das ist deine Verderbtheit, daß die sündige Begierde, die du nie zu
überwinden vermocht hast, deine Antwort ist auf den einzigen Anblick des Schönen, der dir je zuteil wurde; daß
diese Begierde dich mit einer Gewalt überfallen hat, die du nie für möglich gehalten hättest, und daß du nur noch
das eine kannst: sie verbergen und dich selbst verachten. Und dennoch wirst du dich nicht von ihr befreien
können, solange du und diese Frau leben.
Er wußte nicht, wie lange er dort stand oder welche Verwüstung diese Zeitspanne in ihm zurückließ. Alles,
was er retten konnte, war der Entschluß, es ihr nie zu offenbaren.
Er wartete, bis sie von dem Wagen heruntergestiegen und der Mann mit den Notizen gegangen war. Dann
ging er auf sie zu und sagte kühl:
»Miss Taggart? Ich bin Henry Rearden.«
»Ach…« Ihre Stimme zitterte ein wenig, aber dann hörte er sie in ruhigem, natürlichem Ton sagen: »Guten
Tag, Mr. Rearden.«
Ohne es sich selbst zuzugeben, wußte er, daß das Zittern der leise Widerhall seines eigenen Gefühls war: Sie
war froh, daß ein Gesicht, das sie sympathisch fand, einem Mann gehörte, den sie bewundern konnte. Als er
dann mit ihr geschäftlich zu sprechen begann, war er kürzer angebunden, als er es je einem seiner männlichen
Kunden gegenüber gewesen war.
Als er jetzt seinen Blick von der jungen Frau auf dem Wagen losriß und der Schenkungsurkunde auf seinem
Schreibtisch zuwandte, war es ihm, als ob die beiden aufeinander prallten und all die Tage und Zweifel, die er
inzwischen erlebt hatte, miteinander verschmolzen. Und im grellen Schein der Explosion, in der sekundenlangen
Vision des Endergebnisses, sah er die Antwort auf all seine Fragen.
Er dachte: schuldig? Schuldiger, als ich es wußte, viel schuldiger, als ich es an jenem Tage glaubte – schuldig
der Sünde, als Schuld zu verdammen, was mein Bestes war. Ich verdammte die Tatsache, daß mein Geist und
Körper eines waren und daß mein Körper auf die Werte meines Verstandes reagierte. Ich verdammte die
Tatsache, daß Freude der Kern des Lebens ist, die Triebkraft jedes lebenden Menschen, daß der Körper ihrer
genauso bedarf wie der Geist, daß mein Körper nicht eine Masse lebloser Muskeln ist, sondern ein Instrument,
das mich die höchste Freude erleben lassen kann, in der Fleisch und Geis t eines werden. Diese Fähigkeit, die ich
als sündig verurteilt habe, hat mich Huren gegenüber gleichgültig gelassen, aber mir eine Begierde als Antwort
auf die Größe einer Frau gegeben. Jene Begierde, die ich als niedrig verurteilte, kam nicht vom Anblick ihres
Körpers, sondern aus der Erkenntnis, daß diese liebliche Form der Ausdruck des Geistes war – es war nicht ihr
Körper, den ich begehrte, sondern die Persönlichkeit – es war nicht die junge Frau im grauen Kostüm, das ich
besitzen mußte, sondern die Frau, die eine Eisenbahn leitete. Aber ich habe die Fähigkeit meines Körpers, das
auszudrücken, was ich fühlte, verurteilt. Ich habe den höchsten Tribut, den ich ihr zollen konnte, als eine
Beleidigung für sie verurteilt – so wie man meine Fähigkeit verurteilt, die Arbeit meines Verstands in Rearden
Metal zu übersetzen, so wie man mich dafür verurteilt, daß ich mir die Materie Untertan machen kann. Ich habe
ihren Kodex angenommen und geglaubt, wie man es mich gelehrt hatte, daß die geistigen Werte eines Menschen
eine ohnmächtige Sehnsucht bleiben müssen, die sich nicht in Handeln ausdrückt, sich nicht in die Wirklichkeit
überträgt, während der Körper eines Menschen im Elend leben muß, weil sein Leben gefühllos und erniedrigend
ist und die, die versuchen, es zu genießen, als niedere Tiere gebrandmarkt werden müssen. Ich habe ihren Kodex
gebrochen, aber ich bin in die Falle gegangen, die sie mir gestellt haben, die Falle eines Kodex, der dazu
bestimmt ist, gebrochen zu werden. Ich war nicht stolz auf meine Auflehnung, ich empfand sie als Schuld, ich
verurteilte nicht die anderen, ich verurteilte mich selbst. Ich verurteilte nicht ihren Kodex, ich verurteilte das
Leben – ich verbarg mein Glück als mein sündiges Geheimnis. Ich hätte mich offen zu ihm bekennen sollen als
zu unserem Recht – oder sie zu meiner Frau machen müssen, was sie in Wirklichkeit war. Aber ich habe mein
Glück als böse gebrandmarkt und habe es sie als eine Schande ertragen lassen. Was sie ihr jetzt antun wollen,
habe ich als erster getan. Ich habe es möglich gemacht.
Ich habe es getan – im Namen des Mitleids für die verächtlichste Frau, die ich kannte. Auch das war ihr
Kodex, und ich habe ihn angenommen. Ich glaubte, daß man anderen etwas schuldet, ohne dafür eine
Gegenleistung erwarten zu dürfen. Ich hielt es für meine Pflicht, eine Frau zu lieben, die mir nichts gab, die alles
verriet, wofür ich lebte, die ihr Glück um den Preis meines Glücks forderte. Ich glaubte, Liebe sei ein
beständiges Geschenk, das, einmal gewährt, nicht mehr verdient zu werden brauche – so wie sie glauben, daß
Reichtum ein beständiger Besitz ist, dessen man sich bemächtigen und den man ohne weitere Anstrengung
erhalten kann. Ich glaubte, Liebe sei ein Trinkgeld, nicht eine Belohnung, die man sich verdienen muß. So wie
sie glauben, es sei ihr Recht, unverdienten Reichtum zu fordern. So wie sie glauben, daß ihre Bedürftigkeit sie
dazu berechtigt, meine Kraft zu beanspruchen, glaubte ich, daß ihr Unglück sie zu einem Anspruch auf mein
Leben berechtigt. Um des Mitleids, nicht um der Gerechtigkeit willen habe ich zehn Jahre Folter ertragen. Ich
habe das Mitleid über mein Gewissen gestellt, und dies ist der Kern meiner Schuld. Ich habe ein Verbrechen
begangen, als ich zu ihr sagte: »Nach jedem meiner Maßstäbe würde eine Aufrechterhaltung unserer Ehe ein
schändlicher Betrug sein, aber meine Maßstäbe sind nicht deine. Ich verstehe die deinen nicht, ich habe sie nie
verstanden, aber ich werde sie hinnehmen.«
Hier liegen sie auf meinem Schreibtisch, diese Maßstäbe, die ich, ohne sie zu verstehen, hingenommen habe.
Dies ist die Art ihrer Liebe zu mir, jener Liebe, an die ich nie geglaubt, die ich aber zu schonen versucht habe.
Hier ist das Endergebnis des Unverdienten. Ich habe geglaubt, es sei richtig, eine Ungerechtigkeit zu begehen,
solange ich der einzige war, der darunter litt. Aber nichts kann Ungerechtigkeit rechtfertigen. Und dies ist die
Strafe dafür, daß ich dieses scheußliche Böse, die Selbstaufopferung, als richtig hingenommen habe. Ich glaubte,
ich würde das einzige Opfer sein. Statt dessen habe ich die edelste Frau der gemeinsten geopfert. Wenn man sich
aus Mitleid gegen die Gerechtigkeit vergeht, bestraft man das Gute, um des Bösen willen. Wenn man dem
Schuldigen das Leiden erspart, zwingt man den Unschuldigen zum Leiden. Es gibt keine Flucht vor der
Gerechtigkeit. In der Welt muß man sich alles verdienen und für alles zahlen, materiell und geistig – und wenn
der Schuldige nicht zahlt, muß es der Unschuldige tun.
Nicht die schäbigen Kreaturen, die den Reichtum rauben, haben mich geschlagen – ich habe es getan. Sie
haben mich nicht entwaffnet – ich habe meine Waffe weggeworfen. Dies ist ein Kampf, der nur mit sauberen
Händen geführt werden kann. Denn die einzige Macht des Feindes sind die Makel im Gewissen eines Menschen.
Und ich habe einen Kodex angenommen, der mich die Kraft meiner Hände als Sünde und Schmutz ansehen ließ.
»Bekommen wir das Metall, Mr. Rearden?«
Er sah von der Schenkungsurkunde auf seinem Schreibtisch weg und hatte wieder die junge Frau auf dem
Güterwagen vor Augen. Er fragte sich, ob er das strahlende Wesen, das er damals gesehen hatte, den geistigen
Schwarzfahrern und dem Pressegesindel ausliefern durfte. Durfte er es nochmal zulassen, daß der Unschuldige
bestraft wurde? Durfte er Dagny dort stehen lassen, wo er selber hätte stehen müssen? Durfte er jetzt den Kodex
des Feindes herausfordern, da die Schande ihre und nicht seine sein würde – da sie würde kämpfen müssen,
während er verschont blieb? Durfte er es zulassen, daß sich ihr Leben in eine Hölle verwandelte, die mit ihr zu
teilen er keine Möglichkeit haben würde?
Er saß still da und blickte zu ihr auf. Ich liebe dich, sagte er zu der Frau auf dem Güterwagen und sprach
damit stumm die Worte aus, die der Sinn jenes Augenblicks vor vier Jahren gewesen waren, fühlte das feierliche
Glück, das die Worte umschlossen, selbst wenn er zum ersten Mal das Bedürfnis hatte, es ihr auf diese Weise zu
sagen.
Er blickte auf die Schenkungsurkunde hinunter. Dagny, dachte er, du würdest es nicht zulassen, daß ich es
tue, wenn du es wüßtest. Du wirst mich dafür hassen, wenn du es erfährst – aber ich kann dich nicht meine
Schulden bezahlen lassen. Es war ein Fehler, und ich will nicht die Strafe auf dich abwälzen, die ich selber auf
mich nehmen muß. Auch wenn mir nichts anderes mehr bleibt, dies besitze ich noch: daß ich die Wahrheit sehe,
daß ich frei von ihrer Schuld bin, daß ich vor mir selbst schuldlos dastehen kann, daß ich weiß, ich bin im Recht,
bin vollkommen im Recht und zum ersten Mal – und daß ich dem einen Gebot meines Kodex treu bleiben
werde, das ich nie gebrochen habe: ein Mann zu sein, der für sich selbst bezahlt. Ich liebe dich, sagte er zu der
Frau auf dem Güterwagen, und es war ihm, als ob das Licht jener Sommersonne seine Stirn berührte, als ob auch
er unter freiem Himmel stände über einer Erde, auf der es keine Hindernisse gab, wo ihm nichts geblieben war
als er selbst.
»Nun, Mr. Rearden, werden Sie unterschreiben?« fragte Dr. Ferris.
Reardens Augen wandten sich ihm zu. Er hatte vergessen, daß Ferris da war. Er wußte nicht, ob Ferris
gesprochen, gestritten oder stumm gewartet hatte.
»Ach, das?« sagte Rearden.
Er ergriff einen Federhalter, und ohne noch einmal auf die Schenkungsurkunde zu blicken, setzte er mit der
lässigen Geste eines Millionärs, der einen Scheck unterschreibt, seinen Namen unter die Freiheitsstatue und
schob die Schenkungsurkunde über den Schreibtisch.

VII. Das Moratorium für den Verstand

»Wo sind Sie die ganze Zeit gewesen?« fragte Eddie Willers den Arbeiter in der unterirdischen Kantine und
fügte mit einem Lächeln, das eine Bitte, eine Entschuldigung und ein Eingeständnis der Verzweiflung war,
hinzu: »Ach, ich weiß, ich war es, der wochenlang nicht hier war.« Das Lächeln wirkte wie das Bemühen eines
verkrüppelten Kindes, eine Bewegung zu vollführen, die es nicht mehr vollführen kann. »Vor etwa zwei Wochen
war ich einmal hier, aber an dem Abend waren Sie nicht da. Ich fürchtete schon, Sie seien verschwunden… So
viele Leute verschwinden unbemerkt. Hunderte von ihnen sollen im Lande herumstreifen. Die Polizei soll sie
verhaftet haben, weil sie ihre Stellungen verließen – sie werden als Deserteure bezeichnet –, aber da es so viele
sind und man sie im Gefängnis nicht ernähren kann, kümmert sich niemand mehr um sie. Die Deserteure sollen
überall herumwandern, sie verrichten Gelegenheitsarbeiten oder tun noch Schlimmeres – wer kann ihnen heute
schon noch Arbeit geben? – Wir haben unseren besten Mann verloren. Er war zwanzig Jahre oder noch länger
bei uns. Warum mußten sie sie an ihre Arbeitsplätze fesseln? Diese Männer hatten nie die Absicht, sie
aufzugeben – aber jetzt gehen sie bei der kleinsten Unstimmigkeit fort, legen einfach ihr Werkzeug nieder und
verschwinden zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht und lassen uns in der Klemme sitzen – die Männer, die
sonst gleich aus dem Bett sprangen und angelaufen kamen, wenn die Eisenbahn sie brauchte… Sie sollten mal
das menschliche Strandgut sehen, das wir als Ersatz bekommen. Einige von ihnen meinen es gut, aber sie
können nicht über ihren eigenen Schatten springen. Andere gehören zu jenem Abschaum, von dem ich glaubte,
daß es ihn gar nicht mehr gibt – sie bekommen die Arbeitsplätze, und da sie wissen, daß wir sie nicht
hinauswerfen können, wenn sie erst einmal drin sind, geben sie uns deutlich zu verstehen, daß sie nicht daran
denken, für ihren Lohn zu arbeiten, und nie daran gedacht haben. Das sind die Leute, denen das gefällt – denen
es gefällt, wie es heute ist. Können Sie sich vorstellen, daß es Menschen gibt, denen das gefällt? Nun, es gibt
sie… Wissen Sie, all das, was uns heute geschieht, kann ich einfach nicht glauben. Es geschieht tatsächlich, und
doch kann ich es nicht glauben. Ich sage mir immer, Wahnsinn ist ein Zustand, in dem ein Mensch nicht mehr
weiß, was wirklich ist. Nun, wenn das, was jetzt wirklich ist, Wahnsinn ist – und wenn ich es als wirklich
hinnehmen würde, müßte ich den Verstand verlieren… Ich arbeite weiter und sage mir immer wieder: Dies ist
Taggart Transcontinental. Ich warte unaufhörlich darauf, daß sich jeden Augenblick die Tür öffnet und sie
wiederkommt und, ach Gott, das darf ich eigentlich gar nicht sagen. – Wie? Sie wußten es? Sie wußten, daß sie
gegangen ist? – Man hält es geheim, aber wahrscheinlich weiß es jeder, nur wagt es niemand zu sagen. Man
erzählt den Leuten, sie sei verreist. Sie wird immer noch als unsere Stellvertretende Vorstandsvorsitzende
geführt. Ich glaube, Jim und ich sind die einzigen, die wissen, daß sie den Posten für immer niedergelegt hat. Jim
hat eine Todesangst, daß seine Freunde in Washington es ihm zur Last legen, wenn herauskommt, daß sie fort
ist. Es soll für die öffentliche Moral katastrophal sein, wenn ein Prominenter verschwindet, und Jim will sie nicht
wissen lassen, daß es in seiner eigenen Familie einen Deserteur gibt… Aber das ist noch nicht alles. Jim fürchtet,
daß die Aktionäre, die Angestellten und alle, mit denen wir geschäftlich zu tun haben, ihr letztes Vertrauen in
Taggart Transcontinental verlieren, wenn sie erfahren, daß sie nicht mehr da ist. Vertrauen! Man sollte meinen,
daß das jetzt keine Rolle mehr spielt, da sowieso niemand mehr etwas tun kann. Und dennoch weiß Jim, daß wir
den Anschein der Größe wahren müssen, für die Taggart Transcontinental einmal ein Symbol war. Und er weiß,
daß mit ihr die Größe endgültig dahin ist. – Nein, sie wissen nicht, wo sie ist. – Ja, ich weiß es, aber ich werde es
denen nicht verraten. Ich bin der einzige, der es weiß. – O ja, sie haben versucht, es herauszubekommen. Sie
haben versucht, mich auf alle Art auszuquetschen. Aber das nützt ihnen nichts. Ich werde es niemand sagen. –
Sie sollten den geschniegelten Kerl einmal sehen, der jetzt auf ihrem Platz sitzt – unser neuer Stellvertretender
Vorstandsvorsitzender. – Ja, freilich, wir haben einen – das heißt, wir haben ihn und haben ihn nicht. Es ist wie
alles, was sie heute tun: Es ist und ist zugleich nicht. Er heißt Clifton Locey – er kommt aus Jims persönlichem
Mitarbeiterstab, ein brillanter, fortschrittlicher junger Mann von siebenundvierzig und ein Freund von Jim.
Angeblich ist er nur für sie eingesprungen, aber er sitzt in ihrem Büro, und wir wissen alle, daß er ihr Nachfolger
ist. Er gibt die Anweisungen, das heißt, er sorgt dafür, daß man ihn nie dabei ertappt, wenn er eine Anweisung
gibt. Er tut alles, was er kann, damit man ihn nie auf eine Entscheidung festnageln und er darum für nichts
verantwortlich gemacht werden kann. Es ist nicht sein Ziel, eine Eisenbahn zu leiten, sondern seine Stellung zu
behalten. Es interessiert ihn nicht, ob Züge fahren, er will nur Jim gefallen. Es ist ihm schnuppe, ob auch nur ein
Zug fährt oder nicht, solange er bei Jim und den Leuten in Washington Eindruck schinden kann. Das einzige,
was er bis jetzt geleistet hat, ist, zwei Sündenböcke zu finden: einen jungen Assistenten, der eine Anweisung
nicht weitergeleitet hat, die Mr. Locey überhaupt nicht gegeben hatte, und den Leiter der Güterabteilung, der
eine Anweisung Loceys weitergegeben hat, aber nicht beweisen konnte, daß es Loceys Anweisung war. Beide
sind durch das Amt für Vereinheitlichung entlassen worden…
Wenn die Dinge gutgehen, was nie länger als eine halbe Stunde dauert, dann erinnert uns Mr. Locey
ausdrücklich daran, daß es jetzt anders ist als zu Zeiten Miss Taggarts. Beim ersten Anzeichen einer
Schwierigkeit ruft er mich in sein Büro und fragt mich – er fragt mich ganz beiläufig während eines völlig
belanglosen Gesprächs –, was Miss Taggart in so einem Fall zu tun pflegte. Wenn ich es kann, sage ich es ihm.
Es geht schließlich um Taggart Transcontinental und… Tausende von Menschenleben in Dutzenden unserer
Züge hängen von unseren Entscheidungen ab. Wenn alles glattgeht, legt er mir gegenüber die Maske der
Höflichkeit ab, damit ich nur ja nicht denke, er brauche mich. In allen unwichtigen Dingen stößt er alles um, was
sie getan hat, aber er ist sehr auf der Hut, etwas zu ändern, was wichtig ist. Das Schlimme ist nur, daß er nicht
immer beurteilen kann, was wichtig und was unwichtig ist… An seinem ersten Tag in ihrem Büro sagte er zu
mir, es sei nicht gut, ein Bild von Nat Taggart an der Wand zu haben. ‘Nat Taggart’, sagte er, ‘gehört einer
dunklen Vergangenheit an, einem Zeitalter der eigennütziger Habgier, er ist nicht gerade ein Symbol unserer
modernen, fortschrittlichen Politik, und darum könnte es einen schlechten Eindruck machen. Die Leute könnten
mich mit ihm in einen Topf werfen.’ – ‘Nein, das könnten sie nicht’, habe ich geantwortet – aber ich habe das
Bild von der Wand genommen. – Wie? – Nein, sie weiß nichts davon. Ich habe ihr nicht geschrieben. Kein
einziges Mal. Sie hat es mir untersagt. – In der vorigen Woche wäre ich auch beinahe gegangen. Es war wegen
Chicks Sonderzug. Mr. Chick Morrison aus Washington, wer das auch sein mag, macht eine Vortragsreise durch
das ganze Land – um über die Verordnung zu sprechen und die Menschen moralisch aufzurichten, da es überall
ziemlich wild zugeht. Er forderte einen Sonderzug für sich und seine Begleitung an: einen Schlafwagen, einen
Salonwagen und einen Speisewagen mit Bar und Rauchzimmer. Das Amt für Vereinheitlichung gestattete ihm,
mit einer Geschwindigkeit von hundert Meilen in der Stunde zu fahren – da dies, wie es in der Verfügung hieß,
keine Geschäftsreise war. So ist das eben. Es ist nur eine Reise, um die Leute zu ermuntern, sich abzuschuften,
damit sie für diejenigen Geld machen, deren Überlegenheit darin besteht, daß sie nicht einen Penny machen.
Schwierig wurde die Sache dadurch, daß Mr. Chick Morrison eine Diesellok forderte. Wir konnten ihm keine zur
Verfügung stellen. Alle unsere Dieselloks sind unterwegs, sie ziehen den Comet und die transkontinentalen
Güterzüge, und im ganzen Netz war nicht eine verfügbar außer – nun, das war eine Ausnahme, von der ich Mr.
Locey gegenüber nichts erwähnte. Mr. Locey machte einen riesigen Krach und schrie, daß wir, und wenn die
Welt unterginge, eine Forderung Chicks nicht ablehnen könnten. Ich weiß nicht, welcher verdammte Idiot ihm
schließlich etwas von der Diesellok verriet, die in Winston in Colorado am Eingang des Tunnels stand. Sie
wissen ja, wie unsere Dieselloks heutzutage zusammenbrechen, sie liegen alle in den letzten Zügen – und Sie
können sich denken, warum die Lok da stehen mußte. Ich habe es Mr. Locey erklärt, ich habe ihm gedroht, habe
ihn angefleht, habe ihm gesagt, sie habe es uns zur strikten Pflicht gemacht, dem Winston-Bahnhof immer eine
Diesellok zu lassen. Er antwortete mir, er müsse mich daran erinnern, daß er nicht Miss Taggart ist – als ob ich
das je vergessen könnte! –, und die Bestimmung sei Unsinn, denn in all den Jahren sei nichts geschehen, und der
Winston-Bahnhof könne darum für ein paar Monate die Lok sehr gut entbehren, und ihn kümmere irgendeine
theoretische Katastrophe in der Zukunft nicht, wenn wir der sehr wirklichen, unmittelbaren, greifbaren
Katastrophe gegenüberständen, Mr. Chick Morrison zu verärgern. Nun, Chicks Sonderzug erhielt die Diesel. Der
Leiter des Bezirks Colorado quittierte seinen Dienst, und Mr. Locey gab die Stellung einem seiner Freunde. Ich
wollte auch gehen. Noch nie hatte ich so sehr das Bedürfnis. Aber ich habe es nicht getan. – Nein, ich habe
nichts von ihr gehört. Ich habe nicht ein Wort von ihr gehört, seit sie weg ist. Warum fragen Sie mich immerzu
nach ihr? Denken Sie nicht mehr daran! Sie wird nicht zurückkommen. – Ich weiß nicht, worauf ich noch hoffe.
Auf nichts vermutlich. Ich lebe nur von einem Tag zum anderen und versuche, nicht weiter zu blicken. Anfangs
hoffte ich, daß jemand uns retten würde. Ich glaubte, vielleicht würde Hank Rearden unser Retter sein. Aber er
hat nachgegeben. Ich weiß nicht, wodurch sie ihn dazu gebracht haben zu unterschreiben, aber ich weiß, daß es
etwas Furchtbares gewesen sein muß. Jeder ist dieser Meinung. Jeder flüstert darüber und fragt sich, was für
einen Druck man auf ihn ausgeübt hat. – Nein, niemand weiß es. Er hat keine öffentliche Erklärung abgegeben
und hat sich geweigert, jemand zu empfangen… Aber hören Sie, ich will Ihnen noch etwas anderes sagen, von
dem alle flüstern. Kommen Sie bitte etwas näher. Ich möchte nicht zu laut sprechen. Es heißt, Orren Boyle habe
schon Wochen oder Monate vorher von der Verordnung gewußt, denn er hat still und heimlich damit begonnen,
seine Hochöfen für die Produktion von Rearden Metal in einem seiner kleineren Stahlwerke irgendwo in einem
obskuren Ort an der Küste von Maine umzubauen. In dem Augenblick, als Rearden das erpresserische Dokument
– ich meine die Schenkungsurkunde – unterzeichnet hatte, war Boyle bereit, das Metall zu produzieren. Aber,
hören Sie, an dem Abend, bevor sie begannen, hörten Boyles Arbeiter, die gerade die Hochöfen in jenem Werk
an der Küste heizten, eine Stimme, von der sie nicht wußten, woher sie kam, aus einem Flugzeug, einem
Radioapparat oder einer Art Lautsprecher. Es war eine Männerstimme, und sie sagte, sie hätten zehn Minuten
Zeit, das Werk zu verlassen. Daraufhin gingen sie und gingen immer weiter, denn die Stimme des Mannes hatte
gesagt, er sei Ragnar Danneskjöld. Eine halbe Stunde später war Boyles Werk dem Erdboden gleichgemacht,
ausgelöscht – nicht ein Stein blieb auf dem anderen. Es heißt, es sei durch Marineferngeschütze, die sich draußen
auf dem Atlantik befanden, zerstört worden. Aber niemand hat Danneskjölds Schiff gesehen… Das ist es, was
die Leute flüstern. Die Zeitungen haben nicht eine Zeile darüber gebracht. Die Leute in Washington sagen, es sei
nur ein von Panikmachern verbreitetes Gerücht. – Ich weiß nicht, ob die Geschichte wahr ist, aber ich glaube es.
Ich hoffe es… Wissen Sie, als ich fünfzehn Jahre alt war, fragte ich mich immer, wie ein Mensch zum
Verbrecher werden könnte. Ich konnte nicht verstehen, wie so etwas möglich war. Jetzt… jetzt bin ich froh, daß
Ragnar Danneskjöld dieses Werk vernichtet hat. Möge Gott ihn dafür segnen und nie zulassen, daß sie ihn
finden, wer immer er auch sein mag! – Ja, solche Gefühle habe ich jetzt. Nun, es ist kein Wunder bei alldem, was
sie den Menschen zumuten… Tagsüber ist es nicht so schlimm für mich, weil ich dann zu tun habe und nicht zu
denken brauche, aber in der Nacht überfällt es mich. Ich kann nicht mehr schlafen, liege stundenlang wach. – Ja!
Wenn Sie es wissen wollen. Ja, deswegen mache ich mir Sorgen um sie. Ich habe eine Todesangst um sie.
Woodstock ist nur ein elendes kleines Nest, das meilenweit von allem weg liegt, und die Taggart-Jagdhütte liegt
noch zwanzig Meilen weiter ab, zwanzig Meilen eines sich durch einen gottverlassenen Wald windenden Weges.
Was kann ihr so allein dort alles geschehen, wo jetzt in den Nächten all die Banden durch das Land streifen –
und gerade durch solche einsamen Gegenden wie die Berkshires. – Ich weiß, ich sollte nicht darüber
nachdenken. Ich weiß, sie ist Manns genug. Ich wünschte nur, sie schriebe mir eine Zeile. Ich wünschte, ich
könnte dorthin fahren. Aber sie hat mir gesagt, ich soll es nicht tun. Ich habe ihr gesagt, ich würde warten…
Wissen Sie, ich bin froh, daß Sie heute Abend hier sind. Es hilft mir, mit Ihnen sprechen zu können, ja, Sie
überhaupt nur zu sehen. Sie werden doch wohl nicht auch wie all die anderen verschwinden? – Wie? In der
nächsten Woche? – Ach, Sie fahren in Urlaub. Für wie lange? – Wieso bekommen Sie einen ganzen Monat
Urlaub? – Ich wünschte, ich könnte das auch – einen Monat Urlaub auf meine Kosten nehmen. Aber man würde
es mir nicht gestatten. – Wirklich? Ich beneide Sie… Vor ein paar Jahren hätte ich Sie nicht beneidet. Aber
jetzt… jetzt würde ich gern einmal wegfahren. Jetzt beneide ich Sie. Daß Sie in den letzten zwölf Jahren jeden
Sommer einen Monat Urlaub nehmen konnten…«
Es war eine dunkle Straße, aber sie führte in eine neue Richtung. Rearden ging von seinem Werk nicht nach
Hause, sondern nach Philadelphia. Es war ein weiter Weg, aber er hatte ihn heute machen wollen, wie an jedem
Abend der vergangenen Woche. Er fühlte sich geborgen in der leeren dunklen Landschaft mit nichts als den
schwarzen Schatten der Bäume um sich. Nichts bewegte sich außer seinem eigenen Körper und den sich im
Winde wiegenden Ästen. Nirgends sah man ein Licht, nur die hellen Punkte der in den Hecken tanzenden
Glühwürmchen.
Er war aus seinem Haus in eine Wohnung in Philadelphia gezogen. Er hatte seiner Mutter und Philip keine
Erklärung dafür gegeben. Er hatte nur gesagt, wenn sie es wollten, könnten sie in dem Hause bleiben, und Miss
Ives würde ihre Rechnungen bezahlen. Er hatte sie gebeten, Lillian, wenn sie zurückkäme, zu sagen, daß sie
nicht versuchen sollte, ihn zu sprechen. Sie hatten ihn erschrocken stumm angeblickt. Er hatte seinem Anwalt
einen unterschriebenen Blankoscheck übergeben und gesagt: »Sorgen Sie dafür, daß ich geschieden werde, ganz
gleich aus welchem Grunde und was es kostet. Es interessiert mich nicht, welche Mittel Sie dazu benutzen, wie
viele Richter Sie bestechen, ob Sie es für notwendig halten oder ob Sie ein Vergehen meiner Frau inszenieren.
Tun Sie, was Sie wollen. Aber ich werde weder für ihren Unterhalt aufkommen noch ihr eine Abfindung
zahlen.« Der Anwalt hatte ihn mit einem leisen, weis en, traurigen Lächeln angesehen, als ob dies etwas wäre,
das er schon längst erwartet hatte. Er hatte geantwortet: »Gut, Hank. Das läßt sich machen, aber es wird einige
Zeit dauern.«
»Machen Sie es, so schnell Sie können.«
Niemand hatte ihn seiner Unterschrift unter die Schenkungsurkunde wegen angesprochen, aber er hatte
bemerkt, daß die Männer im Werk ihn neugierig musterten, fast, als ob sie erwarteten, die Narben einer
Folterung an seinem Körper zu entdecken.
Er spürte nichts, nichts als die Stille der Dämmerung, die ihn an die Asche erinnerte, die sich über
geschmolzenes Metall legt, wenn es verkrustet und die letzten leuchtenden Funken der weißen Glut darunter
verschluckt. Er fühlte nichts bei dem Gedanken an die Räuber, die jetzt Rearden Metal herstellten. Sein Wunsch,
sein Recht darauf zu behalten und stolz der einzige zu sein, der es verkaufte, war seine Art der Achtung vor
seinen Mitmenschen gewesen, sein Glaube, daß es eine Ehre war, in geschäftlicher Verbindung mit ihnen zu
stehen.
Der Glaube, die Achtung und der Wunsch waren dahin. Es interessierte ihn nicht mehr, was die Menschen
herstellten, was sie verkauften, wo sie sein Metall kauften oder ob einer von ihnen wußte, daß es ihm gehört
hatte. Die Menschen, die sich in den Straßen der Stadt an ihm vorbeibewegten, waren Schattenwesen ohne
Bedeutung. Real war die Natur mit der Dunkelheit, die alle Spuren menschlichen Tuns auslöschte und nur eine
unberührte Erde zurückließ, mit der er einst hatte umgehen können.
Er trug eine Pistole in der Tasche, wie es ihm die Polizisten des Funkstreifenwagens geraten hatten, der in den
Straßen patrouillierte. Sie hatten ihm gesagt, daß in diesen Tagen nach Anbruch der Dunkelheit keine Straße
sicher war. Mit einer leicht bitteren Heiterkeit sagte er sich, daß er die Pistole im Werk gebraucht hätte, nicht in
der friedvollen Einsamkeit und Geborgenheit der Nacht; was konnte ein hungernder Vagabund ihm nehmen im
Vergleich zu dem, was ihm Männer genommen hatten, die behaupteten, seine Gönner zu sein? Er ging schnell,
ohne sich dabei anzustrengen, fühlte sich erleichtert durch diese Art der Bewegung, die ihm gemäß war. Dies
war die Zeit, da er für die Einsamkeit trainieren mußte, dachte er. Er mußte zu leben lernen, ohne einen
Menschen zu sehen, weil es ihn jetzt ekelte, je mand zu sehen. Mit leeren Händen hatte er einst begonnen, sein
Vermögen zu erwerben. Jetzt mußte er mit leerem Kopf sein Leben neu zu errichten beginnen.
Er würde sich eine kurze Zeit gewähren, um sich in dem Neuen zu üben, dachte er, und dann würde er den
einzigen unvergleichlichen Wert, der ihm noch geblieben war, beanspruchen, das einzige Verlangen, das rein
und unversehrt geblieben war: Er würde zu Dagny gehen. Zwei Gebote waren in seinem Inneren immer stärker
geworden. Das eine war eine Pflicht, das andere ein leidenschaftlicher Wunsch. Das erste war, sie nie den Grund
seiner Kapitulation vor den Räubern erfahren zu lassen; das zweite war, ihr die Worte zu sagen, die er schon bei
ihrer ersten Begegnung hätte wissen und die er auf der Galerie von Ellis Wyatts Haus hätte sagen müssen.
Nichts als der starke sommerliche Glanz der Sterne führte ihn, als er dort ging, aber er konnte den Highway
und die Reste einer Steinmauer erkennen. Die Steinmauer hatte nichts mehr zu schützen, nur Unkraut, eine
Weide, die sich über den Weg beugte, und ein Stück weiter die Ruine eines Bauernhauses, durch dessen Dach
man die Sterne schimmern sah.
Er ging in dem Gedanken, daß sogar von diesem Anblick immer noch eine Kraft ausging; er verhieß ihm die
Weite eines Raumes, in den die Menschen noch nicht störend eingedrungen waren.
Der Mann, der sich ihm plötzlich auf dem Weg entgegenstellte, mußte hinter der Weide hervorgekommen
sein, aber so schnell, daß es schien, als wäre er direkt vom Highway gesprungen. Rearden griff nach der Pistole
in seiner Tasche, zog sie dann aber doch nicht. Denn er erkannte an der stolzen Haltung des Mannes, dessen
straffe Gestalt sich von dem mit Sternen übersäten Himmel abhob, daß es kein Bandit war. Als er die Stimme
hörte, wußte er, der Mann war auch kein Bettler.
»Ich möchte gern mit Ihnen sprechen. Mr. Rearden.«
Die Stimme hatte die Festigkeit, die Klarheit und die besondere Höflichkeit, wie sie Menschen haben, die
daran gewöhnt sind, Befehle zu geben.
»Legen Sie los«, sagte Rearden, »vorausgesetzt, daß Sie mich nicht um Hilfe oder Geld bitten wollen.«
Die Kleidung des Mannes war einfach, aber blitzsauber. Er trug eine dunkle Hose und eine dicht am Hals
geschlossene dunkelblaue Windjacke, durch die er noch größer und schlanker wirkte. Er hatte eine dunkelblaue
Mütze auf, und alles, was man von ihm im Dunkeln sehen konnte, waren seine Hände, sein Gesicht und
goldblondes Haar an seinen Schläfen. Er hielt keine Waffe in der Hand, sondern ein in Leinwand gewickeltes
Paket, etwa so groß wie eine Stange Zigaretten.
»Nein, Mr. Rearden«, sagte er, »ich will Sie nicht um Geld bitten, sondern es Ihnen wiedergeben.«
»Geld wiedergeben?«
»Ja.«
»Was für Geld?«
»Eine kleine Abschlagszahlung auf eine sehr große Summe.«
»Die Sie mir schulden?«
»Nein, nicht ich. Es ist nur gleichsam eine Anzahlung, die Ihnen beweisen soll, daß, wenn wir, Sie und ich,
lange genug leben, jeder Dollar dieser Schuld Ihnen zurückerstattet wird.«
»Welcher Schuld?«
»Das Geld, das man Ihnen gewaltsam weggenommen hat.«
Er riß die Leinwand auf und hielt Rearden das Paket hin. Rearden sah das Sternenlicht sich wie Feuer in einer
glatten Fläche spiegeln. An dem Gewicht und der Art des Materials erkannte er, daß es ein Goldbarren war.
Er blickte von dem Barren in das Gesicht des Mannes, aber das Gesicht wirkte härter und verriet weniger als
das spiegelglatte Metall.
»Wer sind Sie?« fragte Rearden.
»Der Freund der Freundlosen.«
»Sind Sie hergekommen, um mir das zu geben?«
»Ja.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie mir in der Nacht auf einer einsamen Straße auflauern mußten, nicht um
mich auszurauben, sondern um mir einen Goldbarren zu übergeben?«
»Ja«
»Warum?«
»Wenn man am hellen Tag mit Zustimmung des Gesetzes rauben kann, wie es heute geschieht, dann muß jede
anständige Tat oder jede Rückerstattung heimlich im Dunkeln geschehen.«
»Wie kommen Sie dazu zu denken, daß ich so ein Geschenk annehmen würde?«
»Es ist kein Geschenk, Mr. Rearden. Es ist Ihr eigenes Geld. Aber ich muß Sie um etwas bitten. Es ist eine
Bitte, keine Bedingung, denn so etwas wie ein bedingtes Eigentum gibt es nicht. Das Gold gehört Ihnen, und Sie
können es darum nach Belieben verwenden, aber da ich mein Leben aufs Spiel gesetzt habe, um es Ihnen heute
abend zu bringen, bitte ich Sie, mir den Gefallen zu tun, es für die Zukunft aufzuheben oder für sich selbst
auszugeben, allein zu Ihrer eigenen Freude. Geben Sie es nicht weg, und vor allem stecken Sie es nicht in Ihr
Geschäft.«
»Warum?«
»Weil ich nicht will, daß jemand anders als Sie einen Nutzen davon hat. Ich würde sonst einen vor langer Zeit
geschworenen Eid brechen. So wie ich dadurch, daß ich mit Ihnen spreche, mich gegen alles vergehe, was ich
mir selber geschworen habe.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich habe dieses Geld für Sie seit Jahren gesammelt, aber ich wollte Sie eigentlich erst viel später sehen, mit
Ihnen sprechen oder es Ihnen geben.«
»Warum haben Sie es dann getan?«
»Weil ich es nicht länger aushalten konnte.«
»Was aushalten?«
»Ich glaubte, ich hätte alles gesehen, was man sehen kann, und daß es nichts gäbe, das zu sehen ich nicht
ertragen könnte. Aber als sie Ihnen Rearden Metal wegnahmen, war es selbst für mich zu viel. Ich weiß, daß Sie
im Augenblick dieses Gold nicht brauchen; was Sie brauchen, ist die Gerechtigkeit, die es darstellt, und das
Wissen, daß es Menschen gibt, denen noch etwas an Gerechtigkeit liegt.«
Gegen ein Gefühl ankämpfend, das er in seiner Verblüffung über alle Zweifel hinweg in sich aufsteigen
fühlte, versuchte Rearden, in dem Gesicht des Mannes einen Hinweis zu entdecken, der ihm half, das Ganze zu
verstehen. Aber das Gesicht war ausdruckslos. Es hatte sich, während der Mann sprach, nicht verändert. Es war,
als ob der Mann längst jede Fähigkeit zu fühlen verloren hätte und in seinem Gesicht nur etwas Unerbittliches
und Totes geblieben wäre. Mit einem Erschauern der Verwunderung dachte Rearden, daß es nicht das Gesicht
eines Menschen, sondern das eines rächenden Engels war.
»Warum machen Sie sich meinetwegen Gedanken«, fragte Rearden, »was bedeute ich für Sie?«
»Viel mehr, als zu vermu ten Sie Grund haben, und ich habe einen Freund, für den Sie viel mehr bedeuten, als
Sie je erfahren werden. Er hätte alles darum gegeben, Ihnen heute zur Seite stehen zu können. Aber er konnte
nicht zu Ihnen kommen, und so bin ich an seiner Stelle gekommen.«
»Was für ein Freund?«
»Ich möchte seinen Namen lieber nicht nennen.«
»Sagten Sie, Sie hätten eine lange Zeit damit verbracht, für mich dieses Geld zu sammeln?«
»Ich habe viel mehr als das gesammelt.« Er deutete auf das Gold. »Ich hebe es für Sie auf, und wenn die Zeit
kommt, werde ich es Ihnen übergeben. Dies ist nur eine Probe als Beweis dafür, daß es existiert. Und wenn der
Tag kommt, da man Ihnen auch den letzten Cent Ihres Vermögens geraubt hat, dann sollen Sie sich daran
erinnern, daß Sie ein auf Sie wartendes großes Bankkonto besitzen.«
»Was für ein Konto?«
»Wenn Sie daran denken, wieviel Geld man Ihnen gewaltsam weggenommen hat, dann werden Sie wissen,
wie hoch Ihr Konto ist.«
»Wie haben Sie das Geld gesammelt? Woher kommt dieses Gold?«
»Es ist denen weggenommen worden, die Sie beraubt haben.«
»Von wem?«
»Von mir.«
»Wer sind Sie?«
»Ragnar Danneskjöld.«
Rearden sah ihn einen langen Augenblick stumm an, dann ließ er das Gold aus seinen Händen fallen.
Danneskjölds Augen blickten dem Barren nicht nach, als er auf den Boden fiel, sondern blieben an Rearden
haften, ohne daß sich sein Ausdruck veränderte. »Wäre es Ihnen lieber, ich wäre ein gesetzestreuer Bürger, Mr.
Rearden? Aber wenn, welchem Gesetz sollte ich dann treu sein? Der Verordnung 10-289?«
»Ragnar Danneskjöld…«, sagte Rearden, als sähe er das ganze letzte Jahrzehnt vor sich, als blickte er auf ein
sich über zehn Jahre erstreckendes Verbrechen, das diese beiden Worte umschlossen.
»Denken Sie einmal nach, Mr. Rearden. Es gibt nur zwei Arten von Leben, die uns heute noch geblieben sind:
ein Räuber zu sein, der wehrlose Opfer ausplündert, oder ein Opfer zu sein, das zum Nutzen seiner eigenen
Vernichter arbeitet. Ich wollte weder das eine noch das andere sein.«
»Sie haben sich dazu entschlossen, von der Gewalt zu leben wie alle anderen.«
»Ja, aber ehrlich und anständig, wenn Sie es schon so nennen wollen. Ich habe nicht Menschen beraubt, die
gefesselt und geknebelt sind, ich habe nicht verlangt, daß meine Opfer mir helfen. Ich sage ihnen nicht, daß ich
es zu ihrem eigenen Besten tue. Ich setze bei jedem Kampf mit Menschen mein Leben aufs Spiel, und sie haben
die Chance, sich mit ihren Gewehren und ihrem Verstand in einem gerechten Kampf zu messen. Gerecht? Ich
stehe allein gegen die organisierte Macht, die Gewehre, die Flugzeuge, die Kriegsschiffe von fünf Kontinenten.
Wenn Sie es moralisch beurteilen wollen, Mr. Rearden, wer hat dann die höhere Moral: ich oder Wesley
Mouch?«
»Ich habe darauf keine Antwort zu geben«, sagte Rearden leise.
»Warum sollte Sie das erschrecken, Mr. Rearden? Ich passe mich nur dem System an, das meine
Mitmenschen errichtet haben. Wenn sie glauben, Gewalt sei das geeignete Mittel, miteinander umzugehen, dann
gebe ich ihnen, was sie wollen. Wenn sie glauben, es sei das Ziel meines Lebens, ihnen zu dienen, dann sollen
sie versuchen, mir ihren Glauben aufzuzwingen. Wenn sie glauben, mein Verstand sei ihr Eigentum, dann sollen
sie kommen und ihn sich holen.«
»Aber was für ein Leben haben Sie gewählt? Wem dienen Sie?«
»Der Sache meiner Liebe.«
»Und das wäre?«
»Gerechtigkeit.«
»Der Sie dienen, indem Sie ein Pirat sind?«
»Indem ich für den Tag arbeite, da ich nicht mehr ein Pirat werde sein müssen.«
»Welcher Tag ist das?«
»Der Tag, da Sie wieder an Rearden Metal werden verdienen können.«
»Ach Gott«, sagte Rearden mit verzweifeltem Lachen, »ist das Ihr Ziel?«
Danneskjölds Gesicht veränderte sich nicht. »Ja, das ist es.«
»Glauben Sie, daß Sie den Tag erleben werden?«
»Ja, Sie nicht?«
»Nein.«
»Was erwarten Sie dann noch, Mr. Rearden?«
»Nichts.«
»Wofür arbeiten Sie?«
Rearden blickte ihn an. »Warum fragen Sie das?«
»Damit Sie verstehen, warum ich nicht arbeite.«
»Erwarten Sie nicht von mir, daß ich je einen Verbrecher anerkenne!«
»Das erwarte ich nicht. Aber es ist da einiges, das zu erkennen ich Ihnen helfen möchte.«
»Selbst wenn das wahr wäre, was Sie gesagt haben, warum haben Sie sich dann entschlossen, ein Bandit zu
sein? Warum sind Sie nicht einfach fortgegangen wie…« Er hielt inne.
»Wie Ellis Wyatt, Mr. Rearden? Wie Andrew Stockton? Wie Ihr Freund Ken Danagger?«
»Ja!«
»Würden Sie das billigen?«
»Ich…« Er hielt von neuem inne, erschrocken über seine eigenen Worte. Das nächste, was ihn erschreckte,
war Danneskjölds Lächeln: Es war, als sähe man auf den glatten Flächen eines Eisberges das erste
Frühlingsgrün. Rearden bemerkte plötzlich, daß Danneskjölds Gesicht mehr als hübsch war, daß es die
auffallende Schönheit physischer Vollkommenheit hatte – die harten, stolzen Züge, den spöttischen Mund eines
Wikingerstandbildes. Dennoch war es ihm bis jetzt nicht bewußt geworden, als ob die tote Strenge des Gesichts
ein Lob als ungehörig untersagte. Aber das Lächeln sprühte von Leben.
»Ich billige es, Mr. Rearden. Aber ich habe eine besondere Aufgabe gewählt, ich bin hinter einem Mann her,
den ich vernichten will. Er ist schon seit Jahrhunderten tot, aber ehe nicht die letzte Spur von ihm im Innern der
Menschen ausgelöscht ist, werden wir nicht in einer anständigen Welt leben können.«
»Wer ist der Mann?«
»Robin Hood.«
Rearden blickte ihn verständnislos an.
»Er war der Mann, der das, was er den Reichen raubte, den Armen gab. Ich dagegen bin der Mann, der das,
was er den Armen raubt, den Reichen gibt – oder, um genau zu sein, der Mann, der das, was er den diebischen
Armen raubt, den produktiven Reichen zurückgibt.«
»Was soll das heißen?«
»Wenn Sie sich an die Geschichten erinnern, die Sie in den Zeitungen über mich gelesen haben, als man noch
über mich schrieb, dann wissen Sie, daß ich nie ein privates Schiff gekapert und mich nie an Privateigentum
vergriffen habe. Ich habe auch nie ein Kriegsschiff gekapert – weil eine Kriegsflotte die Bürger, die sie bezahlt
haben, vor Gewalt schützen soll, was die eigentliche Funktion einer Regierung ist. Aber ich habe jedes Schiff
gekapert, das Plündererbeute geladen hatte und vor die Mündung meiner Kanonen kam. Jedes Hilfsschiff der
Regierung, jedes Unterstützungsschiff, jedes Anleiheschiff, jedes Spendenschiff, jedes Schiff mit einer Ladung
von Gütern, die einigen Menschen ohne Bezahlung und zum unverdienten Nutzen anderer gewaltsam
weggenommen worden waren. Ich habe die Schiffe gekapert, die unter der Flagge der Idee segelten, die ich
bekämpfte, der Idee, daß Bedürftigkeit ein heiliges Idol ist, das menschliche Opfer fordert; daß die Bedürftigkeit
einiger Menschen das Fallbeil einer Guillotine ist, das über anderen hängt; daß wir alle mit unserer Arbeit,
unseren Hoffnungen, unseren Plänen, unseren Anstrengungen dem Augenblick wehrlos ausgeliefert sind, in dem
dieses Beil auf uns herabfällt; und daß das Ausmaß unseres Könnens das Ausmaß unserer Gefahr ist, so daß uns
der Erfolg den Kopf kostet, während uns das Scheitern das Recht gibt, das Beil herabsausen zu lassen. Das ist
das Ungeheuerliche, das Robin Hood als ein Ideal der Redlichkeit unsterblich gemacht hat. Es heißt, er habe
gegen die räuberischen Herren gekämpft und die Beute denen wiedergegeben, denen man sie geraubt hatte, aber
das ist nicht der Sinn der Legende, die lebendig geblieben ist. Man gedenkt seiner nicht als eines Kämpfers für
das Eigentum, sondern als eines Kämpfers für die Bedürftigkeit, nicht als eines Verteidigers der Beraubten,
sondern als eines Versorgers der Armen. Er gilt als der erste Mensch, der sich damit einen Heiligenschein der
Tugend erwarb, daß er mit einem Reichtum, der ihm nicht gehörte, gute Werke tat; daß er Güter verschenkte, die
er nicht geschaffen hatte; daß er andere für den Luxus seines Mitleids zahlen ließ. Er ist der Mensch, der zum
Symbol der Idee geworden ist, daß Bedürftigkeit, nicht Leistung, die Quelle aller Rechte ist; daß wir nicht
produzieren, sondern nur Bedürfnisse haben müssen; daß uns nicht das Verdiente, sondern das Unverdiente
gehört. Er ist zur Rechtfertigung aller Mittelmäßigen geworden, die, unfähig, ihren Lebensunterhalt selber zu
verdienen, die Macht fordern, über das Eigentum der Tüchtigen und Erfolgreichen zu verfügen, indem sie ihre
Bereitschaft erklären, ihr Leben den Untüchtigen und Erfolglosen zu widmen, wenn sie dafür die Tüchtigen und
Erfolgreichen ausplündern dürfen. Er ist diese schmutzigste aller Kreaturen – der doppelte Schmarotzer, der von
den Wunden der Armen und vom Blut der Reichen lebt –, in der die Menschen ein moralisches Ideal zu sehen
gelernt haben. Und dem verdanken wir eine Welt, in der ein Mensch, je mehr er produziert, desto mehr Rechte
verliert, bis er, wenn seine Fähigkeit groß genug ist, zu einem rechtlosen Geschöpf wird, das man jedem, der
Anspruch erhebt, zum Fraß hinwirft, während ein Mensch nur bedürftig zu sein braucht, um über Rechte,
Prinzipien, Moral erhaben zu sein, um dort zu stehen, wo ihm alles erlaubt ist, sogar Raub und Mord. Wundern
Sie sich, warum die Welt rings um uns zusammenbricht? Dagegen kämpfe ich, Mr. Rearden. Bis die Menschen
lernen, daß von allen menschlichen Symbolen Robin Hood das unmoralischste und das hassenswerteste ist, wird
es keine Gerechtigkeit auf der Erde geben und keine Möglichkeit des Überlebens für die Menschheit.«
Wie betäubt hörte Rearden zu. Aber in der Betäubung spürte er – so wie der erste Keim eines Samens die
Erde durchbricht – ein Gefühl, das er sich nicht erklären konnte, das ihm vertraut und zugleich sehr fern
erschien, wie etwas, das er vor langer Zeit erlebt und von sich abgetan hatte.
»In Wirklichkeit, Mr. Rearden, bin ich ein Polizist. Ein Polizist hat die Pflicht, die Menschen vor Verbrechern
zu schützen – Verbrecher sind jene, die sich gewaltsam des Reichtums bemächtigen. Es ist die Pflicht eines
Polizisten, gestohlenes Eigentum aufzuspüren und es seinem Eigentümer zurückzugeben. Aber wenn Raub der
Zweck des Gesetzes wird und die Aufgabe des Polizisten nicht mehr darin besteht, das Eigentum zu schützen,
sondern den Raub des Eigentums – dann muß ein Außenseiter Polizist werden. Ich habe die Frachten, die ich
zurückgeholt habe, an einige meiner besonderen Kunden in diesem Lande verkauft, die mich dafür in Gold
bezahlt haben. Ebenso habe ich sie an die Schmuggler und Schwarzmarkthändler der Volksstaaten Europas
verkauft. Kennen Sie die Lebensverhältnisse in diesen Volksstaaten? Da Produktion und Handel – nicht Gewalt
– zu Verbrechen erklärt wurden, blieb den besten Männern Europas keine andere Wahl, als Verbrecher zu
werden. Die Sklaventreiber dieser Staaten werden durch die Almosen ihrer Plündererkollegen in noch nicht
völlig darniederliegenden Ländern wie diesem an der Macht gehalten. Ich verhindere, daß die Almosen sie
erreichen. Ich verkaufe die Ware an die europäischen Gesetzesbrecher zu den höchsten Preisen, die ich dafür
erzielen kann, und lasse mich in Gold bezahlen. Gold ist der objektive Wert, das Mittel, seinen Wohlstand und
seine Zukunft zu sichern. In Europa darf niemand Gold besitzen außer den peitschenschwingenden
Menschheitsfreunden, die behaupten, daß sie es für das Wohl ihrer Opfer ausgeben, und das ist das Gold, das
meine Schmugglerkunden erhalten, um mich zu bezahlen. Wie? Mit der gleichen Methode, mit der ich mich in
den Besitz der Waren bringe, und dann gebe ich das Gold denen zurück, denen die Güter gestohlen worden sind
– Ihnen, Mr. Rearden, und anderen Männern Ihrer Art.«
Rearden wurde sich über das Gefühl klar, das er vergessen hatte. Es war das Gefühl, das er empfunden hatte,
als er mit vierzehn Jahren seine erste Lohntüte betrachtete, als er mit vierundzwanzig Leiter der Eisenerzminen
geworden war, als er als Eigentümer der Minen von sich aus den ersten Auftrag für neues Gerät an den besten
Konzern jener Zeit, die Twentieth Century Motor Company, gegeben hatte – ein Gefühl feierlicher, freudiger
Erregung, das Gefühl, sich seinen Platz in einer Welt zu erobern, die er achtete, und die Anerkennung von
Menschen zu erringen, die er bewunderte. Fast zwei Jahrzehnte lang war dieses Gefühl unter einem Berg von
Trümmern begraben gewesen, als die Jahre eine graue Schicht auf die andere gelegt hatten, die grauen Schichten
der Verachtung, der Empörung, seines Bemühens, nicht um sich zu blicken, nicht jene zu sehen, mit denen er
umging, nichts von Menschen zu erwarten und zu erhalten, und er in den vier Wänden seines Büros die Welt vor
sich sah, in die er aufzusteigen gehofft hatte. Doch da war es wieder, es brach unter den Trümmern hervor, das
Gefühl gesteigerter Aufmerksamkeit, das Gefühl, die leuchtende Stimme der Vernunft zu hören, mit der man
kommunizieren, mit der man Geschäfte machen, mit der man leben konnte. Aber es war die Stimme eines
Piraten, die von Gewaltakten sprach und ihm das als Ersatz für seine Welt der Vernunft und Gerechtigkeit anbot.
Er durfte nicht darauf eingehen. Er durfte nicht verlieren, was von seiner Vision noch in ihm war. Er wehrte sich
dagegen zuzuhören. Aber er wußte, daß er sich kein Wort entgehen lassen würde.
»Ich deponiere das Gold in einer Bank – in einer Goldwährungsbank, Mr. Rearden – auf den Konten
derjenigen, die seine rechtmäßigen Eigentümer sind. Es sind die außerordentlich Befähigten. Menschen, die ihr
Vermögen in freiem Handel durch eigene Anstrengung erworben haben, ohne Zwang anzuwenden und ohne
Hilfe von der Regierung anzunehmen. Sie sind die großen Opfer, die den größten Beitrag geleistet und, zum
Lohn dafür, die schlimmste Ungerechtigkeit erlitten haben. Ihre Namen stehen in meinem Rückgabebuch
verzeichnet. Jede Ladung, mit der ich zurückkomme, wird unter sie aufgeteilt und auf ihre Konten eingezahlt.«
»Wer sind sie?«
»Sie sind einer von ihnen, Mr. Rearden. Ich kann nicht die ganze Summe abschätzen, die in versteckten
Steuern, Vorschriften, vergeudeter Zeit, verlorener Mühe, in der für die Überwindung künstlicher Hindernisse
eingesetzten Kraft aus Ihnen herausgepreßt worden ist. Das Ausmaß des Elends in diesem einst blühenden Land
ist das Ausmaß der Ungerechtigkeit, die Sie erlitten haben.

Wenn sich die Menschen weigern, Ihnen zu zahlen, was sie Ihnen schulden, dann werden sie in dieser Form
dafür zahlen müssen. Aber es ist da ein Teil der Schuld, der genau festgestellt und belegt ist. Das ist der Teil, den
einzusammeln und Ihnen wiederzugeben ich mir zur Aufgabe gemacht habe.«
»Was ist dieser Teil?«
»Ihre Einkommensteuer, Mr. Rearden.«
»Was?«
»Ihre Einkommensteuer der letzten zwölf Jahre.«
»Die wollen Sie zurückerstatten?«
»Voll und ganz und in Gold, Mr. Rearden.«
Rearden brach in Gelächter aus. Er lachte wie ein Junge in purem Vergnügen, in Freude über das
Unglaubliche. »Großer Gott! Sie sind nicht nur Polizist, sondern treiben auch Steuern ein?«
»Ja«, sagte Danneskjöld ernst.
»Das ist doch wohl nur ein Scherz.«
»Sehe ich aus, als ob ich scherzen würde?«
»Aber das ist doch absurd.«
»Absurder als die Verordnung 10-289?«
»Das kann doch einfach nicht sein.«
»Kann nur das Böse sein?«
»Aber…«
»Glauben Sie, daß Tod und Steuern das einzige sind, was sicher ist? Gegen den Tod kann ich nichts tun. Aber
wenn ich die Steuerlast erleichtere, lernen die Menschen vielleicht den Zusammenhang zwischen beidem
erkennen und daß sie ein längeres, glücklicheres Leben erreichen können. Sie lernen vielleicht, nicht Tod und
Steuern, sondern Leben und Produktion als das Absolute und die Grundlage ihres moralischen Kodex zu
betrachten.«
Rearden blickte ihn an, ohne zu lächeln. Die hochgewachsene, schlanke Gestalt in der Windjacke, die ein
körperliches Training erkennen ließ, war die eines Straßenräubers. Das strenge marmorne Gesicht war das eines
Richters. Die nüchterne klare Stimme war die eines tüchtigen Buchhalters.
»Die Plünderer sind nicht die einzigen, die Belege über Sie haben, Mr. Rearden. Ich habe sie ebenfalls. Ich
habe in meinen Akten Kopien all Ihrer Einkommensteuerbescheide aus den letzten zwölf Jahren ebenso wie der
all meiner anderen Klienten. Ich habe Freunde in hohen Stellungen, die die von mir benötigten Kopien besorgen.
Ich teile das Ge ld unter meine Klienten im Verhältnis zu den aus ihnen herausgepreßten Summen auf. Die
meisten Konten sind jetzt an ihre Besitzer ausgezahlt worden. Ihres ist das größte, bei dem das noch nicht
geschehen ist. An dem Tag, an dem Sie bereit sind, es zu beanspruchen, ein Tag, an dem ich wissen werde, daß
kein Cent davon für die Unterstützung der Plünderer verwendet wird, werde ich Ihnen Ihr Konto übereignen. Bis
dahin…« Er blickte auf das Gold auf dem Boden. »Nehmen Sie es, Mr. Rearden. Es ist nicht gestohlen. Es
gehört Ihnen.«
Rearden rührte sich nicht, antwortete nicht und blickte nicht hinunter.
»Es liegt noch viel mehr als das auf Ihren Namen auf der Bank.«
»Welcher Bank?«
»Erinnern Sie sich an Midas Mulligan in Chicago?«
»Ja, natürlich.«
»Alle meine Konten sind bei der Mulligan-Bank deponiert.«
»In Chicago gibt es keine Mulligan-Bank mehr.«
»Nein, sie ist nicht mehr in Chicago.«
Rearden ließ einen Augenblick verstreichen, dann fragte er: »Wo ist sie?«
»Ich glaube, Sie werden das bald erfahren, Mr. Rearden, aber ich kann es Ihnen jetzt noch nicht sagen.
Dennoch kann ich Ihnen verraten, daß ich der einzige für dieses Unternehmen Verantwortliche bin. Es ist meine
eigene persönliche Mission. Niemand hat etwas damit zu tun außer mir und den Männern meiner
Schiffsbesatzung. Sogar mein Bankier ist nicht daran beteiligt. Er bewahrt nur das Geld auf, das ich deponiere.
Viele meiner Freunde billigen den Weg nicht, den ich eingeschlagen habe. Aber wir führen den gleichen Kampf,
nur auf verschiedene Art – und dies ist meine.«
Rearden lächelte verächtlich. »Sind Sie einer dieser verdammten Altruisten, die sich mit einem keinen
Gewinn einbringenden Unternehmen befassen und ihr Leben nur im Dienst anderer aufs Spiel setzen?«
»Nein, Mr. Rearden. Ich investiere meine Zeit in meine eigene Zukunft. Wenn wir frei sind und beginnen
müssen, aus den Ruinen eine neue Welt aufzubauen, soll das so schnell wie möglich geschehen. Wenn dann
arbeitendes Kapital in den richtigen Händen ist – in den Händen unserer besten, unserer produktivsten Männer –,
erspart es uns anderen Jahre und der Geschichte des Landes Jahrhunderte. Fragten Sie, was Sie nur bedeuten?
Alles, was ich bewundere, alles, was ich sein möchte, wenn die Erde für ein solches Leben wieder Platz hat,
alles, mit dem ich zu tun haben möchte – selbst wenn dies die einzige Art ist, auf die ich im Augenblick mit
Ihnen umgehen und Ihnen von Nutzen sein kann.«
»Warum?« flüsterte Rearden.
»Weil das einzige, was ich liebe, das einzige, was in meinen Augen das Leben wertvoll macht, das ist, was
von der Welt nie geliebt worden ist, was nie Anerkennung oder Freunde oder Verteidiger gefunden hat: das
menschliche Können. Das ist die Liebe, der ich diene – und wenn ich mein Leben verlieren müßte, für welches
bessere Ziel könnte ich es hingeben?«
Der Mann, der die Fähigkeit zu fühlen verloren hat? dachte Rearden, und er wußte, daß sich hinter der
marmornen Strenge des Gesichts eine nur allzu große Sensibilität verbarg. Leidenschaftslos fuhr die ruhige
Stimme fort:
»Ich wollte, daß Sie das wissen. Ich wollte, daß Sie es jetzt wissen, weil es Ihnen so vorkommen muß, als
säßen Sie allein in einer dunklen Schlucht unter entmenschten Kreaturen, die das einzige sind, was von der
Menschheit noch Übrig ist. Ich wollte, daß Sie in ihrer verzweifeltsten Stunde wissen, daß der Tag der Befreiung
viel näher ist, als Sie denken. Und dann war da noch ein besonderer Grund, warum ich mit Ihnen sprechen und
Ihnen mein Geheimnis vor der Zeit anvertrauen mußte. Haben Sie gehört, was mit Orren Boyles Stahlwerk an
der Küste von Maine geschehen ist?«
»Ja«, sagte Rearden – und erschrak selber darüber, daß das Wort wie ein freudiges Stöhnen aus seinem Mund
kam. »Ich wußte nicht, ob es wahr ist.«
»Es ist wahr. Ich habe es getan. Mr. Boyle wird kein Rearden Metal an der Küste von Maine herstellen. Er
wird es auch nirgendwo anders herstellen. Und ebensowenig jeder andere schmutzige Plünderer, der glaubt, eine
Verordnung könne ihm ein Recht auf Ihren Verstand geben. Wer immer versucht, das Metall zu erzeugen,
dessen Hochöfen und Maschinen werden in die Luft gesprengt, seine Erzeugnisse werden vernichtet, seine
Fabrik wird in Brand gesteckt. Es wird so furchtbar für jeden, der es versucht, daß die Leute sagen werden, es
liege ein Fluch darauf. Und es wird im Land bald keinen Arbeiter mehr geben, der bereit ist, in einer der
Fabriken der neuen Hersteller von Rearden Metal zu arbeiten. Wenn Männer wie Boyle glauben, daß sie nur
Gewalt anzuwenden brauchen, um die, die mehr können als sie, zu berauben – dann werden sie erleben, was
geschieht, wenn einer, der ihnen überlegen ist, zur Gewalt greift. Ich wollte, daß Sie wissen, Mr. Rearden, daß
keiner von denen Ihr Metall herstellen noch auch nur einen Cent daran verdienen wird.«
Weil er das überstarke Verlangen spürte zu lachen – wie er über die Nachricht von Wyatts Feuer und den
Zusammenbruch von d’Anconia Copper gelacht hatte – und wußte, daß, wenn er es tat, das, was er fürchtete, ihn
festhalten und ihn diesmal nicht wieder loslassen und er sein Werk nie wiedersehen würde – verwehrte er es sich
und preßte die Lippen einen Augenblick lang fest aufeinander, damit kein Laut aus seinem Munde kam. Als der
Augenblick vorüber war sagte er ruhig, mit fester, toter Stimme: »Behalten Sie Ihr Gold und verschwinden Sie.
Ich werde die Hilfe eines Verbrechers nicht annehmen.«
Danneskjölds Gesicht zeigte keine Reaktion. »Ich kann Sie nicht zwingen, das Gold anzunehmen, Mr.
Rearden. Aber ich werde es nicht zurücknehmen. Wenn Sie wollen, bleibt es dort liegen, wo es liegt.«
»Ich will Ihre Hilfe nicht, und ich denke nicht daran, Sie zu schützen. Wenn ein Telefon in der Nähe wäre,
würde ich die Polizei rufen. Ich würde es tun, und ich werde es tun, wenn Sie je versuchen sollten, sich mir
wieder zu nähern. Ich werde es zum Selbstschutz tun.«
»Ich verstehe genau, was Sie meinen.«
»Sie wissen – weil ich Sie angehört habe, weil Sie gesehen haben, wie begierig ich war, zu erfahren, was Sie
zu sagen hatten –, daß ich Sie nicht verurteile, wie ich es tun müßte. Ich kann weder Sie noch sonst jemand
verurteilen. Es gibt keine Maßstäbe mehr, nach denen die Menschen leben können, und darum liegt mir nichts
daran, das zu verurteilen, was sie heute tun oder in welcher Art sie versuchen, das Unerträgliche zu ertragen.
Wenn das Ihre Arbeit ist, dann mögen Sie zur Hölle fahren, aber ich will nichts damit zu tun haben, weder als
Anstifter noch als Mitschuldiger. Erwarten Sie nicht von mir, daß ich je Ihr Bankkonto annehme, wenn es
überhaupt existiert. Verwenden Sie es für einen kugelsicheren Panzer für Sie selbst – denn ich werde der Polizei
von der Begegnung mit Ihnen berichten und sie auf Ihre Spur hetzen.«
Danneskjöld rührte sich nicht und blieb stumm. Irgendwo in der Ferne fuhr im Dunkeln ein Güterzug vorüber;
sie konnten ihn nicht sehen, hörten aber das in die Stille hallende dumpfe Rattern der Räder.
»Sie wollten mir in meiner verzweifeltsten Stunde helfen«, sagte Rearden. »Wenn es soweit mit mir
gekommen ist, daß mich als einziger ein Pirat verteidigt, dann liegt mir an keiner Verteidigung mehr. Im Namen
der Menschlichkeit, von der Sie noch einen Rest in sich haben, will ich Ihnen sagen, daß mir keine Hoffnung
geblieben ist, daß ich aber weiß, wenn das Ende kommt, habe ich nach meinen eigenen Maßstäben gelebt, selbst
wenn ich der einzige war, für den sie noch Gültigkeit hatten. Ich werde in der Welt gelebt haben, in der ich
begonnen habe, und ich werde mit ihr untergehen. Ich glaube nicht, daß Sie mich verstehen werden, aber…«
Das Licht eines Scheinwerfers traf sie mit der Gewalt eines körperlichen Schlages. Das Rattern des Zuges
hatte den Lärm des Motors übertönt, und sie hatten das Nahen des Autos nicht gehört, das aus der Nebenstraße
hinter dem Bauernhaus herausgefahren kam. Sie hörten hinter den beiden Scheinwerfern das Kreischen der
Bremsen, die das unsichtbare Gefährt zum Halten brachten. Rearden sprang unwillkürlich zurück und hatte noch
die Zeit, sich über seinen Gefährten zu wundern: Danneskjöld hatte sich so sehr in der Gewalt, daß er sich nicht
vom Fleck rührte.
Es war ein Polizeiwagen, und er hielt neben ihnen.
Der Fahrer lehnte sich heraus. »Ach, Sie sind’s, Mr. Rearden«, sagte er, an seine Mütze tippend. »Guten
Abend, Sir.«
»Hallo«, sagte Rearden, krampfhaft bemüht, den unnatürlichen Klang seiner Stimme zu unterdrücken.
Auf den Vordersitzen des Wagens saßen zwei Polizisten. Ihre Gesichter hatten einen entschlossenen
Ausdruck, sie zeigten nicht die freundliche Miene, mit der sie sonst anhielten, um eine Katze nicht zu
überfahren.
»Mr. Rearden, sind Sie vom Werk über die Edgewoodstraße an der Blacksmith-Bucht vorbeigekommen?«
»Ja, warum?«
»Sind Sie zufällig einem Mann begegnet, einem Fremden, der es sehr eilig hatte?«
»Wo?«
»Er ist entweder zu Fuß unterwegs oder in einem Schrottwagen mit einem Millionen-Dollar-Motor.«
»Was für ein Mann?«
»Ein hochgewachsener Mann mit blondem Haar.«
»Wer ist er?«
»Sie würden es nicht glauben, wenn ich es Ihnen sagte, Mr. Rearden. Haben Sie ihn gesehen?«
Rearden war sich seiner Fragen gar nicht bewußt, nur der erstaunlichen Tatsache, daß er trotz seines wild
schlagenden Herzens überhaupt einen Laut herausbrachte. Er blickte den Polizisten fest an, aber es war ihm, als
ob er zur Seite blickte, und er sah dabei ganz deutlich, daß Danneskjöld ihn mit ausdruckslosem Gesicht
beobachtete, ohne daß sich auch nur ein Muskel darin bewegte. Er sah, daß Danneskjölds Arme schlaff
herunterhingen und er gar nicht daran zu denken schien, nach einer Waffe zu greifen. Wehrlos stand er dort wie
ein Verurteilter, der den tödlichen Schuß erwartet. Im Licht der Scheinwerfer sah Rearden, daß das Gesicht
jünger wirkte, als er geglaubt hatte, und daß die Augen hellblau waren. Er spürte, daß es für ihn gefährlich sein
würde, Danneskjöld ins Gesicht zu blicken, und so starrte er unverwandt auf den Polizisten, auf die
Messingknöpfe an dessen blauer Uniform, aber in Wirklichkeit sah er nur Danneskjölds Körper, den nackten
Körper unter der Kleidung, den Körper, der ausgelöscht werden würde. Er hörte seine eigenen Worte nicht, weil
er unaufhörlich einen einzigen Satz in seinem Innern vernahm, einen Satz, der aus jedem Zusammenhang
herausgerissen war, aber das einzige enthielt, was für ihn in der Welt noch etwas bedeutete: Wenn ich mein
Leben verlieren sollte, für welches bessere Ziel könnte ich es hingeben?
»Haben Sie ihn gesehen, Mr. Rearden?«
»Nein«, sagte Rearden, »ich habe ihn nicht gesehen.«
Der Polizist zuckte bedauernd die Achseln und legte seine Hand auf das Lenkrad. »Haben Sie keinen
verdächtig wirkenden Mann gesehen?«
»Nein.«
»Ist auch nicht ein sonderbar aussehender Wagen an Ihnen vorübergefahren?«
»Nein.«
Der Polizist streckte die Hand zum Starter aus. »Man hat uns mitgeteilt, er sei in dieser Gegend heute abend
gesehen worden, und in fünf Kreisen wird auf ihn Jagd gemacht. Wir sollen seinen Namen nicht erwähnen, um
die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Aber es ist ein Mann, auf dessen Kopf weltweit eine Gesamtbelohnung
von drei Millionen Dollar ausgesetzt ist.«
Er hatte auf den Starter gedrückt, und der Motor begann laut zu brummen, als der zweite Polizist sich
vorbeugte. Er hatte unter Danneskjölds Mütze blondes Haar vorschimmern sehen. »Wer ist das, Mr. Rearden?«
fragte er.
»Mein neuer Leibwächter«, sagte Rearden.
»Ach…! Eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme, Mr. Rearden, in Zeiten wie diesen. Gute Nacht, Sir.«
Das Auto fuhr ab. Die roten Schlußlichter wurden immer kleiner. Danneskjöld blickte ihnen nach, dann starrte
er auf Reardens rechte Hand. Da erst wurde Rearden bewußt, daß seine Hand während des Gesprächs mit dem
Polizisten die Pistole in seiner Tasche umklammert hatte und er bereit gewesen war, von ihr Gebrauch zu
machen.
Hastig zog er die Hand heraus. Danneskjöld lächelte. Es war ein Lächeln strahlender Heiterkeit, das lautlose
Gelächter eines hellen jungen Verstandes, der sich freute, diesen Augenblick erlebt zu haben. Und obwohl die
beiden einander nicht glichen, mußte Rearden bei diesem Lächeln an Francisco d’Anconia denken.
»Sie haben nicht gelogen«, sagte Ragnar Danneskjöld. »Ich bin Ihr Leibwächter, und ich werde es noch viel
mehr sein, als Sie im Augenblick ahnen. Ich danke Ihnen, Mr. Rearden, und also bis zum nächsten Mal! Wir
werden uns viel früher wiedersehen, als ich gehofft hatte.«
Noch ehe Rearden etwas antworten konnte, war er gegangen. So jäh und lautlos, wie er gekommen war,
verschwand er hinter der Steinmauer. Als Rearden sich umdrehte und über das Feld spähte, war im Dunkel
nichts mehr von ihm zu sehen. Rearden stand am Rande einer leeren Straße und fühlte sich einsamer als je zuvor.
Dann sah er zu seinen Füßen einen in Leinwand eingewickelten Gegenstand liegen, dessen eine Ecke aus dem
Stoff herausragte und im Mondschein funkelte. Der Gegenstand hatte genau die Farbe der Haare des Piraten. Er
hob ihn auf und ging weiter.
Kip Chalmers fluchte, als der Zug schlingerte und sich sein Cocktail über die Tischplatte ergoß. Den Ellbogen
in der Pfütze, beugte er sich vor und sagte: »Diese verdammten Eisenbahnen. Was ist mit der Strecke los? Man
sollte doch meinen, von all dem Geld, das sie bekommen haben, könnten sie ein bißchen ausspucken, damit wir
nicht wie Bauern in einem Heuwagen hin und her gerüttelt werden.«
Seine drei Begleiter machten sich erst gar nicht die Mühe zu antworten. Es war schon spät, und sie saßen nur
deshalb noch in der Bar, weil es sie eine Anstrengung kostete, in ihre Abteile zurückzukehren. Die Lampen der
Bar wirkten im alkoholgetränkten Nebel des Zigarettenrauchs wie ferne Bullaugen. Es war ein Salonwagen, den
Chalmers für diese Reise angefordert und erhalten hatte; er war an den Comet angehängt und bewegte sich wie
der Schwanz eines nervösen Tiers, als sich der Zug durch das Gebirge wand.
»Ich werde mich für die Verstaatlichung der Eisenbahnen einsetzen«, sagte Kip Chalmers und blickte dabei
einen schlanken grauen Mann herausfordernd an, der ihn gelangweilt musterte. »Das wird das Hauptthema
meiner Reden sein. Ich brauche ein Hauptthema. Ich mag Jim Taggart nicht. Er sieht wie eine weichgekochte
Muschel aus. Zur Hölle mit den Eisenbahnen! Es ist Zeit, daß wir sie übernehmen.«
»Gehen Sie schlafen«, sagte der Mann, »wenn Sie bei der großen Versammlung morgen wie ein Mensch
aussehen wollen.«
»Glauben Sie, daß wir es schaffen werden?«
»Sie müssen es schaffen.«
»Ich weiß, ich muß es, aber ich glaube, wir werden nicht pünktlich da sein. Diese verdammte Schnecke von
einem Superexpreß hat schon ein paar Stunden Verspätung.«
»Sie müssen pünktlich da sein, Kip«, sagte der Mann drohend, mit der eigensinnigen Beharrlichkeit eines
Menschen, der nicht denkt und allein das Ziel im Auge hat, ohne sich darum zu kümmern, wie man es erreicht.
»Ve rdammt noch mal, denken Sie, ich wüßte das nicht?«
Kip Chalmers hatte lockiges blondes Haar und einen formlosen Mund. Er stammte aus einer weder besonders
reichen noch besonders vornehmen Familie, aber er höhnte über Reichtum und Vornehmheit in einer Art, in der
nur ein besonders vornehmer Aristokrat sich ein solches Maß von zynischer Gleichgültigkeit leisten konnte. Er
hatte auf einem College studiert, dessen Spezialität es war, diese Art von Aristokraten zu züchten. Auf dem
College hatte man ihn gelehrt, daß Ideen dazu dienten, die zu betrügen, die stupide genug waren zu denken. Er
hatte seine Karriere in Washington mit der Geschicklichkeit eines Fassadenkletterers gemacht, der von Büro zu
Büro wie von einem Mauervorsprung eines schon halb zerfallenen Hauses zum anderen hinaufklettert. Er galt als
nicht allzu mächtig, aber sein Verhalten verführte Laien zu dem Irrtum, er sei ebenso bedeutend wie Wesley
Mouch. Aus Gründen seiner eigenen besonderen Taktik hatte Kip Chalmers beschlossen, in die volkstümliche
Politik einzusteigen und sich von Kalifornien als Kandidat für die Wahl ins Parlament aufstellen zu lassen,
obwohl er von dem Staat nichts kannte als die Filmindustrie und die Strandklubs. Sein Wahlmanager hatte die
Vorarbeit geleistet, und Chalmers war jetzt auf dem Wege zu einer für morgen abend mit großem Tamtam
angekündigten Versammlung, in der er seinen künftigen Wählern zum ersten Mal gegenübertreten sollte. Der
Manager hatte gewollt, daß er schon einen Tag früher hinfuhr, aber Chalmers war in Washington geblieben, um
auf eine Cocktailparty zu gehen, und hatte den letztmöglichen Zug genommen. Bis zu diesem Abend, als er
merkte, daß der Comet sechs Stunden Verspätung hatte, hatte ihn die Versammlung wenig gekümmert.
Seine drei Begleiter verübelten ihm seine Stimmung nicht: Ihnen schmeckte sein Schnaps. Lester Tuck, sein
Wahlmanager, war ein kleiner, älterer Mann mit einem Gesicht, das aussah, als ob es einmal eine Delle
bekommen hätte, die sich nie wieder geglättet hatte. Er war ein Anwalt, der einige Generationen früher
Ladendiebe vertreten hätte und Leute, die Unfälle auf Kosten reicher Konzerne v ortäuschen. Jetzt fand er, daß er
sich besser stand, wenn er Männer wie Kip Chalmers vertrat. Laura Bradford war Chalmers Geliebte; er liebte
sie, weil sein Vorgänger bei ihr Wesley Mouch gewesen war. Sie war eine Filmschauspielerin, die aus einer
guten Darstellerin kleinerer Rollen zu einem schlechten Star geworden war, und zwar nicht dadurch, daß sie mit
Filmproduzenten schlief, sondern dadurch, daß sie mit Bürokraten schlief – was den langen Weg für sie
erheblich verkürzt hatte. Bei Presseinterviews sprach sie nicht vom Zauber des Films, sondern, im
kämpferischen Stil einer drittklassigen Zeitung, von Volkswirtschaft; was sie an volkswirtschaftlichen
Weisheiten vorzubringen hatte, beschränkte sich auf die Versicherung, man müsse den Armen helfen.
Gilbert Keith-Worthing war Chalmers Gast, ohne daß beide wußten, warum. Er war ein weltberühmter
englischer Romancier, der vor dreißig Jahren beliebt gewesen war; seitdem las kein Mensch mehr, was er
schrieb, aber jeder betrachtete ihn als einen wandelnden Klassiker. Er hatte als »tief« gegolten, weil er so etwas
äußerte wie »Freiheit? Reden wir nicht mehr von der Freiheit. Es gibt keine Freiheit. Man kann nicht frei sein
von Hunger, von Erkältung, von Krankheit, von Unfällen. Der Mensch kann nie frei von der Tyrannei der Natur
sein. Warum sollte er darum etwas gegen die Tyrannei einer politischen Diktatur einwenden?« Als ganz Europa
die von ihm gepredigten Ideen in die Praxis umgesetzt hatte, zog er nach Amerika. Im Laufe der Jahre waren
sein Stil und sein Körper immer wabbeliger geworden. Mit siebzig war er ein beleibter alter Mann mit gefärbtem
Haar und einem spöttischen Zynismus, der von Aussprüchen der Yogis über die Sinnlosigkeit allen
menschlichen Bemühens durchsetzt war. Kip Chalmers hatte ihn eingeladen, weil er glaubte, damit Eindruck
schinden zu können. Gilbert Keith-Worthing war mitgekommen, weil er nicht wußte, wohin er sonst sollte.
»Diese verdammten Eisenbahnleute«, sagte Kip Chalmers. »Sie tun es absichtlich. Sie wollen meinen
Wahlfeldzug ruinieren. Ich darf diese Versammlung nicht versäumen. Um Gottes willen, Lester, tun Sie etwas!«
»Ich habe es versucht«, sagte Lester Tuck. Beim letzten Aufenthalt des Zuges hatte er versucht, telefonisch
ein Flugzeug aufzutreiben, mit dem sie die Reise fortsetzen konnten; aber für die nächsten beiden Tage waren
keine Verkehrsflüge geplant.
»Wenn ich nicht pünktlich hinkomme, werde ich sie und ihre Eisenbahn skalpieren. Können wir nicht dem
verdammten Zugführer sagen, daß er sich beeilen soll?«
»Sie haben es ihm schon dreimal gesagt.«
»Ich werde dafür sorgen, daß er hinausgeworfen wird. Als einzige Entschuldigung hat er nur etwas von
technischen Schwierigkeiten gefaselt. Ich will aber keine Ausreden hören, ich will an mein Ziel kommen. Sie
können mich nicht wie einen ihrer kleinen Fahrgäste behandeln. Ich erwarte von denen, daß sie mich dorthin
bringen, wohin ich will. Wissen die nicht, daß ich in diesem Zug bin?«
»Allmählich wissen sie es«, sagte Laura Bradford. »Hör mit deinem Gerede auf, Kip, du ödest mich an.«
Chalmers füllte sein Glas wieder. Der Wagen schaukelte, und die Gläser und Flaschen auf den Regalen der
Bar klirrten leise. Der bestirnte Himmel hinter den Fenstern hüpfte auf und nieder, und es war, als ob die Sterne
klirrend aneinanderstießen. Sie konnten durch das Aussichtsfenster am Ende des Wagens nichts sehen als die
kleinen Lichtkreise roter und grüner Laternen, die das Ende des Zuges kennzeichneten, und ein kurzes Stück
Schienen, das von ihnen ins Dunkel zurückwich. Eine Felswand lief mit dem Zug um die Wette. Die Sterne
schienen hin und wieder zu ihnen herunterzukommen, wenn sich eine Lücke zwischen den hoch über ihnen
ragenden Gipfeln der Berge von Colorado auftat.
»Berge…«, sagte Gilbert Keith-Worthing befriedigt. »Bei einem solchen Anblick wird einem die ganze
Bedeutungslosigkeit des Menschen bewußt. Wie anmaßend ist doch dieses bißchen Eisenbahnstrecke, auf dessen
Bau grobe Materialisten so stolz sind, im Vergleich zu der ewigen Größe! Nicht mehr als eine Ziernaht am
Gewand der Natur. Wenn auch nur einer dieser Granitriesen sich entschlösse einzustürzen, würde er diesen Zug
vernichten.«
»Warum sollte er beschließen einzustürzen?« fragte Laura Bradford gleichgültig.
»Ich glaube, dieser verdammte Zug fährt jetzt noch langsamer«, sagte Kip Chalmers. »Trotz meiner
Vorhaltungen verlangsamen diese Lumpen das Tempo noch mehr.«
»Nun… das sind die Berge, wissen Sie…«, sagte Lester Tuck.
»Die Berge sollen verflucht sein! Lester, was für einen Tag haben wir heute? Bei all diesen dauernden
Zeitveränderungen weiß man gar nicht mehr…«
»Es ist der 27. Mai«, seufzte Lester Tuck.
»Der 28. Mai«, sagte Gilbert Keith-Worthing nach einem Blick auf seine Uhr. »Es ist jetzt zwölf Minuten
nach Mitternacht.«
»Dann ist ja die Versammlung heute«, schrie Chalmers.
»Ja«, sagte Lester Tuck.
»Wir werden es nicht schaffen! Wir…«
Der Zug schlingerte plötzlich heftig, und das Glas fiel ihm aus der Hand. Das leise Klirren der Scherben auf
dem Boden vermischte sich mit dem Kreischen der Räder in einer scharfen Kurve.
»Hören Sie«, fragte Gilbert Keith-Worthing nervös, »sind Ihre Eisenbahnen sicher?«
»Aber gewiß«, sagte Kip Chalmers. »Wir haben so viele Vorschriften, Ve rordnungen und Bestimmungen
herausgegeben, daß diese Lumpen sich wohlweislich hüten werden, die Sicherheit zu gefährden… Lester, wo
sind wir jetzt? Was ist die nächste Station?«
»Der Zug fährt bis Salt Lake durch.«
»Ich meine, was ist die nächste Station?«
Lester Tuck holte eine abgegriffene Karte heraus, die er, seit es dunkel geworden war, alle fünf Minuten
konsultierte. »Winston«, sagte er. »Winston in Colorado.«
Kip Chalmers nahm sich ein neues Glas.
»Tinky Holloway hat gesagt, Wesley habe gesagt, daß du, wenn du diese Wahl nicht gewinnst, unten durch
bist«, sagte Laura Bradford. Sie rekelte sich auf ihrem Stuhl, blickte an Chalmers vorüber und betrachtete sich in
einem Spiegel, der an der Wand der Bar hing; sie langweilte sich entsetzlich, und es machte ihr Spaß, seine
ohnmächtige Wut zu reizen.
»Ach, das hat er gesagt?«
»Ja, ja. Wesley will nicht, daß dein Gegenkandidat – wie heißt er doch? – die Wahl gewinnt. Wenn du
verlierst, wird Wesley fuchsteufelswild. Tinky hat gesagt…«
»Ach, der verfluchte Lump. Er soll sich lieber um seine Sachen kümmern.«
»Oh, ich weiß nicht. Wesley mag ihn sehr gern. Tinky Holloway würde es einem elenden Zug nicht erlauben,
ihn eine wichtige Versammlung versäumen zu lassen. Ihm einen solchen Streich zu spielen, würde niemand
wagen.«
Kip Chalmers starrte auf sein Glas. »Ich werde dafür sorgen, daß die Regierung alle Eisenbahnen
übernimmt«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich kann gar nicht verstehen«, sagte Gilbert Keith-Worthing, »warum
Sie es nicht längst getan haben. Dies ist das einzige Land auf der Welt, das noch so rückständig ist, private
Eisenbahnen zu dulden.«
»Nun, wir werden auch bald soweit sein«, sagte Kip Chalmers.
»Ihr Land ist so unglaublich naiv. Dieses anachronistische Gerede von Freiheit und Menschenrechten! Seit
den Tagen meines Urgroßvaters habe ich das nicht mehr gehört. Es ist nichts als ein Wortluxus der Reichen. Den
Armen macht es schließlich nichts aus, ob sie von der Gnade eines Industriellen oder eines Beamten abhängig
sind.«
»Die Zeit der Industriellen is t vorüber. Dies ist die Zeit der…«
Der plötzliche Ruck war so stark, als ob die Luft im Wagen sie hochschleuderte, während der Boden unter
ihren Füßen stillstand. Kip Chalmers flog auf den Teppich, Gilbert Keith-Worthing wurde über die Tischplatte
geworfen, und die Lampen erloschen. Gläser purzelten mit lautem Geklirr von den Regalen, die Stahlwände
kreischten, als ob sie jeden Augenblick aufreißen würden, während ein ferner langer Stoß die Räder des Zuges
erschütterte.
Als Chalmers den Kopf hob, sah er, daß der Wagen unversehrt stillstand. Er hörte das Stöhnen seiner
Begleiter und das hysterische Geschrei Laura Bradfords. Er kroch auf dem Boden zur Tür, öffnete sie mühsam
und taumelte die Stufen hinunter. Weit vorn an einer Kurve sah er sich bewegende Taschenlampen und an einer
Stelle, wo die Lokomotive nichts zu suchen hatte, ein rotes Glühen. Er stolperte durch die Finsternis, stieß gegen
halb bekleidete Gestalten, die nutzlose brennende Streichhölzer schwenkten. Irgendwo an der Strecke sah er
einen Mann mit einer Taschenlampe und packte ihn am Arm. Es war der Zugführer.
»Was ist passiert?« jammerte Chalmers.
»Gleisbruch«, antwortete der Zugführer gleichgültig. »Die Lokomotive ist aus den Schienen gesprungen.«
»Aus…?«
»Sie liegt auf der Seite.«
»Ist jemand…getötet worden?«
»Nein. Der Lokomotivführer ist heil davongekommen. Der Heizer ist verletzt.«
»Wieso konnte die Lokomotive entgleisen?«
Das Gesicht des Zugführers hatte einen seltsamen Ausdruck. Es war zornig, anklagend und verschlossen.
»Die Gleise sind abgenutzt, Mr. Chalmers«, antwortete er in einem merkwürdigen Ton. »Vor allem in Kurven.«
»Wußten Sie nicht, daß sie abgenutzt waren?«
»Wir wußten es.«
»Warum haben Sie sie dann nicht ersetzt?«
»Mr. Locey hat diesen Auftrag rückgängig gemacht.«
»Wer ist Mr. Locey?«
»Der Mann, der nicht unser Stellvertretender Vorstandsvorsitzender ist.«
Chalmers fragte sich, warum der Zugführer ihn so anzusehen schien, als ob etwas an der Katastrophe seine
Schuld wäre.
»Nun… nun, werden Sie die Lokomotive wieder auf die Schienen zurückbringen?«
»So wie sie jetzt aussieht, wird die Maschine nie wieder auf irgendeiner Strecke fahren können.«
»Aber… aber sie muß doch fahren.«
»Sie kann es nicht.«
Hinter den wenigen sich bewegenden Lichtern und den gedämpften Schreien spürte Chalmers plötzlich, ohne
hinblicken zu wollen, die schwarze Unendlichkeit der Berge, das Schweigen Hunderter unbewohnter Meilen und
den unheimlichen Felsvorsprung, der zwischen einer Felswand und einem Abgrund hing. Er umklammerte den
Arm des Zugführers fester.
»Aber… aber was soll nun geschehen?«
»Der Lokomotivführer ruft Winston an.«
»Ruft an? Wie?«
»Ein paar Meilen weiter befindet sich ein Telefon an der Strecke.«
»Wird man uns von hier fortbringen?«
»Ja.«
»Aber…« Da fiel ihm alles plötzlich wieder ein, und seine Stimme erhob sich zum ersten Mal zu einem
Schrei: »Wie lange werden wir warten müssen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte der Zugführer. Er schüttelte Chalmers’ Hand von seinem Arm und ging weiter. Der
Beamte, der auf dem Bahnhof Winston Nachtdienst tat, nahm die telefonische Meldung entgegen, legte den
Hörer hin und raste die Treppe hinauf, um den Stationsvorsteher zu wecken. Der Stationsvorsteher war ein
kräftiger, schroffer Mann, der erst vor zehn Tagen von dem neuen Bezirksleiter in diese Stellung berufen worden
war. Schlaftrunken taumelte er aus dem Bett, wurde aber hellwach, als die Worte des anderen sein Gehirn
erreichten.
»Was?« stöhnte er. »Jesus! Der Comet?… Stehen Sie nicht so zitternd da, rufen Sie Silver Springs an.«
Der nachtdiensthabende Beamte von der Bezirksleitung in Silver Springs hörte die Meldung und rief dann
Dave Mitchum, den neuen Leiter des Bezirks Colorado, an.
»Der Comet?« stöhnte Mitchum, mit der Hand den Telefonhörer an sein Ohr pressend, während er aus dem
Bett sprang. »Die Lokomotive ist hin? Die Diesel?«
»Ja, Sir.«
»Ach, allmächtiger Gott. Was sollen wir da bloß tun?« Aber sich dann an seine Stellung erinnernd, fügte er
hinzu: »Schicken Sie den Hilfszug dorthin.«
»Das habe ich schon getan.«
»Rufen Sie den Zugabfertiger in Cherwood an, daß er alle Züge anhält.«
»Das habe ich auch schon getan.«
»Welcher Zug ist als nächster fällig?«
»Der Armeesondergüterzug in westlicher Richtung. Aber er wird erst in etwa vier Stunden kommen. Er hat
Verspätung.«
»Ich komme gleich hinunter… Warten Sie… holen Sie inzwischen Bill, Sandy und Clarence. Das wird uns
teuer zu stehen kommen!«
Dave Mitchum hatte sich immer über Ungerechtigkeit beklagt, denn er hatte, wie er sagte, stets nur Pech
gehabt. Er erklärte das mit düsteren Andeutungen über die Verschwörung der Großen, die ihm keine Chance
gaben, wenn er auch nie verriet, wen er mit den Großen meinte. Das Dienstalter war sein Lieblingsklagelied und
sein einziger Wertmaßstab. Er war länger bei der Eisenbahn als viele, die ihn überflügelt hatten. Das, sagte er,
sei der Beweis für die Ungerechtigkeit des Gesellschaftssystems, obwohl er nie erklärte, was er eigentlich unter
dem Gesellschaftssystem verstand. Er hatte bei vielen Eisenbahngesellschaften gearbeitet, war aber nie lange bei
einer geblieben. Seine Arbeitgeber konnten ihm keine besonderen Vergehen vorwerfen, sondern hatten ihn nur
darum entlassen, weil er allzuoft sagte: »Davon hat mir niemand etwas gesagt.« Er wußte nicht, daß er seine
jetzige Stellung einem Handel zwischen James Taggart und Wesley Mouch verdankte: Als Taggart Mouch das
Geheimnis des Privatlebens seiner Schwester gegen eine Erhöhung der Tarife verkaufte, ließ sich Mouch nach
ihren üblichen Handelsmethoden – die darin bestanden, aus jedem Geschäft soviel wie nur möglich
herauszuholen – noch eine zusätzliche Gefälligkeit von ihm erweisen. Dies war eine Stellung für Dave Mitchum,
der ein Schwager von Claude Slagenhop, dem Präsidenten der Freunde des globalen Fortschritts war, und dessen
Einfluß auf die öffentliche Meinung als sehr wertvoll betrachtet wurde. James Taggart schob die Verantwortung,
eine Stelle für Mitchum zu finden, Clifton Locey zu. Locey gab Mitchum die erste freiwerdende Stellung –
Leiter des Bezirks Colorado –, deren bisheriger Inhaber sang- und klanglos verschwunden war, als die
Diesellokomotive des Bahnhofs Winston für Chick Morrisons Sonderzug zur Verfügung gestellt wurde. »Was
sollen wir tun?« rief Dave Mitchum, als er halb angezogen und noch ganz verschlafen in sein Büro gerannt kam,
wo der Bahnhofsvorsteher, der Wagenmeister und der Maschinenmeister schon auf ihn warteten.
Die drei Männer antworteten nicht. Sie waren mittleren Alters und schon viele Jahre bei der Eisenbahn. Noch
vor einem Monat hätten sie bei jedem Notstand gern ihren Rat gegeben, aber allmählich hatten sie begriffen, daß
sich alles verändert hatte und daß es gefährlich war, etwas zu sagen.
»Was, zum Teufel, sollen wir tun?«
»Eines steht fest«, sagte Bill Brent, der Bahnhofsvorsteher, »wir können den Zug nicht mit einer
Dampflokomotive in den Tunnel schicken.«
Dave Mitchums Gesicht verfinsterte sich: Er wußte, daß sie alle das gleiche dachten, und er wünschte, Brent
hätte es nicht ausgesprochen.
»Aber wo sollen wir eine Diesel herbekommen?« fragte er ärgerlich.
»Es is t keine da«, sagte der Maschinenmeister.
»Aber wir können doch nicht den Comet die ganze Nacht auf einem Abstellgleis warten lassen.«
»Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben«, sagte der Wagenmeister. »Was hat es für einen Sinn, lange
darüber zu reden, Dave? Sie wissen doch, daß es nirgends im Bezirk eine Diesel gibt.«
»Aber, allmächtiger Gott, was denken die sich! Wie sollen wir Züge ohne Lokomotiven fahren lassen?«
»Miss Taggart hat das nicht von uns erwartet«, sagte der Maschinenmeister, »aber Mr. Locey tut es.«
»Bill«, fragte Mitchum in bittendem Ton, »kommt heute nacht nicht irgendein transkontinentaler Zug mit
einer Diesel durch?«
»Der erste, der kommt«, sagte Bill Brent unerbittlich, »ist Nr. 236, der Eilgüterzug aus San Francisco, der um
neunzehn Uhr achtzehn fahrplanmäßig in Winston sein soll. Das ist die einzige Diesel«, fügte er hinzu, »die wir
im Augenblick erwarten können. Ich habe das überprüft.«
»Wie steht es mit dem Armeesonderzug?«
»An den brauchen Sie gar nicht zu denken, Dave. Der hat laut Armeebefehl Vorrang vor jedem anderen Zug
auf der Linie, eingeschlossen der Comet. Außerdem hat er auch Verspätung – die Achsen haben sich zweimal
heißgelaufen. Er ist mit Munition für die Waffendepots an der Westküste beladen. Da wollen wir lieber beten,
daß ihm nichts in unserem Bezirk passiert. Wenn Sie schon glauben, daß man uns die Hölle heiß macht, wenn
wir den Comet hier anhalten, dann ist das nichts im Vergleich zu dem, was uns blüht, wenn wir versuchen,
diesen Sonderzug anzuhalten.«
Sie schwiegen. Die Fenster standen offen, und in der Stille der Sommernacht hörte man das Läuten des
Telefons im Büro des Bahnhofsvorstehers im Erdgeschoß. Die Signallichter leuchteten über dem verlassenen
Gelände, das einst ein bedeutender Verkehrsknotenpunkt gewesen war.
Mitchum blickte zu den Lokomotivschuppen hin, wo man im trüben Licht die schwarzen Silhouetten einiger
Dampflokomotiven sah.
»Der Tunnel…«, sagte er und hielt inne.
»…ist acht Meilen lang«, sagte der Wagenmeister mit harter Betonung.
»Ich dachte nur«, erwiderte Mitchum.
»Man denkt besser nicht«, sagte Brent leise.
»Ich habe nichts gesagt.«
»Worüber haben Sie mit Dick Horton gesprochen, bevor er ging?« fragte der Maschinenmeister mit
Unschuldsmiene, als handelte es sich um etwas ganz Unerhebliches. »Hat er nicht gesagt, daß die
Ventilationsanlage des Tunnels versagt? Hat er nicht gesagt, daß der Tunnel selbst für Diesellokomotiven jetzt
kaum noch sicher ist?«
»Warum bringen Sie das vor?« zischte Mitchum.
»Ich habe nichts gesagt.« Dick Horton, der Chefingenieur des Bezirks, war drei Tage, nachdem Mitchum
seine Stellung angetreten hatte, gegangen.
»Ich wollte das nur erwähnen«, antwortete der Maschinenmeister unschuldig.
»Hören Sie mal, Dave«, sagte Bill Brent, der wußte, daß Mitchum lieber noch eine Stunde lang hin- und
herreden würde, als einen Entschluß zu fassen. »Sie wissen, daß man nur eins tun kann: den Comet in Winston
bis morgen früh festhalten, auf Nr. 236 warten, den Comet mit dessen Diesel durch den Tunnel fahren und dann
den Comet seine Fahrt mit der besten Dampflokomotive, die wir jenseits des Tunnels auftreiben können,
fortsetzen lassen.«
»Aber wie groß wird dann seine Verspätung?«
Brent zuckte die Achseln. »Zwölf Stunden – achtzehn Stunden – wer will das wissen!«
»Achtzehn Stunden? Der Comet? Lieber Himmel, das ist noch nie passiert!«
»Alles, was uns heute passiert, ist noch nie passiert«, sagte Brent mit einem überraschend müden Ton in
seiner klaren, nüchternen Stimme.
»Aber man wird uns in New York dafür die Schuld in die Schuhe schieben!« Brent hätte noch vor einem
Monat eine solche Ungerechtigkeit als unvorstellbar betrachtet; heute wußte er es besser.
»Ich nehme an…«, sagte Mitchum kläglich, »ich nehme an, wir können nichts anderes tun.«
»Nein, Dave.«
»Ach Go tt, warum mußte uns das passieren?«
»Wer ist John Galt?«
Es war halb drei, als der Comet, von einer alten Rangierlokomotive gezogen, auf einem Abstellgleis des
Winston-Bahnhofs anhielt. Kip Chalmers blickte verärgert und fassungslos auf die wenigen Schuppen an einem
Berghang und einen halb verfallenen Bahnhof hinaus.
»Was ist denn das nun schon wieder? Warum, zum Teufel, halten wir hier?« schrie er und klingelte nach dem
Zugführer. Als der Zug sich wieder in Bewegung gesetzt hatte und Kip Chalmers sich dadurch wieder geborgen
fühlte, hatte sich seine Angst in Wut verwandelt. Es kam ihm fast so vor, als hätte man ihm das nur angetan, um
ihm unnötige Angst einzujagen. Seine Begleiter saßen immer noch an dem Tisch in der Bar.
»Wie lange?« sagte der Zugführer gleichgültig auf seine Frage. »Bis morgen früh, Mr. Chalmers.«
Chalmers starrte ihn entgeistert an. »Wir bleiben bis morgen früh hier stehen?«
»Ja, Mr. Chalmers.«
»Hier?«
»Ja.«
»Aber ich habe heute abend eine Versammlung in San Francisco!«
Der Zugführer antwortete nicht.
»Warum? Warum müssen wir hier stehenbleiben? Warum zum Teufel? Was ist passiert?«
Langsam und geduldig, mit verachtungsvoller Höflichkeit erklärte ihm der Zugführer die Situation in allen
Einzelheiten. Aber vor Jahren, in der Grammar School, in der Highschool, im College hatte Kip Chalmers
gelernt, daß der Mensch nicht durch die Vernunft lebt oder zu leben braucht.
»Ihr verdammter Tunnel«, schrie er. »Glauben Sie, ich lasse mich von Ihnen durch einen elenden Tunnel
aufhalten? Wollen Sie eines Tunnels wegen lebenswichtige Pläne zunichte machen? Sagen Sie Ihrem
Lokomotivführer, daß ich heute abend in San Francisco sein muß und daß er mich dort hinzubringen hat!«
»Wie?«
»Das ist Ihre Sache, nicht meine.«
»Es ist leider nicht möglich.«
»Dann finden Sie einen Weg, verdammt noch mal.«
Der Zugführer antwortete nicht.
»Glauben Sie, ich lasse Ihre albernen technischen Probleme zum Hindernis für höchst bedeutende soziale
Angelegenheiten werden? Wissen Sie, wer ich bin? Sagen Sie dem Lokomotivführer, er soll weiterfahren, wenn
ihm an seiner Stellung liegt.«
»Der Lokomotivführer hat seine Anweisungen.«
»Zum Kuckuck mit den Anweisungen! Jetzt befehle ich! Sagen Sie ihm, er soll sofort weiterfahren.«
»Vielleicht wäre es besser, Sie sprächen mit dem Stationsvorsteher, Mr. Chalmers. Ich bin nicht befugt, Ihnen
so zu antworten, wie ich es gern tun würde«, sagte der Zugführer und ging fort.
Chalmers sprang auf.
»Hören Sie, Kip…«, sagte Lester Tuck beklommen, »vielleicht stimmt es… Vielleicht können sie es nicht.«
»Wenn sie müssen, können sie«, rief Chalmers und ging entschlossen zur Tür.
Vor Jahren, im College, hatte er gelernt, daß das einzige wirksame Mittel, Menschen zum Handeln zu
zwingen, Furcht ist.
In dem schäbigen Büro des Winston-Bahnhofs fand er einen schläfrigen Beamten mit schlaffem, müdem
Gesicht und einen verängstigten jungen Mann, der am Telefon saß. In stummem Entsetzen hörten sie einen
Jargon, wie sie ihn selbst von zusammengesuchten Streckenarbeitern nicht kannten, »…und es ist nicht mein
Problem, wie Sie den Zug durch den Tunnel bringen, damit müssen Sie fertig werden«, schloß Chalmers. »Aber
wenn Sie mir nicht eine Lokomotive besorgen und den Zug nicht weiterfahren lassen, dann können Sie Ihrer
Stellung, Ihrer Arbeitserlaubnis und der verdammten Eisenbahn Lebewohl sagen!«
Der Stationsvorsteher hatte noch nie etwas von Kip Chalmers gehört und wußte nicht, welcher Art seine
Stellung war. Aber er wußte, daß in dieser Zeit unbekannte Männer in nicht genau umschriebenen Stellungen
über unbegrenzte Macht verfügten – die Macht über Leben oder Tod.
»Es liegt nicht an uns, Mr. Chalmers«, sagte er entschuldigend. »Wir erteilen die Anweisungen nicht. Die
Anweisung ist aus Silver Springs gekommen. Vielleicht rufen Sie Mr. Mitchum an und…«
»Wer ist Mr. Mitchum?«
»Der Bezirksleiter in Silver Springs.«
»Ich will mich nicht mit einem Bezirksleiter herumärgern. Ich werde ein Telegramm an Jim Taggart schicken
– das werde ich tun.«
Bevor der Stationsvorsteher sich von dem Schrecken wieder erholt hatte, wandte sich Chalmers an den jungen
Mann und befahl: »Nehmen Sie dies auf und schicken Sie es sofort ab.«
Es war eine Mitteilung, die noch vor einem Monat der Stationsvorsteher von keinem Fahrgast angenommen
hätte; die Vorschriften verboten es – aber er war sich nicht sicher, welche Vorschriften noch galten.
»Mr. James Taggart, New York City – Bin durch Unfähigkeit Ihrer Männer, die sich weigern, mir
Lokomotive zu geben, im Comet in Winston, Colorado, aufgehalten – Habe heute abend in San Francisco
Versammlung von höchster nationaler Bedeutung – Wenn Sie nicht dafür sorgen, daß Zug sofort weiterfährt,
können Sie sich Konsequenzen ausmalen. Kip Chalmers.«
Nachdem der junge Mann die Worte den Drähten anvertraut hatte, die sich von Stange zu Stange als Wächter
der Taggart-Strecke über den Kontinent spannten, und nachdem Kip Chalmers in seinen Wagen zurückgekehrt
war, um auf die Antwort zu warten, telefonierte der Stationsvorsteher mit Dave Mitchum, der sein Freund war,
und las ihm den Text vor. Er hörte Mitchum laut stöhnen.
»Ich glaubte, es Ihnen mitteilen zu müssen, Dave. Ich habe noch nie von dem Kerl gehört, aber vielleicht ist
es jemand Wichtiges.«
»Ich weiß nicht«, brummte Mitchum. »Kip Chalmers? Sein Name steht dauernd zusammen mit denen der
prominentesten Leute in den Zeitungen. Ich weiß nicht, was er ist, aber wenn er aus Washington ist, können wir
kein Risiko auf uns nehmen. Ach Gott, was sollen wir nur tun?«
Wir können kein Risiko auf uns nehmen, dachte der Taggart-Telefonist in New York und übermittelte das
Telegramm an James Taggarts Wohnung. Es war in New York fast sechs Uhr, und James Taggart wurde aus
unruhigem Schlaf geweckt. Mit bestürzter Miene hörte er, was man ihm durchs Telefon sagte. Er spürte die
gleiche Angst wie der Stationsvorsteher von Winston. Er rief die Wohnung von Clifton Locey an. All die Wut,
die er nicht an Kip Chalmers auslassen konnte, ließ er durch den Telefondraht an Clifton Locey aus. »Tun Sie
etwas«, schrie Taggart. »Es ist mir gleich, was Sie tun. Es ist Ihre Sache, nicht meine, aber sorgen Sie dafür, daß
der Zug weiterfährt. Was, zum Teufel, ist los? Noch nie ist der Comet aufgehalten worden. Ist das die Art, wie
Sie Ihre Abteilung leiten? Eine schöne Bescherung, wenn bedeutende Fahrgäste mir Beschwerden schicken
müssen! Als meine Schwester noch den Posten hatte, wurde ich wenigstens nicht mitten in der Nacht wegen
jedes Bolzens geweckt, der in Iowa brach – Colorado, meine ich.«
»Es tut mir so leid, Jim«, sagte Clifton Locey sanft, in einem Ton, der zwischen Entschuldigung, Beruhigung
und dem richtigen Maß gönnerhafter Vertraulichkeit balancierte. »Es ist nur ein Mißverständnis. Jemand hat
einen blöden Fehler gemacht. Machen Sie sich keine Sorgen darum, ich werde mich der Sache annehmen. Ich
liege zwar auch noch im Bett, aber ich werde mich sofort darum kümmern.«
Clifton Locey lag nicht im Bett. Er war gerade in Begleitung einer jungen Dame von einem Bummel durch
Nachtklubs zurückgekommen. Er bat sie zu warten und eilte in die Büros von Taggart Transcontinental. Keiner
der Leute vom Nachtdienst, der ihn dort sah, konnte sagen, warum er sich persönlich dorthin bemüht hatte, aber
man konnte auch nicht sagen, daß es unnötig war. Er rannte in verschiedene Büros, wurde von vielen Leuten
gesehen und wirkte sehr geschäftig. Das einzige konkrete Ergebnis war eine drahtliche Anweisung im Dave
Mitchum, den Leiter des Bezirks Colorado:
»Geben Sie Mr. Chalmers sofort eine Lokomotive. Lassen Sie den Comet sicher und ohne unnötige
Verzögerung weiterfahren. Wenn Sie nicht fähig sind, Ihre Pflicht zu erfüllen, werden Sie sich vor dem Amt für
Vereinheitlichung zu verantworten haben. Clifton Locey.«
Dann rief er seine Freundin an und bat sie, ihn im Taggart-Gebäude abzuholen, und fuhr zu einem ländlichen
Gasthof – um sicher zu sein, daß ihn in den nächsten Stunden niemand finden würde.
Der Zugabfertiger in Silver Springs war völlig verwirrt über den Text der Anweisung, den er Dave Mitchum
reichte. Aber Dave Mitchum verstand hi n. Er wußte, ‘einem Fahrgast eine Lokomotive geben’ war eine
Ausdrucksweise, wie sie in einer Anweisung der Eisenbahn nicht üblich war; er wußte, es war nur Theater, er
ahnte, welche Art von Theater da inszeniert wurde, und der kalte Schweiß brach ihm aus, als ihm bewußt wurde,
wem darin die Rolle des Sündenbocks zugedacht war.
»Was ist los?« fragte der Wagenmeister.
Mitchum antwortete nicht. Er ergriff den Telefonhörer. Seine Hände zitterten, als er bat, ihn mit der Taggart-
Telefonistin in New York zu verbinden. Er sah aus wie ein Tier in der Falle.
Er bat die New Yorker Telefonistin, ihm Mr. Clifton Loceys Wohnung zu geben. Die Telefonistin versuchte
es, aber es meldete sich niemand. Darauf bat er die Telefonistin, es immer wieder zu versuchen und auch jede
Nummer anzurufen, unter der Mr. Locey vielleicht erreichbar war. Die Telefonistin versprach es, und Mitchum
legte den Hörer auf, wußte jedoch, daß es sinnlos war zu warten.
»Was ist los, Dave?«
Mitchum reichte ihm die Anweisung und sah an dem Blick des Wagenmeisters, daß es so schlimm war, wie er
vermutet hatte.
Er rief die Direktion von Taggart Transcontinental in Omaha, Nebraska, an und bat, ihn mit dem Direktor zu
verbinden. Es gab ein kurzes Schweigen in der Leitung, dann sagte ihm der Telefonist in Omaha, der Direktor
habe seinen Posten aufgegeben und sei vor drei Tagen verschwunden – »er hatte eine kleine Auseinandersetzung
mit Mr. Locey«, fügte er hinzu.
Er verlangte seinen Vertreter zu sprechen, aber der Vertreter war über das Wochenende verreist und nicht zu
erreichen.
»Geben Sie mir jemand anders«, schrie Mitchum. »Irgend jemand von irgendeinem Bezirk. Um Gottes willen,
geben Sie mir irgend jemand, der mir sagt, was ich tun soll.«
Der Mann, der sich dann meldete, war der Stellvertretende Direktor des Iowa -Minnesota-Bezirks.
»Was«, unterbrach er Mitchum, kaum daß dieser den Mund aufgemacht hatte, »in Winston in Colorado?
Warum, zum Teufel, rufen Sie mich an? – Nein, erzählen Sie mir nicht, was geschehen ist. Ich will es nicht
wissen. – Nein, habe ich gesagt. Nein! Sie werden mich nicht in die Lage bringen, daß ich hinterher erklären
muß, warum ich in der Sache etwas getan habe oder nicht. Mich geht das nichts an! – Sprechen Sie mit einem
Beamten des Bezirks, aber lassen Sie mich in Frieden! Was habe ich mit Colorado zu tun? – Wenden Sie sich an
den Chefingenieur.«
Der Chefingenieur des Hauptbezirks antwortete ungeduldig: »Ja, was? Was ist?« – und Mitchum beeilte sich
verzweifelt, es zu erklären. Als der Chefingenieur hörte, daß es keine Diesel gab, sagte er: »Dann halten Sie den
Zug natürlich an.« Als er von Mr. Chalmers hörte, sagte er mit plötzlich gedämpfter Stimme: »Hm… Kip
Chalmers? Aus Washington…? Nun, ich weiß nicht. Darüber müßte Mr. Locey entscheiden.«
Als Mitchum sagte: »Mr. Locey hat mich angewiesen, die Sache in Ordnung zu bringen, aber…«, fiel ihm der
Chefingenieur sehr erleichtert ins Wort: »Dann tun Sie genau das, was Mr. Locey sagt«, und hängte ein.
Dave Mitchum legte den Telefonhörer behutsam auf. Er schrie nicht mehr, sondern schlich sich auf
Zehenspitzen zu einem Stuhl, setzte sich hin und starrte eine lange Weile auf Mr. Loceys Anweisung.
Dann warf er einen Blick in den Raum. Der Zugabfertiger telefonierte gerade. Der Wagenmeister und der
Maschinenmeister waren noch da, taten aber so, als ob sie nicht warteten. Er hätte gewünscht, Bill Brent, der
Bahnhofsvorsteher, wäre nach Hause gegangen. Aber Bill Brent stand in einer Ecke und beobachtete ihn.
Brent war ein kleiner, dünner Mann mit breiten Schultern; er war vierzig, sah aber jünger aus. Er hatte das
blasse Gesicht eines Büroangestellten und die harten, hageren Züge eines Cowboys. Er war der beste
Bahnhofsvorsteher im ganzen Netz.
Mitchum erhob sich unvermittelt und ging mit Loceys Anweisung in der Hand in sein Büro hinauf.
Dave Mitchum verstand nicht viel von Lokomotiven und Zügen, aber er verstand Männer wie Clifton Locey.
Er verstand das Spiel, das die New Yorker hohen Herren spielten und was sie ihm jetzt antaten. In der
Anweisung stand nicht, daß er Mr. Chalmers eine Dampflokomotive geben sollte. In der Anweisung stand nur,
daß er ihm ‘eine Lokomotive’ geben sollte. Wenn er Rede und Antwort stehen müßte, würde Mr. Locey empört
schreien, er habe erwartet, daß ein Bezirksleiter weiß, daß in seiner Anweisung natürlich nur eine
Diesellokomotive gemeint sein konnte. Die Anweisung forderte, daß er den Comet sicher durch den Tunnel
brachte. Mußte man von einem Bezirksleiter nicht erwarten, daß er wußte, was sicher war? Unnötige
Verzögerungen sollten vermieden werden. Was war eine unnötige Verzögerung? Wenn man anderenfalls mit
einer größeren Katastrophe rechnen mußte, würde dann eine Verzögerung von einer Woche oder einem Monat
als nötig betrachtet werden? Die hohen Herren in New York scherte das nicht, dachte Mitchum. Ihnen war es
gleichgültig, ob Mr. Chalmers seine Versammlung pünktlich erreichte oder eine noch nicht dagewesene
Katastrophe ihre Eisenbahn traf. Ihnen lag nur daran, dafür zu sorgen, daß man sie weder für das eine noch für
das andere verantwortlich machen konnte. Wenn er den Zug nicht weiterfahren ließ, würden sie ihn opfern, um
Mr. Chalmers’ Wut zu besänftigen. Wenn er den Zug durch den Tunnel schickte und der Zug den westlichen
Ausgang nicht erreichte, würden sie ihn der Unfähigkeit beschuldigen. So oder so würden sie behaupten, er habe
gegen ihre Anweisungen gehandelt. Was würde er beweisen können? Und wem? Man konnte einem Gericht
nichts beweisen, bei dem es keine Verfahrens- und Beweisvorschriften, keine bindenden Prinzipien gab – einem
Gericht wie dem Amt für Vereinheitlichung, das Menschen, wie es ihm gerade paßte, schuldig- oder freisprach
und für das es keinen Maßstab der Schuld oder Unschuld gab.
Dave Mitchum wußte nichts von Rechtsphilosophie. Aber er wußte, daß, wenn ein Gericht durch keine
Vorschriften gebunden ist, es auch nicht durch Tatsachen gebunden ist. Eine Verhandlung ist dann nicht eine
Sache des Rechts, sondern eine Sache der Menschen, und das Schicksal des Angeklagten hängt nicht von dem
ab, was er getan oder nicht getan hat, sondern davon, ob man jemand kennt oder nicht kennt. Er fragte sich,
welche Chance er bei einer solchen Verhandlung Mr. James Taggart, Mr. Clifton Locey, Mr. Kip Chalmers und
ihren mächtigen Freunden gegenüber haben würde.
Dave Mitchum war sein Leben lang der Notwendigkeit einer Entscheidung ausgewichen; er hatte immer
darauf gewartet, daß man ihm sagte, was er tun sollte, und war sich nie seiner Sache sicher gewesen. Das
einzige, was er sich jetzt gestattete, war ein langes empörtes Jammern über die Ungerechtigkeit. Das Schicksal,
dachte er, hatte ihn zu einem besonderen Pechvogel gemacht: Er wurde von seinen Vorgesetzten um die einzige
gute Stellung gebracht, die er je gehabt hatte. Er begriff nicht, daß die Art und Weise, wie er diese Stellung
bekommen hatte, und das abgekartete Spiel, das man jetzt mit ihm spielte, zu dem gleichen unentwirrbaren
Ganzen gehörten.
Als er auf Loceys Anweisung sah, dachte er, daß er den Comet stehen lassen und Mr. Chalmers Wagen an
eine Lokomotive hängen und ihn allein in den Tunnel schicken konnte. Aber noch ehe er den Gedanken ganz zu
Ende gedacht hatte, schüttelte er den Kopf: Er wußte, daß Mr. Chalmers dann merken würde, wie gefährlich das
war; er würde es deshalb ablehnen und weiter eine sichere, aber nun einmal nicht vorhandene Lokomotive
fordern. Und noch mehr: Es würde bedeuten, daß er, Mitchum, die Verantwortung auf sich nehmen und zugeben
mußte, daß er sich über die Gefahr völlig im klaren war und daß er sich hinter niemand und nichts verstecken
konnte – er mußte gerade das tun, dem auszuweichen die Politik seiner Vorgesetzten und der einzige Schlüssel
zu ihrem Spiel war.
Dave Mitchum war nicht der Mann, der gegen seine Umwelt rebellierte oder den moralischen Kodex der
Verantwortlichen anzweifelte. Darum beschloß er, sich nicht gegen die Politik seiner Vorgesetzten aufzulehnen,
sondern ihr zu folgen. Bill Brent hätte ihn in jedem technischen Wettbewerb schlagen können, aber dies war
etwas, in dem er Bill Brent mühelos schlagen konnte. Es hatte einmal eine Gesellschaft gegeben, in der die
Menschen die besonderen Gaben Bill Brents brauchten, wenn sie überleben wollten. Was sie jetzt brauchten, war
das Talent Dave Mitchums. Dave Mitchum setzte sich an die Schreibmaschine seiner Sekretärin und schrieb mit
zwei Fingern sorgfältig eine Anweisung an den Wagenmeister und eine andere an den Maschinenmeister. Die
erste verlangte von dem Wagenmeister, unverzüglich für einen nur als Notfall bezeichneten Zweck Personal für
eine Lokomotive bereitzustellen; die zweite verlangte von dem Maschinenmeis ter, ‘die beste verfügbare
Lokomotive nach Winston zu schicken, um in einem dringenden Notfall auszuhelfen’.
Er steckte Durchschläge der Anweisungen in seine Tasche, öffnete dann die Tür, rief den Zugabfertiger vom
Nachtdienst zu sich herauf und gab ihm die beiden Anweisungen für die beiden Männer unten. Der
Zugabfertiger vom Nachtdienst war ein gewissenhafter junger Mann, der seinen Vorgesetzten vertraute und
wußte, daß Disziplin das erste Gesetz des Eisenbahnbetriebs war. Er wunderte sich darüber, daß Mitchum
maschinengeschriebene Anweisungen in das nur eine Treppe tiefer gelegene Büro schickte, stellte aber keine
Fragen.
Nervös wartete Mitchum. Nach einer Weile sah er den Maschinenmeister über das Bahngelände zum
Lokomotivschuppen gehen. Er fühlte sich erleichtert: Die beiden Männer waren nicht heraufgekommen, um ihn
zur Rede zu stellen; sie hatten verstanden und würden das Spiel so spielen, wie er es spielte.
Der Maschinenmeister stapfte, auf den Boden blickend, durch das Gelände. Er dachte an seine Frau, seine
beiden Kinder und das Haus, das zu besitzen er ein Leben lang gearbeitet hatte. Er wußte, was seine
Vorgesetzten taten, und fragte sich, ob er ihnen den Gehorsam verweigern sollte. Er hatte nie gefürchtet, seine
Stellung zu verlieren; mit dem Vertrauen eines tüchtigen Mannes hatte er gewußt, daß, wenn er sich mit einem
Vorgesetzten überwarf, er immer eine andere würde finden können. Aber jetzt hatte er Angst; er durfte weder
kündigen noch sich eine Stellung suchen; wenn er einem Vorgesetzten trotzte, würde er der Macht eines einzigen
Amtes ausgeliefert werden, gegen die niemand etwas vermochte, und wenn das Amt gegen ihn entschied, würde
er zum langsamen Hungertod verurteilt sein: Es würde bedeuten, daß jede Stellung für ihn gesperrt wäre! Er
wußte, daß das Amt gegen ihn entscheiden würde. Er wußte, daß der Schlüssel zu dem dunklen Geheimnis der
launischen, sich widersprechenden Entscheidungen des Amtes die geheime Macht der Schiebung war. Welche
Chance würde er gegen Mr. Chalmers haben? Es hatte einma l eine Zeit gegeben, da das Selbstinteresse seiner
Arbeitgeber von ihm gefordert hatte, sein Können bis zum äußersten einzusetzen. Jetzt war Können nicht mehr
erwünscht. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da man von ihm gefordert hatte, sein Bestes zu tun, und ihn
entsprechend belohnt hatte. Jetzt konnte er nur eine Bestrafung erwarten, wenn er versuchte, seinem Gewissen zu
folgen. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da man von ihm erwartet hatte zu denken. Jetzt sollte er nicht denken,
sondern nur gehorchen. Man wollte auch nicht mehr, daß er ein Gewissen hatte. Warum sollte er dann seine
Stimme erheben? Für wen? Er dachte an die Fahrgäste – die dreihundert Fahrgäste im Comet. Er dachte an seine
Kinder. Er hatte einen Sohn auf der höheren Schule und eine neunzehnjährige Tochter, auf die er ungeheuer stolz
war, denn sie galt als das schönste Mädchen in der Stadt. Er fragte sich, ob er seine Kinder dem Schicksal der
Arbeitslosigkeit ausliefern durfte, wie er es in den Notstandsgebieten, in den Siedlungen rings um geschlossene
Fabriken und längs der Gleise stillgelegter Eisenbahnstrecken gesehen hatte. Erstaunt und entsetzt zugleich
erkannte er, daß er jetzt zwischen dem Leben seiner Kinder und dem Leben der Fahrgäste des Comet zu wählen
hatte.
Ein Konflikt dieser Art war nie zuvor möglich gewesen. Dadurch, daß er die Sicherheit der Fahrgäste
schützte, hatte er seine Kinder geschützt; er hatte dem einen gedient, indem er dem anderen diente; es hatte
keinen Widerstreit der Interessen gegeben, es hatte niemand geopfert werden müssen. Wenn er jetzt die
Fahrgäste retten wollte, mußte er seine Kinder opfern. Er erinnerte sich verschwommen an die Predigten, die er
gehört hatte: wie edel es sei, sich selbst und sein Teuerstes zu opfern. Er wußte nichts von Ethik; aber er wußte
plötzlich – nicht in Worten, sondern in der Form eines dumpfen, stechenden, wilden Schmerzes –, daß, wenn
dies eine Tugend war, er keinen Teil daran haben wollte.
Er ging in den Lokomotivschuppen und befahl, eine große alte Dampflokomotive für die Fahrt nach Winston
fertig zu machen.
Der Wagenmeister griff nach dem Telefonhörer im Büro des Stationsvorstehers, um, wie befohlen, Personal
für eine Lokomotive anzufordern. Aber seine Hand, die den Hörer schon hielt, versagte ihm plötzlich den Dienst.
Es wurde ihm jäh bewußt, daß er Menschen in den Tod schickte und daß von den zwanzig Männern, deren
Namen auf der vor ihm liegenden Liste standen, zwei durch ihn ums Leben kommen würden. Es lief ihm einen
Augenblick kalt über den Rücken. Alles, was er fühlte, war eine verworrene gleichgültige Verwunderung. Es
war nie sein Beruf gewesen, Männer in den Tod zu schicken. Sein Beruf war es gewesen, sie einzusetzen, damit
sie sich ihren Lebensunterhalt verdienten. Es war seltsam, dachte er; und es war seltsam, daß seine Hand ihm den
Dienst versagt hatte; was ihr Einhalt gebot, war etwas, das er vor zwanzig Jahren gefühlt hatte – nein, dachte er,
erst vor einem Monat.
Er war achtundvierzig Jahre alt. Er hatte keine Familie, keine Freunde, keine Bindungen an auch nur einen
Menschen in der Welt. Die einzige Liebesfähigkeit, die er besessen hatte, die Fähigkeit, die andere wahllos
verzettelten, hatte er ungeteilt seinem jungen Bruder zukommen lassen – seinem Bruder, der fünfundzwanzig
Jahre jünger war als er und den er aufgezogen hatte. Er hatte ihn aufs College geschickt und hatte ebenso wie die
Lehrer gewußt, daß der Junge das Zeichen des Genies auf der Stirn trug. Mit der gleichen ungeteilten Hingabe
wie der seines Bruders hatte der Junge sich nur für sein Studium interessiert, nicht für Sport oder Parties oder
Mädchen, nur für das, was er einmal zu erfinden träumte. Er hatte sein Examen auf dem Technikum bestanden
und war zu einem für sein Alter ungewöhnlich hohen Gehalt in das Forschungslaboratorium eines großen
Elektro-Konzerns in Massachusetts eingetreten.
Heute war der 28. Mai, dachte der Wagenmeister. An einem 1. Mai war jene Verordnung 10-289
herausgegeben worden. Am gleichen Abend hatte er erfahren, daß sein Bruder Selbstmord begangen hatte. Der
Wagenmeister hatte sagen hören, die Verordnung sei zur Rettung des Landes notwendig. Er wußte nicht, ob das
stimmte oder nicht. Woher sollte er wissen, was für die Rettung eines Landes notwendig war? Aber getrieben
von einem Gefühl, das er nicht ausdrücken konnte, war er in das Büro des Chefredakteurs der lokalen Zeitung
gegangen und hatte gebeten, die Geschichte vom Tod seines Bruders zu veröffentlichen. Die Menschen müssen
das wissen, war alles gewesen, was er als Grund angeben konnte. Er hatte nicht zu erklären vermocht, daß seine
verwirrten Gedanken ihn zu dem Schluß geführt hatten, daß wenn dies durch den Willen des Volkes geschehen
war, das Volk es wissen mußte. Der Chefredakteur hatte die Veröffentlichung abgelehnt; er hatte gesagt, es
würde der Moral des Landes schaden.
Der Wagenmeister wußte nichts von Politik; aber er wußte, daß das der Augenblick gewesen war, in dem er
alles Interesse an Leben oder Tod der Menschen oder des Landes verloren hatte.
Den Telefonhörer schon am Ohr, dachte er, daß er vielleicht die Männer warnen mußte, die einzusetzen er im
Begriff war. Sie vertrauten ihm; es würde ihnen nie der Gedanke kommen, daß er sie bewußt in den Tod
schicken könnte, aber er schüttelte den Kopf: Dies war nur ein alter Gedanke, ein Gedanke von vorgestern, ein
Überbleibsel aus der Zeit, da auch er ihnen vertraut hatte. Er hatte jetzt nichts mehr zu bedeuten. Sein Gehirn
arbeitete langsam, als schleppte er seine Gedanken durch ein Vakuum, in dem es kein Gefühl gab, das sie
antrieb. Er dachte, daß er Ärger bekäme, wenn er jemand warnen würde. Es würde eine Art Kampf sein, und er
war es, der sich überwinden mußte, um ihn zu beginnen. Er hatte vergessen, wofür man so einen Kampf begann.
Wahrheit? Gerechtigkeit? Nächstenliebe? Er scheute die Anstrengung, er war sehr müde. Wenn er all die
Männer auf seiner Liste warnte, dachte er, würde keiner die Lokomotive fahren, und so würde er zwei
Menschenleben retten und weitere dreihundert Menschen, die im Comet fuhren. Aber diese Zahlen lösten keine
Reaktion in ihm aus. Leben war nur ein Wort. Es hatte keinen Sinn.
Er nahm den Telefonhörer ans Ohr, rief zwei Nummern an und forderte einen Lokomotivführer und einen
Heizer auf, sich sofort zur Arbeit zu melden.
Die Lokomotive Nr. 306 war nach Winston abgefahren, als Dave Mitchum die Treppe herunterkam. »Machen
Sie die Draisine für mich bereit!« befahl er. »Ich muß nach Fairmount fahren.« Fairmount war eine kleine
Station, zwanzig Meilen östlich an der Strecke. Die Männer nickten und stellten keine Fragen. Bill Brent war
nicht unter ihnen. Mitchum ging in Brents Büro, wo Brent stumm an seinem Schreibtisch saß; er schien auf
etwas zu warten.
»Ich fahre nach Fairmount«, sagte Mitchum in einem aggressiv selbstverständlichen Ton, als ob er damit
unterstreichen wollte, daß jede Antwort überflüssig war. »Vor ein paar Wochen hatten sie dort eine Diesel. Für
Notfälle oder so etwas. Ich fahre hin, um zu sehen, ob wir sie nicht gebrauchen können.«
Er machte eine Pause, aber Brent sagte nichts.
»So wie die Dinge liegen«, fuhr Mitchum fort, ohne ihn anzusehen, »können wir den Zug nicht bis morgen
stehen lassen. Wir müssen so oder so aus der Klemme herauskommen. Nun, vielleicht wird uns die Diesel dazu
verhelfen. Aber das ist der letzte Versuch. Wenn Sie darum in einer halben Stunde nichts von mir hören,
unterzeichnen Sie die Anweisung und lassen den Comet von der Lokomotive 306 durch den Tunnel ziehen.«
Was immer Brent auch gedacht haben mochte, er konnte es nicht glauben, als er dies hörte. Er antwortete
nicht sofort, dann sagte er sehr ruhig: »Nein.«
»Was meinen Sie mit nein?«
»Ich werde es nicht tun.«
»Was soll das heißen: Sie werden es nicht tun? Es ist ein Befehl!«
»Ich werde es nicht tun.« Brent sagte das in einem festen, jeden Gefühls baren Ton.
»Weigern Sie sich, einen Befehl zu befolgen?«
»Ja.«
»Sie haben kein Recht dazu, und ich werde mich auch nicht in eine Auseinandersetzung darüber einlassen. Ich
trage für meinen Beschluß die Verantwortung, und Ihre Meinung interessiert mich nicht. Sie haben meine
Befehle auszuführen.«
»Werden Sie mir diesen Befehl schriftlich geben?«
»Wollen Sie damit etwa andeuten, daß Sie mir nicht vertrauen? Sind Sie…?«
»Warum müssen Sie nach Fairmount fahren, Dave? Warum können Sie wegen der Diesel nicht anrufen, wenn
Sie glauben, daß man dort eine hat?«
»Sie brauchen mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe. Sie haben mich nicht zu fragen. Sie haben den Mund
zu halten und zu tun, was ich Ihnen sage, oder ich werde Ihnen Gelegenheit geben, sich vor dem Amt für
Vereinheitlichung zu verantworten.«
Es war schwer, in Brents Cowboygesicht Gefühle zu erkennen, aber Mitchum sah so etwas wie einen
Ausdruck ungläubigen Entsetzens. Das Entsetzen bezog sich jedoch nicht auf seine Worte, und es war nicht jene
Furcht, die Mitchum erhofft hatte.
Brent wußte, daß morgen früh seine Aussage gegen die Mitchums stehen würde; Mitchum würde leugnen,
den Befehl gegeben zu haben; Mitchum würde den schriftlichen Beweis vorlegen, daß Lokomotive Nr. 306 nur,
um »auszuhelfen«, nach Winston geschickt worden war, und würde Zeugen beibringen, daß er nach Fairmount
gefahren war, um eine Diesel aufzutreiben. Mitchum würde behaupten, daß der verhängnisvolle Befehl einzig
und allein von Bill Brent, dem Bahnhofsvorsteher, erteilt worden war. Diese Aussage würde zwar einer
genaueren Prüfung nicht standhalten, aber sie würde dem Amt für Vereinheitlichung genügen, dessen Politik
allein darin bestand, nicht zuzulassen, daß etwas zu genau geprüft wurde. Brent wußte, daß er das gleiche Spiel
spielen und die Verantwortung einem anderen Opfer in die Schuhe schieben konnte. Er wußte, daß er schlau
genug war, um das fertigzubringen, aber er wußte zugleich, daß er lieber tot sein würde, als es zu tun.
Es war nicht der Anblick Mitchums, der ihn vor Entsetzen erstarren ließ. Es war die Erkenntnis, daß es
niemand gab, dem er die Sache offenbaren konnte, um sie zu verhindern – keinen Vorgesetzten irgendwo bei der
Eisenbahn von Colorado bis Omaha und New York. Sie spielten das Spiel alle mit. Sie taten das gleiche. Sie
hatten Mitchum die Rolle und die Methode gegeben. Dave Mitchum gehörte jetzt zu dieser Eisenbahn, und er,
Bill Brent, nicht.
Da Bill Brent gelernt hatte, mit einem einzigen Blick auf ein paar Zahlen auf einem Blatt Papier das ganze
Schienennetz eines Bezirks zu überblicken, konnte er jetzt auch sein ganzes Leben überblicken und war sich
über den vollen Preis der Entscheidung, die er fällte, im klaren. Er hatte sich erst verliebt, als er nicht mehr ganz
jung war; er war sechsunddreißig gewesen, als er die Frau gefunden hatte, die er begehrte. Er war seit vier Jahren
mit ihr verlobt. Er konnte sie noch nicht heiraten, weil er seine Mutter und eine verwitwete Schwester mit drei
Kindern unterstützen mußte. Er hatte sich nie vor Lasten gefürchtet, weil er wußte, daß er sie zu tragen
vermochte, und er hatte nie eine Verpflichtung übernommen, wenn er nicht sicher war, sie erfüllen zu können. Er
hatte gewartet, er hatte Geld gespart, und jetzt war endlich die Zeit gekommen, sich ungehemmt seines Glücks
zu freuen. In wenigen Wochen, im Juni, wollte er heiraten. Er dachte daran, als er an seinem Schreibtisch saß
und Dave Mitchum ansah, aber der Gedanke machte ihn nicht schwankend, erweckte nur Bedauern und eine
ferne Trauer in ihm; fern, weil er wußte, daß sie ihn in diesem Augenblick nicht beeinflussen durfte.
Bill Brent wußte nichts von Erkenntnistheorie – aber er wußte, daß der Mensch nach seiner eigenen
Erkenntnis der Wirklichkeit leben mußte, daß er nicht gegen sie handeln, ihr entrinnen oder einen Ersatz für sie
finden konnte und daß es keine andere Art für ihn gab zu leben.
Er sprang auf. »Es stimmt; solange ich diese Stellung habe, muß ich Ihnen gehorchen«, sagte er, »aber nicht,
wenn ich gehe. Und darum gehe ich.«
»Was tun Sie?«
»Ich gehe, und zwar sofort.«
»Aber Sie haben kein Recht, Ihren Posten niederzulegen. Sie verfluchter Lump. Wissen Sie das nicht? Wissen
Sie nicht, daß ich Sie deswegen ins Gefängnis bringen werde?«
»Wenn Sie morgen die Polizei zu mir schicken wollen, ich bin zu Hause. Ich werde nicht versuchen zu
flüchten. Ich wüßte gar nicht, wohin ich gehen sollte.«
Dave Mitchum war ein Meter zweiundachtzig groß und wie ein Boxer gebaut, aber er stand vor Wut und
Entsetzen zitternd vor der kleinen Gestalt Bill Brents. »Sie können Ihren Posten nicht niederlegen. Das Gesetz
verbietet es. Es steht auf meiner Seite. Sie können nicht einfach verschwinden. Ich lasse Sie nicht hinaus. Ich
werde verhindern, daß Sie dieses Gebäude heute nacht verlassen.«
Brent ging zur Tür. »Werden Sie mir den Befehl, den Sie mir gegeben haben, vor den anderen wiederholen? –
Nein? Dann gehe ich.«
Als er die Tür öffnete, schlug ihn Mitchum mit einem Fausthieb ins Gesicht zu Boden.
Der Wagenmeister und der Maschinenmeister standen in der offenen Tür. »Er legt seine Arbeit nieder«, schrie
Mitchum, »der elende Lump legt in einer Zeit wie dieser seine Arbeit nieder! Er ist ein Gesetzesbrecher und ein
Feigling!«
Bill Brent, der sich mühsam vom Boden erhob, blickte durch das Blut, das ihm in die Augen floß, zu den
beiden Männern auf. Er sah, daß sie verstanden, aber er sah auch die verschlossenen Gesichter von Menschen,
die nicht verstehen und sich nicht einmischen wollten und die ihn haßten, weil er an ihr Gerechtigkeitsgefühl
appellierte. Er sagte nichts, stand auf und verließ das Gebäude.
Mitchum vermied es, die anderen anzusehen. »He, Sie!« rief er und deutete mit dem Kopf auf den
Zugabfertiger vom Nachtdienst. »Kommen Sie mal her. Sie müssen sofort Brents Posten übernehmen.«
Nachdem die Tür sich wieder geschlossen hatte, erzählte er dem jungen Mann die Geschichte von der Diesel in
Fairmount, wie er sie Brent erzählt hatte, und gab ihm die Anweisung, den Comet mit der Lokomotive Nr. 306
durch den Tunnel fahren zu lassen, wenn er binnen einer halben Stunde nichts von ihm hörte. Der junge Mann
war nicht in der Verfassung zu denken, zu sprechen oder etwas zu verstehen. Er sah immer noch das Blut im
Gesicht Bill Brents, der sein Abgott gewesen war. »Jawohl«, antwortete er wie betäubt.
Dave Mitchum fuhr nach Fairmount und sagte, als er in die Draisine stieg, jedem Streckenarbeiter,
Weichensteller und Putzer, den er sah, er wolle eine Diesel für den Comet suchen.
Der Zugabfertiger vom Nachtdienst saß an seinem Schreibtisch, blickte auf die Uhr und das Telefon und
betete, das Telefon möge läuten und Mr. Mitchum sich melden. Aber die halbe Stunde verrann stumm, und als es
nur noch drei Minuten waren, verspürte der junge Mann eine Angst, die er sich nicht erklären konnte, aber er
wußte, daß er die Anweisung nicht weitergeben wollte.
Er wandte sich an den Wagenmeister und den Maschinenmeister und fragte zögernd: »Mr. Mitchum hat mir,
bevor er fortfuhr, eine Anweisung gegeben, aber ich weiß nicht, ob ich sie weitergeben soll, denn… ich glaube,
es ist nicht richtig. Er sagte…«
Der Wagenmeister wandte sich ab. Er fühlte kein Mitleid. Der junge Mann war ungefähr in dem Alter, in dem
sein Bruder gewesen war.
Der Maschinenmeister sagte: »Tun Sie, was Mitchum Ihnen gesagt hat. Sie sollen nicht denken.« Und er
verließ den Raum.
Die Verantwortung, der James Taggart und Clifton Locey ausgewichen waren, ruhte jetzt auf den Schultern
eines zitternden, verzweifelten jungen Mannes. Er zögerte, dann nahm er allen Mut zusammen; er klammerte
sich an den Gedanken, daß man den guten Glauben und die Kompetenz der großen Eisenbahnleute nicht
anzweifeln durfte. Er wußte nicht, daß seine Vorstellung von einer Eisenbahn und ihren Leitern der entsprach,
die man vor einem Jahrhundert gehabt hatte.
In dem Augenblick, als der Uhrzeiger weitersprang und die halbe Stunde um war, setzte er mit der
gewissenhaften Pünktlichkeit eines Eisenbahners seinen Namen unter die Anweisung, die den Comet anwies, mit
der Lokomotive Nr. 306 weiterzufahren, und übermittelte sie dem Bahnhof Winston.
Den Stationsvorsteher in Winston schauderte beim Anblick der Anweisung, aber er war kein Mann, der der
Autorität trotzte. Er sagte sich, daß der Tunnel vielleicht gar nicht so gefährlich war, wie er dachte, und es sei das
Beste in diesen Zeiten, nicht zu denken.
Als er die Kopien der Anweisung dem Zugführer und dem Lokomotivführer des Comet reichte, ließ der
Zugführer seine Augen langsam von Gesicht zu Gesicht durch den Raum schweifen, faltete dann das Papier
zusammen, steckte es in die Tasche und ging ohne ein Wort hinaus.
Der Lokomotivführer blickte einen Augenblick lang auf das Papier, dann warf er es auf den Boden und sagte:
»Ich mache das nicht. Wenn es soweit ist, daß uns diese Eisenbahn solche Anweisungen erteilt, dann arbeite ich
nicht mehr für sie. Vermerken Sie, daß ich meine Arbeit niedergelegt habe.«
»Aber das können Sie nicht tun«, schrie der Stationsvorsteher. »Man wird Sie deswegen verhaften!«
»Vorausgesetzt, daß man mich findet«, sagte der Lokomotivführer, verließ den Bahnhof und verschwand im
Dunkel der Nacht. Der Lokomotivführer von Silver Springs, der die Nr. 306 gebracht hatte, saß in einer Ecke des
Raums. Er sagte: »Er ist eine Memme.«
Der Stationsvorsteher wandte sich ihm zu: »Machen Sie’s, Joe? Übernehmen Sie den Comet?«
Joe Scott war betrunken. Es hatte eine Zeit gegeben, in der man einen Eisenbahner, der betrunken zum Dienst
erschien, wie einen Arzt betrachtet hätte, der mit Pocken im Gesicht in seine Sprechstunde kam. Aber Joe Scott
genoß Vorrechte. Vor drei Monaten war er wegen Nichtbeachtung von Sicherheitsvorschriften, wodurch er einen
größeren Unfall verursacht hatte, entlassen worden; vor zwei Wochen hatte man ihn auf Befehl des Amtes für
Vereinheitlichung wieder eingestellt. Er war ein Freund Kinnans; er schützte Kinnans Interessen in seiner
Gewerkschaft nicht gegen die Arbeitgeber, sondern gegen die Arbeiter.
»Gewiß«, sagte Joe Scott. »Ich übernehme den Comet. Wenn ich schnell genug fahre, bringe ich ihn schon
durch den Tunnel.«
Der Heizer von Nr. 306 war im Führerstand seiner Lokomotive geblieben. Er machte ein nicht gerade frohes
Gesicht, als man seine Lokomotive vor den Comet spannte; er blickte auf die roten und grünen Lichter des
Tunnels, die über zwanzig Meilen Kurven in der Ferne hingen. Aber er war ein friedlicher, gutmütiger Mann, der
ein guter Heizer war, aber nicht hoffen konnte, je zum Lokomotivführer aufzusteigen; seine starken Muskeln
waren das einzige, was ihn auszeichnete. Da er sicher war, daß seine Vorgesetzten wußten, was sie taten, stellte
er keine Fragen.
Der Zugführer stand am Ende des Comet. Er blickte auf die Lichter des Tunnels und dann auf die lange Reihe
der Fenster des Zuges. Ein paar der Fenster waren erleuchtet, aber bei den meisten sickerte nur das schwache
blaue Licht der Nachtlampen unter den heruntergezogenen Vorhängen durch. Er dachte, er müßte die Fahrgäste
aus dem Schlaf rütteln und warnen. Es hatte eine Zeit gegeben, da er die Sicherheit der Fahrgäste über seine
eigene gestellt hatte, nicht aus Liebe zu seinen Mitmenschen, sondern weil diese Verantwortung zu seinem Beruf
gehörte, den er mit stolzer Hingabe erfüllte. Aber jetzt fühlte er eine verachtungsvolle Gleichgültigkeit und kein
Verlangen, die Leute zu retten. Sie hatten die Verordnung 10-289 gefordert und hingenommen, dachte er. Sie
lebten weiter und wandten Tag für Tag den Blick von den Urteilen ab, die das Amt für Vereinheitlichung
wehrlosen Opfern auferlegte. Warum sollte er sich jetzt nicht von ihnen abwenden? Wenn er ihnen das Leben
rettete, würde nicht einer von ihnen für ihn eintreten, wenn das Amt für Vereinheitlichung ihn verurteilte, weil er
Anweisungen nicht ausgeführt, eine Panik verursacht und Mr. Chalmers aufgehalten hatte. Er hatte kein
Verlangen, dafür zum Märtyrer zu werden, daß die Menschen weiter ungefährdet ihre verantwortungslose
Bosheit ausleben konnten.
Als der Augenblick kam, hob er seine Laterne und gab dem Lokomotivführer das Abfahrtszeichen.
»Na«, sagte Kip Chalmers triumphierend zu Lester Tuck, als die Räder unter ihren Füßen sich zu drehen
begannen. »Furcht ist das einzige praktische Mittel, mit den Menschen umzugehen.«
Der Zugführer stieg in den letzten Wagen. Niemand sah ihn, als er auf der anderen Seite wieder ausstieg, am
Zug entlang schlich und in der Dunkelheit des Gebirges verschwand. Ein Weichensteller stand bereit, um die
Weiche zu stellen, damit der Comet vom Abstellgleis auf die Hauptstrecke fahren konnte. Er blickte auf den
Comet, als er langsam auf ihn zugefahren kam. Es war nur eine grelle weiße Kugel mit einem Strahl, der sich
hoch über seinem Kopf erstreckte, und ein zitterndes Dröhnen in den Schienen unter seinen Füßen. Er wußte,
daß er die Weiche nicht hätte umstellen dürfen. Er dachte an die Nacht vor zehn Jahren, als er sein Leben bei
einer Überschwemmung aufs Spiel gesetzt hatte, um einen Zug davor zu bewahren, in den Fluten zu versinken.
Aber die Zeiten hatten sich nun einmal geändert. In dem Augenblick, als er die Weiche umstellte und sah, wie
der Scheinwerfer zur Seite sprang, wußte er, daß er von nun an für den Rest seines Lebens seinen Beruf hassen
würde.
Der Comet rollte von dem Abstellgleis auf eine schmale, gerade Linie und fuhr weiter ins Gebirge hinauf mit
dem Strahl des Scheinwerfers vor sich, der wie ein wegweisender ausgestreckter Arm aussah, und der
erleuchteten Glasgondel des Aussichtswagens an seinem Ende.
Einige der Fahrgäste im Comet waren wach. Als der Zug sich bergauf zu winden begann, sahen sie in der
Finsternis hinter den Fenstern unter sich die vielen kleinen Lichter von Winston und dann in der gleichen
Finsternis durch den oberen Rand der Fensterscheiben rote und grüne Lichter am Eingang eines Tunnels.
Jedesmal, wenn sie wieder auftauchten, schienen die Lichter von Winston kleiner zu werden, und das schwarze
Loch des Tunnels wurde immer größer. Hin und wieder wehte ein schwarzer Schleier an den Fenstern vorüber
und verdunkelte die Lichter: Es war der Rauch der Dampflokomotive.
Als der Tunnel näher kam, sahen sie am Himmel fern im Süden, in einer Leere zwischen Raum und Felsen,
eine sich im Winde bewegende Flamme. Sie wußten nicht, was es war, und es interessierte sie auch nicht, es zu
erfahren.
Es heißt, daß Katastrophen reiner Zufall sind, und manch einer hätte gewiß gesagt, die Fahrgäste des Comet
treffe für ihr Geschick keine Schuld oder Verantwortung.
Der Mann im Abteil A des Schlafwagens Nr. 1 war ein Professor der Soziologie, der lehrte, daß individuelle
Fähigkeiten nichts zu bedeuten hatten, daß individuelle Bemühungen sinnlos waren, daß ein individuelles
Gewissen einen nutzlosen Luxus darstellte, daß es keine individuelle Vernunft, keinen individuellen Charakter,
keine individuelle Leistung gab, daß alles kollektiv erreicht wird und daß die Massen und nicht die Menschen
zählen.
Der Mann in Schlafkoje 7 des Wagens Nr. 2 war ein Journalist, der schrieb, es sei richtig und moralisch,
Zwang »für eine gute Sache« anzuwenden; der glaubte, er habe das Recht, andere die physische Kraft fühlen zu
lassen – Leben zu zerstören, Ehrgeiz zu drosseln, Begierden zu ersticken, Überzeugungen zu brechen, Menschen
einzusperren, zu rauben, zu morden – um dessentwillen, was er jeweils als seine Idee einer guten Sache
betrachtete, was nicht einmal eine Idee zu sein brauchte, da er nie erklärte, was er unter gut verstand, sondern nur
festgestellt hatte, daß er sich allein von einem Gefühl leiten ließ, einem Gefühl, das durch kein Wissen gehemmt
wurde, da er das Gefühl über das Wissen stellte und sich allein auf seine guten Absichten und die Macht der
Gewehre verließ.
Die Frau in Schlafkoje 10 des Wagens Nr. 3 war eine ältere Lehrerin, die ihr Leben damit verbracht hatte,
Klasse auf Klasse hilfloser Kinder in erbärmliche Feiglinge zu verwandeln, indem sie sie lehrte, daß der Wille
der Mehrheit der einzige Maßstab von Gut und Böse ist, daß eine Mehrheit alles tun kann, was sie will, daß sie
nicht ihre eigene Persönlichkeit zur Geltung bringen dürften, sondern das tun müßten, was andere taten.
Der Mann im Abteil B des Schlafwagens Nr. 4 war ein Zeitungsverleger, der glaubte, daß die Menschen von
Natur böse und für die Freiheit nicht tauglich sind, daß sie, wenn man sie nicht bändigt, einander belügen,
berauben und ermorden – und darum müßten sie mit Lüge, Raub und Mord regiert werden, die das
ausschließliche Privileg der Regierenden sein sollten, um die Menschen zur Arbeit zu zwingen, um ihnen Moral
beizubringen und sie in den Banden von Ordnung und Gerechtigkeit zu halten.
Der Mann im Abteil H des Schlafwagens Nr. 5 war ein Unternehmer, der seine Firma, eine Eisenerzgrube, auf
Grund des Chancenausgleichsgesetzes mit Hilfe einer Regierungsanleihe erworben hatte.
Der Mann im Salon A des Wagens Nr. 6 war ein Finanzmann, der ein Vermögen damit verdient hatte, daß er
»eingefrorene« Eisenbahnobligationen gekauft und sie von seinen Freunden in Washington hatte »entfrosten«
lassen.
Der Mann auf Platz 7 im Wagen Nr. 7 war ein Arbeiter, der glaubte, er habe ein »Recht« auf Arbeit, ob ein
Arbeitgeber ihn wollte oder nicht.
Die Frau in Schlafkoje 6 des Wagens Nr. 8 war eine Dozentin, die glaubte, daß sie als Reisende ein Anrecht
auf Beförderung hatte, ob die Leute von der Eisenbahn dafür sorgen wollten oder nicht.
Der Mann in der Schlafkoje 2 des Wagens Nr. 9 war ein Professor der Volkswirtschaft, der die Abschaffung
des Privateigentums verfocht. Er erklärte, Intelligenz spiele keine Rolle in der industriellen Produktion, der
menschliche Verstand sei das Ergebnis materieller Bedingungen, jeder könne eine Fabrik oder eine Eisenbahn
leiten, man müsse nur die entsprechenden Anlagen in seinen Besitz bringen.
Die Frau im Abteil D des Schlafwagens Nr. 10 war eine Mutter, die ihre beiden Kinder in das obere Bett
gelegt und sie sorgfältig zugedeckt hatte, damit sie vor Zug bewahrt blieben und nicht herunterfallen konnten,
eine Mutter, deren Mann eine Stellung bei der Regierung hatte und der für die Durchsetzung der Verordnungen
sorgte, die sie damit verteidigte, daß sie sagte: »Mich interessiert das nicht. Das tut nur den Reichen weh.
Schließlich muß ich an meine Kinder denken.«
Der Mann in Schlafkoje 3 des Wagens Nr. 11 war ein schwächlicher Neurotiker, der kleine billige Stücke
schrieb, in die er feige, als soziale Botschaft, Niederträchtigkeit einflocht, um damit zu beweisen, daß alle
Geschäftsleute Schurken waren.
Die Frau in Schlafkoje 9 des Wagens Nr. 12 war eine Hausfrau, die glaubte, sie habe das Recht, Politiker, von
denen sie nichts wußte, als Aufsicht für ganze Industriezweige zu wählen, von denen sie keine Ahnung hatte.
Der Mann im Abteil F des Schlafwagens Nr. 13 war ein Rechtsanwalt, der gesagt hatte: »Ich? Ich werde unter
jedem politischen System leben können.«
Der Mann im Abteil A des Wagens Nr. 14 war ein Professor der Philosophie, der lehrte, daß es keinen
Verstand gibt – »woher wissen Sie, daß der Tunnel gefährlich ist?« – keine Wirklichkeit – »wie können Sie
beweisen, daß der Tunnel existiert? « – keine Logik – »warum behaupten Sie, daß Züge sich nicht ohne
Triebkraft bewegen können?« – keine Prinzipien – »warum sollte man an das Gesetz von Ursache und Wirkung
gebunden sein?« – keine Rechte – »warum sollte man Menschen nicht mit Gewalt an ihre Arbeitsplätze binden?«
– keine Moral – »was hat Moral mit der Leitung einer Eisenbahn zu tun?« – nichts Absolutes – »was für einen
Unterschied macht es schon, ob man lebt oder stirbt?« Er lehrte, daß wir nichts wissen – »warum uns den
Anweisungen unserer Vorgesetzten widersetzen?« – daß wir nie einer Sache sicher sein können – »woher wissen
Sie, daß Sie im Recht sind?« – daß wir nach den Erfordernissen des Augenblicks handeln müssen – »Sie wollen
doch wohl nicht Ihre Stellung riskieren?«…
Der Mann im Salon B des Wagens Nr. 15 hatte sein Vermögen geerbt und wiederholte immer von neuem:
»Warum sollte Rearden der einzige sein, dem erlaubt wird, Rearden Metal herzustellen?«
Der Mann im Abteil A des Schlafwagens Nr. 16 war ein Philanthrop, der gesagt hatte: »Die begabten
Menschen? Es interessiert mich nicht, was oder ob sie leiden müssen. Sie müssen bestraft werden, damit sie die
Unfähigen unterstützen. Ehrlich gesagt, es ist mir gleich, ob das gerecht ist oder nicht. Ich bin stolz darauf, daß
es mir gleich ist, ob dem Könner Gerechtigkeit widerfährt, da es nur auf den Bedürftigen ankommt.«
Diese Fahrgäste waren wach; es war nicht ein Mensch im Zuge, der nicht eine oder mehrere ihrer Ideen teilte.
Als der Zug in den Tunnel einfuhr, war die Flamme von Wyatts Fackel das letzte, was sie von der Erde sahen.

VIII. Durch unsere Liebe

Die Sonne berührte die Wipfel der Bäume am Hang des Berges, und sie sahen silbergrau aus wie der Himmel.
Dagny stand vor der Tür der Hütte. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf ihre Stirn, und der meilenweite Wald
erstreckte sich zu ihren Füßen. Die Farbe der Blätter ging vom Silber in ein Grün über und dann in das
Rauchblau der Schatten auf der Straße unten. Das Licht sickerte durch die Zweige und schoß plötzlich funkelnd
auf, wenn es einen Busch Farnkraut traf, der dann einem grünen Springbrunnen glich. Es machte ihr Freude, die
Bewegung des Lichts in einer Stille zu beobachten, in der nichts sonst sich rührte.
Wie jeden Morgen hatte sie das Datum auf dem Kalender an der Wand ihres Zimmers angekreuzt. Das
Fortschreiten der Daten auf diesem Blatt war die einzige Bewegung im Schweigen ihrer Tage, ähnlich wie für
einen Gefangenen auf einer einsamen Insel. Es war heute der 28. Mai.
Diese Daten hatten sie zu einem Ziel führen sollen, aber sie konnte nicht sagen, ob sie es erreicht hatte oder
nicht. Dreierlei hatte sie sich vorgenommen, als sie hergekommen war – es war ein Befehl gewesen, den sie sich
selbst gegeben hatte: Ausruhen – ohne die Eisenbahn zu leben lernen – den Schmerz aus dem Weg räumen. Ihn
aus dem Weg räumen, genau diese Worte hatte sie benutzt. Es war ihr, als wäre sie an einen kranken Fremden
gefesselt, der jeden Augenblick einen Anfall erleiden konnte und der sie mit seinen Schmerzensschreien
ersticken würde. Sie empfand kein Mitleid für den Fremden, nur Verachtung und Ungeduld. Sie mußte ihn
bekämpfen und vernichten, erst dann würde der Weg frei sein, und sie könnte entscheiden, was sie tun wollte.
Aber der Fremde war nicht leicht zu bezwingen.
Das Ausruhen war eine leichtere Aufgabe. Sie liebte die Einsamkeit. Sie erwachte morgens mit einem Gefühl
froher Zuversicht, dem Gefühl, daß sie sich weiterwagen und bereit sein konnte, das zu tun, was sich ihr bot. In
der Stadt hatte sie in ständiger Spannung gelebt, um dem Ansturm von Ärger, Empörung, Verachtung, Ekel
standzuhalten. Die einzige Gefahr, die sie hier bedrohte, war ein durch einen Unfall verursachter körperlicher
Schmerz. Aber wie harmlos und leicht erschien er im Vergleich zu dem anderen.
Die Hütte lag fern von jeder Verkehrsstraße. Sie war noch genauso wie zur Zeit ihres Vaters. Dagny kochte
ihr Essen auf einem Herd, der mit Holz gefeuert wurde, und sammelte das Holz an den Hängen des Berges. Sie
entfernte das vor der Hütte wachsende Gestrüpp, deckte das Dach neu, strich die Tür und die Fensterrahmen.
Regen, Unkraut und Gestrüpp hatten die Stufen eines einst terrassenförmig angelegten Weges, der von der
Straße zu der Hütte heraufführte, ausgewaschen und überwuchert. Sie legte ihn neu an, säuberte die Stufen,
befestigte die Steine und steifte die Stufen aus weicher Erde mit Felsblöcken ab. Es machte ihr Freude, aus altem
Eisen und Seilen einen Flaschenzug zu bauen und dann mit ihm Felsblöcke zu bewegen, was sie mit eigener
Kraft nie vermocht hätte. Sie pflanzte Brunnenkresse und Knöterich und sah, wie die Pflanzen unten langsam
den Boden bedeckten und sich nach oben an den Baumstämmen emporrankten, sah sie wachsen und sah in
diesem Wachsen Fortschreiten und Bewegung.
Die Arbeit gab ihr die Ruhe, die sie brauchte. Es war ihr gar nicht bewußt geworden, wann oder warum sie
damit begonnen hatte. Ohne eigentliche Absicht hatte sie sich ans Werk gemacht, aber nun sah sie es unter ihren
Händen wachsen, und sie fühlte sich davon mitgetragen und spürte, wie ihre Wunden heilten und ein innerer
Friede sie erfüllte. Da begriff sie, daß das, was sie brauchte, die Bewegung auf ein Ziel zu war, ganz gleich was
oder wie klein es sein mochte, das Gefühl, Schritt für Schritt und Tag für Tag auf das zuzugehen, was sie sich
vorgenommen hatte. Das Kochen einer Mahlzeit war wie ein Kreis, der sich schloß und zu nichts führte. Aber
einen Weg anzulegen war eine Summe des Lebens: Kein Tag blieb tot und leer hinter ihr, sondern jeder Tag
enthielt alle, die ihm vorangegangen waren, jeder Tag wurde durch den folgenden Morgen unsterblich. Ein
Kreis, dachte sie, ist die der Natur gemäße Bewegung. Es heißt, in der unbelebten Welt um uns vollziehen sich
nur Kreisbewegungen, aber die gerade Linie ist das Kennzeichen des Menschen, die gerade Linie einer
geometrischen Abstraktion, die Eisenbahnschienen und Brücken schafft. Die gerade Linie, die die ziellose
Kreisbewegung der Natur durch eine zielbewußte Bewegung von einem Anfang zu einem Ende durchschneidet.
Das Kochen, dachte sie, ist wie die Versorgung einer Lokomotive mit Kohle für eine große Reise, aber was für
eine sinnlose Mühe wäre es, eine Lokomotive zu heizen, die keine Reise vor sich hat? Das Leben des Menschen
darf kein Kreis sein, dachte sie, oder eine Reihe von Kreisen, die er wie Nullen hinter sich läßt; das
Menschenleben muß eine gerade Linie der Bewegung von einem Ziel zum anderen sein. Jedes Ziel führt zum
nächsten und zu einer einzigen anwachsenden Summe wie eine Fahrt auf den Schienen einer Eisenbahn von
einem Bahnhof zum anderen. – Ach, laß das!
Laß das, sagte sie sich in ruhiger Strenge, wenn der Schrei des kranken Fremden erstickt war, denke nicht
daran, sieh nicht zu weit voraus, du legst diesen Weg an, leg ihn an, blick nicht über den Fuß des Berges hinaus.
Ein paarmal war sie zu dem Laden in dem zwanzig Meilen entfernten Woodstock gefahren, um Lebensmittel
und was sie sonst noch brauchte zu kaufen. Woodstock war ein kleiner Ort mit verfallenen Gebäuden, den man
vor Generationen aus Gründen oder Hoffnungen erbaut hatte, die inzwischen längst vergessen waren. Er lag
nicht an einer Eisenbahnstrecke, hatte keinen Stromanschluß; nur eine von Jahr zu Jahr weniger benutzte Straße
führte dorthin.
Der einzige Laden war eine Bretterbude, mit von Spinnen angefressenem Gebälk und vom Regen, der durch
das undichte Dach tröpfelte, verfaultem Fußboden. Die Ladenbesitzerin war eine fette, blasse Frau, die sich
mühsam bewegte, der aber der ganze Verfall nichts auszumachen schien. Die Lebensmittelvorräte bestanden aus
verstaubten Konservenbüchsen mit verblichenen Schildern und Gemüse, das in alten Kisten draußen vor der Tür
stand und verkam. »Warum lassen Sie das Gemüse in der Sonne stehen?« fragte Dagny einmal. Die Frau blickte
sie verblüfft an, als ob sie gar nicht begreifen könnte, daß man so etwas fragte. »Es hat immer dort gestanden«,
antwortete sie gleichgültig. Auf der Rückfahrt zu der Hütte sah Dagny zu einem Gebirgsfluß hinauf, der an einer
nackten Felswand mit wilder Gewalt herunterstürzte und in der Sonne wie ein Regenbogen sprühte. Sie dachte,
man könnte hier ein Wasserkraftwerk bauen, gerade groß genug, um ihre Hütte und Woodstock mit Strom zu
versorgen. Aus Woodstock könnte noch etwas werden. Die wilden Apfelbäume, die sie in so großer Anzahl im
dichten Grün der Hänge sah, waren die Überbleibsel von Obstplantagen. Wenn man sie wieder herrichten und
dann eine Schmalspurstrecke zur nächsten Eisenbahn bauen würde… – Ach, laß das!
»Petroleum ist heute nicht da«, sagte die Ladenbesitzerin zu ihr, als sie das nächste Mal nach Woodstock kam.
»Es hat Donnerstag geregnet, und wenn es regnet, kommen die Lastwagen nicht durch die Fairfield-Schlucht.
Die Straße ist überflutet, und der Petroleumwagen kommt erst im nächsten Monat wieder.« – »Wenn Sie wissen,
daß die Straße jedesmal überflutet wird, wenn es regnet, warum bessern Sie sie dann nicht aus?« – »Die Straße
war immer so«, antwortete die Frau.
Auf der Rückfahrt hielt Dagny auf dem Gipfel eines Berges und blickte in das Land hinunter. Sie sah die
Fairfield-Schlucht, in der sich die Straße durch das unter dem Flußspiegel liegende sumpfige Gelände wand und
für die sich in dem schmalen Spalt zwischen zwei Bergen keine Ausweichmöglichkeit bot. Es wäre so einfach,
diese Berge zu umgehen, dachte sie, und eine Straße auf der anderen Seite des Flusses zu bauen – die Leute in
Woodstock hatten nichts zu tun; sie könnte es ihnen beibringen –, eine direkte Straße nach Südwesten zu bauen –
wobei man Meilen sparte – und sie am Lagerhaus mit dem Highway zu verbinden… – Ach, laß das!
Sie schob ihre Petroleumlampe beiseite und saß nach Anbruch der Dunkelheit in ihrer Hütte beim Schein
einer Kerze und lauschte der Musik, die aus einem kleinen tragbaren Radio kam. Sie war immer auf der Jagd
nach Sinfoniekonzerten und drehte den Knopf schnell weiter, sobald sie die rauhe Stimme des
Nachrichtensprechers hörte. Sie wollte nichts aus der Stadt hören.
Denk nicht an Taggart Transcontinental, hatte sie sich in ihrer ersten Nacht in der Hütte gesagt – denke nicht
daran, bis du die Worte so gleichgültig vernehmen kannst wie Atlantic Southern oder Associated Steel. Aber die
Wochen verstrichen, und die Wunde vernarbte nicht.
Es war ihr, als ob sie die unberechenbare Grausamkeit ihres eigenen Verstandes bekämpfte. Sie lag im Bett,
war nahe daran einzuschlafen – und plötzlich mußte sie daran denken, daß das Förderband auf dem
Kohlebahnhof in Willow Bend in Indiana abgenutzt war. Sie hatte es bei ihrer letzten Fahrt durch das Fenster
ihres Wagens gesehen. Sie mußte ihnen sagen, sie sollten es ersetzen, oder sie… Und dann richtete sie sich im
Bett auf und schrie: Laß das! – und sie ließ es, blieb aber die ganze Nacht hindurch wach.
Sie saß vor der Tür der Hütte bei Sonnenuntergang und beobachtete die immer leiser werdende Bewegung der
Blätter in der Dämmerung – dann sah sie die Glühwürmchen, die aus dem Gras aufflogen und in jedem sich
verdunkelnden Winkel aufleuchteten und erloschen, langsam aufleuchteten, als ob sie einen Augenblick jemand
warnen wollten – sie glichen den Signallichtern, die nachts über der Eisenbahnstrecke aufglühten. Laß das!
Die Zeiten, in denen sie es nicht lassen konnte, fürchtete sie; die Zeiten, in denen sie, unfähig aufzustehen –
wie in einem körperlichen Schmerz, der sich nicht vom Schmerz ihrer Seele trennen ließ –, auf dem Boden in der
Hütte oder der Erde des Waldes saß, das Gesicht an einen Stuhl oder einen Felsen gepreßt, und alle Kraft
zusammennahm, um nicht laut aufzuschreien, weil sie ihr plötzlich so nahe und so wirklich wie der Körper eines
Geliebten waren: die beiden Schienen, die sich in einem einzigen Punkt in der Ferne vereinten – die Vorderseite
einer Lokomotive, die mit den Buchstaben TT den Raum durchschnitt – das Rattern der sich in immer
schnellerem Rhythmus unter dem Boden ihres Wagens bewegenden Räder – die Statue Nat Taggarts in der Halle
des Bahnhofs. Sie wollte sie nicht kennen, wollte sie nicht fühlen. Ihr Körper war wie erstarrt, bis auf die
reibende Bewegung ihres Gesichtes an ihrem Arm. Alle Macht über ihr Bewußtsein, die ihr noch geblieben war,
legte sie in die immer von neuem tonlos wiederholten Worte: Räum es aus dem Wege!
Aber es gab auch lange Stunden der Ruhe, in denen sie dem, was sie bewegte, mit der leidenschaftslosen
Klarheit, mit der man ein technisches Problem abwägt, ins Auge sehen konnte. Doch sie vermochte keine
Antwort zu finden. Sie wußte, daß ihre verzweifelte Sehnsucht nach der Eisenbahn vergehen würde, sobald sie
sich davon überzeugen konnte, daß sie unerfüllbar und falsch war. Aber die Sehnsucht kam aus der Gewißheit,
daß Wahrheit und Recht auf ihrer Seite waren; daß der Feind das Irrationale und das Unwirkliche war; daß sie
sich kein anderes Ziel setzen oder das Verlangen aufbringen konnte, es zu erreichen, weil das, was sie
rechtmäßig vollbracht hatte, verlorengegangen war, nicht an eine überlegene Macht, sondern an ein
hassenswertes Böses, das es durch Unvermögen erobert hatte.
Sie konnte auf die Eisenbahn verzichten, dachte sie; sie konnte Zufriedenheit hier in diesem Wald finden; aber
sie würde den Weg anlegen, dann die Straße unten erreichen, dann die Straße neu bauen – und dann würde sie
den Laden in Woodstock erreichen, und das würde das Ende sein. Und das leere, ausdruckslose Gesicht, das
apathisch in die Welt starrte, würde die Grenze sein, die ihrem Bemühen gesetzt war. »Warum?« schrie sie laut,
aber es kam keine Antwort. Dann bleibe hier, bis du die Antwort gefunden hast, dachte sie. Du kannst nirgendwo
anders hin, du kannst nicht von hier fort, du kannst nicht beginnen, den Weg zu bauen… ehe du weißt, wohin er
führen soll.
An langen stillen Abenden war das Gefühl, das sie still sitzen und in die unerreichbare Ferne hinter dem
abnehmenden Licht im Süden blicken ließ, Sehnsucht nach Hank Rearden. Sie sehnte sich nach dem Anblick
seines unnachgiebigen Gesichts, dieses zuversichtlichen Gesichts, das sie mit einem leisen Lächeln ansah. Aber
sie wußte, daß sie ihn erst wiedersehen konnte, wenn der Kampf gewonnen war. Sein Lächeln mußte verdient
werden; es galt einer Gegnerin, die ihre Kraft gegen seine tauschte, nicht einem geschlagenen unglücklichen
Menschen, der in diesem Lächeln Erlösung suchte und damit seinen Sinn zerstörte. Er konnte ihr helfen zu
leben, aber er konnte ihr nicht helfen zu entscheiden, für welches Ziel sie weiterleben wollte.
Sie hatte seit dem Morgen, als sie den 15. Mai auf ihrem Kalender angekreuzt hatte, eine leise Angst verspürt.
Sie hatte sich gezwungen, hin und wieder die Nachrichten im Rundfunk anzuhören. Aber sein Name war nicht
erwähnt worden. Ihre Sorge um ihn war das letzte, was sie noch mit der Stadt verband. Immer wieder zog diese
Sorge ihre Augen zum Horizont im Süden und hinunter zur Straße am Fuß des Berges. Sie entdeckte, daß sie auf
ihn wartete. Sie ertappte sich dabei, wie sie lauschte, ob sie nicht das Brummen eines Motors hörte. Aber der
einzige Laut, der ihr bisweilen eine flüchtige Hoffnung gab, war das plötzliche Knacken von Ästen, die die
Flügel eines großen, zum Himmel auffliegenden Vogels berührten.
Noch etwas anderes band sie an die Vergangenheit, ein immer noch ungelöstes Problem: Quentin Daniels und
der Motor, den er neu zu bauen versuchte. Am 1. Juni würde sie ihm seinen monatlichen Scheck schicken. Sollte
sie ihm sagen, daß sie ihre Stellung aufgegeben hatte, daß weder sie noch die Welt den Motor je brauchen
würden? Sollte sie ihm sagen, er möge mit der Arbeit aufhören und die Reste des Motors auf irgendeinem
Schutthaufen wie dem, in dem sie sie gefunden hatte, verrosten lassen? Sie konnte sich nicht dazu überwinden,
es zu tun. Es erschien ihr schwerer als der Abschied von der Eisenbahn. Der Motor, dachte sie, verband sie nicht
mit der Vergangenheit, er war ihre letzte Verbindung mit der Zukunft. Ihn zu töten war nicht Mord, sondern
Selbstmord. Ihre Anweisung, die Bemühungen einzustellen, würde ihre Unterschrift unter die Gewißheit sein,
daß es kein Ziel mehr für sie gab.
Aber es ist nicht wahr, dachte sie, als sie am Morgen dieses 28. Mai vor der Tür ihrer Hütte stand, es ist nicht
wahr, daß in Zukunft kein Platz mehr für eine gewaltige Leistung des menschlichen Intellekts ist; es kann nicht
wahr sein. Ganz gleich, wie schwer alles für sie war, dies würde ihr immer bleiben: die unerschütterliche
Überzeugung, daß das Böse unnatürlich war und vorüberging. An diesem Morgen war ihr das klarer denn je: die
Gewißheit, daß die Bosheit der Menschen in der Stadt und die Qual ihres Leidens etwas Vorübergehendes waren
– während das lächelnde Gefühl der Hoffnung in ihr beim Anblick eines in der Sonne leuchtenden Waldes, das
Gefühl einer unbegrenzten Verheißung, das Beständige und das Wirkliche war.
Sie stand vor der Tür und rauchte eine Zigarette. In dem Raum hinter ihr kamen die Klänge einer Sinfonie aus
der Zeit ihres Großvaters aus dem Radio. Sie hörte kaum hin, sie war sich nur der Flut der Akkorde bewußt, die
den sich leise windenden Rauch ihrer Zigarette, die kreisende Bewegung ihres Arms, der immer wieder die
Zigarette zum Mund führte, harmonisch untermalten. Sie schloß die Augen und fühlte die Strahlen der Sonne auf
ihrem Körper. Darauf allein kam es an, dachte sie: diesen Augenblick zu genießen, die Fähigkeit, so zu fühlen,
wie sie jetzt fühlte, nicht von der Erinnerung an den Schmerz abstumpfen zu lassen. Solange sie dieses Gefühl
bewahren konnte, würde sie die Kraft haben, weiterzuleben.
Sie bemerkte kaum das schwache Geräusch, das wie das Kratzen einer alten Platte durch die Musik drang.
Das erste, was ihr Bewußtsein erreichte, war die plötzliche Bewegung ihrer Hand, die die Zigarette wegwarf.
Gleichzeit ig hörte sie, daß das Geräusch lauter wurde und daß es das Brummen eines Motors war. Da erkannte
sie, daß sie sich nicht eingestanden hatte, wie sehr sie sich sehnte, dieses Geräusch zu vernehmen, wie
sehnsüchtig sie auf Hank Rearden gewartet hatte. Sie hörte ihr eigenes Lachen – es war behutsam leise, als
wollte sie nicht das metallene Dröhnen stören, das jetzt eindeutig bewies, daß ein Wagen die Gebirgsstraße
heraufgefahren kam. Sie konnte die Straße nicht überblicken. Der kleine Streifen unter dem Bogen der Zweige
am Fuß des Hügels war das einzige, was sie davon sah. Aber sie verfolgte das Näherkommen des Wagens an
dem lauter und gebieterischer werdenden Brummen des Motors, mit dem sich das Auto den Berg hinaufkämpfte,
und dem Kreischen der Räder in den Kurven. Der Wagen hielt unter dem Bogen der Äste. Sie kannte ihn nicht.
Es war nicht der schwarze Hammond, sondern ein langes graues Cabrio. Sie sah den Fahrer aussteigen: Es war
jemand, den sie hier am wenigsten erwartet hätte. Es war Francisco d’Anconia.
Der Schock, den sie spürte, war nicht Enttäuschung. Es war mehr das Gefühl, daß Enttäuschung jetzt nichts zu
bedeuten hatte. Es war Spannung und eine seltsam feierliche Stille, die jähe Gewißheit, daß etwas Unbekanntes
und äußerst Bedeutsames auf sie zukam.
Mit schnellen Schritten eilte Francisco auf den Berg zu, wobei er den Kopf hob und zu ihr hinaufsah. Er
entdeckte sie über sich vor der Tür der Hütte und blieb stehen. Sie konnte den Ausdruck in seinem Gesicht nicht
erkennen. Er wartete eine Weile, das Gesicht zu ihr erhoben, ehe er den Aufstieg begann.
Es kam ihr vor – fast, als hätte sie es erwartet – wie eine Szene aus ihrer Kindheit. Er kam auf sie zu. Er lief
nicht. Es war die stürmische Aufwärtsbewegung von Triumph und Zuversicht. Nein, dachte sie, es war nicht ihre
Kindheit – es war die Zukunft, wie sie sie damals vor sich gesehen hatte, in der Zeit, in der sie auf ihn wartete als
auf den, der sie aus ihrem Gefängnis befreite. Es war der kurze Ausblick auf ein Morgen, das sie erreicht hätten,
wenn ihre Vorstellung vom Leben sich erfüllt hätte, wenn sie beide den Weg gegangen wären, den zu gehen sie
damals so sicher gewesen war. Wie von einem Wunder gebannt, blickte sie ihn an und grüßte in diesem
Augenblick ihre gemeinsame Vergangenheit.
Als er so nahe herangekommen war, daß sie sein Gesicht erkennen konnte, sah sie darin den Ausdruck jener
leuchtenden Fröhlichkeit, die alles Feierliche dadurch überwindet, daß sie die große Unschuld eines Menschen
offenbart, der sich das Recht verdient hat, unbeschwert zu sein. Er lächelte und pfiff eine Melodie, die wie seine
langen schnellen Schritte aufwärts zu stürmen schien. Die Melodie kam ihr irgendwie vertraut vor. Es war ihr,
als gehörte sie zu diesem Augenblick: Dennoch klang etwas Seltsames heraus, etwas schwer zu Begreifendes,
über das sie jetzt aber nicht nachdenken konnte.
»Hi, Slug!«
»Hi, Frisco!«
Daran, wie er sie ansah, wie seine Lider sich einen Augenblick lang senkten, wie er den Kopf rasch
zurückwarf, wie sich seine Lippen zu einem halb hilflosen Lächeln der Erleichterung verzogen und wie er sie
dann plötzlich ungestüm umarmte, erkannte sie, daß es gegen seinen Willen geschah, daß er es nicht beabsichtigt
hatte und daß es dennoch richtig für sie beide war und sie beide ein Anrecht darauf hatten. Die Heftigkeit, mit
der er sie an sich riß und seine Lippen in ihren vergrub, die jubelnde Hingabe seines Körpers, als er den ihren
berührte, war etwas anderes als Sinnenlust. Sie wußte, daß kein körperliches Begehren einen Mann dazu bringen
konnte. Sie wußte, es war die Bestätigung, die sie nie aus seinem Mund vernommen hatte, die größte
Liebeserklärung, die ein Mann machen konnte. Was er auch getan hatte, um sein Leben zu zerstören, dies war
noch der Francisco d’Anconia, in dessen Bett zu liegen sie so stolz gewesen war – wie sehr die Welt sie auch
verraten hatte, ihre Vorstellung vom Leben war wahr gewesen, und etwas davon war in ihm unzerstörbar
geblieben – und weil sie das fühlte, umschlang auch sie ihn und küßte ihn und gestand damit ihr Begehren,
gestand die Achtung, die sie ihm immer entgegengebracht hatte und die sie ihm immer entgegenbringen würde.
Aber dann fielen ihr all die Jahre wieder ein, und mit ihnen kehrte der Schmerz der Erkenntnis zurück, daß, je
größer er war, desto furchtbarer auch die Schuld war, die er auf sich lud, wenn er sich zerstörte. Sie riß sich von
ihm los, schüttelte den Kopf und sagte als Antwort für sie beide: »Nein.«
Entwaffnet blickte er sie lächelnd an. »Nein, noch nicht. Du mußt mir erst viel vergeben, aber ich kann dir
jetzt alles sagen.«
Nie hatte sie diesen leisen, hilflosen Ton in seiner Stimme gehört. Er bemühte sich, wieder Herr über sich
selbst zu werden. Es war fast, als würde sein Lächeln um Entschuldigung bitten, so wie ein Kind um Nachsicht
bittet. Aber es war darin auch die Heiterkeit eines Erwachsenen, das lachende Eingeständnis, daß er seinen
Kampf nicht zu verbergen brauchte, da er mit dem Glück rang und nicht mit dem Leid.
Sie trat einen Schritt von ihm zurück. Es war ihr, als ob das Gefühl sie über ihr eigenes Bewußtsein
hinausgeschleudert hätte und Fragen sie bedrängten, die sie erst in Worte fassen mußte.
»Dagny, all das Schwere, das du im letzten Monat hier hast durchmachen müssen… Antworte mir ganz
ehrlich: Glaubst du, daß du es vor zwölf Jahren hättest ertragen können?«
»Nein«, antwortete sie. »Warum fragst du das?«
Er lächelte. »Um für zwölf Jahre meines Lebens zu büßen, die ich nicht zu bereuen haben möchte.«
»Was meinst du? Und was weißt du von dem Schweren hier?«
»Dagny, begreifst du nicht allmählich, daß ich alles davon weiß?«
»Wie hast du… Francisco, was hast du gepfiffen, als du den Berg heraufkamst?«
»Wie? Habe ich gepfiffen? Ich weiß es nicht.«
»Es war Richard Halleys Fünftes Konzert, nicht wahr?«
»Ach…!« Er machte ein erschrockenes Gesicht, dann lächelte er über sich selbst und antwortete schließlich
ernst: »Ich werde dir das später sagen.«
»Wie hast du herausbekommen, wo ich bin?«
»Das werde ich dir auch sagen.«
»Du hast es aus Eddie herausgepreßt.«
»Ich habe Eddie seit über einem Jahr nicht gesehen.«
»Er ist der einzige, der es weiß.«
»Es war nicht Eddie, der es mir gesagt hat.«
»Ich wollte nicht, daß mich irgend jemand findet.«
Er ließ seine Augen langsam um sich schweifen. Sie sah, wie sein Blick auf dem Weg, den sie angelegt hatte,
auf den Blumen, auf dem frisch gedeckten Dach ruhen blieb. Er lachte, als hätte er es verstanden, und als kränkte
es ihn. »Man hätte dich hier nicht einen Monat allein lassen dürfen«, sagte er. »Weiß Gott nicht. Es ist mein
erstes Versagen, und das gerade in der Zeit, in der ich nicht versagen wollte. Aber ich glaubte nicht, daß du
bereit wärst, deine Stellung aufzugeben. Hätte ich es gewußt, hätte ich dich Tag und Nacht nicht aus den Augen
gelassen.«
»Wirklich? Weshalb?«
»Um dir«, er deutete auf die Früchte ihrer Arbeit, »dies alles zu ersparen.«
»Francisco«, sagte sie leise, »wenn dir das, was ich leide, Sorgen macht, weißt du dann nicht, daß ich nichts
davon hören will, weil…« Sie hielt inne. In all diesen Jahren hatte sie sich nie bei ihm beklagt, und so sagte sie
nur noch einmal mit matter Stimme: »…daß ich nichts davon hören will?«
»Weil ich der einzige bin, der kein Recht hat, davon zu sprechen? Dagny, wenn du glaubst, ich wüßte nicht,
wie sehr ich dich gekränkt habe, werde ich dir von den Jahren… Aber, es ist vorüber, ach, Liebste, es ist
vorüber.«
»Ist es das?«
»Verzeih mir. Ich dürfte das nicht sagen, nicht ehe du es sagst.« Er versuchte, seine Stimme zu beherrschen,
aber er vermochte das Glück in seinen Augen nicht zu verbergen.
»Bist du glücklich, weil ich alles verloren habe, für das ich lebte? Nun, wenn du gekommen bist, um das zu
hören, dann will ich es dir sagen: Du warst das Erste, was ich verloren habe. Macht es die Freude jetzt zu sehen,
daß ich auch alles andere verloren habe?«
Er sah sie fest an, mit einem Blick, der so ernst war, daß er fast drohend wirkte, und sie wußte, daß, was auch
immer die Jahre für ihn bedeutet hatten, ‘Freude’ das einzige Wort war, das sie nicht hätte äußern dürfen.
»Glaubst du das wirklich?« fragte er.
»Nein«, flüsterte sie.
»Dagny, das, wofür wir leben, können wir nie verlieren. Wir müssen vielleicht seine Form ändern, wenn wir
einen Irrtum begangen haben, aber das Ziel bleibt das gleiche; wir geben ihm die Form.«
»Das habe ich mir selber seit einem Monat gesagt. Aber es gibt keinen Weg zu irgendeinem Ziel mehr.«
Er antwortete nicht. Er setzte sich auf einen Felsblock neben der Tür der Jagdhütte und sah sie an, als wollte
er sich auch nicht die leiseste Reaktion in ihrem Gesicht entgehen lassen. »Was hältst du jetzt von den
Menschen, die gegangen und verschwunden sind?« fragte er.
Mit einem leisen Lächeln hilfloser Traurigkeit zuckte sie die Achseln und setzte sich auf den Boden neben
ihn. »Weißt du«, sagte sie, »ich glaubte immer, es sei irgendein Zerstörer hinter ihnen her, der sie dazu
veranlaßte zu gehen. Aber er scheint gar nicht zu existieren. Es hat im letzten Monat Stunden gegeben, in denen
ich fast gewünscht hätte, er wäre auch zu mir gekommen. Aber niemand kam.«
»Nein?«
»Nein. Ich dachte immer, er hätte eine Macht über sie, die sie zwang, alles zu verraten, was sie geliebt hatten.
Aber das war gar nicht notwendig. Ich weiß, wie ihnen zumute war. Ich kann sie nicht mehr verurteilen. Ich weiß
nur nicht, wie sie es fertiggebracht haben, danach noch weiterzuleben, wenn einer von ihnen überhaupt noch
lebt.«
»Hast du das Gefühl, Taggart Transcontinental verraten zu haben?«
»Nein. Ich… ich glaube, es wäre Verrat gewesen, wenn ich geblieben wäre.«
»Ja, das wäre es gewesen.«
»Wenn ich bereit gewesen wäre, den Plünderern zu dienen, dann… hätte ich ihnen Nat Taggart ausgeliefert.
Und das konnte ich nicht. Ich konnte es nicht zulassen, daß unser Werk schließlich die Beute der Plünderer
wird.«
»Nein, das konntest du nicht. Nennst du das Gleichgültigkeit? Glaubst du, daß du die Eisenbahn weniger
liebst als noch vor einem Monat?«
»Ich glaube, ich würde mein Leben dafür geben, wenn ich nur noch ein Jahr bei der Eisenbahn sein könnte…
aber ich kann nicht zu ihr zurück.«
»Dann weißt du, was all die Männer empfunden haben, die gegangen sind, und was sie liebten, als sie es
aufgaben.«
»Francisco«, fragte sie, ohne ihn anzublicken, »warum hast du mich gefragt, ob ich meine Stellung vor zwölf
Jahren hätte aufgeben können?«
»Weißt du nicht, daß ich an genau die gleiche Nacht denke wie du?«
»Ja«, flüsterte sie.
»Es war die Nacht, in der ich d’Anconia Copper aufgegeben habe.«
Mühsam hob sie den Kopf, um ihn anzusehen. Sein Gesicht hatte den Ausdruck, den sie an jenem Morgen vor
zwölf Jahren darin gesehen hatte – ein Lächeln, das dennoch kein Lächeln war, den Ausdruck des Sieges über
den Schmerz, den Ausdruck des Stolzes eines Menschen auf den Preis, den er gezahlt hat, und auf das, was
diesen Preis lohnt.
»Aber du hast d’Anconia Copper ja nicht aufgegeben«, sagte sie. »Du bist nicht gegangen. Du bist immer
noch Vorstandsvorsitzender. Nur bedeutet deine Firma dir jetzt nichts mehr.«
»Sie bedeutet mir noch genauso viel wie in jener Nacht.«
»Wie kannst du sie dann immer mehr verfallen lassen?«
»Dagny, du bist glücklicher dran als ich. Taggart Transcontinental ist ein höchst empfindliches Instrument.
Ohne dich wird deine Eisenbahn nicht mehr lange bestehen. Sie kann nicht durch Sklavenarbeit erhalten werden.
Man wird sie zu deinem Heil zerstören, und du wirst nicht zusehen müssen, wie sie den Plünderern dient. Aber
der Kupferbergbau ist eine einfachere Sache. d’Anconia Copper könnte unter Generationen von Plünderern und
Sklaven weiterbestehen. Elend und jämmerlich zwar, aber ohne zusammenzubrechen – und das würde ihnen
helfen, am Ruder zu bleiben. Deshalb muß ich d’Anconia Copper zerstören.«
»Was mußt du?«
»Ich zerstöre d’Anconia Copper bewußt und planmäßig mit eigener Hand. Ich muß das so genau planen und
so hart arbeiten, als ginge es darum, ein Vermögen zu erwerben – damit sie es nicht merken und mir nicht in den
Rücken fallen, damit sie sich nicht der Gruben bemächtigen, ehe ich am Ziel bin. All die Kraft und Energie, die
ich einsetzen wollte, setze ich ein, aber nicht, damit d’Anconia Copper größer wird. Ich werde alles bis zum
letzten zerstören, es wird kein Cent meines Vermögens, keine Unze Kupfer übrigbleiben, die die Plünderer am
Leben erhalten könnte. Ich werde die Gruben nicht verlassen, wie ich sie vorgefunden habe. Ich werde sie
verlassen, wie Sebastián d’Anconia sie vorgefunden hat. Dann sollen sie sehen, wie sie ohne mich oder ihn leben
können!«
»Francisco«, schrie sie, »wie kannst du das tun?«
»Durch die Gnade der gleichen Liebe, die du für Taggart Transcontinental empfindest«, antwortete er, »durch
die Gnade meiner Liebe zu d’Anconia Copper, zu dem Geist, dessen sichtbare Form die Firma war – und eines
Tages wieder sein wird.«
Sie saß still da, krampfhaft bemüht, den ganzen Sinn dessen zu verstehen, was sie im Augenblick nur wie
einen dumpfen Schlag empfand. In dem Schweigen klang die Sinfonie im Rundfunk weiter, und der Rhythmus
der Akkorde hallte in ihr wie das langsame, feierliche Stampfen von Schritten, während sie verzweifelt
versuchte, die Stationen der zwölf Jahre in einer Folge vor sich zu sehen: den leidenden Jungen, der an ihrer
Brust Hilfe suchte; den Mann, der auf dem Fußboden eines Salons saß und mit Murmeln spielte und über die
Zerstörung der Großindustrie lachte; den Mann, der schrie: »Meine Geliebte, ich kann es nicht«, als er sich
weigerte, ihr zu helfen; den Mann, der in einer dämmrigen Bar auf die Jahre trank, die Sebastián d’Anconia hatte
warten müssen…
»Francisco, was ich auch von dir gedacht habe… das hätte ich nie gedacht… ich hätte nie gedacht, daß du
einer von denen bist, die gegangen sind…«
»Ich war einer der ersten von ihnen.«
»Ich glaubte, sie verschwanden immer…«
»Nun, bin ich nicht verschwunden? War es nicht das Schlimmste, das ich dir angetan habe – daß ich mich dir
als billiger Playboy zeigte, der nicht der Francisco d’Anconia war, den du gekannt hattest?«
»Ja…«, flüsterte sie, »aber noch schlimmer war es, daß ich es nicht glauben konnte… ich habe es nie
geglaubt… es war Francisco d’Anconia, den ich immer sah, wenn ich dich sah…«
»Ich weiß. Und ich weiß auch, wie schwer das für dich war. Ich wollte dir helfen, es zu verstehen, aber es war
noch zu früh, um es dir zu sagen. Dagny, wenn ich dir gesagt hätte – in jener Nacht oder an dem Tag, als du
kamst, um mich der San-Sebastián-Gruben wegen zu verdammen –, daß ich kein zielloser Verschwender bin,
daß mir nur daran liegt, all das, was wir gemeinsam heilig gehalten hatten, so schnell wie möglich zu zerstören,
d’Anconia Copper, Taggart Transcontinental, Wyatt Oil, Rearden Steel – hättest du es dann leichter ertragen
können?«
»Schwerer«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht einmal, ob ich es jetzt ertragen kann. Weder deinen Verzicht noch
meinen eigenen. Aber« – sie warf ihren Kopf plötzlich zurück, um ihn anzusehen – »wenn dies dein Geheimnis
war, dann war ich von alldem, was du ertragen mu ßtest…«
»O ja, meine Geliebte, du warst das Schlimmste!« Es war ein verzweifelter Schrei; das Lachen und die
Erleichterung, die darin mitklangen, gestanden all die Qualen ein, die er wegwischen wollte. Er ergriff ihre Hand
und preßte seine Lippen und dann sein Gesicht auf sie, damit sie in seinen Augen nicht sah, was er in diesen
Jahren durchgemacht hatte. »Wenn es irgendeine Art Sühne ist, die es nicht ist… Was ich dir auch zugefügt
habe, ich habe dafür bezahlt… weil ich wußte, was ich dir antat und daß ich es dir antun mußte… damit, daß ich
wartete, wartete, um… Aber es ist vorüber.«
Er hob lächelnd den Kopf, blickte zu ihr hinunter, und sie sah, wie sein Gesicht einen Ausdruck
beschützender Zärtlichkeit annahm, der ihr sagte, welche Verzweiflung er in ihrem las.
»Dagny, denke nicht daran. Ich will mich mit nichts, was ich gelitten habe, entschuldigen. Was immer mein
Grund war, ich wußte, was ich tat, und ich habe dich furchtbar verletzt. Ich werde Jahre brauchen, um das wieder
gutzumachen. Vergiß, was…« – sie wußte, daß er meinte: was meine Umarmung gestanden hat – »… ich nicht
gesagt habe. Von allem, was ich dir sagen muß, will ich dir das als letztes sagen.« Aber seine Augen, sein
Lächeln, die Art, wie er ihre Hand drückte, sagten es gegen seinen Willen. »Du hast zuviel ertragen, und du wirst
erst vieles noch verstehen lernen müssen, damit all die Qual vernarbt, die du nie hättest erleiden dürfen. Jetzt ist
nur das eine wichtig, daß du frei bist, um wieder zu genesen. Wir sind beide frei. Wir sind von den Plünderern
frei. Sie können uns nicht mehr erreichen.«
Mit leiser trauriger Stimme sagte sie: »Darum bin ich hergekommen. Ich wollte versuchen zu verstehen, aber
ich kann es nicht. Es kommt mir wie ein großes Unrecht vor, die Welt den Plünderern zu überlassen und unter
ihrer Herrschaft zu leben. Ich kann weder verzichten noch zurück. Ich kann weder ohne Arbeit leben noch als
Sklave arbeiten. Ich habe immer geglaubt, jede Art von Kampf sei richtig, jede, nur nicht der Verzicht. Ich weiß
nicht, ob es richtig war, daß wir beide gegangen sind, wo wir sie doch hätten bekämpfen müssen. Aber es gibt
keine Möglichkeit zu kämpfen. Wir kapitulieren, wenn wir gehen, und wir kapitulieren, wenn wir bleiben. Ich
weiß nicht mehr, was richtig ist.«
»Prüfe deine Prämissen, Dagny. Es gibt keine Widersprüche.«
»Aber ich kann keine Antwort finden. Ich kann dich nicht für das verurteilen, was du tust, dennoch entsetzt es
mich – es entsetzt mich, und ich bewundere es zugleich. Du, der Erbe der d’Anconia, der alle seine Vorfahren
mit ihren wundertätigen Händen hätte überflügeln können, du setzt dein unübertreffliches Können für die
Zerstörung ein. Und ich… ich spiele mit Pflastersteinen und Dachziegeln, während ein transkontinentales
Eisenbahnsystem in den Händen geborener Befehlsempfänger zusammenbricht. Dennoch: Du und ich gehörten
zu denen, die über das Schicksal der Welt entscheiden. Wenn wir es dahin haben kommen lassen, dann muß es
unsere eigene Schuld gewesen sein. Aber ich vermag unseren Fehler nicht zu erkennen.«
»Ja, Dagny, es war unsere eigene Schuld.«
»Weil wir nicht hart genug gearbeitet haben?«
»Weil wir zu hart gearbeitet und zu wenig gefordert haben.«
»Was meinst du damit?«
»Wir haben nie den Preis gefordert, den die Welt uns schuldete – und wir gaben unseren besten Lohn den
schlechtesten Menschen. Der Fehler wurde schon vor Jahrhunderten begangen. Er wurde von Sebastián
d’Anconia, von Nat Taggart, von jedem Menschen begangen, der die Welt ernährte und keinen Dank dafür
erhielt. Du weißt nicht mehr, was richtig ist? Dagny, es ist kein Kampf um materielle Güter, es ist eine
moralische Krise, die größte, die die Welt je erlebt hat, und die letzte. Unser Zeitalter ist der Höhepunkt von
Jahrhunderten des Bösen. Wir müssen dem ein für allemal ein Ende machen, oder wir gehen zugrunde – wir, die
Verstandesmenschen. Es war unsere eigene Schuld. Wir haben den Reichtum der Welt geschaffen, doch wir
haben unsere Feinde ihren Moralkodex schreiben lassen.«
»Aber wir haben ihren Kodex nie angenommen. Wir haben nach unseren eigenen Maßstäben gelebt.«
»Ja – und einen gewaltigen Preis dafür bezahlt. Materiell und geistig – in Geld, das unsere Feinde erhielten,
aber nicht verdienten, und in Ehre, die wir verdienten, aber nicht erhielten. Das war unsere Schuld: daß wir bereit
waren zu zahlen. Wir hielten die Menschheit am Leben, dennoch erlaubten wir den Menschen, uns zu verachten
und unsere Zerstörer anzubeten. Wir erlaubten ihnen, Unfähigkeit und Brutalität anzubeten, ihnen, die das
Unverdiente empfingen und ausgaben. Indem wir die Strafe hinnahmen, nicht für irgendwelche Sünden, sondern
für unsere Tugenden, verrieten wir unseren Kodex und machten den ihren möglich. Dagny, ihre Moral ist die der
Kidnapper. Sie benutzen unsere Liebe zur Tugend als Schlinge für uns. Sie wissen, daß wir alles ertragen, um zu
arbeiten und zu produzieren, weil wir wissen, daß die Leistung das höchste moralische Ziel des Menschen ist,
daß er ohne sie nicht leben kann und daß unsere Liebe zur Tugend unsere Liebe zum Leben ist. Sie rechnen
damit, daß wir jede Bürde auf uns nehmen. Sie rechnen damit, daß uns keine Anstrengung zu groß ist im Dienst
unserer Liebe. Dagny, unsere Feinde zerstören uns durch unsere eigene Macht. Unsere Großzügigkeit und unsere
Geduld sind ihre einzigen Waffen. Unsere unbelohnte Redlichkeit ist die einzige Gewalt, die sie über uns haben.
Sie wissen es. Wir wissen es nicht. Der Tag, an dem wir es entdecken, ist das einzige, was sie fürchten. Wir
müssen lernen, sie zu verstehen. Eher werden wir nicht von ihnen frei sein. Aber wenn du es tust, dann wirst du
von einem so gerechten Zorn erfüllt sein, daß du lieber jede Schiene von Taggart Transcontinental in die Luft
sprengst, als daß sie ihnen dient.«
»Aber alles ihnen überlassen!« stöhnte sie. »Alles im Stich lassen… Die Eisenbahn im Stich lassen… wo sie
doch fast wie ein lebendiger Mensch ist…«
»Sie war es. Sie ist es nicht mehr. Überlaß sie ihnen. Sie wird ihnen nichts nützen. Vergiß sie. Wir brauchen
sie nicht. Wir können sie neu bauen, sie können es nicht. Wir können ohne sie weiterleben, sie n icht.«
»Aber auf was müssen wir alles verzichten, was alles aufgeben?«
»Dagny, wir, die wir von den Mördern des menschlichen Geistes Materialisten genannt worden sind, wir sind
die einzigen, die wissen, wie wenig materielle Dinge an sich bedeuten und Wert haben, weil wir die einzigen
sind, die ihren Wert und ihre Bedeutung schaffen. Wir können es uns leisten, sie für eine kurze Weile
aufzugeben, um etwas viel Wertvolleres zurückzugewinnen. Wir sind die Seele des Körpers aus Eisenbahnen,
Kupferminen, Stahlwerken und Ölfeldern, des lebendigen Wesens, dessen Herz Tag und Nacht schlägt wie
unsere Herzen – in der heiligen Funktion, das menschliche Leben zu erhalten, aber nur solange es unser Körper
bleibt, nur solange er der Ausdruck, der Lohn und Besitz der Leistung bleibt. Ohne uns sind sie Leichen, und ihr
einziges Produkt ist Gift, nicht Reichtum oder Nahrung, das Gift der Zersetzung, das Menschen in Horden von
Bettlern verwandelt. Dagny, lerne das Wesen deiner eigenen Macht verstehen, und du wirst das Paradoxe
verstehen, das du jetzt um dich siehst. Du hängst nicht von irgendwelchem materiellen Besitz ab. Sie hängen
davon ab. Du schaffst ihn, dir gehört das eine und einzige Produktionsmittel; wo immer du bist, du wirst stets
fähig sein zu produzieren. Aber die Plünderer sind – nach ihrer eigenen Theorie – in verzweifelter, beständiger,
angeborener Bedürftigkeit und der Materie hilflos preisgegeben. Warum nimmst du sie nicht beim Wort? Sie
brauchen Eisenbahnen und Fabriken, Gruben, Motoren, die sie weder produzieren noch leiten können. Was nützt
ihnen deine Eisenbahn ohne dich? Wer hält sie zusammen? Wer hält sie am Leben? Wer hat sie wieder und
wieder gerettet? Dein Bruder James? Wer hat ihn ernährt? Wer hat die Plünderer ernährt? Wer hat ihre Waffen
hergestellt? Wer hat ihnen die Mittel gegeben, dich zu versklaven? Wer hat das unwürdige Schauspiel möglich
gemacht, schäbige kleine Nichtskönner die Erzeugnisse des Genies beherrschen zu sehen? Wer hat deine Feinde
unterstützt? Wer hat deine Ketten geschmiedet? Wer hat deine Leistung zerstört?«
Die Bewegung, die sie sich erheben ließ, war wie ein stummer Schrei. Wie eine Sprungfeder schnellte
Francisco hoch und fuhr in erbarmungslosem Triumph fort:
»Beginnst du es zu verstehen? Dagny, laß ihnen das Skelett der Eisenbahn, laß ihnen all die verrosteten
Schienen, die verfaulten Schwellen und altersschwachen Lokomotiven – aber laß ihnen nicht deinen Verstand!
Deines Verstandes dürfen sie sich nicht bemächtigen! Das Schicksal der Welt ruht auf dieser Entscheidung.«
»Meine Damen und Herren«, sagte die vor Erregung bebende Stimme eines Rundfunksprechers, »wir
unterbrechen das Konzert für eine Sondermeldung. In den frühen Morgenstunden hat sich auf der Hauptstrecke
von Taggart Transcontinental die größte Katastrophe in der Geschichte der Eisenbahn ereignet. Der berühmte
Taggart-Tunnel in Winston in Colorado ist eingestürzt.«
Ihr Schrei klang wie die Schreie, die im Augenblick des Unglücks durch die Dunkelheit des Tunnels gehallt
hatten. Und er blieb Francisco bis zum Ende der Meldung in den Ohren. Sie liefen beide in die Hütte und
standen vor Entsetzen erstarrt vor dem Radio. Dagnys Augen sahen unverwandt auf das Radio, seine Augen
hafteten an ihrem Gesicht.
»Die Einzelheiten der Katastrophe wurden durch Luke Beal bekannt, den Heizer des Taggart-Luxuszuges
Comet. Man fand ihn heute morgen bewußtlos am Westausgang des Tunnels. Er scheint der einzige Überlebende
der Katastrophe zu sein. Durch eine unbegreifliche Nichtbeachtung der Sicherheitsvorschriften – unter
Umständen, die noch nicht ganz geklärt sind – hat man den Comet, der sich auf dem Wege nach San Francisco
befand, mit einer Dampflokomotive in den Tunnel fahren lassen. Der acht Meilen lange Taggart-Tunnel
durchschneidet die Rocky Mountains und gilt als eine technische Leistung, die in unserer Zeit nicht
ihresgleichen hat. Er wurde von dem Enkel Nathaniel Taggarts in dem großen Zeitalter der sauberen, rauchlosen
Diesellokomotiven erbaut. Die Ventilationsanlage des Tunnels war nicht für den dicken Rauch von
Dampflokomotiven bestimmt – und es war jedem Eisenbahner in dem Bezirk bekannt, daß es für die
Mitfahrenden den Erstickungstod bedeutete, wenn man einen Zug mit so einer Lokomotive in den Tunnel fahren
ließ. Trotzdem hat man den Comet losgeschickt. Nach den Aussagen des Heizers Beal begann die Wirkung des
Rauchs fühlbar zu werden, als der Zug etwa drei Meilen weit in dem Tunnel war. Lokomotivführer Joseph Scott
öffnete das Drosselventil und versuchte verzweifelt, das Fahrttempo zu beschleunigen, aber die alte, abgenutzte
Lokomotive war dem Gewicht des langen Zuges und der Steigung der Strecke nicht gewachsen. Im immer
dichter werdenden Rauch hatten es Lokomotivführer und Heizer gerade geschafft, aus den undichten
Dampfkesseln eine Stundengeschwindigkeit von vierzig Meilen herauszuholen, als ein Fahrgast, zweifellos in
der Angst zu ersticken, die Notbremse zog. Durch den plötzlichen Ruck brach anscheinend das Blasrohr der
Maschine. Der Zug konnte nicht wieder anfahren. Aus den Wagen hörte man Schreie. Fahrgäste zertrümmerten
die Fensterscheiben. Lokomotivführer Scott bemühte sich mit letzter Kraft, die Maschine in Gang zu bringen,
sank aber am Ventil im Rauch ohnmächtig zusammen. Heizer Beal sprang aus der Lokomotive und rannte
davon. Er sah schon den westlichen Ausgang vor sich, als er den Lärm der Explosion hörte. Es ist das letzte,
woran er sich erinnert. Alle übrigen Mitteilungen stammen von den Eisenbahnbeamten auf dem Bahnhof
Winston. Es scheint, daß ein mit Munition beladener Sondergüterzug der Armee, der in westlicher Richtung
fuhr, nicht gewarnt worden war, daß sich der Comet auf der Strecke unmittelbar vor ihm befand. Be ide Züge
hatten Verspätung und fuhren nicht fahrplanmäßig. Der Armeegüterzug scheint die Anweisung erhalten zu
haben, ohne Rücksicht auf die Signale weiterzufahren, weil die Signalanlage des Tunnels nicht in Ordnung war.
Es heißt, daß es trotz der Geschwindigkeitsvorschriften und des häufigen Versagens der Ventilationsanlage eine
stillschweigende Vereinbarung unter allen Lokomotivführern gab, mit voller Geschwindigkeit durch den Tunnel
zu fahren. Soweit es sich zur Zeit feststellen läßt, stand der Comet gle ich hinter der Stelle, wo der Tunnel eine
scharfe Kurve macht. Man nimmt an, daß zu dieser Zeit alle Fahrgäste bereits tot waren. Es ist fast
ausgeschlossen, daß der Lokomotivführer des Güterzuges, der mit achtzig Meilen in der Stunde in die Kurve
fuhr, noch rechtzeitig das Aussichtsfenster des letzten Wagens des Comet, das hell erleuchtet war, als der Zug
den Bahnhof Winston verließ, hat sehen können. Durch die Explosion des Güterzuges zersprangen in einem fünf
Meilen entfernten Bauernhaus die Fensterscheiben, und in den Tunnel sind so gewaltige Felsmassen gestürzt,
daß die Hilfstrupps nur bis auf drei Meilen an die Stelle herankommen, an der die beiden Züge stehen. Man
rechnet nicht damit, noch Überlebende zu finden – und man nimmt an, daß der Taggart-Tunnel nie wieder in
Betrieb genommen werden kann.«
Dagny stand reglos da. Sie schien nicht den Raum, sondern nur den Schauplatz der Katastrophe in Colorado
zu sehen. Wie unter einem Zwang drehte sie sich plötzlich um – wie eine Schlafwandlerin, die, ohne etwas zu
sehen, sicher ihren Weg geht. Sie langte nach ihrer Handtasche, als würde nichts anderes existieren, ergriff sie
und lief zur Tür.
»Dagny«, schrie er, »geh nicht zurück!«
Der Schrei erreichte sie so wenig, wie wenn er ihr von hier etwas in die Berge von Colorado zugerufen hätte.
Francisco lief hinter ihr her, packte sie, umklammerte ihre beiden Ellbogen und schrie: »Geh nicht zurück,
Dagny! Im Namen von allem, was dir heilig ist, geh nicht zurück!«
Sie blickte ihn an, als wüßte sie nicht, wer er war. In einem Wettkampf, in dem es um die körperliche Kraft
ging, hätte er mühelos die Knochen ihrer Arme brechen können. Aber mit der Kraft eines Menschen, der um sein
Leben kämpft, riß sie sich mit solcher Gewalt los, daß er einen Augenblick das Gleichgewicht verlor. Als er
wieder fest auf dem Boden stand, rannte sie den Berg hinunter, rannte, wie er beim Aufheulen der Alarmsirenen
im Rearden-Werk gerannt war, rannte zu ihrem Wagen auf der Straße unten.
Sein Rücktrittsgesuch lag vor ihm auf dem Schreibtisch – und James Taggart saß von Haß gekrümmt davor
und starrte auf das Blatt Papier. Es war ihm, als wären nicht die Worte, die darauf standen, sein Feind, sondern
das Blatt und die Tinte, die den Worten etwas Endgültiges gegeben hatten. Er hatte immer Gedanken und Worte
als nicht beweiskräftig betrachtet, und er war sein Leben lang vor allem einem ausgewichen: bindende
Verpflichtungen auf sich zu nehmen.
Er war noch gar nicht fest entschlossen zurückzutreten, dachte er. Er hatte den Brief aus einem Grund diktiert,
den er sich selbst gegenüber als »für alle Fälle« bezeichnete. Der Brief, fühlte er, war eine Art von Schutz; aber
er hatte ihn noch nicht unterschrieben, und das war sein Schutz gegen den Schutz. Sein Haß richtete sich gegen
alles, was ihn dazu gebracht hatte, davon überzeugt zu sein, daß er es nicht länger hinausschieben konnte. Er
hatte heute morgen um acht Uhr die Nachricht von der Katastrophe erhalten. Gegen Mittag war er in sein Büro
gekommen. Ein Instinkt, der Gründen entsprang, die er kannte, die aber nicht zu kennen er sich krampfhaft
bemühte, hatte ihm gesagt, daß er diesmal hier sein mußte.
Die Männer, die seine gezinkten Karten in einem Spiel gewesen waren, das er zu spielen verstand, hatten sich
aus dem Staub gemacht. Clifton Locey hatte sich hinter dem Attest eines Arztes verschanzt, demzufolge Mr.
Locey einen Herzanfall erlitten hatte und darum im Augenblick nicht gestört werden durfte. Der eine von
Taggarts Assistenten, hieß es, sei in der letzten Nacht nach Boston gefahren, und der andere sei in ein nicht
genanntes Krankenhaus gerufen worden – ans Krankenbett seines Vaters, von dessen Existenz bis dahin niemand
etwas gewußt hatte. In der Wohnung des Chefingenieurs meldete sich niemand. Der Leiter der PR-Abteilung war
nicht aufzufinden. Auf der Fahrt zu seinem Büro hatte Taggart die schwarzen Buchstaben der Schlagzeilen
gesehen. Als er durch die Flure des Taggart-Gebäudes ging, hatte er die aus dem Radio in einem Büro ertönende
Stimme eines Sprechers gehört, jene Art von Stimme, die man an unbeleuchteten Straßenecken zu hören
erwartet: Sie forderte kreischend die Verstaatlichung der Eisenbahnen.
Er war mit lauten Schritten durch die Flure gegangen, damit man ihn sah, und hastig, damit niemand ihn
anhielt, um ihm Fragen zu stellen. Er hatte die Tür seines Büros abgeschlossen und seinen Sekretär angewiesen,
niemand hereinzulassen, ihn auch mit niemand telefonisch zu verbinden und jedem, der käme, zu sagen, Mr.
Taggart sei beschäftigt.
Dann saß er an seinem Schreibtisch allein mit seiner Angst. Es war ihm, als wäre er in einem unterirdischen
Gewölbe gefangen und das Schloß könnte nie wieder aufgebrochen werden – und gleichzeitig, als wäre er der
ganzen Stadt unten zur Schau gestellt und hätte nur die eine Hoffnung, daß das Schloß ewig halten würde. Er
mußte hier in diesem Büro sein. Man forderte das von ihm, er mußte müßig sitzen und warten, warten, bis der
Unbekannte zu ihm kam und ihm vorschrieb, was er zu tun hatte, und er hatte Angst vor dem, der kommen
würde, und ebenso davor, daß niemand kam, u m ihm zu sagen, was er tun sollte.
Das Läuten der Telefone im Vorzimmer klang nach Hilfeschreien. Er sah mit einem boshaften Triumphgefühl
auf die Tür – in dem Gedanken, daß all diese Stimmen durch seinen harmlosen Sekretär zum Schweigen
gebracht würden, einen jungen Mann, der sich auf nichts als auf die Kunst des Ausweichens verstand, die er mit
der grauen, gummiartigen Biegsamkeit der Amoral praktizierte. Die Stimmen, dachte Taggart, kamen aus
Colorado, von jedem Punkt des Taggart-Netzes, aus jedem Büro des Gebäudes, in dem er saß. Solange er sie
nicht hören mußte, war er in Sicherheit.
Seine Gefühle waren zu einem bewegungslosen, festen, undurchdringlichen Kloß in ihm geworden, den, wie
er glaubte, seine Manager nicht anstechen konnten; die Manager waren einfach Feinde, die man überlisten
mußte. Stechendere Angst kam von dem Gedanken an die Mitglieder des Aufsichtsrats, aber sein
Rücktrittsgesuch war die Rettungsleiter, über die er dem Brand entkam, dem sie dann ausgesetzt wären. Die
stechendste Angst verursachte ihm der Gedanke an die Männer in Washington. Wenn sie anriefen, würde er
Rede und Antwort stehen müssen; sein Gummi-Sekretär würde wissen, wessen Stimmen seine Anweisungen
aufhoben. Aber Washington rief nicht an.
Die Furcht befiel ihn immer wieder wie ein Krampf und ließ seine Kehle trocken werden. Er wußte nicht, was
er fürchtete. Er wußte, daß es nicht die Drohung des Rundfunksprechers war. Was er beim Klang der
schnurrenden Stimme empfunden hatte, war mehr eine Angst, die er spürte, weil man sie von ihm erwartete, eine
Angst, zu der er gleichsam verpflichtet war, etwas, das zu seiner Stellung gehörte wie gutgeschnittene Anzüge
und Tischreden. Aber darunter hatte er eine heimliche kleine Hoffnung gespürt, die flink dahinkroch wie eine
Küchenschabe: Wenn diese Drohung Wirklichkeit würde, würde sie alles lösen, würde ihn vor der Entscheidung,
vor der Unterzeichnung des Briefes bewahren… Er würde nicht mehr Vorstandsvorsitzender von Taggart
Transcontinental sein, aber auch kein anderer würde es sein… kein anderer…
Er blickte auf seinen Schreibtisch, ohne an etwas zu denken und ohne etwas zu sehen. Es war, als wäre er in
einem Nebel versunken und würde darum kämpfen, daß der Nebel keine endgültige Gestalt annahm. Das, was
Gestalt hat, kann man mit Namen nennen; dadurch, daß er sich weigerte, es mit Namen zu nennen, blieb es
gestaltlos.
Er dachte nicht über die Ereignisse in Colorado nach. Er versuchte nicht, ihre Ursache zu begreifen, er
überlegte nicht, was sie für Folgen haben könnten. Er dachte überhaupt nicht. Der Gefühlskloß lag schwer in
seiner Brust, füllte sein Bewußtsein, befreite ihn von der Verantwortung des Denkens. Der Kloß war Haß – Haß
als seine einzige Antwort, Haß als die einzige Wirklichkeit, Haß ohne Gegenstand, Grund, Beginn oder Ende,
Haß als seine Forderung an die Welt, als eine Rechtfertigung, als ein Recht, als ein Absolutes.
Das schrille Klingeln der Telefone hallte durch die Stille. Er wußte, daß diese Hilferufe nicht ihm galten,
sondern dem, dessen Hülle er gestohlen hatte. Es war diese Hülle, die die Schreie ihm jetzt entrissen; es war ihm,
als hörte das Klingeln auf, ein Laut zu sein, und würde zu einer Folge von Schlägen, die auf seinen Schädel
trommelten. Der Gegenstand des Hasses begann Gestalt anzunehmen, als hätte das Klingeln ihn gerufen. Der
feste Kloß in ihm barst, und er fühlte sich dadurch jäh zum Handeln angetrieben.
All den Gesichtern um ihn herum trotzend, raste er hinaus und rannte durch die Flure zur Betriebsabteilung
und in das Vorzimmer des Büros des Stellvertretenden Vorstands Vorsitzenden.
Die Tür zu dem Büro stand offen: Er sah den Himmel in den großen Fenstern hinter einem leeren
Schreibtisch. Dann sah er die Angestellten im Vorzimmer und den blonden Kopf Eddie Willers’ in dem
Glasgehäuse. Er ging entschlossen auf Eddie Willers zu, riß die Glastür auf und schrie von der Schwelle aus,
wobei ihn jeder im Raum sehen und hören konnte: »Wo ist sie?«
Eddie Willers stand langsam auf und sah Taggart mit seltsamer Ehrerbietung und Neugier an, als wäre dies
ein weiteres Phänomen unter all den anderen unvorhergesehenen, die er beobachtet hatte. Er antwortete nicht.
»Wo ist sie?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Hör mal, du kleiner, eigensinniger Wicht, dies ist keine Zeit für Geheimnistuerei! Wenn du mir einreden
willst, du wüßtest nicht, wo sie ist, dann laß dir gesagt sein, ich glaube dir nicht. Du weißt es, und du wirst es mir
sagen, oder ich werde dich dem Amt für Vereinheitlichung melden! Ich werde ihnen unter Eid sagen, daß du es
weißt. Dann versuche, das Gegenteil zu beweisen!«
Leicht erstaunt antwortete Eddie: »Ich habe nie versucht, so zu tun, als wüßte ich nicht, wo sie ist, Jim. Ich
weiß es, aber ich werde es dir nicht sagen.«
Taggarts Stimme wurde zu dem schrillen, ohnmächtigen Schrei, der einen Fehler in der Rechnung eingesteht:
»Ist dir klar, was du sagst?«
»Ja, natürlich.«
»Wirst du es«, er deutete in den Raum, »vor diesen Zeugen wiederholen?«
Eddie antwortete ruhig und deutlich: »Ich weiß, wo sie ist, aber ich werde es dir nicht sagen.«
»Gestehst du ein, daß du ein Komplize bist, der einen Deserteur unterstützt und begünstigt?«
»Wenn du es so nennen willst.«
»Aber das ist ein Verbrechen! Es ist ein Verbrechen! Es ist ein Verbrechen gegen die Nation. Weißt du das
nicht?«
»Nein.«
»Du vergehst dich damit gegen das Gesetz!«
»Ja.«
»Dies ist ein nationaler Notstand! Du hast kein Recht auf irgendwelche privaten Geheimnisse. Du hältst eine
Information von größter Bedeutung zurück. Ich bin der Vorstandsvorsitzende dieser Eisenbahn! Ich befehle dir,
es mir zu sagen. Du kannst dich nicht weigern, einem Befehl zu gehorchen. Darauf steht Gefängnis! Verstehst
du?«
»Ja.«
»Weigerst du dich trotzdem?«
»Ja.«
In jahrelangem Training hatte Taggart gelernt, die Menschen um sich zu beobachten, ohne daß sie es merkten.
Er sah die verschlossenen Gesichter der Angestellten, Gesichter von Menschen, die nicht seine Verbündeten
waren. Alle hatten einen Ausdruck der Verzweiflung, außer dem Gesicht Eddie Willers’. Der »Leibeigene« von
Taggart Transcontinental war der einzige, der von der Katastrophe unberührt zu sein schien. Er sah Taggart
fassungslos an wie ein gewissenhafter Schüler, der sich plötzlich einem Wissensgebiet gegenübersieht, mit dem
er sich nie hatte befassen wollen.
»Ist dir klar, daß du ein Verräter bist?« brüllte Taggart.
»An wem?« antwortete Eddie ruhig.
»Am Volk! Es ist Verrat, einen Deserteur zu schützen. Es ist Wirtschaftsverrat! Deine Pflicht, das Volk zu
ernähren, geht jeder anderen voran! Jede öffentliche Autorität hat das gesagt. Weißt du das nicht? Weißt du
nicht, was dir geschehen wird?«
»Begreifst du nicht, daß mir das völlig gleichgültig ist?«
»Ach, das ist dir gleichgültig! Nun, ich werde das dem Amt für Vereinheitlichung mitteilen. Ich habe all diese
Zeugen, um zu beweisen, daß du gesagt hast…«
»Du brauchst dich nicht um Zeugen zu bemühen. Zieh sie nicht hinein. Ich werde alles, was ich gesagt habe,
niederschreiben, meinen Namen darunter setzen, und du kannst es dann dem Amt übergeben.«
Taggart schrie plötzlich, als ob er geschlagen worden wäre: »Wer bist du, daß du dich gegen die Regierung
auflehnst? Wer bist du, du elende kleine Büroratte, daß du dir ein Urteil über nationale Politik anmaßt und an
deinen eigenen Meinungen festhältst? Glaubst du, das Land habe die Zeit, sich um deine Meinungen, deine
Wünsche oder dein kostbares Gewissen zu kümmern? Du wirst eine Lektion lernen – ihr alle, ihr verwöhnten,
bequemen, undisziplinierten, jämmerlichen Bürohengste, die ihr so tut, als ob das ganze Gerede von euren
Rechten ernst zu nehmen wäre. Ihr werdet lernen, daß wir nicht mehr in den Zeiten von Nat Taggart leben.«
Eddie schwieg. Einen Augenblick lang sahen sie sich über den Schreibtisch hinweg an. Taggarts Gesicht war
von Angst verzerrt. Eddies Gesicht blieb ruhig und heiter. James Taggart glaubte nur allzusehr an die Existenz
eines Eddie Willers; Eddie Willers konnte nicht an die Existenz eines James Taggart glauben.
»Glaubst du, die Nation wird sich um deine oder ihre Wünsche kümmern?« schrie Taggart. »Es ist Dagnys
Pflicht, zurückzukommen. Es ist ihre Pflicht zu arbeiten. Was interessiert es uns, ob sie will oder nicht? Wir
brauchen sie!«
»Brauchst du sie, Jim?«
Der Selbsterhaltungstrieb ließ Taggart einen Schritt zurückweichen, als er den besonderen Ton, einen sehr
gelassenen Ton in Eddie Willers’ Stimme vernahm. Aber Eddie machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Er blieb
hinter seinem Schreibtisch stehen, in einer Haltung, die den gepflegten Stil eines Traditionsunternehmens
spiegelte.
»Du wirst sie nicht finden«, sagte er. »Sie kommt nicht zurück. Ich bin froh, daß sie nicht zurückkommt. Du
kannst verhungern, du kannst die Eisenbahn stillegen. Du kannst mich ins Gefängnis bringen. Du kannst mich
erschießen lassen – was macht das schon. Ich werde dir nicht sagen, wo sie ist. Und wenn das ganze Land
zusammenbricht, ich werde es dir nicht sagen. Du wirst sie nicht finden. Du…«
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und sie drehten sich um. Dagny stand auf der Schwelle. Sie trug ein
zerknittertes Baumwollkleid, und ihr Haar war von der stundenlangen Fahrt zerzaust. Sie blieb einen Augenblick
stehen und blickte um sich, als ob sie sich hier erst wieder zurechtfinden müßte. Aber sie schien niemand zu
sehen. Ihre Augen schweiften nur durch den Raum, als machte sie schnell eine Bestandsaufnahme der
vorhandenen Gegenstände. Ihr Gesicht war nicht jenes, an das sie sich erinnerten. Es sah älter aus, nicht weil es
faltig geworden wäre, sondern weil sich nackte Erbarmungslosigkeit darin ausdrückte.
Dennoch war die erste Reaktion der anderen nicht Erschrecken oder Verwunderung, sondern ein einziges
Gefühl, das wie ein Stöhnen der Erleichterung durch den Raum ging. Es war in allen Gesichtern, außer einem:
Eddie Willers, der vor einem Augenblick noch als einziger ruhig gewesen war, brach zusammen. Sein Gesicht
fiel auf den Schreibtisch. Er gab keinen Laut von sich, aber die Bewegungen seiner Schultern waren wie ein
Schluchzen.
Dagny nahm von niemand Notiz, begrüßte niemand, als ob ihre Anwesenheit unvermeidlich und Worte
überflüssig wären. Sie ging geradewegs auf die Tür zu ihrem Büro zu; im Vorübergehen sagte sie zu ihrer
Sekretärin in einem ganz geschäftlichen, weder groben noch freundlichen Ton: »Eddie soll hereinkommen.«
James Taggart war der erste, der sich rührte, als ob er fürchtete, sie aus den Augen zu verlieren. Er rannte
hinter ihr her und schrie: »Ich konnte nichts dafür!« und dann, wieder ganz er selbst: »Es war deine Schuld! Du
hast es getan. Du trägt die Verantwortung dafür! Denn du bist weggegangen.«
Er fragte sich, ob er sein Schreien nur geträumt hatte. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, dennoch wandte sie sich
ihm zu. Sie machte ein Gesicht, als ob sie Laute, aber keine Worte vernommen hätte. Einen Augenblick lang war
es ihm fast, als existierte er gar nicht.
Dann nahm er eine ganz leise Veränderung in ihrem Gesicht wahr, die Andeutung, daß sie sich der Gegenwart
eines Menschen bewußt wurde, aber sie sah an ihm vorüber, und als er sich umdrehte, merkte er, daß Eddie
Willers das Büro betreten hatte.
In Eddies Augen waren Spuren von Tränen, aber er versuchte nicht, sie zu verbergen. Er stand aufrecht, als ob
die Tränen oder eine verlegene Entschuldigung für ihn ebenso unnötig wären wie für sie.
»Ruf Get Ryan an«, sagte sie. »Sag ihm, daß ich hier bin, und ich will dann selber mit ihm sprechen.« Ryan
war der Leiter des Hauptbezirks der Eisenbahn. Eddie antwortete nicht sofort, dann sagte er mit ebenso ruhiger
Stimme wie sie: »Ryan ist gegangen, Dagny. Er hat seine Stellung in der letzten Woche aufgegeben.«
Sie achteten nicht auf Taggart. Dagny hatte von seiner Anwesenheit nicht einmal soviel Notiz genommen, daß
sie ihn aus ihrem Büro hinauswies. Wie ein Gelähmter, ungewiß, ob ihm seine Muskeln gehorchten, nahm er all
seine Kraft zusammen und schlich sich hinaus. Aber er wußte, was er tun mußte: Er eilte in sein Büro, um sein
Rücktrittsgesuch zu vernichten. Sie bemerkte sein Weggehen gar nicht; sie sah Eddie an und fragte: »Ist
Knowland hier?«
»Nein. Er ist gegangen.«
»Andrews?«
»Auch gegangen.«
»McGuire?«
»Ebenfalls.«
Er leierte weiter all die Namen herunter, von denen er wußte, daß sie nach ihnen fragen würde, die Namen
jener, die in dieser Stunde am meisten gebraucht wurden, die im letzten Monat ihre Stellungen aufgegeben hatten
und verschwunden waren. Sie hörte ohne Erstaunen und Bewegung zu, wie man sich die Verlustliste einer
Schlacht anhört, in der alle umgekommen sind, und wobei es gleichgültig ist, welche Namen zuerst fallen.
Als er fertig war, sagte sie nichts dazu, sondern fragte: »Was ist seit heute morgen getan worden?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Dagny, jeder Bürojunge hätte seit heute morgen hier Anweisungen erteilen können, und jeder hätte ihm
gehorcht. Aber selbst die Bürojungen wissen, daß, wer als erster heute etwas unternimmt, für die Zukunft, die
Gegenwart und die Vergangenheit verantwortlich gemacht werden wird – sobald das Hin- und Herschieben der
Schuldzuweisungen beginnt. Er würde das Netz nicht retten, er würde, wenn es ihm gelänge, auch nur einen
Abschnitt zu retten, seinen Arbeitsplatz verlieren. Es ist nichts getan worden. Es steht alles still. Was sich noch
bewegt, bewegt sich ganz mechanisch – draußen auf der Strecke, wo sie noch nicht wissen, ob sie weitermachen
oder den Verkehr stillegen sollen. Einige Züge werden auf Bahnhöfen festgehalten, andere fahren weiter und
warten darauf, angehalten zu werden, ehe sie Colorado erreichen. Je nachdem, wie die örtlichen Zugabfertiger
entscheiden. Der Bahnhofsvorsteher unten hat den gesamten transkontinentalen Verkehr für heute eingestellt,
auch der Comet wird heute abend nicht fahren. Ich weiß nicht, was der Bahnhofsvorsteher in San Francisco tut.
Nur die Hilfsmannschaften arbeiten. Im Tunnel. Sie sind bis jetzt noch nicht bis zu der Unfallstelle
vorgedrungen. Ich glaube auch nicht, daß es ihnen gelingen wird.«
»Ruf den Bahnhofsvorsteher unten an, und sage ihm, er soll sofort alle transkontinentalen Züge wieder
fahrplanmäßig abfahren lassen, einschließlich des Comet. Dann komm wieder her.«
Als er zurückkam, beugte sie sich über die Karten, die sie auf einem Tisch ausgebreitet hatte, und sagte,
während sie sich eifrig Notizen machte:
»Alle Züge in westlicher Richtung fahren von Kirby, Nebraska, auf der Nebenstrecke nach Hastings, auf der
Cansas-Western-Strecke nach Laurel, Kansas, dann in Jasper, Oklahoma, auf die Strecke von Atlantic Southern.
Auf der Atlantic-Southern-Strecke westlich nach Flagstaff, Arizona, nördlich auf der Flagstaff-Homedale-
Strecke nach Elgin, Utah, weiter nördlich nach Midland, nordwestlich auf der Strecke der Wasatch-Eisenbahn
nach Salt Lake City. Die Wasatch-Strecke ist ein stillgelegtes Schmalspurgleis. Kauf sie. Laß die Schmalspur zur
Normalspur erweitern. Wenn die Eigentümer Angst haben, weil Verkäufe illegal sind, dann zahle ihnen den
doppelten Preis und beginne mit der Arbeit. Zwischen Laurel, Kansas, und Jasper, Oklahoma, gibt es auf drei
Meilen keine Eisenbahnstrecke; zwischen Elgin und Midland, Utah, auf fünfeinhalb Meilen keine. Laß dort
Schienen legen. Bautrupps sollen sofort beginnen. Nimm jeden verfügbaren Mann in der Gegend, zahle ihnen
den doppelten Tariflohn, den dreifachen, alles, was sie fordern. Laß sie in drei Schichten arbeiten, damit die
Strecke über Nacht fertig wird. Die dafür notwendigen Schienen läßt du von den Abstellgleisen in Winston,
Colorado, in Silver Springs, Colorado, in Leeds, Utah, und in Benson, Nevada, herausreißen. Wenn
irgendwelche lokalen Strohmänner des Amts für Vereinheitlichung die Arbeit zu behindern versuchen, dann
ermächtige diejenigen unserer Männer, denen wir trauen können, sie zu bestechen. Die Buchhaltung soll nichts
davon erfahren. Die Kosten gehen zu meinen Lasten. Wenn es irgendwo nicht klappt, dann sollen sie dem
Strohmann des Amts sagen, daß die Verordnung 10-289 keine lokalen Verfügungen zuläßt, daß sie bei der
Hauptverwaltung Einspruch erheben und mich verklagen müssen, wenn sie uns stoppen wollen.«
»Stimmt das?«
»Wie soll ich das wissen? Wer soll es überhaupt wissen? Aber bis sie das alles entwirrt haben und
beschließen, was zu beschließen ihnen immer beliebt – wird unsere Strecke gebaut sein.«
»Ich verstehe.«
»Ich werde die Listen durchsehen und dir die Namen der Eisenbahner nennen, die du damit beauftragst – falls
sie noch da sind. Bis der heute abend abgehende Comet Kirby, Nebraska, erreicht, ist die Strecke fertig. Die
Fahrtzeit wird sich um sechsunddreißig Stunden verlängern – aber es wird einen transkontinentalen Fahrplan
geben. Und dann soll man für mich aus den Aktenschränken die alten Karten unserer Strecke heraussuchen, so
wie sie war, ehe Nat Taggarts Enkel den Tunnel baute.«
»Die… was?« Er hob die Stimme nicht, doch sein kurzes Stocken verriet ein Gefühl, das er nicht hatte zeigen
wollen. Ihr Gesicht veränderte sich nicht, aber der freundliche, nicht vorwurfsvolle Ton ihrer Stimme sagte ihm,
daß sie es gemerkt hatte: »Die alten Karten aus der Zeit, ehe es den Tunnel gab. Wir gehen wieder zurück, Eddie.
Hoffentlich können wir es. Nein, wir werden den Tunnel nicht wieder in Betrieb nehmen. Das ist jetzt nicht
möglich. Aber die alte Strecke über die Rockies ist noch vorhanden. Sie kann wiederhergestellt werden. Es wird
nur schwer sein, die Schienen und die dafür notwendigen Arbeiter zu bekommen. Vor allem die Arbeiter.«
Er wußte, wie er es von Anfang an gewußt hatte, daß sie seine Tränen gesehen hatte und nicht gleichgültig
über sie hinweggegangen war, obwohl ihre klare, tonlose Stimme und ihr starres Gesicht kein Gefühl verrieten.
Er spürte etwas in ihrem Verhalten, das er sich nicht erklären konnte. Dennoch war es ihm, als ob sie sagen
wollte: Ich weiß, ich verstehe. Ich würde Mitleid und Dankbarkeit empfinden, wenn wir lebendig wären und
fühlen könnten, aber wir sind es nicht, nicht wahr, Eddie? Wir sind auf einem toten Planeten wie dem Mond, wo
wir uns bewegen müssen, aber nicht wagen, stehen zu bleiben und durchzuatmen, weil wir dann entdecken, daß
keine Luft zum Atmen da ist.
»Wir müssen heute und morgen alle Vorbereitungen treffen«, sagte sie. »Morgen abend fahre ich nach
Colorado.«
»Wenn du fliegen willst, muß ich irgendwo für dich ein Flugzeug mieten. Deines ist noch in der Werkstatt.
Sie können die Ersatzteile nicht bekommen.«
»Nein, ich fahre mit der Bahn. Ich muß die Strecke sehen. Ich nehme morgen den Comet.«
Zwei Stunden später, in einer kurzen Pause zwischen verschiedenen Ferngesprächen, stellte sie ihm plötzlich
die erste Frage, die sich nicht auf die Bahn bezog: »Was haben sie Hank Rearden angetan?«
Eddie ertappte sich dabei, daß er wegblicken wollte, aber dann zwang er sich, sie anzusehen, und antwortete:
»Er hat nachgegeben. Er hat die Schenkungsurkunde im letzten Augenblick unterzeichnet.«
»Ach«, sagte sie nur, weder erschrocken noch verurteilend, als setzte sie einen Punkt hinter eine Tatsache, mit
der man sich abfinden mußte. »Hast du von Quentin Daniels gehört?«
»Nein.«
»Hat er keinen Brief oder keine Botschaft für mich geschickt?«
»Nein.«
Er ahnte, was sie fürchtete, und dabei fiel ihm etwas ein, das er noch nicht berichtet hatte. »Dagny, da ist noch
ein anderes Problem, das sich, seit du gegangen bist, auf das ganze Netz immer bedenklicher ausgewirkt hat. Seit
dem 1. Mai. Es handelt sich um die ‘eingefrorenen’ Züge.«
»Um was?«
»An mehreren einsamen Stellen irgendwo auf der Strecke hat man Züge – meistens nachts – stehen lassen,
und das ganze Zugpersonal ist verschwunden. Man hat es in keinem Fall vorher angekündigt oder einen
besonderen Grund angegeben. Es ist wie eine Epidemie, die die Männer plötzlich befällt, und sie gehen. Das ist
auch bei anderen Eisenbahngesellschaften passiert. Niemand kann es erklären. Aber ich glaube, jeder versteht es.
Die Verordnung ist daran schuld. Es ist die Art, in der unsere Männer dagegen protestieren. Sie versuchen
weiterzumachen, und dann kommt plötzlich der Augenblick, in dem sie es nicht mehr ertragen können.«
»Was können wir dagegen tun?«
Er zuckte die Achseln. »Wer ist John Galt?«
Sie nickte nachdenklich; ihr Gesicht zeigte keine Überraschung.
Das Telefon läutete, und die Stimme ihrer Sekretärin sagte: »Mr. Wesley Mouch ruft aus Washington an,
Miss Taggart.«
Dagnys Lippen verzogen sich ein wenig, als ob ein Insekt sie gestochen hätte. »Es muß für meinen Bruder
sein«, sagte sie.
»Nein, Miss Taggart, für Sie.«
»Gut. Geben Sie ihn mir.«
»Miss Taggart«, sagte die Stimme Wesley Mouchs im Ton eines Cocktailpartygastes, »ich habe mich so
gefreut zu hören, daß Sie wieder gesund sind, daß ich Sie gleich persönlich willkommen heißen wollte. Ich weiß,
daß Ihr Gesundheitszustand längeres Ausspannen erforderte, und ich weiß den Patriotismus zu schätzen, der Sie
dazu veranlaßt hat, Ihren Urlaub der furchtbaren Katastrophe wegen vorzeitig abzubrechen. Ich möchte Ihnen
versichern, daß Sie bei allem, was Sie jetzt für notwendig erachten, auf unsere Mitarbeit zählen können. Auf
unsere Mitarbeit, unseren Beistand und unsere Unterstützung. Wenn Sie Sondergenehmigungen brauchen, dann
seien Sie bitte gewiß, daß sie Ihnen gewährt werden.«
Sie ließ ihn sprechen, obwohl er mehrere kleine Pausen einlegte, um sie zu einer Antwort zu verlocken. Als er
länger schwieg, sagte sie: »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich mit Mr. Weatherby verbinden würden.«
»Natürlich, Miss Taggart, wann immer Sie wollen… Das heißt… meinen Sie jetzt?«
»Ja, jetzt gleich.«
Er verstand, aber er sagte: »Ja, Miss Taggart.«
Kurz darauf meldete sich Mr. Weatherby. »Ja, Miss Taggart?« fragte er behutsam. »Womit kann ich Ihnen
dienen?«
»Sie können Ihrem Chef sagen, wenn er nicht will, daß ich wieder gehe – er weiß ja, daß ich meinen Posten
verlassen hatte –, soll er mich nie wieder anrufen oder mit mir sprechen. Alles, was Washington mir zu sagen
hat, soll er mir durch Sie sagen lassen. Ich werde mit Ihnen sprechen, aber nicht mit ihm. Sie können ihm sagen,
mein Grund dafür ist das, was er Hank Rearden angetan hat, als er noch für ihn arbeitete. Mögen alle es
vergessen haben, ich habe es nicht vergessen.«
»Es ist meine Pflicht, den Eisenbahnen des Landes jederzeit beizustehen, Miss Taggart.« Mr. Weatherbys
Stimme klang, als ob er dem Eingeständnis ausweichen wollte, gehört zu haben, was er gehört hatte. Aber
plötzlich fragte er deutlich interessiert in einem leisen, behutsam diplomatischen Ton: »Verstehe ich Sie richtig,
Miss Taggart? Sie wünschen, in allen amtlichen Angelegenheiten ausschließlich mit mir zu tun zu haben? Darf
ich das als Ihre Politik betrachten?«
Sie lachte kurz auf. »Ich bitte Sie darum«, sagte sie, »Sie können mich als Ihr ausschließliches Eigentum
ansehen, mich als eine besondere Art von Schieberware benutzen und mit mir in ganz Washington handeln, aber
ich weiß nicht, was Ihnen das nützen wird, denn ich werde das Spiel nicht mitspielen. Ich werde nicht mit
Gefälligkeiten handeln, ich werde nur sofort damit beginnen, Ihre Gesetze zu brechen – und Sie können mich
verhaften, wenn Sie glauben, sich das leisten zu können.«
»Ich glaube, Sie haben altmodische Vorstellungen von Gesetzen, Miss Taggart. Warum von starren,
unberechenbaren Gesetzen sprechen? Unsere modernen Gesetze sind elastisch, und man kann sie den…
Umständen entsprechend auslegen.«
»Dann fangen Sie gleich an, elastisch zu sein, denn ich bin es nicht, und Eisenbahnkatastrophen sind es auch
nicht.«
Sie legte den Hörer auf und sagte zu Eddie in einem Ton, in dem man leblose Objekte abschätzt: »Die werden
uns für eine Weile in Ruhe lassen.«
Sie schien die Veränderungen in ihrem Büro nicht zu bemerken: das Fehlen von Nat Taggarts Bild, den neuen
gläsernen Kaffeetisch, auf dem Mr. Locey für seine Besucher die am lautesten von Menschheitsbeglückung
faselnden Zeitschriften mit ihren ins Auge stechenden Schlagzeilen ausgelegt hatte.
Mit der Aufmerksamkeit einer Maschine, die registriert, aber nicht reagiert, hörte sie Eddies Bericht, was der
eine Monat die Bahn gekostet hatte. Sie hörte seinen Bericht über die von ihm vermuteten Ursachen der
Katastrophe. Genauso regungslos nahm sie es hin, daß irgendwelche Unbefugten mit übereiligen Schritten und
übertrieben gestikulierend in ihr Büro gestürzt kamen und wieder hinausliefen. Nichts kam mehr an sie heran,
dachte er. Aber plötzlich – während sie auf und ab ging und ihm eine Materialliste für den Bau der Strecke
diktierte und wo man das Material illegal bekam – blieb sie stehen und sah sich die Zeitschriften auf dem
Kaffeetisch an. Die Schlagzeilen lauteten: »Das neue soziale Gewissen« – »Unsere Pflicht den Benachteiligten
gegenüber« – »Bedürftigkeit gegen Habgier«. Mit einer einzigen Bewegung ihres Arms, der jähen, explosiven
Bewegung nackter physischer Gewalt, wie er sie nie zuvor an ihr erlebt hatte, fegte sie die Zeitschriften vom
Tisch und diktierte dann ohne jede Unterbrechung w eiter, als gäbe es keine Verb indung zwischen ihrem Geist
und ihrem Körper.
Als sie am späten Nachmittag einen Augenblick allein in ihrem Büro war, rief sie Hank Rearden an.
Sie nannte seiner Sekretärin ihren Namen – und sie merkte an der Art, wie er »Dagny?« sagte, mit welcher
Hast er den Hörer ergriffen hatte.
»Hallo, Hank, ich bin wieder da.«
»Wo?«
»In meinem Büro.«
In dem kurzen Schweigen, das folgte, hörte sie, was er nicht aussprach, dann sagte er: »Ich glaube, ich
beginne am besten gleich damit, Leute zu bestechen, um das für die Herstellung deiner Schienen nötige Eisenerz
zu bekommen.«
»Ja. Soviel du davon auftreiben kannst. Es braucht nicht Rearden Metal zu sein. Es kann…« Sie merkte kaum,
daß ihr einen Augenblick die Stimme versagte, aber was sich darin ausdrückte, war der Gedanke: Rearden-
Metal-Schienen, um in die Zeit zurückzukehren, bevor es Stahl gab? Vielleicht zurück in die Zeit der
Holzschienen mit Eisenbändern? »Es kann Stahl sein, ganz gleich, welcher Qualität, alles, was du mir geben
kannst.«
»Gut. Dagny, weißt du, daß ich ihnen Rearden Metal überlassen habe? Ich habe die Schenkungsurkunde
unterzeichnet.«
»Ja, ich weiß.«
»Ich habe nachgegeben.«
»Wie könnte ich dir das vorwerfen, ich, die ich…« Er antwortete nicht, und sie sagte: »Hank, ich glaube, es
ist ihnen ganz gleich, ob es noch einen Zug oder einen Hochofen in der Welt gibt. Uns aber nicht. Sie binden uns
durch unsere Liebe dazu, und wir werden so lange weiter zahlen, wie uns eine Chance bleibt, ein einziges Rad in
Bewegung zu halten als Beweis menschlicher Intelligenz. Wir halten es über Wasser wie unser ertrinkendes
Kind, und wenn die Flut es verschlingt, gehen wir mit dem letzten Rad und dem letzten Syllogismus unter. Ich
weiß, was wir bezahlen, aber der Preis spielt keine Rolle mehr.«
»Ich weiß.«
»Mach dir keine Sorgen um mich, Hank. Morgen früh werde ich alles überwunden haben.«
»Ich werde mir nie Sorgen um dich machen, Liebste. Ich komme heute abend zu dir.«

IX. Das Antlitz ohne Furcht und Schuld

Das Schweigen ihres Apartments und die vollkommene Bewegungslosigkeit der Gegenstände, die noch
genauso waren, wie sie sie vor einem Monat zurückgelassen hatte, erfüllten sie mit Erleichterung und Trauer
zugleich, als sie in ihr Wohnzimmer trat. Das Schweigen gab ihr die Illusion von Zurückgezogenheit und Besitz;
der Anblick der Gegenstände erinnerte sie daran, daß sie einen Augenblick festhielten, den sie nicht
wiedererlangen konnte, so wie sie nicht ungeschehen machen konnte, was inzwischen geschehen war.
Hinter den Fenstern schimmerte es noch hell. Sie hatte ihr Büro früher verlassen als beabsichtigt, weil sie sich
zu keiner Arbeit aufraffen konnte, die sich noch bis morgen verschieben ließ. Dies war ihr ebenso neu, wie daß
sie sich jetzt in ihrem Apartment mehr zu Hause fühlte als in ihrem Büro.
Sie duschte und ließ das Wasser lange über ihren Körper fließen, hörte aber hastig damit auf, als ihr bewußt
wurde, daß, was sie abwaschen wollte, nicht der Reisestaub war, sondern das, was sie im Büro empfunden hatte.
Sie zog sich an, steckte sich eine Zigarette an und ging in das Wohnzimmer, wo sie sich ans Fenster stellte
und über die Stadt sah, so wie sie erst am Morgen dieses Tages über das Land gesehen hatte. Sie hatte gesagt, sie
würde ihr Leben dafür geben, wenn sie noch ein Jahr bei der Eisenbahn arbeiten könnte. Sie war zu ihr
zurückgekehrt, aber es war nicht die Freude an der Arbeit, es war nur der klare, kalte Friede einer gefällten
Entscheidung und die Stille des nicht zugegebenen Schmerzes.
Wolken hatten den Himmel verhüllt und waren als Nebel heruntergestiegen, um die Straßen unten
einzuhüllen, als ob der Himmel die Stadt verschlänge. Sie konnte die ganze Manhattan-Insel sehen, eine lange
dreieckige Form, die in den unsichtbaren Ozean hineinragte. Sie sah wie der Bug eines sinkenden Schiffes aus.
Ein paar hohe Gebäude ragten noch wie Schornsteine darüber auf, aber das übrige verschwand unter graublauen
Schwaden und versank langsam in einer dunstigen Weite. So, dachte sie, war Atlantis verschwunden, die Stadt,
die im Ozean versank, und all die anderen Königreiche, die untergegangen waren und die in allen menschlichen
Sprachen die gleiche Sage und die gleiche Sehnsucht zurückgelassen hatten. Ihr war wie in jener Frühlingsnacht
zumute, als sie in dem halbverfallenen Büro der John-Galt -Linie vor dem Fenster, das auf eine dunkle
Nebenstraße ging, auf ihren Schreibtisch gesunken war und ihre eigene Welt, die sie nie erreichen würde, vor
sich gesehen hatte… Du, dachte sie, wer du auch bist, den ich immer geliebt und nie gefunden habe, du, den ich
am Ende der Schienen hinter dem Horizont zu sehen erwartete, du, dessen Gegenwart ich immer in den Straßen
der Stadt gespürt hatte und dessen Welt ich hatte erbauen wollen, meine Liebe zu dir hat mich in Gang gehalten,
meine Liebe und meine Hoffnung, dich zu erreichen, und mein Wunsch, an dem Tag deiner würdig zu sein, an
dem ich dir von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe. Jetzt weiß ich, daß ich dich nie finden werde – daß ich
das nie erreichen oder erleben werde –, aber was mir von meinem Leben geblieben ist, gehört immer noch dir,
und ich werde in deinem Namen weiterarbeiten, obwohl es ein Name ist, den ich nie erfahren werde. Ich werde
dir weiter dienen, obwohl ich nie an mein Ziel gelangen werde. Ich werde weiterarbeiten, um deiner an dem Tag
würdig zu sein, an dem ich dir begegne, obwohl ich dir nicht begegnen werde… Sie hatte sich nie in
Hoffnungslosigkeit verloren. Sie stand am Fenster, und was sie in die vom Nebel verhüllte Stadt hinuntersprach,
war die Hingabe ihres Selbst an eine unerwiderte Liebe.
Es läutete an der Wohnungstür.
Mit gleichgültigem Erstaunen drehte sie sich um, um die Tür zu öffnen, aber sie wußte, daß sie ihn hätte
erwarten müssen, als sie sah, daß es Francisco d’Anconia war. Sie spürte weder Erschrecken noch Auflehnung,
sondern nur eine traurige gelassene Sicherheit – und mit einer langsamen entschlossenen Bewegung hob sie den
Kopf, um ihn anzusehen, als ob sie ihm sagen wollte, daß sie ihre Stellung bezogen hatte und auf jede Deckung
verzichtete.
Sein Gesicht war ernst und ruhig; der Ausdruck des Glücks war verschwunden, aber die Fröhlichkeit des
Playboys nicht zurückgekehrt. Er sah aus, als hätte er alle Masken abgelegt. Er wirkte beherrscht und
entschlossen, sah aus wie ein Mann, der fähig ist, den Ernst des Handelns zu erkennen, so wie sie es einst von
ihm erwartet hatte. Er hatte nie so anziehend gewirkt wie in diesem Augenblick, und zu ihrer Überraschung hatte
sie das Gefühl, daß er nicht der war, von dem sie, sondern der, der von ihr verlassen worden war.
»Dagny, kannst du jetzt darüber sprechen?«
»Ja, wenn du es willst. Komm herein.«
Er warf einen kurzen Blick in ihr Wohnzimmer, ihr Zuhause, das er nie betreten hatte, und dann wandten sich
seine Augen wieder ihr zu. Er beobachtete sie aufmerksam. Er schien zu wissen, daß ihre ruhige Gelassenheit
ihm das, was er vorhatte, erschwerte; daß diese Ruhe wie eine Aschenschicht war, in der kein Schmerz neu
entfacht werden konnte; daß selbst der Schmerz eine Art Feuer gewesen wäre.
»Setz dich, Francisco.«
Sie blieb vor ihm stehen, als ob sie ihm bewußt zeigen wollte, daß sie nichts zu verbergen hatte, nicht einmal
ihre Müdigkeit, den Preis, den sie für diesen Tag bezahlt hatte, und daß ihr dieser Preis gleichgültig war.
»Ich glaube, ich kann dich jetzt nicht mehr daran hindern«, sagte er, »wenn du deine Wahl getroffen hast.
Aber wenn noch eine Chance dafür besteht, dann muß ich sie ergreifen.«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Es besteht keine Chance. Und wofür, Francisco? Du hast aufgegeben. Was
für einen Unterschied macht es, ob ich mit der Eisenbahn oder fern von ihr zugrunde gehe?«
»Ich habe die Zukunft nicht aufgegeben.«
»Welche Zukunft?«
»Den Tag, an dem die Plünderer zugrunde gehen, wir aber nicht.«
»Wenn Taggart Transcontinental mit den Plünderern zugrunde gehen muß, gehe auch ich zugrunde.«
Er wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht und antwortete nicht.
Ruhig fügte sie hinzu: »Ich glaubte, ich könnte ohne sie leben, aber ich kann es nicht. Ich werde es nie wieder
versuchen. Francisco, erinnerst du dich, als wir anfingen, glaubten wir beide, die einzige Sünde sei es, das, was
man macht, nicht gut zu machen. Ich glaube das noch immer.« Ihre nüchterne Stimme bekam zürn ersten Mal
einen leidenschaftlichen Klang. »Ich kann nicht dabeistehen und zusehen, was man in dem Tunnel getan hat. Ich
kann nicht hinnehmen, was sie alle hinnehmen – Francisco, es war das, was du und ich für so ungeheuerlich
hielten, der Glaube, daß Katastrophen ein Schicksal sind, das man tragen muß und gegen das man nicht
ankämpfen darf. Ich kann es nicht hinnehmen, mich unterwerfen zu müssen und hilflos zu sein. Ich kann nicht
einfach verzichten. Solange es noch eine Eisenbahn gibt, werde ich sie leiten.«
»Um die Welt der Plünderer zu erhalten?«
»Um den letzten Rest meiner Welt zu erhalten.«
»Dagny«, sagte er leise, »ich weiß, warum jemand seine Arbeit liebt. Ich weiß, was es für dich bedeutet, eine
Eisenbahn zu leiten. Aber wenn die Züge leer wären, würdest du sie nicht fahren lassen. Dagny, was siehst du
vor dir, wenn du an einen fahrenden Zug denkst?«
Sie blickte auf die Stadt. »Das Leben eines befähigten Menschen, der bei dieser Katastrophe hätte umkommen
können, aber der nächsten entgehen wird, die ich verhindern werde, eines Menschen, der einen beharrlichen
Intellekt und einen unbegrenzten Ehrgeiz hat und der sein eigenes Leben liebt, des Menschen, der das ist, was
wir waren, als wie begannen, du und ich. Du hast ihn aufgegeben. Ich kann es nicht.«
Einen Augenblick lang schloß er die Augen, und sein Mund straffte sich zu einem Lächeln, einem Lächeln,
das ein Stöhnen des Verstehens, der Belustigung und des Schmerzes ersetzte. Mit ernster, sanfter Stimme fragte
er: »Glaubst du, daß du ihm noch dienen kannst – diesem Menschen, indem du die Eisenbahn leitest?«
»Ja.«
»Gut, Dagny. Ich werde nicht versuchen, dich daran zu hindern. Solange du das glaubst, kann oder darf dich
niemand hindern. Erst an dem Tag, an dem du entdeckst, daß deine Arbeit nicht dem Leben dieses Menschen,
sondern seiner Vernichtung dient, wirst du sie niederlegen.«
»Francisco!« Es war ein Schrei des Erstaunens und der Verzweiflung. »Du verstehst es, du weißt, wen ich mit
diesem Menschen meine, du siehst ihn auch!«
»O ja«, sagte er schlicht und wie beiläufig und starrte dabei auf einen Punkt im Zimmer, als sähe er einen
wirklichen Menschen. »Warum sollte dich das wundern?« fragte er. »Du hast gesagt, wir, du und ich, seien
einmal solche Menschen gewesen. Wir sind es noch. Aber einer von uns hat ihn verraten.«
»Ja«, sagte sie streng. »Einer von uns hat es getan. Wir können ihm nicht dadurch dienen, daß wir aufgeben.«

»Wir können ihm nicht dadurch dienen, daß wir uns mit seinen Vernichtern arrangieren.«
»Ich arrangiere mich nicht mit ihnen. Sie brauchen mich. Sie wissen es. Sie müssen meine Bedingungen
annehmen.«
»Indem du ein Spiel spielst, bei dem sie Gewinne einstreichen und dir dafür Schaden zufügen?«
»Wenn ich Taggart Transcontinental am Leben erhalten kann, ist das der einzige Gewinn, den ich mir
wünsche. Was macht es mir aus, wenn ich ihnen Lösegeld zahlen muß? Laß sie haben, was sie wollen. Ich werde
die Eisenbahn haben.«
Er lächelte. »Glaubst du das wirklich? Glaubst du, es sei ein Schutz für dich, daß sie dich brauchen? Glaubst
du, du kannst ihnen geben, was sie wollen? Nein, du wirst erst dann deine Arbeit niederlegen, wenn du siehst,
mit deinen eigenen Augen erkennst, was sie wirklich wollen. Du weißt, Dagny, man hat uns gelehrt, daß einiges
Gott und anderes dem Kaiser gehörte. Vielleicht würde ihr Gott das zulassen. Aber der Mensch, von dem du
sagst, daß wir ihm dienen, läßt das nicht zu. Er läßt kein geteiltes Dienen zu, keinen Kampf zwischen Körper und
Geist, keinen Abgrund zwischen deinen Werten und ihren Handlungen, keine Tribute an den Kaiser. Er duldet
keine Kaiser.«
»Zwölf Jahre lang«, sagte sie leise, »hätte ich geglaubt, es sei unvorstellbar, daß ein Tag kommen würde, an
dem ich dich auf meinen Knien um Vergebung bitten müßte. Jetzt erscheint es mir möglich. Sollte ich einsehen,
daß du recht hast, werde ich es tun. Aber nicht eher.«
»Du wirst es tun, aber nicht auf deinen Knien.«
Sie stand vor ihm und er sah sie an, als würde er ihren Körper mustern, obwohl seine Augen auf ihrem
Gesicht ruhten, und sein Blick sagte ihr, welche Art von Sühne und Kapitulation er voraussah. Sie bemerkte, wie
er sich bemühte wegzusehen, wie er hoffte, daß sie seinen Blick nicht gesehen oder verstanden hatte, seinen
stummen Kampf, den die Spannung einiger Muskeln unter seiner Gesichtshaut verriet, dieses Gesichts, das sie so
gut kannte.
»Bis dahin, Dagny, vergiß nicht, daß wir Feinde sind. Ich wollte dir das eigentlich nicht sagen, aber du bist
der erste Mensch, der fast den Himmel erreicht hat, aber in die Welt zurückgekehrt ist. Du warst zu dicht dran,
und darum mußt du es wissen. Dich bekämpfe ich, nicht deinen Bruder James oder Wesley Mouch. Dich muß
ich bezwingen. Ich bin darauf aus, all dem ein Ende zu bereiten, was dir jetzt am kostbarsten ist. Während du
kämpfst, um Taggart Transcontinental zu retten, werde ich alles tun, um deine Eisenbahn zu zerstören. Bitte
mich nie um Hilfe oder Geld. Du kennst meine Gründe. Vielleicht haßt du mich jetzt, wie du es von deinem
Standpunkt aus müßtest.«
Sie hob den Kopf ein wenig. In ihrer Haltung war keine wahrnehmbare Veränderung. Sie stand als Frau vor
ihm. Aber der beherrschte Ton, in dem sie sprach, w ar der eines Gegners, der sich zum Kampf stellt: »Was würde
das für dich bedeuten?«
Er sah sie an. Er wußte genau, was sie von ihm hören wollte. Aber er gab es weder zu, noch leugnete er es ab:
»Das geht allein mich etwas an.«
Sie war es, die schwach wurde. Aber sie merkte, daß, was sie sagte, noch grausamer war: »Ich hasse dich
nicht. Ich habe es jahrelang versucht, aber ich werde dich nie hassen, ganz gleich, was wir tun – du oder ich.«
»Ich weiß es«, sagte er so leise, daß sie den Schmerz nicht hörte, aber ihn in sich fühlte, als würde er sich
unmittelbar von ihm auf sie übertragen.
»Francisco«, schrie sie verzweifelt, als könne sie ihn gegen sich selbst verteidigen. »Wie kannst du tun, was
du tust?«
»Durch die Gnade meiner Liebe« – zu dir – sagten seine Augen, »zu dem Menschen«, sagte seine Stimme,
»der nicht an der Katastrophe zugrunde gegangen ist und nicht zugrunde gehen wird.« Sie schwieg wie in
ehrerbietiger Anerkennung.
»Ich wünschte, ich könnte dir ersparen, was du durchmachen wirst«, fuhr er fort. Der sanfte Ton seiner
Stimme sagte: Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. »Aber ich kann es nicht. Wir mü ssen beide
unseren Weg gehen. Doch es ist der gleiche Weg.«
»Wohin führt er?«
Er lächelte, als würde er leise eine Tür vor Fragen schließen, die er nicht beantworten wollte. »Nach Atlantis«,
sagte er.
»Wohin?« fragte sie erschrocken.
»Erinnerst du dich nicht – die versunkene Stadt, die nur die Geister der Helden betreten können?«
Der Zusammenhang, der ihr plötzlich klar wurde, hatte sie schon seit dem Morgen wie eine verschwommene
Angst verfolgt, die zu ergründen sie keine Zeit gehabt hatte. Sie hatte es gewußt, aber sie hatte nur an ihr eigenes
Schicksal und ihre persönliche Entscheidung gedacht; sie hatte ihn nicht einbezogen. Jetzt erinnerte sie sich an
eine größere Gefahr und spürte die riesige undeutliche Gestalt des Feindes, dem sie gegenüberstand. »Du bist
einer von ihnen«, sagte sie leise, »nicht wahr?«
»Von wem?«
»Warst du in Ken Danaggers Büro?«
Er lächelte. »Nein.« Aber es fiel ihr auf, daß er nicht fragte, was sie meinte. »Gibt es – du mußt es wissen –
wirklich einen Zerstörer in der Welt?«
»Ja.«
»Wer ist es?«
»Du.«
Sie zuckte die Schultern, und ihr Gesicht wurde hart. »Leben die Männer noch, die gegangen sind, oder sind
sie tot?«
»Sie sind tot – für dich. Aber es wird eine zweite Renaissance in der Welt geben. Darauf warte ich.«
»Nein!« Die plötzliche Heftigkeit ihrer Stimme galt ihm, galt der Andeutung, die sie aus seinen Worten
heraushören sollte.
»Nein, warte nicht auf mich!«
»Ich werde immer auf dich warten, was wir beide auch tun.«
Sie hörten, wie sich ein Schlüssel im Schloß der Wohnungstür drehte. Die Tür öffnete sich, und Hank
Rearden kam herein. Er blieb kurz auf der Schwelle stehen, dann ging er langsam in das Wohnzimmer und ließ
den Schlüssel in seine Tasche gleiten.
Sie wußte, daß er Francisco noch vor ihr gesehen hatte. Er blickte sie an, aber seine Augen schweiften wieder
zu Francisco, als wäre dies das einzige Gesicht, das er in diesem Augenblick zu sehen vermochte.
Sie fürchtete sich, Francisco anzusehen. Als sie sich bemühte, den Kopf zu ihm hinzuwenden, war es ihr, als
schleppte sie eine Last, die über ihre Kraft ging. Francisco hatte sich erhoben, in der bedächtigen wie
selbstverständlichen Art eines – d’Anconia, der wußte, was die Höflichkeit gebot. Rearden konnte nichts in
seinem Gesicht lesen, aber was er sah, war schlimmer, als er gefürchtet hatte.
»Was tun Sie hier?« fragte Rearden im Ton von jemand, der einen Bediensteten in einem Zimmer ertappt, in
dem er nichts zu suchen hat.
»Ich sehe, ich habe nicht das Recht, Ihnen die gleiche Frage zu stellen«, sagte Francisco.
Dagny wußte, welche Anstrengung es ihn kostete, das so klar und ruhig zu sagen. Seine Augen blickten
immer wieder auf Reardens rechte Hand, als sähe er noch den Schlüssel zwischen seinen Fingern.
»Dann antworten Sie mir«, sagte Rearden.
»Hank, jede Frage, die du stellen möchtest, mußt du mir stellen«, sagte sie.
Rearden schien sie nicht zu sehen oder zu hören.
»Antworten Sie«, wiederholte er.
»Es gibt nur eine Antwort, die zu fordern Sie das Recht hätten«, sagte Francisco, »und deshalb will ich Ihnen
sagen, daß das nicht der Grund meiner Anwesenheit hier ist.«
»Es gibt nur einen Grund für Ihre Anwesenheit in der Wohnung einer Frau«, sagte Rearden. »Und ich meine,
soweit es Sie betrifft, jeder Frau. Denken Sie, ich glaube jetzt noch, was Sie mir gestanden oder was Sie mir je
gesagt haben?«
»Ich habe Ihnen Grund gegeben, mir nicht zu trauen, aber keinen, der Miss Taggart einschließt.«
»Sagen Sie mir nicht, daß Sie hier keine Chance haben, nie gehabt haben und nie haben werden. Ich weiß es.
Aber daß ich Sie hier finde am ersten…«
»Hank, wenn du mich beschuldigen willst…«, begann sie.
Er drehte sich zu ihr um.
»Um Gottes willen, nein, Dagny, das tue ich nicht. Aber man sollte dich nicht mit ihm sprechen sehen. Du
solltest dich mit ihm in keiner Weise abgeben. Du kennst ihn nicht. Ich kenne ihn.« Er wandte sich an Francisco.
»Was wollen Sie?
Hoffen Sie, sie in Ihre Art von Eroberungen einreihen zu können oder…«
»Nein!« Es war ein unfreiwilliger Schrei, und er klang sinnlos in seiner leidenschaftlichen Aufrichtigkeit, die
ihm als sein einziger Beweis doch nicht geglaubt wurde.
»Nein? Dann sind Sie also aus geschäftlichen Gründen hier? Wollen Sie ihr eine Falle stellen, wie Sie sie mir
gestellt haben? Auf welche Art wollen Sie sie betrügen?«
»Der Zweck meines Besuches… war nicht… geschäftlich.«
»Was war er dann?«
»Wenn Sie mir noch glauben wollen, kann ich Ihnen nur sagen, daß er keinen… Verrat irgendeiner Art
einschloß.«
»Glauben Sie, daß Sie in meiner Gegenwart noch von Verrat sprechen können?«
»Ich werde Ihnen eines Tages die Antwort darauf geben. Jetzt kann ich es nicht.«
»Sie wollen nicht gern daran erinnert werden, nicht wahr? Sie sind mir seitdem aus dem Weg gegangen. Sie
haben nicht erwartet, mich hier anzutreffen. Sie wollten mir nicht begegnen, mir nicht in die Augen sehen.« Aber
er wußte, daß Francisco ihm in die Augen sah wie kein anderer in dieser Zeit. Er sah die Augen, die ihn
unverwandt anblickten, das reglose Gesicht, ohne Gefühl, ohne Verteidigung oder Bitte, bereit zu ertragen, was
immer kam. Er sah den offenen ungeschützten Ausdruck des Mutes. Dies war das Gesicht des Mannes, den er
geliebt hatte, des Mannes, der ihn von Schuld befreit hatte. Und er wehrte sich gegen das Wissen, daß dieses
Gesicht ihn immer noch bannte, mehr als alles andere, und daß selbst der Monat, den er ungeduldig auf Dagny
gewartet hatte, davor verblaßte. »Warum verteidigen Sie sich nicht, wenn Sie nichts zu verbergen haben? Warum
sind Sie hier? Warum waren Sie verblüfft, mich hereinkommen zu sehen?«
»Hank, hör auf!« Dagnys Stimme war ein Schrei, und sie wich zurück, weil sie wußte, daß Heftigkeit in
diesem Augenblick das Gefährlichste war.
Beide Männer wandten sich ihr zu.
»Laß mich bitte antworten«, sagte Francisco ruhig.
»Ich habe dir gesagt, daß ich hoffte, ihn nie wiedersehen zu müssen«, sagte Rearden. »Es tut mir leid, daß es
gerade hier geschehen muß. Es betrifft nicht dich. Aber es ist da etwas, für das er zahlen muß.«
»Wenn das Ihr… Ziel ist«, sagte Francisco mühsam, »haben Sie es nicht schon erreicht?«
»Was soll das?« Reardens Gesicht war eiskalt, seine Lippen bewegten sich kaum, aber seine Stimme klang
wie ein Lachen. »Ist das Ihre Art, um Gnade zu bitten?«
Francisco schwieg einen Augenblick, um alle Kraft zusammenzunehmen. »Ja… wenn Sie so wollen«,
antwortete er.

»Haben Sie sie gewährt, als Sie meine Zukunft in Ihren Händen hielten?«
»Sie sind berechtigt, alles von mir zu denken, was Sie wollen. Aber da Miss Taggart nichts damit zu tun hat…
Würden Sie mir jetzt erlauben zu gehen?«
»Nein. Wollen Sie sich dem entziehen wie all die anderen Feiglinge? Wollen Sie davonlaufen?«
»Ich werde überallhin kommen, wohin zu kommen Sie von mir verlangen, und zu jeder Zeit, die Sie
wünschen. Aber es wäre mir lieber, wenn Miss Taggart nicht dabei wäre.«
»Warum? Ich will es gerade in ihrer Gegenwart regeln, weil dies der eine Ort ist, wohin zu kommen Sie kein
Recht haben. Ich habe nichts mehr, das ich vor Ihnen schützen könnte. Sie haben mehr genommen, als die
Plünderer je nehmen können. Sie haben alles zerstört, was Sie angerührt haben, aber hier ist etwas, das Sie nicht
anrühren werden.« Er wußte, daß, gerade weil sich keinerlei Gefühl in Franciscos Gesicht spiegelte, dies der
stärkste Beweis für ein Gefühl war, der Beweis für die verzweifelte Anstrengung, es nicht zu zeigen – er wußte,
dieses Gefühl war Qual und daß er, Rearden, blind von einem Gefühl getrieben wurde, das der Lust eines
Folterknechts ähnelte, nur daß er nicht sagen konnte, ob er Francisco quälte oder sich selbst. »Sie sind schlimmer
als die Plünderer, weil Sie Verrat in voller Kenntnis dessen üben, was Sie verraten. Ich weiß nicht, welche Art
von Verderbtheit Ihr Beweggrund ist. Aber Sie sollen wissen, daß es etwas gibt, an das Sie nicht herankönnen,
das sich Ihrem Trachten oder Ihrer Bosheit entzieht.«
»Sie haben von mir… jetzt… nichts zu fürchten.«
»Sie sollen wissen, daß Sie nicht an sie zu denken, sie nicht anzusehen und sich ihr nicht zu nähern haben. Sie
sind der einzige von allen Männern, der sich nicht in ihrer Gegenwart zeigen darf.« Er wußte, daß ihn eine
verzweifelte Wut über sein eigenes Gefühl für diesen Mann dazu trieb, daß dieses Gefühl noch in ihm lebendig
war und daß er ihm Gewalt antun und es vernichten mußte. »Was immer Ihr Beweggrund ist, sie muß vor jeder
Berührung mit Ihnen geschützt werden.«
»Wenn ich Ihnen mein Wort geben würde…« Er hielt inne.
Rearden lachte. »Ich weiß, was Ihr Wort, Ihre Überzeugung, Ihre Freundschaft bedeuten und Ihr Schwur bei
der einzigen Frau, die Sie je…« Er unterbrach sich. Sie wußten alle, was das bedeutete, im gleichen Augenblick,
in dem es Rearden aufging.
Er tat einen Schritt auf Francisco zu und fragte, auf Dagny deutend, mit einer seltsam leisen und fremden
Stimme, als gehöre sie keinem lebenden Menschen und sei auch nicht an einen lebenden Menschen gerichtet:
»Ist dies die Frau, die Sie lieben?«
Francisco schloß die Augen.
»Frag ihn das nicht«, kam es wie ein Schrei aus Dagny.
»Ist dies die Frau, die Sie lieben?«
Francisco blickte sie an und antwortete: »Ja.«
Reardens Hand hob sich, fegte herunter und schlug Francisco ins Gesicht.
Dagny schrie auf. Als sie nach einem Augenblick wieder zu sich kam, in dem es ihr gewesen war, als ob der
Schlag ihre eigene Wange getroffen hätte, waren Franciscos Hände das erste, was sie sah. Der Erbe der
d’Anconia stand an einen Tisch gelehnt, klammerte sich an die Tischkante hinter ihm, nicht um sich zu stützen,
sondern um seine eigenen Hände zu fesseln. Sie sah seinen wie erstarrten Körper, einen Körper, der sich
krampfhaft aufrecht hielt, aber dennoch gebrochen schien, mit der leicht verrenkten Taille und den
herabfallenden Schultern, mit den straffen, aber sich nach hinten neigenden Armen. Er stand dort, als ob die
Anstrengung, sich nicht zu rühren, die Kraft seines Zorns gegen ihn selbst kehrte, als ob die Bewegung, gegen
die er sich wehrte, wie ein reißender Schmerz durch seine Muskeln rann. Sie sah seine verkrampfen Finger sich
noch fester an die Tischkante klammern. Sie fragte sich, was zuerst zerbrechen würde, das Holz des Tisches oder
die Knochen des Mannes, und sie wußte, daß Reardens Leben an einem Faden hing. Als ihre Augen zu
Franciscos Gesicht aufblickten, sah sie kein Zeichen des Kampfes, nur die straff gespannte Haut über seinen
Schläfen und die einwärts gezogenen Flächen seiner Wangen, die ein wenig hohler schienen als sonst. Sein
Gesicht wirkte dadurch nackt, rein und jung. Sie erschrak, denn sie sah in seinen Augen die Tränen, die nicht in
ihnen waren; seine glänzenden Augen waren trocken. Er blickte Rearden an, aber es war nicht Rearden, den er
sah. Es war, als sähe er einen anderen und als sagte sein Blick: Wenn es das ist, was du von mir forderst, dann
gehört selbst dies dir, dann nimm es und laß es mich erdulden. Ich habe nichts Größeres in mir, was ich dir
geben kann, aber laß mir den Stolz zu wissen, daß ich dir so viel geben kann. Sie sah – an einer einzigen Ader,
die unter der Haut seiner Kehle schlug, an einem rosa Schaum in seinem Mundwinkel – eine verzückte Hingabe,
die fast ein Lächeln war, und sie wußte, sie war Zeugin des Größten, das Francisco je vollbracht hatte.
Als sie spürte, wie sie zitterte, und ihre eigene Stimme hörte, schien sie das letzte Echo ihres Schreis in der
Luft des Raumes zu treffen – und es wurde ihr bewußt, wie kurz der dazwischenliegende Augenblick war. Ihre
Stimme hatte den wilden Klang der Stimme eines Menschen, der zu einem Schlage ausholen möchte, und schrie
Rearden zu:
»… mich vor ihm schützen? Lange bevor du…«
»Schweig.« Franciscos Gesicht kehrte sich ihr zu, der Ton, in dem er dies eine Wort sagte, enthielt all die
zurückgestaute Gewalt, und sie wußte, es war ein Befehl, dem sie gehorchen mußte.
Bewegungslos bis auf die leise Drehung seines Kopfes, wandte sich Francisco Rearden zu. Sie bemerkte, wie
seine Hände die Tischkante losließen und entspannt an seinen Seiten herunterhingen. Jetzt sah er Rearden, und in
seinem Gesicht war nichts als Erschöpfung, aber Rearden wußte plötzlich, wie sehr dieser Mann ihn liebte.
»Im Rahmen dessen, was Sie wissen können«, sagte Francisco ruhig, »haben Sie recht.«
Ohne eine Antwort zu erwarten oder zu erlauben, wandte er sich zum Gehen. Er verbeugte sich vor Dagny,
verneigte sich kurz, als ob er sich von Rearden verabschieden und ihr damit zeigen wollte, daß er sich
abgefunden hatte. Dann ging er.
Rearden blickte ihm nach. Er wußte – ohne zu wissen, warum, aber mit absoluter Sicherheit –, daß er sein
Leben dafür geben würde, um ungeschehen zu machen, was er getan hatte.
Als er sich Dagny zuwandte, wirkte sein Gesicht leer, offen und ein wenig gespannt, als ob er sie nicht nach
den Worten fragte, die sie nicht mehr ausgesprochen hatte, aber doch darauf wartete, sie zu hören. Ein Schauer
des Mitleids durchrann sie, und dann schüttelte sie den Kopf: Sie wußte nicht, wem von den beiden Männern das
Mitleid galt, aber es machte sie unfähig zu sprechen, und sie schüttelte wieder und wieder den Kopf, als ob sie
verzweifelt versuchte, ein großes unpersönliches Leiden zu leugnen, das sie alle zu seinen Opfern gemacht hatte.
»Wenn da etwas ist, das gesagt werden muß, dann sag es«, sagte er mit tonloser Stimme.
Der Laut, den sie ausstieß, war halb ein Lachen, halb ein Stöhnen – es war nicht das Verlangen nach Rache,
sondern ein unerbittliches Gerechtigkeitsgefühl, das ihrer Stimme die schneidende Bitterkeit gab, als sie ihm
bewußt die Worte ins Gesicht schleuderte und schrie: »Wolltest du nicht den Namen des anderen Mannes
wissen? Des Mannes, mit dem ich geschlafen habe? Des Mannes, der mich als erster besessen hat? Es war
Francisco d’Anconia!« Sie sah an seinem kreideweiß werdenden Gesicht, wie sehr ihn der Schlag traf. Sie
wußte, daß, wenn es ihr um Gerechtigkeit ging, sie ihr Ziel erreicht hatte – denn dieser Schlag war schlimmer als
der, den er Francisco versetzt hatte.
Eine große Ruhe kam plötzlich über sie; sie wußte, daß ihre Worte um ihrer und der beiden Männer willen
hatten gesagt werden müssen. Die Verzweiflung eines hilflosen Opfers wich von ihr; sie war kein Opfer mehr,
sie war einer der Streiter, bereit, die Verantwortung für ihr Handeln zu tragen. Sie blickte ihn an, darauf wartend,
was er ihr antworten würde, und hatte dabei fast das Gefühl, als wäre jetzt sie an der Reihe, geschlagen zu
werden.
Sie wußte nicht, welche Art der Qual er litt, was er in sich zerstört sah und was er ihr nicht zeigen wollte. Sie
sah kein Zeichen des Schmerzes, das ihr einen Hinweis geben konnte; er sah aus, als wäre er nur ein Mann, der
still in der Mitte eines Zimmers stand und sein Bewußtsein zwang, sich mit einer Tatsache abzufinden, mit der er
sich nicht abfinden wollte. Dann bemerkte sie, daß er seine Haltung nicht veränderte, daß seine Arme mit den
schon seit einer ganzen Weile halb gekrümmten Fingern bleiern an ihm herunterhingen. Sie konnte das Stocken
des Bluts in seinen Fingern förmlich spüren – und dies war der einzige Schlüssel zu seinem Leiden, den sie
finden konnte. Aber er sagte ihr, daß das, was Rearden fühlte, ihm nicht die Kraft ließ, etwas anderes zu fühlen,
nicht einmal seinen eigenen Körper. Sie wartete; ihr Mitleid verging und wurde zu Achtung.
Dann sah sie, wie seine Augen langsam von ihrem Gesicht an ihrem Körper herunterglitten, und sie wußte,
welche Art von Qual er jetzt auf sich nahm, denn es war ein Blick, dessen Bedeutung er nicht vor ihr verbergen
konnte. Sie wußte, daß er sie sah, wie sie mit siebzehn ausgesehen hatte. Er sah sie mit dem Rivalen, den er
haßte. Er sah sie jetzt wieder zusammen – ein Anblick, den er weder ertragen noch ihm widerstehen konnte. Sie
sah den Schutz der Beherrschung aus seinem Gesicht weichen. Aber es war ihm gleichgültig, ob sie sein Gesicht
lebendig und nackt sah. Denn es war jetzt nichts in ihm zu lesen außer einer blinden Leidenschaft, die auch Haß
war.
Er packte sie an den Schultern, und sie war bereit, es hinzunehmen, daß er sie jetzt töten oder bis zur
Bewußtlosigkeit schlagen würde, und in dem Augenblick, da sie gewiß war, daß er daran gedacht hatte, fühlte
sie, wie ihr Körper sich ihm entgegen warf und sich sein Mund brutaler auf den ihren preßte, als wenn er sie
geschlagen hätte.
Voller Angst versuchte sie, sich seiner zu erwehren, aber dann schlang sie jubelnd die Arme um ihn, hielt ihn
fest, preßte ihre Lippen auf seine, bis sie bluteten, und wußte, daß sie ihn nie so begehrt hatte wie in diesem
Augenblick.
Als er sie auf die Couch warf, erkannte sie an den rhythmischen Stößen seines Körpers, daß dies sein Sieg
über seinen Rivalen und seine Kapitulation vor ihm war; die sich durch den Gedanken an den Mann, den er
damit herausforderte, zu unerträglicher Gewalt steigernde Besitzergreifung, die Verwandlung seines Hasses in
die Lust, die der andere in der Leidenschaft seiner eigenen Lust erlebt hatte, seine Eroberung dieses Mannes
mittels ihres Körpers – sie fühlte Franciscos Anwesenheit in Rearden; es war ihr, als lieferte sie sich beiden
Männern aus, dem, was sie in ihnen angebetet hatte, dem, was sie gemeinsam hatten, dem, was aus ihrer Liebe
zu jedem Treue zu beiden gemacht hatte. Sie wußte ebenso, daß dies seine Auflehnung gegen die Welt um sie
herum war, gegen die Welt, die die Erniedrigung anbetete, gegen die lange Qual seiner vergeudeten Tage und
seines düsteren Kampfes – dies war es, was er verteidigen und allein mit ihr im Halbdunkel eines Raums hoch
über einer Ruinenstadt als seinen letzten Besitz festhalten wollte.
Danach lagen sie still nebeneinander, und sein Gesicht schmiegte sich an ihre Schulter. Der Widerschein eines
fernen Neonschildes blitzte immer wieder schwach über ihrem Kopf an der Decke des Zimmers auf.
Er griff nach ihrer Hand und legte sie unter sein Gesicht, um seinen Mund einen Augenblick lang auf der
Handfläche ruhen zu lassen; er tat das so sanft, daß sie seinen Beweggrund mehr als seine Berührung fühlte.
Nach einer Weile erhob sie sich, griff nach einer Zigarette, zündete sie an und hielt sie ihm dann mit einem
leichten fragenden Heben ihrer Hand hin; er nickte, noch halb ausgestreckt auf der Couch liegend, und sie
steckte ihm die Zigarette zwischen die Lippen und zündete für sich selbst eine andere an. Sie fühlte, wie sie
beide ein großer Friede erfüllte, und die bedeutungsvollen vertrauten Bewegungen unterstrichen die Bedeutung
dessen, was sie sich nicht sagten. Es war alles gesagt, dachte sie, aber sie wußte, daß es darauf wartete, bestätigt
zu werden.
Sie sah, wie seine Augen immer wieder zu der Wohnungstür schweiften und lange dort verweilten, als ob er
noch den Mann sähe, der gegangen war.
Ruhig sagte er: »Er hätte mich zu jeder ihm beliebigen Zeit dadurch schlagen können, daß er mich die
Wahrheit wissen ließ. Warum hat er es nicht getan?«
Sie zuckte die Achseln, breitete die Arme in einer Geste hilfloser Traurigkeit aus, weil sie beide die Antwort
wußten.
»Er hat dir viel bedeutet, nicht wahr?« fragte sie.
»Er bedeutet mir noch viel.«
Die beiden Lichtpunkte an den Enden ihrer Zigaretten hatten sich mit dem immer neuen leisen Aufleuchten
der Glut langsam ihren Fingerspitzen genähert, und das einzige, was sich außerdem noch in der Stille bewegte,
war die herunterfallende Asche. Da läutete es an der Tür. Sie wußten, daß es nicht der Mann war, den sie
herbeiwünschten, aber auf dessen Wiederkehr sie nicht hoffen konnten, und sie runzelte ärgerlich die Stirn, als
sie zur Tür ging, um sie zu öffnen. Es dauerte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, daß der harmlos höfliche
Mann, der sich mit nichtssagendem Lächeln zur Begrüßung vor ihr verneigte, der Portier des Hauses war.
»Guten Abend, Miss Taggart. Wir freuen uns so sehr, daß Sie wieder da sind. Ich habe gerade meine Arbeit
angetreten, hörte, daß Sie zurückgekehrt sind, und wollte Sie darum persönlich begrüßen.«
»Ich danke Ihnen.« Sie stand an der Tür und machte keine Anstalten, ihn hereinzulassen.
»Ich habe einen Brief für Sie, der vor etwa einer Woche angekommen ist, Miss Taggart«, sagte er und griff in
seine Tasche. »Er scheint wichtig zu sein, aber da ‘Persönlich’ drauf steht, sollte er offensichtlich nicht in Ihr
Büro geschickt werden, und außerdem war Ihre Adresse unbekannt, und so habe ich ihn in unserem Safe
aufbewahrt, um ihn Ihnen dann selber zu übergeben.«
Auf dem Umschlag, den er ihr reichte, stand: Eingeschrieben – Luftpost – Durch Eilboten – Persönlich. Die
Adresse des Absenders lautete: Quentin Daniels, Utah Institute of Technology, Afton, Utah.
»Ach… Ich danke Ihnen.«
Der Portier bemerkte, daß ihre Stimme sich zu einem Flüstern senkte, der höflichen Verkleidung eines
Stöhnens, und daß sie viel länger auf den Namen des Absenders blickte, als es nötig war, und so wiederholte er
seine guten Wünsche u nd ging.
Sie riß den Umschlag auf, während sie zu Rearden zurückkehrte, und blieb dann in der Mitte des Zimmers
stehen, um den Brief zu lesen. Er war auf dünnem Papier mit Maschine geschrieben. Rearden konnte die
schwarzen Vierecke der Absätze durch die durchscheinenden Bogen sehen. Und er sah ihr Gesicht, als sie sie las.
Er hatte schon gewußt, was geschehen würde, wenn sie mit dem Lesen fertig war: Sie eilte ans Telefon. Er
hörte, wie sie die Nummernscheibe drehte und wie ihre Stimme erregt sagte: »Bitte ein Ferngespräch… bitte
geben Sie mir das Utah Institute of Technology in Afton, Utah.«
Er trat zu ihr und fragte: »Was ist?«
Sie reichte ihm den Brief, ohne ihn anzusehen. Ihre Augen starrten auf das Telefon, als ob sie es zwingen
könnte zu antworten.
Der Brief lautete:
Liebe Miss Taggart,
ich habe drei Wochen lang dagegen angekämpft. Ich wollte es nicht tun, weil ich weiß, wie Sie dies treffen
wird, und ich kenne jedes Argument, das Sie mir entgegenhalten können, denn ich habe sie mir alle selber
entgegengehalten – aber ich muß Ihnen doch sagen, daß ich meine Arbeit aufgebe.
Ich kann nicht unter den Bedingungen der Verordnung 10-289 arbeiten, wenn auch nicht aus dem Grund, um
den es denen ging, die sie erlassen haben. Ich weiß, die Unterbindung aller wissenschaftlichen Forschung ist
Ihnen und mir völlig gleichgültig, und Sie wünschen, daß ich weitermache. Aber ich kann es nicht, weil ich nicht
mehr den Wunsch habe, daß es mir gelingt.
Ich will nicht in einer Welt arbeiten, die mich als Sklaven betrachtet. Ich will nicht für irgendwelche Leute
von Nutzen sein. Wenn es mir gelänge, den Motor neu zu bauen, würde ich nicht zulassen, daß sie ihn in ihren
Dienst stellen, ich würde es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können, daß etwas von meinem Verstand
Geschaffenes dazu benutzt wird, ihnen das Leben zu erleichtern. Ich weiß, daß, wenn wir Erfolg haben, sie nur
allzusehr darauf bedacht sein werden, sich den Motor anzueignen. Und um dieser Aussicht willen müssen wir,
Sie und ich, uns wie Verbrecher behandeln lassen und unter der Drohung leben, jeden Augenblick, wenn es
ihnen paßt, verhaftet zu werden. Und das kann ich nicht auf mich nehmen, selbst wenn ich alles übrige auf mich
nehmen könnte: daß wir, um diesen Leuten einen unschätzbaren Gewinn einzubringen, zu Märtyrern für sie
werden, die ohne uns gar nicht darauf gekommen wären. Ich könnte ihnen vielleicht das andere vergeben, aber
wenn ich an dies denke, sage ich: Sie sollen alle verdammt sein. Ich will sie lieber alle Hungers sterben sehen,
mich selbst eingeschlossen, als ihnen dies zu vergeben oder dies zuzulassen!
Um Ihnen die volle Wahrheit zu sagen: Ich möchte, daß es mir gelingt, ich möchte so sehr wie je das
Geheimnis des Motors ergründen; darum werde ich die Arbeit zu meinem eigenen Vergnügen fortsetzen, solange
ich lebe. Aber wenn ich das Geheimnis ergründe, wird es mein privates Geheimnis bleiben. Ich werde es nicht
für irgendeinen Handelsgebrauch freigeben. Ich kann deshalb Ihr Geld nicht länger annehmen. Da Geschäftsgeist
als verächtlich gilt, müßten all diese Leute meine Entscheidung ehrlich billigen, und ich – ich habe es satt, denen
zu helfen, die mich verachten. Ich weiß nicht, wie lange ich noch leben oder was ich in der Zukunft tun werde.
Im Augenblick habe ich vor, in meiner Stellung zu bleiben. Aber wenn einer der Treuhänder mich daran erinnern
sollte, daß es mir gesetzlich verboten ist, meine Stellung als Pförtner niederzulegen, werde ich gehen.
Sie haben mir meine größte Chance gegeben, und wenn ich Ihnen jetzt einen schmerzlichen Schlag versetze,
müßte ich Sie vielleicht um Verzeihung bitten. Ich glaube, daß Sie ihre Arbeit so lieben, wie ich meine geliebt
habe, und darum werden Sie wissen, daß mir die Entscheidung nicht leichtgefallen ist, aber daß ich sie fällen
mußte.
Es ist ein seltsames Gefühl, diesen Brief zu schreiben. Ich habe nicht die Absicht zu sterben, aber ich gebe die
Welt auf, und dieser Brief kommt mir vor wie der Brief eines Selbstmörders. Ich möchte Ihnen nur noch sagen,
daß von allen Menschen, die ich gekannt habe, Sie der einzige sind, den zurückzulassen mir leid tut.
Ergebenst
Ihr
Quentin Daniels
Als er von dem Brief aufsah, hörte er sie sagen: »Versuchen Sie es weiter, bitte versuchen Sie es weiter.« Sie
hatte es, während er die maschinengeschriebenen Zeilen las, schon mehrfach gesagt und ihre Stimme hatte
immer verzweifelter geklungen.
»Was kannst du ihm sagen?« fragte er. »Es gibt da keine Argumente.«
»Ich werde gar nicht mehr die Gelegenheit haben, ihm etwas zu sagen. Er ist schon fort. Der Brief ist schon
eine Woche alt. Ich bin sicher, daß er nicht mehr da ist. Sie haben ihn geholt.«
»Wer hat ihn geholt?«
»Ja, ich bleibe am Apparat. Versuchen Sie es weiter.«
»Was willst du ihm sagen, wenn er sich meldet?«
»Ich werde ihn bitten, weiter mein Geld anzunehmen, ohne Verpflichtungen und Bedingungen, nur damit er
die Mittel hat, um weiterzuarbeiten. Ich werde ihm versprechen, daß, sollten wir immer noch in einer
Plündererwelt leben, wenn seine Arbeit von Erfolg gekrönt ist, ich ihn nicht bitten werde, mir den Motor zu
geben oder mir auch nur das Geheimnis zu verraten. Aber wenn wir bis dahin frei sind…« Sie hielt inne.
»Wenn wir frei sind…«
»Ich will nur das eine von ihm, daß er nicht aufgibt und verschwindet wie… wie all die anderen. Ich will
nicht, daß sie ihn holen. Wenn es nicht zu spät ist… Ach Gott, ich will nicht, daß sie ihn holen! – Ja, bitte,
versuchen Sie es weiter!«
»Was wird es uns nützen, selbst wenn er weiterarbeitet?«
»Das ist alles, worum ich ihn bitten werde – nur weiterzuarbeiten. Vielleicht werden wir in der Zukunft nie
eine Chance haben, den Motor zu gebrauchen. Aber ich will wissen, daß irgendwo in der Welt noch ein großer
Geist an einem großen Projekt arbeitet – und daß wir noch die Chance für eine Zukunft haben… Wenn dieser
Motor wieder im Stich gelassen wird, dann erwartet uns nur noch Starnesville.«
»Ich weiß.«
Sie hielt den Hörer ans Ohr gepreßt, und ihr Arm war steif von der Anstrengung, nicht zu zittern. Sie wartete,
und er hörte im Schweigen das vergebliche Klingeln des Telefons.
»Er ist fort«, sagte sie. »Sie haben ihn geholt. Sie brauchten dafür nicht eine ganze Woche. Ich weiß nicht,
woher sie erfahren, wann es an der Zeit ist, aber dies…« – sie deutete auf den Brief – »dies war ihre Zeit, und sie
hätten sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.«
»Wer?«
»Die Beauftragten des Zerstörers.«
»Glaubst du allmählich, daß sie wirklich existieren?«
»Ja.«
»Ist das dein Ernst?«
»Ja. Ich bin einem von ihnen begegnet.«
»Wem?«
»Ich werde es dir später sagen. Ich weiß nicht, wer ihr Führer ist, aber ich werde es bald herausbekommen.
Ich werde es herausbekommen. Ich will verdammt sein, wenn ich sie…«
Sie stöhnte laut auf. Er sah die Veränderung in ihrem Gesicht, kurz bevor er ein Knacken in der Leitung hörte,
das Zeichen, daß jemand einen Hörer abnahm, und eine Männerstimme sagte: »Hallo?«
»Daniels! Sind Sie es? Leben Sie noch? Sind Sie noch dort?«
»Ja, natürlich. Sind Sie’s, Miss Taggart? Was ist los?«
»Ich… ich dachte, Sie wären weg.«
»Ach, es tut mir leid, ich habe eben erst das Telefon klingeln hören. Ich war draußen im Garten und habe
Karotten geerntet.«
»Karotten?« Sie lachte nervös und erleichtert.
»Ich habe draußen meinen eigenen Gemüsegarten. Es war früher der Parkplatz des Instituts. Rufen Sie aus
New York an, Miss Taggart?«
»Ja. Ich habe eben Ihren Brief bekommen. Ich… war verreist.«
»Ach.« Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er ruhig: »Es ist wirklich nichts weiter darüber zu sagen,
Miss Taggart.«
»Sagen Sie mir, gehen Sie fort?«
»Nein.«
»Haben Sie nicht vor zu gehen?«
»Nein. Wohin?«
»Haben Sie die Absicht, im Institut zu bleiben?«
»Ja.«
»Für wie lange? Auf unbestimmte Zeit?«
»Ja, soweit ich es im Augenblick übersehen kann.«
»War jemand bei Ihnen?«
»Weswegen?«
»Um Sie zum Gehen zu bewegen?«
»Nein. Wer?«
»Hören Sie, Daniels, ich will nicht versuchen, telefonisch über Ihren Brief zu diskutieren. Aber ich muß Sie
sprechen. Ich komme zu Ihnen. Ich werde, sobald ich kann, dort sein.«
»Ich möchte nicht, daß Sie das tun, Miss Taggart. Ich möchte Ihnen nicht eine solche Anstrengung zumuten,
da es nutzlos ist.«
»Geben Sie mir bitte eine Chance. Sie brauchen mir nicht zu versprechen, daß ich Sie umstimmen kann. Sie
brauchen sich zu nichts zu verpflichten. Sie sollen mich nur anhören. Wenn ich kommen will, ist es mein Risiko.
Ich nehme es auf mich. Es ist da einiges, das ich Ihnen sagen möchte. Ich bitte Sie nur, mir die Gelegenheit zu
geben, es Ihnen zu sagen.«
»Sie werden immer diese Gelegenheit haben, Miss Taggart.«
»Ich fahre noch heute nach Utah. Heute abend. Aber eines müssen Sie mir versprechen. Versprechen Sie mir,
daß Sie auf mich warten. Versprechen Sie mir, dort zu sein, wenn ich ankomme.«
»Ja… natürlich, Miss Taggart. Es sei denn, daß ich vorher sterbe oder etwas geschieht, das nicht in meiner
Macht steht. Aber ich glaube nicht, daß es geschieht.«
»Außer wenn Sie vorher sterben, werden Sie auf mich warten, was auch immer geschieht?«
»Selbstverständlich.«
»Geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie warten werden?«
»Ja, Miss Taggart.«
»Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Miss Taggart.« Sie legte den Hörer auf, hob ihn aber gleich wieder ab und wählte hastig
eine Nummer.
»Eddie? – Der Comet soll auf mich warten… Ja, der Comet heute abend. Veranlasse, daß mein Wagen
angehängt wird, und dann komm sofort hierher in meine Wohnung.« Sie sah auf ihre Uhr. »Es ist zwölf nach
acht. Ich brauche noch eine Stunde. Ich glaube, ich werde den Zug nicht lange aufhalten. Ich werde mit dir
sprechen, während ich packe.« Sie legte den Hörer wieder auf und drehte sich zu Rearden um.
»Heute abend?« sagte er.
»Es muß sein.«
»Wahrscheinlich. Mußt du nicht sowieso nach Colorado?«
»Ja. Ich hatte vor, morgen abend zu fahren. Aber ich glaube, Eddie kann sich um mein Büro kümmern, und
ich reise besser gleich. Die Fahrt dauert drei Tage, ach nein, jetzt brauche ich ja fünf Tage bis Utah. Ich muß mit
dem Zug fahren, da ich unterwegs Leute sprechen muß. Auch das kann nicht aufgeschoben werden.«
»Wie lange wirst du in Colorado bleiben?«
»Das läßt sich schwer sagen.«
»Wirst du mir telegraphieren, wenn du dort bist? Wenn sich herausstellt, daß du länger dort bleiben mußt,
komme ich nach.«
Dies war das einzige, mit dem er sagen konnte, was ihr zu sagen es ihn verzweifelt verlangt hatte, worauf er
gewartet hatte, weshalb er hergekommen war und was er jetzt mehr denn je zu sagen wünschte, und dennoch
wußte er, daß es heute abend nicht gesagt werden durfte.
An dem feierlichen Ton seiner Stimme merkte sie, daß er ihr Geständnis angenommen, sich gefügt und ihr
verziehen hatte. »Kannst du das Werk verlassen?« fragte sie.
»Ich brauche ein paar Tage, um es einzurichten, aber ich kann es.«
Er wußte, was ihre Worte zugaben, anerkannten und ihm vergaben, als sie sagte: »Hank, warum kommst du
nicht in einer Woche zu mir nach Colorado? Wenn du mit deinem Flugzeug fliegst, sind wir beide zur gleichen
Zeit dort, und wir kommen dann gemeinsam zurück.«
»Gut… Liebste.«
Während sie in ihrem Schlafzimmer auf und ab ging, ihre Sachen zurechtlegte und hastig einen Koffer packte,
diktierte sie Anweisungen. Rearden war gegangen. Eddie Willers saß an ihrem Toilettentisch und notierte sich
alles. Er arbeitete in seiner üblichen Art still und unbeirrt, als sähe er gar nicht die Parfümflaschen und
Puderdosen, als wäre der Toilettentisch ein Schreibtisch und das Zimmer ein ganz normales Büro.
»Ich werde aus Chicago, Omaha, Flagstaff und Afton anrufen«, sagte sie, während sie Unterwäsche in den
Koffer warf. »Wenn du mich inzwischen brauchst, dann ruf überall an der Strecke an und laß den Zug anhalten.«
»Den Comet?« fragte er sanft.
»Ja, natürlich, den Comet.«
»Gut.«
»Zögere nicht anzurufen, wenn du es mußt.«
»Nein, aber ich glaube, ich werde es nicht müssen.«
»Wir werden es schon schaffen. Wir werden uns telefonisch verständigen, so wie wir es getan haben, als
wir…« Sie hielt inne.
»Als wir die John-Galt-Linie bauten?« fragte er ruhig.
Sie sahen sich an, sagten aber nichts weiter.
»Was hast du von den Bautrupps gehört?« fragte sie.
»Es geht alles seinen Gang. Gleich nachdem du das Büro verlassen hattest, habe ich die Mitteilung erhalten,
daß mit dem Bau der Strecke von Laurel, Kansas, und von Jasper, Oklahoma, aus begonnen worden ist. Die
Schienen sind von Silver Springs auf dem Weg dorthin. Es wird alles klappen. Was am schwersten auf zutreiben
war, waren…«
»Die Männer?«
»Ja. Die Männer, die den Bau leiten können. Wir hatten im Mittleren Westen Schwierigkeiten. Alle Männer,
auf die wir zählten, sind gegangen. Ich konnte keinen finden, der die Verantwortung zu übernehmen vermochte,
weder auf unserer Strecke noch woanders. Ich habe sogar versucht, Dan Conway zu bekommen, aber…«
»Dan Conway?« unterbrach sie ihn.
»Ja. Ich habe es getan. Ich habe es versucht. Erinnerst du dich, daß er genau in dem Teil des Landes an einem
Tag fünf Meilen Schienen legen ließ? Ach, ich weiß, er hätte Grund, uns zu hassen, aber was hat das jetzt zu
sagen? Ich habe ihn aufgestöbert. Er lebt jetzt auf einer Farm in Arizona. Ich habe ihn selber angerufen und ihn
gebeten, uns zu retten – nur für eine Nacht die Leitung des Baus einer fünfeinhalb Meilen langen Strecke zu
übernehmen. Fünfeinhalb Meilen, Dagny, mit denen wir nicht weiterkommen – und er ist der größte lebende
Streckenbauer! Ich habe ihm gesagt, daß ich ihn bitte, es als Almosen zu tun. Ich glaube, er hat mich verstanden.
Er war nicht ärgerlich. Seine Stimme klang traurig, aber er wollte es nicht tun. Er sagte, man dürfe nicht
versuchen, Menschen wieder aus dem Grab zu holen… Er wünschte mir Glück. Ich glaube, er meinte es
ehrlich… Weißt du, ich glaube nicht, daß er einer von denen ist, die der Zerstörer vernichtet hat. Ich glaube, er
ist an sich selbst zerbrochen.«
»Ich weiß, daß es so ist.«
Eddie sah den Ausdruck in ihrem Gesicht und riß sich zusammen. »Wir haben schließlich einen Mann
gefunden, der die Sache in Elgin übernimmt«, sagte er und zwang sich, seiner Stimme einen zuversichtlichen
Ton zu geben. »Mach dir keine Sorgen. Die Strecke wird lange, bevor du dort bist, fertig sein.«
Sie blickte ihn mit einem leisen Lächeln an und dachte daran, wie oft sie ihm diese Worte gesagt hatte und mit
welchem verzweifelten Mut er jetzt ihr zu sagen versuchte: »Mach dir keine Sorgen.«
Er fing ihren Blick auf, verstand ihn, und das Lächeln, mit dem er ihn erwiderte, hatte etwas von einer
verlegenen Entschuldigung.
Er wandte sich wieder seinem Notizblock zu und ärgerte sich über sich selbst, weil er sein eigenes Gebot
gebrochen hatte: ‘Mach es ihr nicht schwerer.’ Er hätte ihr nichts von Dan Conway sagen sollen, dachte er, er
hätte nichts sagen dürfen, was sie beide an ihre Verzweiflung erinnerte. Er fragte sich, was mit ihm los war: Er
fand es unentschuldbar, daß er sich nicht in der Gewalt hatte, nur weil dies ein Schlafzimmer und kein Büro war.
Sie sprach weiter. Er hörte über seinen Notizblock gebeugt zu und notierte sich Stichworte. Er erlaubte sich
nicht, sie wieder anzusehen.
Sie riß die Tür ihres Schranks auf, nahm ein Kostüm vom Bügel und legte es rasch zusammen, während sie
gleichzeitig langsam und präzise ihre Anweisungen gab. Er blickte nicht auf. Er nahm sie nur mit dem Gehör
wahr, hörte ihre schnellen Bewegungen und den Klang ihrer gemessenen Stimme. Er wußte, was mit ihm war,
dachte er: Er wollte nicht, daß sie ihn verließ, er wollte sie nicht von neuem verlieren, nachdem sie kaum wieder
zusammen waren. Aber weil er wußte, wie dringend sie in Colorado gebraucht wurde, befiel ihn ein
beklemmendes Schuldgefühl. Noch nie zuvor hatte er in einem Moment wie diesem seine Einsamkeit in sich laut
werden lassen. Es kam ihm vor wie ein Treuebruch.
»Der Comet soll an jedem größeren Bahnhof halten«, sagte sie, »und alle Bahnhofsvorsteher sollen einen
Bericht für mich vorbereiten über…«
Er blickte auf – dann blieben seine Augen an etwas haften, und er hörte das Ende des Satzes nicht. Er sah
hinten in dem offenen Schrank einen Morgenmantel hängen, einen dunkelblauen mit den weißen Initialen H. R.
an der Brusttasche. Er erinnerte sich, wo er diesen Morgenrock schon einmal gesehen hatte. Er erinnerte sich an
den Mann, der ihm am Frühstückstisch im Wayne-Falkland-Hotel gegenüber gesessen hatte, er erinnerte sich,
daß dieser Mann unangemeldet am Erntedankfest spät abends in ihr Büro gekommen war – und die Erkenntnis,
daß er es hätte längst wissen müssen, traf ihn wie zwei unterirdische Stöße eines Erdbebens: Sie kam mit einem
Gefühl, das so wild ‘Nein!’ schrie, daß der Schrei und nicht der Anblick jeden Halt in ihm niederriß. Es war
nicht das Entsetzen über die Entdeckung, sondern das furchtbare Entsetzen über das, was er dabei in sich selbst
entdeckte.
Er klammerte sich an einen Gedanken: daß sie nicht merken durfte, was er gesehen hatte und was das für ihn
bedeutete. Seine Verlegenheit wurde so stark, daß er sie wie eine körperliche Qual empfand. Es war die Furcht,
ihre private Sphäre doppelt zu verletzen: indem er ihr Geheimnis erfuhr und sein eigenes offenbarte. Er beugte
sich tiefer über den Notizblock und konzentrierte sich auf das Nächstliegende: seinen Bleistift nicht zittern zu
lassen.
»… fünfzig Meilen Gebirgsstrecke; und wir können nur auf unser eigenes Material zählen.«
»Verzeih«, sagte er mit kaum vernehmbarer Stimme, »ich habe nicht verstanden, was du, gesagt hast.«
»Ich habe gesagt, ich will einen Bericht von allen Bezirksleitern über jedes Stück Schiene und jedes
verfügbare Gerät in ihren Bezirken haben.«
»Gut.«
»Ich werde mit jedem von ihnen sprechen. Sie sollen in meinen Wagen im Comet kommen.«
»Gut.«
»Teile den Lokführern – inoffiziell – mit, daß sie durch eine Geschwindigkeit von siebzig, achtzig, hundert
Meilen in der Stunde die Aufenthalte wieder einholen sollen. Daß sie so schnell fahren können, wie sie es für
nötig halten, und daß ich… Eddie?«
»Ja?«
»Eddie, was ist?«
Er mußte aufblicken, sie ansehen und zum ersten Mal in seinem Leben zu seiner Verzweiflung lügen. »Ich
habe Angst… vor den Schwierigkeiten, die wir mit der Verordnung bekommen werden«, sagte er.
»Vergiß es. Ist dir nicht klar, daß es gar kein Gesetz mehr gibt? Es ist jetzt alles erlaubt – und im Augenblick
bestimmen wir.«
Als sie fertig war, trug er ihren Koffer in ein Taxi und dann über den Bahnsteig des Taggart-Bahnhofs zu
ihrem Salonwagen, dem letzten des Zuges. Eddie stand auf dem Bahnsteig, sah, wie der Zug anfuhr, und blickte
den roten Lichtern ihres Wagens nach, die langsam im Dunkel des Tunnels verschwanden. Als sie nicht mehr zu
sehen waren, war es ihm wie jemand, dem man einen Traum zerstört hat, einen Traum, der ihm erst bewußt
wurde, als er zerstört war. Rings um ihn waren nur wenige Menschen auf dem Bahnsteig, und sie schienen sich
mit einer bewußten Kraftanstrengung zu bewegen, als hinge die Ahnung einer Katastrophe an den Schienen und
an den Eisenträgern über ihren Köpfen. Er dachte, ohne daß es ihn bewegte, daß nach einem Jahrhundert der
Sicherheit die Menschen die Abfahrt eines Zuges wieder als ein Ereignis betrachteten, das ein Spiel mit dem Tod
war.
Es fiel ihm ein, daß er noch nicht zu Abend gegessen hatte, und wenn er auch keinen Hunger verspürte, so
war die unterirdische Kantine des Taggart Terminals doch eher ein Zuhause als das leere Loch, als das ihm seine
Wohnung jetzt erschien, und so ging er dorthin. In der Kantine war fast niemand. Aber das erste, was er sah, als
er eintrat, war eine dünne Rauchsäule, die von der Zigarette des Arbeiters aufstieg, der in einer dunklen Ecke
allein an einem Tisch saß.
Ohne darauf zu achten, was er auf sein Tablett stellte, trug Eddie es zu dem Tisch des Arbeiters, sagte ‘Hallo’,
setzte sich und schwieg. Er blickte auf das vor ihm liegende Besteck, fragte sich nach seinem Zweck, erinnerte
sich, wofür man eine Gabel brauchte, versuchte, die Bewegungen des Essens zu vollführen, merkte aber, daß das
über seine Kraft ging. Nach einer Weile blickte er auf und sah, daß die Augen des Arbeiters ihn aufmerksam
musterten.
»Nein«, sagte Eddie, »nein, ich fühle mich nicht krank. – O ja, es ist eine Menge geschehen, aber was hat das
jetzt zu sagen. – Ja, sie ist zurück. Was soll ich Ihnen sonst noch von ihr berichten? – Woher wissen Sie, daß sie
zurück ist? Ach ja, die ganze Firma hat es wahrscheinlich nach zehn Minuten gewußt. – Nein, ich weiß nicht, ob
ich froh bin, daß sie zurück ist… Sicherlich, sie wird die Eisenbahn retten für ein Jahr oder einen Monat… Was
wollen Sie von mir hören? – Nein, sie hat mir nicht gesagt, womit sie rechnet. Sie hat mir nicht gesagt, was sie
gedacht oder gefühlt hat. – Wieso vermuten Sie, daß sie etwas fühlt? Es ist die reine Hölle für sie – aber für mich
auch. Nur – an meiner Hölle bin ich selber schuld. – Nein. Nichts. Ich kann nicht darüber sprechen. Ich darf
nicht einmal darüber nachdenken. Ich darf nicht daran denken. Ich darf nicht an sie denken – an sie.«
Er verstummte und fragte sich, warum die Augen des Arbeiters – die Augen, die immer alles in ihm zu sehen
schienen – ihm heute abend unheimlich waren. Er blickte auf den Tisch und sah auf dem Tablett des Arbeiters
unter den Resten der Mahlzeit die Stummel vieler Zigaretten.
»Haben Sie auch Kummer?« fragte Eddie. »Ach, Sie haben heute abend hier nur meinetwegen so lange
gesessen. Warum haben Sie auf mich warten wollen? – Wissen Sie, ich habe immer gedacht, daß es Ihnen ganz
gleich ist, ob Sie mich sehen oder nicht. Mich oder irgend jemand. Sie schienen so ganz in sich zu ruhen, und
gerade darum unterhielt ich mich gern mit Ihnen, denn ich fühlte, daß Sie immer alles verstanden, daß aber
nichts Sie verletzen konnte. Sie sahen aus, als ob Sie nie etwas verletzt hätte. Ich fühlte mich dadurch wie
befreit, als… als gäbe es keinen Schmerz in der Welt. – Wissen Sie, was seltsam an Ihrem Gesicht ist? Sie sehen
aus, als ob Sie nie Schmerz oder Furcht oder Schuld gekannt hätten… Es tut mir leid, daß ich heute abend so
spät gekommen bin. Ich mußte sie zum Zug begleiten. Sie ist eben mit dem Comet abgefahren. – Ja, heute
abend, gerade eben. – Ja, sie ist abgefahren. Sie hat sich binnen einer Stunde plötzlich dazu entschlossen. Sie
wollte eigentlich erst morgen abend fahren, aber es ist etwas Unerwartetes geschehen, und so mußte sie sich
sofort auf die Reise machen. – Ja, sie fährt nach Colorado – hinterher. Zuerst nach Utah. Sie hat nämlich einen
Brief von Quentin Daniels bekommen, daß er die Arbeit eingestellt hat – und das einzige, was sie nicht aufgeben
will, was aufzugeben sie gar nicht ertragen könnte, ist der Motor. Sie erinnern sich, der Motor, von dem ich
Ihnen erzählt habe, die Reste, die sie gefunden hat. – Daniels? Er ist ein Physiker, der das ganze letzte Jahr am
Utah Institute of Technology versucht hat, das Geheimnis des Motors zu ergründen und ihn neu zu bauen. –
Warum sehen Sie mich so an? – Nein, ich habe Ihnen noch nichts von ihm erzählt, weil es ein Geheimnis war.
Es war ihr eigenes geheimes privates Vorhaben – und von welchem Interesse hätte es für Sie sein können? – Ich
glaube, ich kann jetzt darüber sprechen, weil er nicht mehr weitermacht. – Ja, er hat ihr seine Gründe mitgeteilt.
Er hat gesagt, er wolle nichts von seinem Verstand Geschaffenes einer Welt geben, die ihn als Sklaven
betrachtet. Er hat gesagt, er wolle nicht zum Märtyrer für die werden, die dafür von ihm einen unermeßlichen
Gewinn einstreichen. – Warum lachen Sie? Lassen Sie das bitte. Warum lachen Sie so? – Das ganze Geheimnis?
Was meinen Sie mit dem ganzen Geheimnis? Er hat das ganze Geheimnis des Motors, wenn Sie das meinen,
noch nicht entdeckt, aber er schien gut voranzukommen. Er hatte eine große Chance. Jetzt ist sie dahin. Sie ist
auf dem Weg zu ihm. Sie will ihn bitten, will ihn halten, will erreichen, daß er weitermacht. Aber ich glaube, es
ist zwecklos. Wer einmal aufhört, fängt nicht wieder an. Nicht einer von ihnen hat… – Nein, es bekümmert mich
nicht mehr. Wir haben so viele Verluste hinnehmen müssen, daß ich allmählich daran gewöhnt bin. – O nein! Es
ist nicht Daniels, der mir zu schaffen macht, es ist… Nein, lassen wir das. Fragen Sie mich nicht weiter. Die
ganze Welt geht in Trümmer. Sie kämpft noch darum, sie zu retten, und ich – ich sitze hier und verurteile sie
wegen etwas, das zu wissen ich gar nicht berechtigt bin. – Nein! Sie hat nichts getan, was zu verurteilen wäre –
nichts. Und außerdem betrifft es nicht die Eisenbahn. Achten Sie gar nicht auf mich. Es ist nicht wahr. Ich
verurteile nicht sie, ich verurteile mich selbst. – Hören Sie, ich habe immer gewußt, daß Sie Taggart
Transcontinental so lieben wie ich, daß die Firma etwas Besonderes für Sie ist, etwas Persönliches, und daß Sie
mich darum gern von ihr sprechen hörten. Aber dies – das, was ich heute erfahren habe – hat nichts mit der
Eisenbahn zu tun. Es kann Sie nicht interessieren. Vergessen Sie es. Es ist etwas, das ich von ihr nicht wußte.
Das ist alles. Ich bin mit ihr aufgewachsen. Ich glaubte, sie zu kennen. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Ich
habe wohl gedacht, sie führe keinerlei privates Leben. Für mich war sie kein Mensch und – keine Frau. Sie war
die Eisenbahn. Und ich glaubte nicht, daß jemand die Kühnheit hätte, Sie anders zu sehen… Nun, es geschieht
mir recht. Vergessen Sie es… vergessen Sie es, habe ich gesagt! Warum fragen Sie mich so aus? Es ist nur ihr
Privatleben, was kann Sie das interessieren? – Hören Sie endlich damit auf! Verstehen Sie nicht, daß ich nicht
darüber sprechen kann? – Es ist nichts geschehen. Ich habe gar nichts. Ich bin nur – ach, warum lüge ich? Ich
kann Sie nicht belügen. Sie scheinen immer alles zu sehen. Es ist schlimmer, als wenn ich versuchen würde,
mich selbst zu belügen! – Ich habe mich selbst belogen. Ich wußte nicht, was ich für sie empfand. Die
Eisenbahn? Ich bin ein elender Heuchler. Wenn die Eisenbahn alles war, was sie mir bedeutete, hätte es mich
nicht so getroffen. Ich hätte nicht das Verlangen gehabt, ihn umzubringen! – Was ist mit Ihnen heute abend?
Was sehen Sie mich so an? – Ach, was ist mit uns allen los? Warum ist nichts als Elend für jeden geblieben?
Warum leiden wir so sehr? Wir waren nicht dazu bestimmt. Ich habe immer geglaubt, wir seien alle dazu
bestimmt, glücklich zu sein, es sei unser natürliches Schicksal. Was tun wir? Was haben wir verloren? Vor
einem Jahr hätte ich sie nicht verurteilt, wenn ich dahinter gekommen wäre, daß es auch dies in ihrem Leben
gibt. Aber ich weiß, daß sie beide verloren sind, und auch ich bin verloren, jeder ist verloren. Und sie war alles,
was mir noch geblieben war. – Es war so herrlich zu leben, es war eine so wunderbare Chance. Ich wußte nicht,
daß ich das Leben liebte und daß das unsere Liebe war, ihre und meine und Ihre. Aber die Welt geht zugrunde,
und wir können den Untergang nicht aufhalten. Warum vernichten wir uns selbst? Wer wird uns die Wahrheit
sagen? Wer wird uns erretten? Wer ist John Galt?! – Nein, es hat keinen Sinn, es spielt jetzt keine Rolle mehr.
Warum sollte ich etwas fühlen? Wir werden nicht mehr lange leben. Warum sollte ich mir Gedanken machen um
das, was sie tut? Warum sollte ich mir darum Gedanken machen, daß sie mit Hank Rearden schläft? – Mein
Gott, was ist mit Ihnen? Gehen Sie nicht! Wohin gehen Sie?«

X. Das Dollarzeichen

Sie saß reglos am Fenster des Zuges, hatte den Kopf zurückgelehnt und hätte gewünscht, sich nie wieder
bewegen zu müssen. Die Telegraphenstangen rasten am Fenster vorüber, aber der Zug schien in einer Leere
verloren, zwischen der sich weithin dehnenden braun gedörrten Prärie und einer dichten Schicht rostroter,
allmählich grau werdender Wolken. Das Zwielicht sog den Himmel aus, ohne daß man die Wunde eines
Sonnenuntergangs sah; er glich mehr einem blutarmen, dahinsiechenden Körper, aus dem die letzten
Blutstropfen herausgepumpt werden. Der Zug fuhr nach Westen, als ob auch er den sinkenden Strahlen folgen
und still von der Erde verschwinden müßte. Sie saß bewegungslos und spürte kein Verlangen, dem zu
widerstehen. Ach, hätte sie doch nicht das Rattern der Räder gehört. Sie klopften in einem gleichmäßigen
Rhythmus, jedes vierte Klopfen klang lauter – und es war ihr, als würde der Zug wie von Angst getrieben in
einer wilden Flucht dahinjagen, ohne entrinnen zu können, und als würde das lautere Klopfen der Räder das
Herannahen eines Feindes ankündigen, der unerbittlich auf sein Ziel zuging.
Noch nie hatte sie diese Beklemmung beim Anblick einer Prärie gespürt, dieses Gefühl, daß die Schienen nur
ein dünner Faden waren, der sich durch eine gewaltige Leere spannte, wie ein verbrauchter Nerv, der jeden
Augenblick reißen konnte. Sie war sich immer wie der Antrieb eines Zuges vorgekommen und hätte nie
geglaubt, daß sie wie ein Kind oder ein Wilder wünschen könnte, wie sie es jetzt tat, daß dieser Zug
unaufhaltsam weiterfahren würde, damit sie rechtzeitig ans Ziel käme. Es war kein Willensakt, sondern eine
Bitte an ein dunkles Unbekanntes. Sie dachte daran, wie anders alles in einem Monat geworden war. Sie hatte es
in den Gesichtern der Männer auf den Bahnhöfen gesehen. Die Streckenarbeiter, die Weichensteller, die
Rangierer, die sie immer überall an der Strecke gegrüßt hatten und deren freundliches Grinsen strahlend
verkündete, daß sie wußten, wer sie war, hatten sie jetzt wie versteinert angesehen und ihre wachsamen und
verschlossenen Gesichter abgewandt. Sie hätte ihnen am liebsten wie um Verzeihung bittend zugerufen: Ich bin
es nicht, die euch das angetan hat!
Dann hatte sie sich daran erinnert, daß sie es hingenommen hatte und daß sie jetzt das Recht hatten, sie zu
hassen, daß sie beides war, Sklave und Sklaventreiber, so wie jeder Mensch im Land, und daß Haß das einzige
war, was die Menschen noch füreinander empfinden konnten.
Zwei Tage lang hatte sie der Anblick der an den Fenstern vorüberfliegenden Städte beruhigt, der Fabriken, der
Brücken, der Neonschilder, der Firmenschilder, die über den Dächern der Häuser aufragten: die dicht besiedelte,
rußige, geschäftige, lebendige Industrielandschaft des Ostens.
Aber die Städte lagen jetzt hinter ihr. Der Zug tauchte in den Prärien von Nebraska unter, und das Klappern
der Koppelungen klang, als ob er vor Kälte zitterte. Sie sah verlassene Häuser, die einmal Bauernhäuser gewesen
waren, in der weiten Öde, die einst Ackerland gewesen war. Aber vor Generationen hatte der ausbrechende
Energiestrom im Osten sich in hellen Rinnsalen in die Leere ergossen. Einige von ihnen waren verschwunden,
andere jedoch erhalten geblieben. Sie schreckte auf, als die Lichter einer kleinen Stadt in ihren Wagen fielen,
erloschen und ihn dunkler zurückließen, als er vorher gewesen war. Sie wollte sich nicht bewegen, um das Licht
anzuschalten. Sie saß reglos da und beobachtete die wenigen Städte; und jedesmal, wenn der Strahl einer
elektrischen Lampe über ihr Gesicht glitt, war es wie ein kurzer Gruß.
Sie sah sie, als sie vorüberflogen, an die Mauern bescheidener Häuser geschrieben, über verrußten Dächern,
an schmalen Schornsteinen herunter, an bauchigen Tanks: Reynolds Harvesters, Macey Cement, Quinlan &
Jones Pressed Alfalfa, Home of the Crawford Mattress, Benjamin Wylie Grain and Feed – Worte, die sich wie
Fahnen in das leere Dunkel des Himmels entrollten, die bewegungslosen Formen der Bewegung, der
Anstrengung, des Muts, der Hoffnung, die Denkmäler für all das, was einst Menschen, die sich frei entfalten
konnten, am Rande der Wildnis vollbracht hatten. Sie sah die verstreuten, in sich selbst zurückgezogenen
Häuser, die kleinen Läden, die breiten Straßen mit den elektrischen Laternen, die wie leuchtende Striche kreuz
und quer über das schwarze Blatt der Einöde gezogen waren. Sie sah die Schatten dazwischen, die Reste der
Städte, die Skelette von Fabriken mit abbröckelnden Schornsteinen, die Leichen von Läden mit ze rbrochenen
Fensterscheiben, die schief stehenden Telegraphenmasten, an denen noch ein paar Drahtfetzen hingen. Sie sah
plötzlich einen hellen Schein, eine der wenigen Tankstellen, die es noch gab, eine glitzernde weiße Insel aus
Glas und Metall unter der riesigen schwarzen Last des Himmels. Sie sah eine Eiskremtüte aus leuchtendem
Blech, die über einer Straßenecke hing, und einen zerbeulten Wagen, der darunter hielt. Ein junger Mann saß am
Steuer, und ein Mädchen stieg aus, ihr weißes Kleid wehte im Sommerwind. Sie zitterte für die beiden bei dem
Gedanken: Ich kann euch nicht ansehen, ich, die ich weiß, was dazu gehört hat, euch eure Jugend zu geben, euch
diesen Abend zu geben, diesen Wagen und die Eiskremtüte, die ihr euch jetzt für fünfundzwanzig Cent kauft. Sie
sah am Rande einer Stadt ein Gebäude, in dessen Stockwerken blaues Licht schimmerte, das Industrielicht, das
sie liebte. Durch die Fenster sah sie die Silhouetten von Maschinen und im Dunkel über dem Dach ein
Firmenschild. Plötzlich fiel ihr der Kopf auf den Arm und sie zitterte. Lautlos rief sie der Nacht, sich selbst und
allem, was menschlich in jedem Menschen war, zu: Laßt es nicht kaputt gehen, laßt es nicht kaputt gehen.
Sie sprang auf und schaltete das Licht an. Sie versuchte, ihre Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Sie
wußte, daß solche Augenblicke ihre größte Gefahr waren. Die Lichter der Stadt waren versunken; ihr Fenster
war jetzt ein leeres Rechteck, und sie hörte in dem Schweigen das immer wiederkehrende lautere vierte Klopfen,
die Schritte des Feindes, der sich weiterbewegte und sich weder zur Eile antreiben noch anhalten ließ.
In verzweifeltem Verlangen, lebendige Menschen etwas tun zu sehen, beschloß sie, das Abendessen nicht in
ihren Wagen bringen zu lassen, sondern in den Speisewagen zu gehen. Wie um sie ihre Einsamkeit noch stärker
fühlen zu lassen und sie zu verspotten, erklang wieder eine Stimme in ihrem Inneren: »Aber du würdest Züge
nicht fahren lassen, wenn sie leer wären.«
»Vergiß es«, sagte sie sich ärgerlich und ging hastig zur Tür ihres Wagens.
Sie war überrascht, im Vorraum hinter der Tür Stimmen zu hören. Als sie die Tür öffnete, schrie jemand:
»Machen Sie, daß Sie rauskommen!«
Ein älterer Landstreicher hatte Zuflucht in einer Ecke des Vorraums gesucht. Er saß auf dem Boden, und seine
Haltung verriet, daß er nicht mehr die Kraft hatte zu stehen und daß es ihm gleichgültig war, ob man ihn
erwischte. Seine Augen sahen den Zugführer fest an, aber sie waren ausdruckslos. Der Zug hatte wegen des
schlechten Streckenzustands das Tempo verlangsamt. Der Zugführer hatte die Wagentür geöffnet, durch die ein
kalter Wind hereinblies. Er deutete in die vorübergleitende schwarze Leere und befahl dem Mann: »Los!
Verlassen Sie den Wagen, so wie Sie hereingekommen sind, oder ich befördere Sie mit einem Tritt hinaus.«
Keine Überraschung zeigte sich im Gesicht des Landstreichers, kein Protest, kein Ärger, keine Hoffnung; er
sah aus, als hätte er es längst aufgegeben, über menschliches Handeln zu urteilen. Gehorsam machte er Anstalten
aufzustehen. Seine Hand tastete sich an den Nieten der Wagenwand hoch. Sie sah, wie er sie an- und gleich
wieder wegsah, als wäre sie nur ein lebloser Gegenstand. Er schien sich ihrer ebensowenig bewußt zu sein wie
seiner selbst. Er war gleichgültig bereit, einen Befehl zu befolgen, der in seinem Zustand den sicheren Tod
bedeutete.
Sie sah den Zugführer an. Sie sah nichts in seinem Gesicht außer der blinden Bosheit des Schmerzes, einer
lange unterdrückten Wut, die sich beim ersten besten Anlaß entlud, ohne daß er wußte, warum. Die beiden
Männer verhielten sich gegeneinander nicht mehr wie Menschen. Der Stoff des mit Flicken besäten Anzugs des
Landstreichers war so spröde und abgetragen, daß man erwarten mußte, er würde wie Glas zerspringen, wenn
der Mann sich bückte, aber sie sah, daß der Kragen seines Hemds, der vom vielen Waschen elfenbeinfarben war,
noch eine gewisse Form hatte. Er hatte sich mühsam auf die Füße gestellt und blickte stumpf auf das schwarze
Loch, hinter dem sich eine meilenweite unbewohnte Wildnis ausbreitete, wo niemand den Körper eines
überfahrenen Menschen sehen oder seine Hilferufe hören würde, aber er umklammerte sein kleines schmutziges
Bündel, um es beim Hinausspringen auf keinen Fall zu verlieren.
Es waren der gewaschene Kragen und dieses Festhalten seiner letzten Habseligkeiten – die Geste, die ein
Gefühl für Besitz verriet –, die sie sich innerlich wie unter einem brennenden Schmerz winden ließen. »Warten
Sie«, sagte sie. Die beiden Männer wandten sich ihr zu.
»Er soll mein Gast sein«, sagte sie zu dem Zugführer, hielt dem Landstreicher die Tür auf und befahl ihm:
»Treten Sie ein.«
Der Landstreicher folgte ihr ebenso gehorsam, wie er dem Befehl des Zugführers hatte folgen wollen.
Sein Bündel immer noch in der Hand, stand er in der Mitte ihres Wagens und sah mit dem gleichen leeren
Blick um sich. »Setzen Sie sich«, sagte sie.
Er gehorchte und sah sie an, als wartete er auf weitere Befehle. Es war etwas Würdiges in seinem Verhalten,
das ehrliche Eingeständnis, daß er nichts zu beanspruchen, keine Bitte oder Frage zu stellen hatte, daß er jetzt
hinnehmen mußte, was man ihm auch antat, und daß er bereit war, es hinzunehmen.
Er schien Anfang Fünfzig zu sein. Sein Knochenbau und der zu weite Anzug ließen erkennen, daß er einmal
muskulös gewesen war. Die leblose Gleichgültigkeit seiner Augen verbarg nicht ganz, daß sie klug gewesen
waren; die Falten in seinem Gesicht, die von einer unendlichen Bitterkeit sprachen, hatten die der
Rechtschaffenheit eigene Güte nicht ausgelöscht, die in diesem Gesicht einmal sichtbar gewesen war.
»Wann haben Sie zum letzten Mal gegessen?« fragte sie.
»Gestern«, sagte er und fügte hinzu: »glaube ich.«
Sie läutete nach dem Kellner und bestellte ein Abendessen für zwei Personen. Der Landstreicher hatte sie
stumm beobachtet, aber als der Kellner gegangen war, bot er das einzige Entgelt an, das er bieten konnte: »Ich
möchte nicht, daß Sie Unannehmlichkeiten bekommen«, sagte er.
Sie lächelte. »Was für Unannehmlichkeiten?«
»Sie reisen doch mit einem dieser Eisenbahnbosse, nicht wahr?«
»Nein, ich reise allein.«
»Sind Sie dann die Frau eines von ihnen?«
»Nein.«
»Ach.«
Sie sah sein Bemühen, sie ehrerbietig anzusehen, als wollte er wieder gutmachen, daß er sie zu einem
unschicklichen Geständnis gezwungen hatte, und sie lachte: »Nein, nein, das auch nicht. Ich glaube, ich bin
selber einer der Bosse. Mein Name ist Dagny Taggart, und ich arbeite für diese Eisenbahn.«
»Ach! Ich glaube, ich habe von Ihnen gehört – in den alten Zeiten.« Es war schwer zu sagen, was er mit ‘den
alten Zeiten’ meinte, ob ein Monat oder ein Jahr oder welche Zeit auch immer verstrichen war, seit er den Kampf
aufgegeben hatte. Er blickte sie mit dem Interesse an, das aus einer anderen Zeit kam, als dächte er, es hätte
einmal eine Zeit gegeben, in der er sie als einen Menschen betrachtet hätte, den zu sehen sich lohnte.
»Sie waren die Lady, die eine Eisenbahn leitete«, sagte er.
»Ja«, sagte sie, »ich war es.«
Er zeigte nicht das geringste Erstaunen darüber, daß sie beschlossen hatte, ihm zu helfen. Er wirkte, als wäre
ihm so viel Brutalität begegnet, daß er den Versuch aufgegeben hatte, etwas zu verstehen, zu glauben oder zu
erwarten.
»Wo sind Sie in den Zug gestiegen?« fragte sie.
»Am letzten Knotenpunkt. Die Tür Ihres Wagens war nicht verschlossen. Da es ein Salonwagen war«, fügte
er hinzu, »hoffte ich, daß mich bis morgen früh niemand entdecken würde.«
»Wohin wollen Sie?«
»Ich weiß es nicht.« Und dann fügte er hinzu, als ob er fürchtete, daß dies zu sehr wie ein Betteln um Mitleid
klingen könnte: »Ich wollte nur ein Stück fahren, bis ich einen Ort sehen würde, wo die Chance besteht, Arbeit
zu finden.« Dies war sein Versuch, die Verantwortung für ein Vorhaben auf sich zu nehmen, anstatt die Bürde
seiner Zie llosigkeit auf ihre Barmherzigkeit zu werfen – ein Versuch der gleichen Art wie sein Hemdkragen.
»Was für eine Arbeit suchen Sie?«
»Die Menschen suchen keine bestimmte Arbeit mehr«, antwortete er gleichgültig. »Sie suchen nur Arbeit.«
»Welche Art von Ort hofften Sie zu finden?«
»Ach… nun… wo es Fabriken gibt, nehme ich an.«
»Fahren Sie da nicht in die falsche Richtung? Die Fabriken sind im Osten.«
»Nein«, sagte er mit der Bestimmtheit von jemand, der es besser weiß. »Im Osten sind zu viele Leute, die
Fabriken werden zu scharf beobachtet. Ich dachte, ich hätte vielleicht mehr Chancen an einem Ort, wo es
weniger Menschen und weniger Gesetze gibt.«
»Ach, flüchten Sie vor dem Gesetz?«
»Nicht in dem Sinn, wie man es in den alten Zeiten verstand. Aber so wie die Dinge jetzt liegen, tue ich es
wohl. Ich will arbeiten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Im Osten gibt es keine Arbeitsplätze. Und selbst wenn jemand einem einen Arbeitsplatz geben könnte, dürfte
er es nicht. Er käme sonst dafür ins Gefängnis. Er wird beobachtet. Man kann Arbeit nur durch das Amt für
Vereinheitlichung erhalten. Das Amt für Vereinheitlichung hat seine eigenen Freunde, die nach Arbeitsplätzen
Schlange stehen, mehr Freunde, als ein Millionär Verwandte hat. Und ich habe weder das eine noch das andere.«
»Wo haben Sie zuletzt gearbeitet?«
»Seit sechs Monaten, nein, wohl schon länger, ich glaube, es ist fast ein Jahr, ich weiß es nicht mehr, ziehe ich
im Land herum und habe meistens als Tagelöhner gearbeitet, auf Bauernhöfen. Aber das hat jetzt auch keinen
Sinn mehr. Ich weiß, wie die Bauern einen ansehen. Sie lieben den Anblick ausgehungerter Menschen nicht, aber
sie sind selber dem Verhungern nahe, sie haben keine Arbeit für einen, sie haben nichts zu essen, und wenn sie
sich etwas ersparen können, das ihnen die Steuereintreiber nicht wegnehmen, dann nehmen es ihnen die
marodierenden Banden weg, die im ganzen Land herumstreichen. Deserteure nennt man sie.«
»Glauben Sie, daß es im Westen besser ist?«
»Nein.«
»Warum wollen Sie dann dorthin?«
»Weil ich es dort noch nicht versucht habe. Es zu versuchen, ist alles, was man tun kann. Man geht
irgendwohin, nur um in Bewegung zu bleiben… Wissen Sie«, fügte er plötzlich hinzu, »ich glaube nicht, daß es
Zweck hat. Aber im Osten bleibt einem nichts anderes übrig, als unter einer Hecke zu sitzen und auf den Tod zu
warten. Ich glaube nicht, daß mir das Sterben jetzt noch viel ausmachen würde. Ich weiß, es würde dann alles
viel leichter sein. Aber mir scheint, es ist eine Sünde, sich einfach hinzusetzen und auf den Tod zu warten, ohne
zu kämpfen.«
Sie mußte plötzlich an die modernen, vom College verdorbenen Schmarotzer denken, die sich in einer
widerwärtigen Zurschaustellung moralischer Rechtschaffenheit gefielen, wenn sie die üblichen Gemeinplätze
über ihre Sorge um das Wohl der anderen absonderten. Der letzte Satz des Landstreichers war eine von so großer
moralischer Tiefe erfüllte Feststellung, wie sie sie selten gehört hatte. Aber der Mann wußte es nicht. Für ihn war
das, was er mit seiner müden, fast erloschenen Stimme gesagt hatte, einfach eine nüchterne Tatsache.
»Aus welchem Teil des Landes stammen Sie?« fragte sie.
»Wisconsin«, antwortete er.
Der Kellner kam herein und brachte ihr Abendessen. Er deckte den Tisch und rückte ihnen höflich die Stühle
zurecht, ohne Verwunderung über den seltsamen Gast zu zeigen.
Sie blickte auf den Tisch; sie dachte, daß der Glanz einer Welt, in der solche Dinge wie gestärkte Servietten
und klirrende Eiswürfel, die die Reisenden zusammen mit ihren nur ein paar Dollar kostenden Mahlzeiten
erhielten, etwas Selbstverständliches waren, ein Überbleibsel aus jener Zeit, als man es noch nicht zum
Verbrechen gestempelt hatte, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und eine Mahlzeit nicht ein Wettlauf mit
dem Tod gewesen war – ein Überbleibsel, das bald verschwinden würde wie die weiße Tankstelle am Rand des
Dschungels. Sie merkte, daß der Landstreicher, der die Kraft verloren hatte zu stehen, nicht die Achtung vor der
Bedeutung der vor ihm ausgebreiteten Dinge verloren hatte. Er stürzte sich nicht auf das Essen. Er bemühte sich
um bedächtige Bewegungen, bemühte sich, im gleichen Tempo mit ihr die Serviette zu entfalten und seine Gabel
in die Hand zu nehmen. Seine Hand zitterte, als ob er noch wüßte, daß dies, ganz gleich welche Unwürde man
ihm aufzwang, das dem Menschen angemessene Benehmen war.
»Wo haben Sie in den alten Zeiten gearbeitet?« fragte sie, als der Kellner gegangen war. »In Fabriken?«
»Ja.«
»Als was?«
»Ich bin gelernter Dreher.«
»Wo haben Sie zuletzt gearbeitet?«
»In Colorado. Bei Hammond.«
»Ach…!«
»Bitte?«
»Nein, nichts. Waren Sie dort lange tätig?«
»Nein. Nur zwei Wochen.«
»Wieso?«
»Nun, ich hatte ein Jahr darauf gewartet, hatte mich in Colorado herumgetrieben, damit ich diese Stellung
bekam. Bei Hammond gab es eine lange Liste von Bewerbern. Doch sie gaben die Arbeitsplätze nicht bloß ihren
Freunden. Das Alter spielte bei ihnen auch keine Rolle. Sie hielten sich lediglich an die Zeugnisse eines Mannes.
Ich hatte gute Zeugnisse. Aber genau zwei Wochen, nachdem ich die Stellung erhalten hatte, gab Lawrence
Hammond die Fabrik auf und verschwand. Die Fabrik wurde geschlossen. Ein Bürgerausschuß eröffnete sie
dann wieder. Man holte mich zurück. Aber die Herrlichkeit dauerte nur fünf Tage. Sie konnten nicht alle
beschäftigen und behielten nur die, die schon länger dort waren. Und so mußte ich gehen. Ich habe gehört, daß
der Bürgerausschuß etwa drei Monate lang bestanden hat. Dann wurde die Fabrik für immer geschlossen.«
»Wo hatten Sie vorher gearbeitet?«
»Ungefähr in jedem östlichen Staat. Aber es war nie für länger als für einen oder zwei Monate. Die Fabriken
schlossen immer wieder.«
»Ist Ihnen das in jeder Stellung passiert?«
Er blickte sie an, als ob er ihre Frage verstände. »Nein«, antwortete er, und zum ersten Mal klang ein leiser
Stolz in seiner Stimme mit. »Meine erste Stellung hatte ich zwanzig Jahre lang. Nicht die gleiche Stellung,
meine ich, aber in der gleichen Fabrik. Ich wurde nämlich Werkmeister. Das war vor zwölf Jahren. Dann starb
der Besitzer der Fabrik, und die Erben, die sie übernahmen, richteten sie zugrunde. Die Zeiten waren damals
schlecht, aber erst seitdem geht es überall schneller und schneller bergab. Wohin auch immer ich mich wandte –
die Firma krachte zusammen und verschwand. Anfangs glaubten wir, das sei nur in dem einen oder anderen
Staat so. Viele von uns glaubten, daß Colorado bestehen bleiben würde, aber dort ist auch alles dahin. Alles, was
man versuchte, alles, was man anrührte, stürzte ein. Wohin man auch blickte, stand die Arbeit still, standen die
Fabriken still, standen die Maschinen still, standen…«, fügte er flüsternd hinzu, als sähe er etwas Entsetzliches
vor sich, »standen… die Motoren… still.« Seine Stimme wurde wieder lauter. »Ach Gott«, sagte er, »wer ist…«
und verstummte.
»John Galt?« fragte sie.
»Ja«, erwiderte er und schüttelte den Kopf, wie um ein Bild zu verscheuchen, »aber ich mag das gar nicht
sagen.«
»Ich auch nicht. Ich wünschte, ich wüßte, warum es die Menschen sagen und wer es aufgebracht hat.«
»Das ist es gerade, was mich erschreckt. Vielleicht bin ich es gewesen, der es aufgebracht hat.«
»Sie?«
»Ich oder sechstausend andere. Wir könnten es getan haben. Ich glaube, wir haben es getan. Ich hoffe, wir
irren uns.«
»Was meinen Sie?«
»Nun, in der Fabrik, in der ich zwanzig Jahre lang arbeitete, ist etwas geschehen. Es war, als der alte Mann
starb und seine Erben sie übernahmen. Es waren drei: zwei Söhne und eine Tochter. Und sie stellten einen neuen
Plan auf, um die Fabrik zu leiten. Sie ließen uns darüber abstimmen, und jeder – fast jeder – stimmte dafür. Wir
hatten keine Ahnung. Wir glaubten, der Plan sei gut. Nein, das ist nicht wahr. Wir glaubten, man erwarte von
uns, ihn für gut zu halten. Nach diesem Plan sollte jeder in der Fabrik entsprechend seinen Fähigkeiten arbeiten,
aber entsprechend seinen Bedürfnissen bezahlt werden. Wir… Was ist? Warum sehen Sie mich so an?«
»Wie hieß die Fabrik?« fragte sie mit kaum vernehmlicher Stimme.
»Twentieth Century Motor Company. In Starnesville in Wisconsin.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Wir stimmten in einer großen Versammlung für den Plan, alle, die wir anwesend waren, sechstausend, jeder,
der in der Fabrik arbeitete. Die Starnes-Erben hielten lange Reden darüber, aus denen man zwar nicht recht klug
wurde, aber niemand stellte Fragen. Keiner von uns wußte, wie sich der Plan auswirken würde, aber jeder
glaubte, daß sein Kollege es wußte. Und wenn jemand Zweifel hatte, fühlte er sich schuldig und hielt den Mund.
Denn sie stellten es so dar, als ob jeder, der sich dem Plan widersetzte, im Herzen ein Kindesmörder und gar kein
Mensch wäre. Sie sagten uns, dieser Plan würde ein edles Ideal verwirklichen. Nun, wie sollten wir es anders
wissen? Hatten wir das nicht unser Leben lang von unseren Eltern und Lehrern und Pfarrern gehört; hatten wir es
nicht in jeder Zeitung gelesen; war es uns nicht in jedem Film und jeder öffentlichen Rede eingetrichtert
worden? Hatte man uns nicht beständig gesagt, daß dies richtig und gerecht war? Vielleicht gibt es eine
Entschuldigung für das, was wir auf dieser Versammlung taten. Jedenfalls, wir stimmten für den Plan – und was
er bedeutete, das sollten wir erst dann erfahren. Wissen Sie, wir sind gewissermaßen gezeichnete Menschen,
diejenigen von uns, die die vier Jahre des Plans bei Twentieth Century durchgemacht haben. Was stellt man sich
unter der Hölle vor? Das reine, nackte, grinsende Böse, nicht wahr? Nun, das war es, was wir sahen und was wir
zu schaffen halfen – und ich glaube, wir sind verdammt, jeder von uns, und vielleicht wird uns nie vergeben
werden…
Wissen Sie, wie sich dieser Plan auswirkte? Und was er den Menschen antat? Versuchen Sie, Wasser in einen
Tank zu gießen, an dessen Boden ein Rohr ist durch das das Wasser schneller abfließt, als man es hinein gießt,
und jeder neue Eimer Wasser erweitert das Rohr um einen Zentimeter, und je härter man arbeitet, desto mehr
wird von einem gefordert, und man gießt erst vierzig Stunden in der Woche, dann achtundvierzig, dann
sechsundfünfzig Stunden lang Wasser hinein für das Abendbrot des Nachbarn, für die Operation der Frau, für die
Masern der Kinder, für den Rollstuhl der Mutter, für das Hemd des Onkels, für die Ausbildung des Neffen, für
das Baby nebenan, für das erwartete Baby, für irgend jemand irgendwo um einen herum – sie sind es, die etwas
bekommen, von der Windel bis zum Gebiß –, und man muß dafür arbeiten, von Sonnenaufgang bis
Sonnenuntergang, Monat um Monat, Jahr um Jahr, und das einzige, was man sieht, ist das Vergnügen der
anderen, ein Leben lang, ohne Pause, ohne Hoffnung, ohne Ende… Von jedem nach seinen Fähigkeiten, für
jeden nach seinen Bedürfnissen…
Wir sind alle eine große Familie, sagten sie uns. Wir stehen alle zusammen. Aber nicht alle arbeiten
zusammen bei einer Karbidlampe zehn Stunden am Tag und nicht alle zusammen bekommen Bauchweh. Was ist
wessen Fähigkeit, und welche von wessen Bedürfnissen kommen als erste? Wenn alles ein Topf ist dann kann
man nicht jeden selbst entscheiden lassen, was seine Bedürfnisse sind. Wenn man es täte, würde jeder behaupten,
daß er eine Yacht braucht. Und wenn es allein seine Gefühle sind, nach denen man sich richten muß, dann
könnte er das Bedürfnis vielleicht sogar beweisen. Warum nicht? Ich habe kein Recht einen Wagen zu besitzen,
ehe ich mich krank geschuftet habe, um ein Auto für jeden Faulenzer und jeden nackten Wilden auf der Erde zu
erarbeiten. Warum kann er dann nicht auch eine Yacht von mir fordern, wenn ich immerhin noch so viel Kraft
habe, um nicht zusammenzubrechen? Nein? Er kann es nicht? Warum kann er dann fordern, daß ich mir keine
Sahne für meinen Kaffee leiste, ehe er nicht sein Wohnzimmer neu tapeziert hat? – Nun, jedenfalls war
beschlossen worden, daß niemand das Recht hatte, über seine Bedürfnisse oder seine Fähigkeiten zu urteilen.
Wir stimmten darüber ab. Ja, wir stimmten zweimal im Jahr in einer öffentlichen Versammlung darüber ab. Wie
hätte man es anders machen können? Sie können sich vorstellen, was bei so einer Versammlung herauskommen
mußte? Es bedurfte nur einer Versammlung, und wir wußten, daß wir Bettler geworden waren: elende,
jammernde, eklige Bettler. Wir alle, denn niemand konnte seinen Lohn als den ihm zustehenden Verdienst
beanspruchen. Keiner hatte Rechte und oder einen Verdienst. Seine Arbeit gehörte nicht ihm, sie gehörte der
‘Familie’. Und sie schuldete ihm dafür nichts. Der einzige Anspruch, den er an sie hatte, waren seine
‘Bedürfnisse’ – und so mußte er öffentlich bitten, seine Bedürfnisse zu stillen, wie ein schmutziger Schnorrer,
mußte all seine Schwierigkeiten und Kümmernisse aufzählen bis zu seinen geflickten Unterhosen und der
Erkältung seiner Frau, in der Hoffnung, daß die ‘Familie’ ihm ein Almosen hinwerfen würde. Er mußte seine
Nöte laut bekennen, denn die Nöte und nicht die Arbeit waren das Geld dieses ‘Gemeinwesens’ geworden. Und
so entstand ein Wettstreit zwischen sechstausend Bettelbrüdern, von denen jeder geltend machte, daß seine
Bedürfnisse größer waren als die der anderen Bettelbrüder. Wie sollte man es anders machen? Können Sie sich
vorstellen, welche Männer Scham fühlten und schwiegen und welche den Gewinn einheimsten?
Aber das war noch nicht alles. Es war da noch etwas anderes, das wir in der gleichen Versammlung erfuhren.
Die Produktion der Fabrik war in diesem ersten halben Jahr um vierzig Prozent zurückgegangen, und so wurde
festgestellt, daß nicht jeder nach seinen Fähigkeiten gearbeitet hatte. Wer? Wie sollte man das wissen? Die
‘Familie’ stimmte auch darüber ab. Es wurde abgestimmt, wer die besten Männer waren, und diese Männer
wurden dazu verurteilt, in den nächsten sechs Monaten jeden Abend Überstunden zu machen. Überstunden ohne
Bezahlung – denn es wurden nicht die Arbeitsstunden und die Arbeit bezahlt, sondern nur die Bedürfnisse.
Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was danach geschah und zu was für Kreaturen wir alle zu werden begannen.
Wir, die wir einmal Menschen gewesen waren, wir begannen, unsere Fähigkeiten zu verstecken, unser
Arbeitstempo zu verlangsamen und eifersüchtig darüber zu wachen, daß wir ja nicht schneller oder besser als der
Kollege neben uns arbeiteten. Was konnten wir anderes tun? Wir wußten, wenn wir unser Bestes für die
‘Familie’ taten, würden wir keinen Dank oder Lohn dafür erhalten, sondern bestraft werden. Wir wußten, daß
wir für jeden Versager, der durch Nachlässigkeit, die ja keine Folgen für ihn hatte, oder durch pures
Nichtskönnen reihenweise Motoren verpfuschte und die Firma Geld kostete, mit unseren Abenden und
Sonntagen bezahlen mußten. Deshalb taten wir alles, um nicht tüchtig zu sein. Da war ein junger Mann, der
anfangs voller Feuer für das edle Ideal war, ein heller Junge ohne jede Ausbildung, aber mit einem sehr
gescheiten Kopf. Im ersten Jahr erfand er einen Arbeitsplan, der uns Tausende von Arbeitsstunden ersparte. Er
gab ihn der ‘Familie’, ohne etwas dafür zu fordern, was er übrigens auch nicht konnte. Aber er fand das ganz
richtig. Er sei für das Ideal, sagte er. Als dann aber in einer Abstimmung festgestellt wurde, daß er einer unserer
Fähigsten war und er darum zu Nachtarbeit verurteilt wurde, weil wir noch nicht genug von ihm beko mmen
hatten, sagte er kein Wort mehr und dachte auch nicht mehr über Verbesserungen nach. Im zweiten Jahr kam er
nicht mehr mit neuen Ideen.
Was hatten sie uns immer gesagt über den schändlichen Wettbewerb des Profitsystems, in dem Menschen
danach trachten mußten, bessere Arbeit zu leisten als ihre Kollegen! War es kein schändliches System? Nun, Sie
hätten sehen sollen, wie es war, als wir uns alle bemühen mußten, möglichst schlecht zu arbeiten. Es gibt keine
sicherere Methode, einen Menschen zu zerstören, als ihn in eine Lage zu bringen, in der er gezwungen ist,
danach zu streben, nicht sein Bestes zu tun, in der er Tag für Tag darum kämpfen muß, schlechte Arbeit zu
leisten. Das macht ihn schneller fertig als Trinken oder Nichtstun oder als wenn er von Raubüberfällen lebt. Aber
es blieb uns nichts anderes übrig, als Untüchtigkeit vorzutäuschen. Das einzige, was wir fürchteten, war, daß
man uns irgendwelcher Fähigkeiten verdächtigte. Fähigkeiten waren wie eine Hypothek, die man nie abtragen
konnte. Und wofür arbeitete man? Ob man arbeitete oder nicht, man wußte, daß man das Existenzminimum
sowieso bekam – die ‘Wohn- und Essensgeldzuteilung’, wie sie hieß –, und darüber hinaus hatte man keine
Chance, etwas zu erhalten, ganz gleich, wie sehr man sich darum bemühte. Man konnte nicht damit rechnen, sich
im nächsten Jahr einen neuen Anzug zu kaufen – man erhielt vielleicht einen Kleiderzuschuß oder aber auch
nicht –, je nachdem, ob sich nicht jemand ein Bein brach, sich einer Operation unterziehen mußte oder noch
mehr Kinder in die Welt setzte. Und wenn nicht so viel Geld da war, daß jeder einen neuen Anzug bekommen
konnte, dann bekam man eben keinen.
Da war ein Mann, der sein Leben lang schwer gearbeitet hatte, weil es immer sein Wunsch gewesen war,
seinen Sohn aufs College zu schicken. Der Junge machte im zweiten Jahr des Plans seine Abschlußprüfung an
der High School. Aber die ‘Familie’ wollte dem Vater keinen Zuschuß für das College geben. Man sagte, sein
Sohn könne erst aufs College gehen, wenn so viel Geld vorhanden war, daß die Söhne aller Kollegen aufs
College geschickt werden konnten. Und daß wir erstmal alle Kinder auf die High School schicken mußten. Aber
selbst dafür reichte das Geld nicht. Der Vater des Jungen starb im folgenden Jahr bei einer Messerstecherei in
einer Kneipe, zu der eigentlich gar kein Anlaß war – solche Messerstechereien waren bei uns nachgerade an der
Tagesordnung.
Dann war da ein alter Mann, ein Witwer ohne Familie, der ein Hobby hatte: Schallplatten. Ich glaube, das war
die einzige Freude, die er sich im Leben gönnte. In den alten Zeiten versagte er sich oft eine Mahlzeit, nur um
sich neue Platten klassischer Musik zu kaufen. Man gab ihm keinen Zuschuß für Schallplatten. Das sei
persönlicher Luxus, hieß es. Aber in der gleichen Versammlung wurde per Abstimmung beschlossen, daß Millie
Bush, die Tochter von irgend jemand, ein unsympathisches, häßliches Mädchen von achtzehn Jahren,
Goldkronen für ihre Backenzähne erhielt. Es war ‘medizinisch’ notwendig, denn der Psychologe der Firma hatte
gesagt, das arme Mädchen würde einen Minderwertigkeitskomplex bekommen, wenn ihre Zähne nicht in
Ordnung gebracht würden. Der alte Mann, der die Musik liebte, begann statt dessen zu trinken. Er trank so viel,
daß man ihn nie mehr völlig nüchtern sah. Aber es schien da etwas zu sein, das er nicht vergessen konnte. Eines
Abends kam er die Straße hinuntergetorkelt, sah Millie Buch und schlug ihr alle Zähne aus. Alle.
Wir fingen natürlich alle an zu trinken, einige mehr, andere weniger. Fragen Sie nicht, woher wir das Geld
dafür bekamen! Wenn einem alle anständigen Vergnügen verboten sind, dann findet sich immer ein Weg, sich
auf niedrige Weise zu amüsieren. Normalerweise bricht man nach dem Dunkelwerden nicht in
Lebensmittelgeschäfte ein und stiehlt seinem Kollegen nicht das Geld aus der Tasche, um sich klassische
Sinfonien oder eine Angelausrüstung zu kaufen, aber wenn man sternhagelvoll ist, tut man’s.
Angelausrüstungen? Jagdgewehre? Fotoapparate? Hobbys? Es gab keinen ‘Vergnügungszuschuß’. Vergnügen
war das erste, was gestrichen wurde. Wird nicht immer angenommen, daß man sich schämt, Einwände zu
machen, wenn jemand von einem verlangt, etwas aufzugeben, das einem Freude bereitet hat? Sogar unser
Tabakzuschuß wurde beschnitten, so daß wir monatlich nur noch zwei Päckchen Zigaretten bekamen. Das war
nötig, sagte man uns, weil das Geld für den Babymilchfonds gebraucht wurde. Babys waren das einzige Produkt,
dessen Zahl nicht zurückging, sondern stieg und immer weiter stieg – denn die Menschen hatten nichts anderes
zu tun, nehme ich an, und brauchten sich außerdem keine Sorgen zu machen, denn das Baby fiel nicht ihnen,
sondern der ‘Familie’ zur Last. Tatsächlich war die beste Chance, eine Lohnerhöhung zu erhalten und eine Weile
freier atmen zu können, ein weiteres Baby. Das oder eine schwere Krankheit.
Wir brauchten nicht lange, um zu erkennen, wie sich das alles auswirkte. Jeder, der versuchte, anständig zu
bleiben, mußte sich alles versagen. Er verlor den Geschmack an jedem Vergnügen. Es war ihm zuwider, für zehn
Cent zu rauchen oder Kaugummi zu kauen, weil er sich Gedanken darüber machte, ob nicht jemand diese zehn
Cent nötiger brauchte. Er schämte sich jedes Bissens, den er aß, weil er sich fragte, wer dafür nächtelang
Überstunden hatte leisten müssen, und weil er wußte, daß er auf sein Essen keinen Anspruch hatte. Er wollte
lieber betrogen werden, als selber zu betrügen, wollte lieber ein dummer als ein krummer Hund sein. Er wollte
nicht heiraten, er wollte seinen Leuten zu Hause nicht helfen, er wollte der ‘Familie ’ keine Extralast aufbürden.
Außerdem, wenn er noch etwas Verantwortungsgefühl hatte, konnte er nicht heiraten oder Kinder in die Welt
setzen, da er nichts planen, nichts versprechen, mit nichts rechnen konnte. Aber für die Unfähigen und
Verantwortungslosen war jeden Tag Sonntag. Sie zeugten Kinder. Sie verführten Teenager. Sie beantragten für
jeden nichtsnutzigen Verwandten im ganzen Land einen Notlagenzuschuß. Für jede unverheiratete schwangere
Schwester einen Arbeitslosenzuschuß. Sie hatten so viele Krankheiten, daß kein Arzt ihnen ihr Simulieren
nachweisen konnte. Sie ruinierten ihre Kleidung, ihre Möbel, ihre Wohnungen. Die ‘Familie’ bezahlte es ja! Sie
erfanden mehr Möglichkeiten, in Notlagen zu geraten, als wir anderen es uns je vorstellen konnten – sie
entwickelten eine besondere Fähigkeit dafür, die einzige, die sie zeigten.
Gott im Himmel! Ist Ihnen klar, was uns klar wurde? Uns wurde klar, daß man uns ein Gesetz gegeben hatte,
nach dem wir leben mußten, ein moralisches Gesetz, wie man es nannte, das die bestrafte, die es befolgten, weil
sie es befolgten.
Je mehr man versuchte, danach zu leben, desto mehr litt man; je mehr man sich dagegen verging, desto mehr
wurde man belohnt. Ehrlichkeit war etwas, was einen der Unehrlichkeit des Kollegen auslieferte. Die
Anständigen zahlten, die Unanständigen nahmen ein. Die Anständigen verloren, die Unanständigen gewannen.
Wie lange konnten Menschen unter einem solchen moralischen Gesetz rechtschaffen bleiben? Als wir begannen,
waren wir ordentliche Leute. Es waren wenige Schmarotzer unter uns. Wir verstanden uns auf unsere Arbeit, wir
waren stolz darauf, und wir arbeiteten in der besten Fabrik im Land, in der der alte Starnes nur die allerbesten
Arbeitskräfte eingestellt hatte. Nachdem der neue Plan ein Jahr lang bestand, war nicht ein Ehrlicher mehr unter
uns. Das war das Böse, das Teuflisch-Böse, das einem die Pfarrer in den grauenhaftesten Farben zu schildern
pflegen, aber dem man nie wirklich zu begegnen glaubt. Nicht daß der Plan ein paar Lumpen ermutigte, nein, er
verwandelte anständige Menschen in Lumpen; und das nannte man ein moralisches Ideal!
Wofür sollten wir arbeiten? Für die Liebe zu unseren Brüdern? Welche Brüder? Für die Versager, die
Faulpelze, die Schmarotzer, die wir rings um uns sahen? Und ob sie betrogen oder völlig unfähig waren, ob sie
arbeitsunwillig waren oder überhaupt nichts konnten – was änderte sich dadurch für uns? Wenn wir an ihre
gespielte oder echte Unfähigkeit gebunden waren, wie lange konnte uns dann noch daran liegen
weiterzumachen? Wir hatten keine Möglichkeit, uns ein Bild von ihren Fähigkeiten zu machen, wir hatten keine
Möglichkeit, ihre Bedürfnisse zu kontrollieren. Wir wußten nur, daß wir Packesel waren, die sich blind an einem
Ort abmühten, der halb Krankenhaus, halb Eselsstall war, an einem Ort, wo nur Unfähigkeit, Unglück und
Krankheit regierten. Wir waren Packesel, die nur dafür lebten, das zu lindern, was dieser oder jener als seine
Notlage bezeichnete. Liebe zu unseren Brüdern? Dort lernten wir zum ersten Mal in unserem Leben, unsere
Brüder zu hassen. Wir begannen, sie wegen jeder Mahlzeit zu hassen, die sie verzehrten, wegen jedes kleinen
Vergnügens, das sie sich gönnten, wegen jedes neuen Hemdes, das sich ein Mann anschaffte, wegen des Hutes,
den sich die Frau eines anderen kaufte, wegen eines Ausflugs, den sie mit ihrer Familie unternahmen, wegen des
neuen Anstriches ihres Hauses. Wir mußten das alles bezahlen mit unseren Entbehrungen, unserem Verzicht,
unserem Hunger. Wir begannen, aufeinander zu spucken. Jeder hoffte, die anderen dabei zu ertappen, daß ihre
Bedürfnisse nur vorgetäuscht waren, damit man ihren Zuschuß auf der nächsten Versammlung beschneiden
konnte. Wir begannen Spitzel anzustellen, die uns über die Leute informierten, die berichteten, daß jemand für
seine Familie an einem Sonntag heimlich einen Truthahn gekauft und ihn höchstwahrscheinlich von
Spielgewinnen bezahlt hatte. Wir begannen, uns in das Leben anderer einzumischen. Wir provozierten
Familienstreitigkeiten, um zu erreichen, daß die Verwandten von irgend jemand hinausgeworfen wurden. Sobald
wir sahen, daß ein Mann sich mit einem Mädchen enger befreundete, machten wir ihm das Leben zu Hölle. Wir
machten viele Verlobungen zunichte.

Wir wollten nicht, daß jemand heiratete. Wir wollten nicht noch mehr von ihm Abhängige ernähren müssen.
In den alten Zeiten hatte wir es immer gefeiert, wenn jemand Nachwuchs bekam. Wir sprangen ein und halfen
ihm, die Krankenhausrechnung zu bezahlen, wenn er im Augenblick gerade schlecht bei Kasse war. Aber wenn
jetzt ein Kind geboren wurde, sprachen wir wochenlang nicht mit den Eltern. Babys waren für uns das geworden,
was Heuschrecken für die Bauern sind. In den alten Zeiten halfen wir immer den Kollegen, wenn jemand in ihrer
Familie schwer erkrankte. Jetzt – ich will Ihnen nur von einem Fall erzählen. Es war die Mutter eines Mannes,
der fünfzehn Jahre lang mit uns zusammengearbeitet hatte. Sie war eine freundliche alte Dame, heiter und weise,
sie kannte uns alle beim Vornamen, und wir liebten sie alle. Eines Tages glitt sie auf der Kellertreppe aus, fiel
und brach sich die Hüfte. Wir wußten, was das in ihrem Alter bedeutete. Der Werkarzt sagte, sie müsse in ein
Krankenhaus in der Stadt und die Behandlung werde kostspielig und langwierig sein. Die alte Dame starb in der
Nacht vor dem Morgen, an dem sie in die Stadt gebracht werden sollte. Die Todesursache wurde nie festgestellt.
Nein, ich weiß nicht, ob sie ermordet worden ist. Niemand hat das gesagt. Niemand wollte überhaupt darüber
sprechen. Ich weiß nur – und das kann ich nicht vergessen –, daß auch – ich mich bei dem Wunsch ertappt habe,
sie möge sterben. Das – Gott vergebe uns! – war die Brüderlichkeit, der Überfluß, die Sicherheit, die der Plan
uns bringen sollte.
Gab es einen Grund, warum diese Art von Schrecken je von jemand gepredigt wurde? War da jemand, der
einen Nutzen daraus zog? Ja, es waren die Starnes-Erben. Ich hoffe, Sie wollen mich nicht daran erinnern, daß
sie ein Vermögen geopfert und uns die Fabrik als Geschenk übereignet haben. Auch damit haben sie uns übers
Ohr gehauen. Ja, sie haben die Fabrik aufgegeben. Aber beim Profit kommt es darauf an, worauf man aus ist,
und worauf die Starnes-Erben aus waren, das konnte kein Geld der Welt kaufen. Geld ist zu sauber und
unschuldig dafür.
Eric Starnes, der jüngste, war eine Qualle und hatte keinen Mumm, um sich überhaupt ein Ziel zu setzen. Er
ließ sich selber zum Direktor unserer PR-Abteilung wählen, die aber nicht das geringste tat. Er hatte jedoch
einen ganzen Mitarbeiterstab für diese Untätigkeit, und darum brauchte er selber kaum im Büro zu erscheinen.
Die Bezahlung, die er erhielt – nun, ich sollte es nicht Bezahlung nennen, niemand von uns wurde bezahlt –, die
ihm zugebilligten Almosen waren recht bescheiden. Er bekam zwar zehnmal soviel wie ich, aber es war nicht
üppig. Eric interessierte sich nicht für Geld. Er hätte gar nicht gewußt, was er damit tun sollte. Er verbrachte
seine Zeit damit, sich bei uns herumzutreiben, um zu zeigen, wie kollegial und demokratisch er war. Er wollte
geliebt werden. Und das versuchte er dadurch zu erreichen, daß er uns unaufhörlich daran erinnerte, daß er uns
die Fabrik geschenkt hatte. Wir konnten ihn nicht ausstehen.
Gerald Starnes war unser Produktionsleiter. Wir haben nie genau erfahren, wie hoch sein erschwindelter
Gewinn – sein Almosen – war. Um das auszurechnen, hätte man eine ganze Schar von Buchhaltern gebraucht
und einen Stab von Ingenieuren, um den Weg zu verfolgen, auf dem das Geld direkt oder indirekt in sein Büro
gelangte. Nichts davon war für seinen persönlichen Bedarf bestimmt, es war alles für die Ausgaben der Fabrik
bestimmt. Gerald hatte drei Wagen, vier Sekretärinnen, fünf Telefone, und er pflegte Champagner- und Kaviar-
Parties zu geben, die sich kein steuerzahlender Industriebaron im Land hätte leisten können. Er gab in einem Jahr
mehr Geld aus, als sein Vater in den letzten beiden Jahren seines Lebens an Reingewinn erzielt hatte. Wir sahen
einen hundert Pfund schweren Haufen – hundert Pfund, wir haben ihn gewogen – von Zeitschriften in Geralds
Büro voll von Geschichten über unsere Fabrik und unseren edlen Plan mit riesigen Bildern von Gerald Starnes,
in deren Unterzeilen er als großer sozialer Kreuzfahrer bezeichnet wurde. Gerald liebte es, abends in die
Fabrikhallen zu kommen, im Abendanzug mit blitzenden Brillant-Manschettenknöpfen von der Größe eines
Fünfcentstücks, wobei er überall seine Zigarrenasche verstreute. Jeder billige Angeber, der nichts weiter kann,
als mit seinem Gelde zu protzen, ist schon verachtenswert. Aber er spielt sich wenigstens nicht als Wohltäter auf,
und es bleibt einem selbst überlassen, ob man ihn anstaunt oder nicht – und meistens tut man es nicht. Aber
wenn ein Lump wie Gerald Starnes sich in die Brust wirft und beständig große Reden führt, daß ihn materieller
Reichtum nicht interessiert, daß er nur der ‘Familie’ dient, daß all der Aufwand nicht für ihn selbst ist, sondern
für uns und unser aller Wohl, weil das Prestige der Firma und des edlen Plans in den Augen der Öffentlichkeit
gewahrt werden muß – dann lernt man ihn hassen, wie man nie einen Menschen gehaßt hat.
Aber seine Schwester Ivy war noch schlimmer. Der materielle Reichtum interessierte sie freilich nicht. Die
Almosen, die sie erhielt, waren nicht größer als unsere, und sie ging in ausgetretenen Schuhen mit flachen
Absätzen und Hemdblusen herum – nur um zu zeigen, wie selbstlos sie war. Sie war unsere
Verteilungsdirektorin. Sie war es, die sich mit unseren Bedürfnissen befaßte. Sie war es, die uns an der Kandare
hielt. Natürlich sollte über die Verteilung abgestimmt werden – durch die Stimme des Volkes. Aber wenn das
Volk sechstausend schreiende Stimmen sind, die ohne Sinn und Verstand entscheiden, wenn es keine Regeln in
dem Spiel gibt und jeder alles fordern kann, aber auf nichts ein Anrecht hat, wenn jeder die Macht über jedes
Leben hat außer sein eigenes, dann kommt es dazu, wie es auch kam, daß die Stimme des Volkes Ivy Starnes ist.
Am Ende des zweiten Jahrs stellten wir die sowieso nur etwas vortäuschenden ‘Familienversammlungen’ ein –
im Namen der Produktionsrationalisierung und Zeitersparnis. Eine Versammlung dauerte nämlich immer zehn
Tage. Alle Anträge auf Anerkennung eines Bedürfnisses gingen von da an einfach in Miss Starnes’ Büro. Nein,
sie wurden nicht dorthin geschickt. Jeder Antragsteller mußte ihr seinen Antrag persönlich unterbreiten. Dann
stellte sie eine Verteilungsliste auf, die sie uns in einer fünfundvierzig Minuten dauernden Versammlung vorlas,
damit wir darüber abstimmten. Für die Diskussion und Einwände standen zehn Minuten zur Verfügung. Aber
wir erhoben keine Einwände. Wir wußten damals schon Bescheid. Niemand kann die Einnahmen einer Fabrik
unter Tausende von Leuten verteilen ohne einen Maßstab, mit dem man den Wert des einzelnen mißt. Ihr
Maßstab war Speichellecken. Selbstlos? Zur Zeit ihres Vaters hätte all sein Geld ihm nicht erlaubt, mit seinem
armseligsten Hilfsarbeiter ungestraft so zu sprechen, wie sie mit unseren besten Facharbeitern und deren Frauen
sprach. Sie hatte kalte blaue Fischaugen. Und wenn man das nackte Böse sehen wollte, brauchte man nur das
Funkeln in ihren Augen zu sehen, wenn sie einen Mann beobachtete, der ihr einmal widersprochen und gerade
erfahren hatte, daß sein Name auf der Liste derjenigen stand, die nur das Existenzminimum erhielten. Und wenn
man das sah, sah man den wirklichen Beweggrund jedes Menschen, der jemals den Slogan predigte: Jeder nach
seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.
Das war das ganze Geheimnis. Anfangs fragte ich mich immer wieder, wie es möglich war, daß gebildete,
kultivierte, weltberühmte Persönlichkeiten einen so großen Fehler machen und predigen konnten, diese Art der
Gemeinheit sei gerecht – wo sie nur fünf Minuten hätten nachzudenken brauchen, um zu wissen, was geschehen
würde, wenn jemand versuchte, das, was sie predigten, in die Praxis umzusetzen. Heute weiß ich, daß sie das
nicht taten, weil sie irrten. Solche großen Fehler werden nie versehentlich begangen. Wenn Menschen etwas
Schändlich-Verrücktes aushecken, wenn sie keine Möglichkeit haben, es in die Tat umzusetzen und den Grund
nicht nennen können, warum sie darauf aus sind, dann darum, weil sie einen Grund haben, den sie nicht verraten
wollen. Und wir waren auch nicht so unschuldig, als wir in der ersten Versammlung für den Plan stimmten. Wir
stimmten nicht dafür, weil wir glaubten, der Unsinn, den sie verzapften, sei gut. Wir hatten einen anderen Grund,
aber das schöne Gefasel half uns, ihn vor unsern Nachbarn und vor uns selbst zu verbergen. Das Gefasel gab uns
die Möglichkeit, etwas als Tugend hinzustellen, dessen wir uns sonst geschämt hätten. Unter denen, die dafür
stimmten, war keiner, der nicht glaubte, daß er sich unter diesem Deckmantel an dem bere ichern könnte, was
Männer erarbeiteten, die fähiger waren als er. Keiner war reich und klug genug, um nicht zu glauben, daß es
nicht noch einen Reicheren und Klügeren gab und daß dieser Plan ihm einen Anteil am Wohlstand und Verstand
der Besseren geben würde. Aber während er glaubte, daß er von allen über sich unverdient profitieren würde,
vergaß er alle unter sich, die ebenfalls unverdient profitieren würden. Er vergaß die ihm Unterlegenen, die
herbeieilten, um ihn auszusaugen, genauso wie er hoffte, die ihm Überlegenen auszusaugen. Der Arbeiter, dem
der Gedanke gefiel, daß seine Bedürfnisse ihn zu einer Limousine wie der seines Chefs berechtigten, vergaß, daß
jeder Penner und Bettler in der Welt schreien würde, daß seine Bedürfnisse ihn zu einem Eisschrank wie dem
seinen berechtigten. Das war unser wirklicher Grund, als wir abstimmten. Das war der wahre Grund. Aber wir
dachten nicht gern darüber nach, und je weniger gern wir es taten, desto lauter brüllten wir, es gehe uns nur um
das Gemeinwohl.
Nun, wir bekamen, was wir haben wollten. Als wir erkannten, was wir uns eingebrockt hatten, war es zu spät.
Wir saßen in der Falle, wir konnten nirgendwo anders hin. Die Besten unter uns verließen die Fabrik in der
ersten Woche des Plans. Wir verloren unsere tüchtigsten Ingenieure, Meister, Vorarbeiter und Facharbeiter. Ein
Mann mit Selbstachtung verwandelt sich nicht in eine Milchkuh für andere. Einige tüchtige Kollegen versuchten
durchzuhalten, aber sie konnten es nicht lange. Wir verloren weiter einen nach dem anderen. Sie flüchteten aus
der Fabrik wie aus einer Pesthöhle – bis nur noch die mit Bedürfnissen da waren, aber keiner mehr mit
Fähigkeiten.
Und die wenigen von uns, die noch etwas taugten, aber trotzdem blieben, waren die, die schon allzu lange
dort arbeiteten. In den alten Zeiten hatte nie einer seine Arbeit bei Twentieth Century aufgegeben. Und
irgendwie konnten wir nicht glauben, daß die Firma am Ende war. Nach einer Weile konnten wir nicht mehr
weg, weil kein anderer Arbeitgeber uns haben wollte – was ke inem zu verdenken war. Niemand wollte mit uns
das geringste zu tun haben, kein anständiger Mensch, keine anständige Firma. Die Besitzer der kleinen Läden, in
denen wir einkauften, begannen, so schnell wie möglich von Starnesville fortzuziehen – bis nur noch Kneipen,
Spielhallen und Gauner da waren, die uns zu Riesenpreisen Schund verkauften. Die Almosen, die wir erhielten,
wurden immer geringer und die Lebenskosten immer höher. Die Liste der Bedürftigen der Fabrik wuchs und die
Liste der Kunden schrumpfte. Immer geringere Einnahmen mußten an immer mehr Leute verteilt werden. In den
alten Zeiten pflegte man zu sagen, daß das Firmenzeichen der Twentieth Century Motor Company ebenso gut
war wie der Karatstempel auf Gold. Ich weiß nicht, was sich die Starnes-Erben dachten, wenn sie überhaupt
dachten, aber ich glaube, wie alle sozialen Planer und wie die Wilden glaubten sie, daß dieses Firmenzeichen ein
magisches Zeichen war, das sie durch eine Art Voodoo-Zauber so reich machen würde, wie es ihren Vater reich
gemacht hatte. Nun, als unsere Kunden zu merken begannen, daß wir nie einen Auftrag rechtzeitig ausführten
und nie einen fehlerlosen Motor lieferten, begann das magische Zeichen, umgekehrt zu wirken. Die Leute
wollten einen Motor nicht einmal geschenkt, wenn er das Firmenzeichen Twentieth Century’ trug. Und so kam
es, daß unsere einzigen Kunden Leute waren, die nie zahlten und nie daran dachten zu zahlen. Aber der durch all
das Schmeichelhafte, was man über ihn schrieb, berauschte Gerald Starnes fühlte sich beleidigt. Er ging mit
einer Miene moralischer Überlegenheit herum und verlangte, daß Geschäftsleute uns Aufträge gaben, nicht weil
unsere Motoren gut waren, sondern weil wir die Aufträge so bitter nötig brauchten.
Zu dieser Zeit hätte schon ein Dorftrottel sehen können, was Generationen von Professoren nicht zu sehen
vorgaben. Was nützten unsere Bedürfnisse einem Elektrizitätswerk, wenn dessen Generatoren dank unserer
fehlerhaften Motoren stillstanden? Was nützten sie einem Patienten, der auf dem Operationstisch lag, wenn der
Strom ausfiel? Was nützten sie den Passagieren eines Flugzeugs, wenn dessen Motor in der Luft plötzlich
aussetzte? Wenn sie unseren Motor kauften, nicht weil er gut war, sondern unserer Bedürfnisse wegen, tat dann
damit der Besitzer des Elektrizitätswerks, der Chirurg im Krankenhaus, der Hersteller des Flugzeugs das Gute,
das Richtige, das Moralische? Dennoch, dies war das Moralgesetz, das die Professoren und Führer und Denker
in der ganzen Welt hatten einführen wollen. Wenn es sich schon in einer einzigen kleinen Stadt, in der wir alle
einander kannten, so auswirkte, wie würde es sich dann erst in der ganzen Welt auswirken? Können Sie sich
vorstellen, wie es wäre, wenn Sie leben und arbeiten müßten und dabei an alle Katastrophen und alle Simulanten
auf unserem Planeten gefesselt wären? Arbeiten – und wenn irgendwo jemand versagt, dafür aufkommen zu
müssen. Arbeiten – ohne eine Chance aufzusteigen, wobei noch gleichzeitig Ihr Essen, Ihre Kleidung, Ihre
Wohnung und Ihr Vergnügen von jedem Schwindel, jeder Hungersnot, jeder Pestilenz irgendwo in der Welt
abhängen. Arbeiten – ohne die Chance einer Extraration, ehe nicht die Leute in Kambodscha gesättigt sind und
die Patagonier alle das College besucht haben. Arbeiten – für einen Blankoscheck, der für jeden, der zur Welt
gehört, ausgestellt wird, für Menschen, die man nie sehen wird, von deren Bedürfnissen man nie erfahren wird,
von deren Fähigkeit oder Faulheit oder Nachlässigkeit oder Schwindel man sich kein Bild machen oder auch nur
danach fragen darf. Nur arbeiten und arbeiten und arbeiten und den Ivys und Geralds alle Entscheidungen auf der
Welt überlassen. Und dieses Moralgesetz soll man annehmen? Dies soll ein moralisches Ideal sein?
Nun, wir versuchten es – und wir machten unsere Erfahrungen. Unsere Agonie dauerte vier Jahre, von unserer
ersten Versammlung bis zur letzten, und sie endete auf die einzige Art, auf die sie enden konnte: im Bankrott. In
unserer letzten Versammlung versuchte Ivy Starnes, sich zu rechtfertigen. Sie hielt eine kurze, widerliche,
schnippische Rede, in der sie sagte, der Plan sei gescheitert, weil das übrige Land ihn nicht angenommen hatte;
eine einzelne Gemeinschaft könne nicht inmitten einer eigennützigen, habgierigen Welt Erfolg haben. Der Plan
sei ein edles Ideal, aber die menschliche Natur sei zu schlecht dafür. Ein junger Mann – der, der dafür bestraft
worden war, daß er uns im ersten Jahr eine nützliche Idee gegeben hatte – stand auf, während wir alle stumm
dasaßen, und ging geradewegs auf das Podium zu, auf dem Ivy Starnes stand. Er sagte nichts. Er spuckte ihr ins
Gesicht. Das war das Ende des edlen Plans und der Twentieth Century Motor Company.«
Der Mann hatte gesprochen, als ob die Last der Jahre seines Schweigens plötzlich von ihm abgefallen wäre.
Dagny wußte, daß dies sein Tribut an sie war: Er hatte keine Reaktion auf ihre Freundlichkeit gezeigt, er schien
für den Wert des Menschen und die Hoffnung des Menschen kein Empfinden mehr gehabt zu haben. Aber etwas
in ihm war davon angesprochen worden, und seine Antwort war dieses Bekenntnis, dieser lange verzweifelte
Schrei der Auflehnung gegen Ungerechtigkeit, den er jahrelang unterdrückt hatte, der aber aus ihm herausbrach,
weil er erkannte, daß er zum ersten Mal einem Menschen begegnet war, der sich dem Ruf nach Gerechtigkeit
nicht verschloß. Es war, als ob das Leben, das er schon hatte wegwerfen wollen, ihm durch zweierlei, was er
brauchte, wiedergegeben worden war: durch das Essen und durch die Gegenwart eines vernünftigen Menschen.
»Aber was ist mit John Galt?« fragte sie.
»Ach…«, sagte er und erinnerte sich. »Ach ja…«
»Sie wollten mir sagen, warum die Leute angefangen haben, die Frage zu stellen.«
»Ja…« Er blickte in die Ferne, als sähe er etwas, über das er schon jahrelang nachgedacht hatte, das aber
unverändert und ungelöst blieb; sein Gesicht hatte einen seltsam fragenden Ausdruck der Angst.
»Sie wollten mir sagen, wer der John Galt war, den Sie meinen – wenn es ihn überhaupt gegeben hat.«
»Ich hoffe, es hat ihn nicht gegeben. Ich meine, ich hoffe, es ist nur ein Zufall, nur eine Redensart, die keine
Bedeutung hat.«
»Sie haben aber an etwas Bestimmtes gedacht. Was war es?«
»Es war… es war etwas, das in der ersten Versammlung bei Twentieth Century geschah. Vielleicht war es der
Beginn davon, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht… Die Versammlung wurde in einer Frühlingsnacht vor
zwölf Jahren abgehalten. Wir sechstausend saßen dichtgedrängt bis unters Dach in der größten Werkhalle der
Fabrik. Wir hatten gerade für den neuen Plan gestimmt und waren in einer stark aufgeputschten Stimmung,
machten zuviel Lärm, bejubelten den Sieg des Volkes, bedrohten unbekannte Feinde und waren kampflustig wie
Bullen, wenn auch mit etwas schlechtem Gewissen. Das grelle Licht der Bogenlampen fiel auf uns, und wir
fühlten uns gereizt und zu jeder Gewalttat bereit; wir waren in diesem Augenblick ein häßlicher Mob. Gerald
Starnes, der die Versammlung leitete, schlug dauernd mit seinem Hammer auf den Tisch, um die Ruhe
wiederherzustellen, und wir beschwichtigten uns auch ein wenig, aber nicht sehr. Man konnte den ganzen Raum
sich ruhelos von einer Seite zur anderen bewegen sehen, wie Wasser in einem Topf, den man hin- und
herschaukelt. ‘Dies ist ein bedeutsamer Augenblick in der Geschichte der Menschheit!’ brüllte Gerald Starnes in
den Lärm hinein. ‘Denken Sie daran, daß niemand von uns von jetzt an diese Fabrik verlassen darf, denn durch
das Moralgesetz, das wir alle angenommen haben, gehört jeder von uns allen.’ ‘Ich nicht’, sagte ein Mann und
stand auf. Es war einer der jungen Ingenieure. Niemand wußte viel von ihm. Er hatte sich immer ganz für sich
gehalten. Als er sich erhob, wurden wir plötzlich mäuschenstill. Es war die Art, wie er seinen Kopf hielt, die uns
verstummen ließ. Er war groß und schlank – und ich erinnere mich noch, daß ich dachte, zwei von uns hätten
ihm ohne Mühe das Genick brechen können. Aber was wir alle fühlten, war Angst. Er stand da wie jemand, der
weiß, daß er im Recht ist. ‘Ich werde dem ein für allemal ein Ende machen’, sagte er. Seine Stimme war kalt und
klar. Das war alles, was er sagte. Dann drehte er sich um. Ohne Eile und ohne auf einen von uns zu achten, ging
er im grellen Licht durch die lange Halle. Niemand rührte sich, um ihn anzuhalten. Plötzlich rief Gerald Starnes
hinter ihm her: ‘Wie?’ Er wendete sich um und antwortete: ‘Ich werde den Motor der Welt anhalten.’ Dann ging
er hinaus. Wir haben ihn nie wieder gesehen. Wir haben nie gehört, was aus ihm geworden ist. Aber Jahre später,
als wir in einer der großen Fabriken nach der anderen die Lichter ausgehen sahen, in Fabriken, die seit
Generationen wie Felsen gewesen waren, die nichts hatte erschüttern können; als wir sahen, wie die Tore
geschlossen wurden und die Fließbänder stillstanden; als wir sahen, wie die Straßen immer leerer wurden und
die Flut der Autos verebbte; als es so auszusehen begann, als würde eine stumme Macht die Generatoren der
Welt anhalten und als würde die Welt leise zerfallen wie ein Körper, wenn die Seele ihn verlassen hat – da
fingen wir an, über ihn nachzudenken und Fragen über ihn zu stellen, uns selbst und unseren Kollegen, allen, die
ihn das hatten sagen hören. Wir begannen, zu glauben, daß er sein Wort gehalten hatte, daß er, der die Wahrheit
gesehen und gekannt hatte, die zu kennen wir uns weigerten, die Strafe war, die wir auf uns herabgerufen hatten,
der Rächer, der Mann, dessen Gerechtigkeit wir herausgefordert hatten. Wir begannen zu glauben, daß er uns
verdammt hatte und daß es für uns kein Entweichen vor seinem Urteilsspruch gab und wir ihm nie würden
entrinnen können. Und dies war das Furchtbarste, denn er verfolgte uns nicht; wir waren es, die plötzlich nach
ihm suchten, und er war spurlos verschwunden. Nirgends konnte uns jemand die Frage nach ihm beantworten.
Wir fragten uns, durch welche unvorstellbare Macht er das getan haben konnte, was zu tun er versprochen hatte.
Es gab keine Antwort darauf. Jedes Mal, wenn wieder etwas in der Welt zusammenbrach, ohne daß es jemand
erklären konnte, jedes Mal, wenn ein neuer Schlag uns traf, wenn wir eine weitere Hoffnung verloren, wenn wir
uns in diesem toten grauen Nebel gefangen fühlten, der sich über die ganze Erde senkte, mußten wir an ihn
denken. Vielleicht hörten uns andere diese Frage herausschreien und wußten nicht, was wir meinten, aber sie
kannten nur allzugut das Gefühl, das sie uns herausschreien ließ. Auch sie spürten, daß etwas aus der Welt
verschwunden war. Vielleicht begannen sie darum, es zu sagen, jedes Mal wenn sie das Gefühl hatten, es gäbe
keine Hoffnung mehr. Ich möchte so gern glauben, daß ich mich irre. Daß diese Worte nichts bedeuten, daß
hinter dem Auslöschen des Menschengeschlechts keine bewußte Absicht und kein Rächer stehen. Aber jedes
Mal, wenn ich diese Frage höre, erschrecke ich. Ich denke dann an den Mann, der sagte, er würde den Motor der
Welt anhalten. Sein Name war John Galt.«
Sie erwachte, weil das Geräusch der Räder anders klang. Es war ein unregelmäßiges Rattern, mit plötzlichem
Kreischen und lautem, kurzem Quietschen, das an ein hysterisches Kichern erinnerte und dem sich die
ruckweisen Stöße des Wagens anpaßten. Noch ehe sie auf ihre Uhr sah, wußte sie, daß dies die Strecke von
Kansas Western war und daß der Zug den langen Umweg südlich von Kirby in Nebraska begonnen hatte. Der
Zug war halb leer. Nur wenige Menschen hatten gewagt, in dem ersten Comet, der nach der Tunnelkatastrophe
fuhr, den Kontinent zu durchqueren. Sie hatte dem blinden Passagier ein Schlafwagenabteil gegeben und war
dann mit seiner Geschichte allein geblieben. Sie hatte darüber nachdenken und sich all die Fragen überlegen
wollen, die sie ihm morgen stellen würde. Aber ihr Verstand war wie erstarrt, sie kam sich wie der Zuschauer
eines Schauspiels vor, der nichts weiter vermag als zuzusehen. Es war ihr gewesen, als kenne sie die Bedeutung
dieses Schauspiels, kenne sie, ohne weitere Fragen stellen zu müssen, und müsse ihr entrinnen. ‘Bewegen’ war
das Wort, das in ihrem Inneren alles andere verdrängte – ‘bewegen’, als wäre Bewegung ein Zweck in sich
geworden, das Absolute, Entscheidende, zu dem man verdammt war. In ihrem leisen Schlaf war das Rattern der
Räder mit dem Anwachsen ihrer Spannung beständig um die Wette gelaufen. Sie war mehrmals wach geworden,
wie aus grundloser Angst, war im Dunkeln aufgefahren und hatte verwirrt gedacht: Was war das? Dann hatte sie
sich beruhigend gesagt: Wir bewegen uns… wir bewegen uns noch…
Die Strecke von Kansas Western war noch schlechter, als sie erwartet hatte, dachte sie und horchte auf das
Geräusch der Räder. Der Zug trug sie jetzt Hunderte von Meilen von Utah fort. Sie hatte das leidenschaftliche
Verlangen gespürt, auf der Hauptstrecke aus dem Zug auszusteigen, alle Probleme von Taggart Transcontinental
hinter sich zu lassen, ein Flugzeug aufzutreiben und geradewegs zu Quentin Daniels zu fliegen. Es hatte einer
verzweifelten Willensanstrengung bedurft, im Zug zu bleiben.
Sie lag im Dunkel, horchte auf das Geräusch der Räder und dachte, daß nur Daniels und sein Motor noch wie
ein Lichtpunkt vor ihr waren, der sie vorwärts zog. Was konnte der Motor ihr jetzt noch nützen? Sie wußte keine
Antwort darauf. Warum war sie so fest davon überzeugt, daß sie sich beeilen mußte? Auch darauf wußte sie
keine Antwort. Daniels noch rechtzeitig zu erreichen war das einzige Gebot, das noch in ihr war. Sie klammerte
sich daran und stellte keine Fragen. Ohne Worte wußte sie die wirkliche Antwort: Sie brauchte den Motor nicht,
um Züge zu bewegen, sondern damit sie selbst in Bewegung blieb.
Sie konnte in dem unrhythmischen Kreischen des Metalls das laute vierte Klopfen der Räder nicht mehr
hören, sie konnte die Schritte des Feindes nicht mehr hören, mit dem sie um die Wette lief, nur die Panik eines
hoffnungslosen Rettungsversuchs… Ich werde rechtzeitig dort sein, dachte sie. Ich werde als erste dort sein. Ich
werde den Motor retten. Es gibt einen Motor, den er nicht anhalten wird… Er wird ihn nicht anhalten… Er wird
ihn nicht anhalten… Er wird ihn nicht anhalten, dachte sie und erwachte von einem Ruck, bei dem ihr Kopf vom
Kissen hochgeschleudert wurde. Die Räder standen still.
Einen Augenblick lang versuchte sie, die merkwürdige Stille um sich zu begreifen. Es war wie der
unmögliche Versuch, das Nichtexistente sichtbar darzustellen. Alle Attribute der Wirklichkeit fehlten: jeder
Laut, als wäre sie allein in dem Zug; jede Bewegung, als wäre dies nicht ein Zug, sondern ein Zimmer in einem
Gebäude; jedes Licht, als wäre dies weder ein Zug noch ein Zimmer, sondern der leere Raum; jedes Anzeichen
von Gewalt oder Katastrophe, als wäre dies der Zustand, in dem keine Katastrophe mehr möglich war. In dem
Augenblick, in dem ihr klar wurde, was die Stille bedeutete, richtete sich ihr Körper mit einer jähen Bewegung
auf, die so unmittelbar und heftig war wie ein Schrei der Auflehnung. Lautes Quietschen durchschnitt wie ein
Messer das Schweigen, als sie das Rollo vor dem Fenster hochzog. Draußen sah man nichts als die sich weithin
erstreckende Prärie. Ein starker Wind zerriß die Wolken, und ein breiter Strahl des Mondes drang durch sie
hindurch. Aber er fiel in eine Landschaft, die so tot wirkte wie die, aus der er kam.
Mit einer raschen Bewegung drückte sie auf den Lichtknopf und dann auf den Klingelknopf, um den
Zugführer zu rufen. Das elektrische Licht ging an und brachte sie in die reale Welt zurück. Sie sah auf ihre Uhr:
Es war wenige Minuten nach Mitternacht. Sie sah aus dem hinteren Fenster des Wagens: Die Strecke verlief in
einer geraden Linie, und in der vorgeschriebenen Entfernung sah sie die roten Laternen auf dem Boden stehen,
die man gewissenhaft dorthin gestellt hatte, um das Ende des Zuges zu schützen. Der Anblick hatte etwas
Beruhigendes.
Sie drückte noch einmal auf den Klingelknopf. Sie wartete. Dann ging sie in den Vorraum, öffnete die Tür
und lehnte sich hinaus, um am Zug entlangzusehen. In dem langen, sich verjüngenden Stahlband waren ein paar
Fenster erleuchtet, aber sie sah keinen Menschen. Sie schlug die Tür zu, ging in den Wagen zurück und begann,
sich mit plötzlich ruhigen Bewegungen rasch anzuziehen.
Niemand kam auf das Klingeln hin. Als sie durch den nächsten Wagen eilte, spürte sie keine Angst, keine
Unsicherheit, keine Verzweiflung, nur das dringende Verlangen zu handeln. In dem Dienstabteil des nächsten
Wagens war niemand und auch in dem Wagen dahinter nicht. Sie eilte durch die engen Gänge, ohne einer
Menschenseele zu begegnen. Aber die Türen einiger Abteile standen offen. Die Fahrgäste saßen angezogen oder
halb angezogen, stumm und wie wartend da. Sie beobachteten mit seltsam verstohlenen Blicken, wie sie
vorüberlief, als ob sie wüßten, was sie wollte, als ob sie erwartet hätten, daß jemand kam, der dem ins Gesicht
sah, dem sie nicht ins Gesicht gesehen hatten. Sie lief weiter das Rückgrat eines toten Zuges hinunter, wobei ihr
auffiel, daß die Abteile erleuchtet, aber die Gänge trotz offener Türen leer waren. Niemand hatte gewagt
auszusteigen. Niemand hatte als erster Fragen stellen wollen.
Sie lief durch den einzigen Wagen, der kein Schlafwagen war. Einige Reisende schliefen dort in merkwürdig
verrenkter Haltung, während andere wach und still in sich zusammengekauert saßen wie Tiere, die einen Schlag
erwarten, sich aber nicht rühren, um ihm auszuweichen. Im Vorraum dieses Wagens blieb sie stehen. Sie sah
einen Mann, der die Tür geöffnet hatte und sich hinauslehnte. Forschend spähte er durch das Dunkel nach vorn,
bereit auszusteigen. Als er ihre Schritte hörte, drehte er sich um. Sie erkannte sein Gesicht: Es war Owen
Kellogg, der Mann, der ihr Angebot einer Zukunft bei Taggart Transcontinental einst abgelehnt hatte.
»Kellogg!« rief sie mit einem Lachen in ihrer Stimme, das klang, wie wenn ein Mensch erleichtert aufschreit,
der plötzlich in einer Wüste einen anderen erblickt.
»Guten Tag, Miss Taggart«, antwortete er mit einem überraschten Lächeln, aus dem ungläubige Freude und –
Sehnsucht sprachen. »Ich wußte gar nicht, daß Sie in diesem Zug sind.«
»Kommen Sie mit«, sagte sie in befehlendem Ton, als wäre er noch ein Angestellter der Eisenbahn. »Ich
glaube, wir befinden uns in einem ‘eingefrorenen’ Zug.«
»Ja«, sagte er und folgte ihr gehorsam.
Es waren keine Erklärungen notwendig. Es war, als ob sie in unausgesprochenem Verstehen dem Ruf einer
Pflicht folgten. Und es schien ganz natürlich, daß von den Hunderten im Zug sie die beiden waren, die
gemeinsam der Gefahr trotzen mußten.
»Haben Sie eine Ahnung, wie lange wir schon stehen?« fragte sie, als sie durch den nächsten Wagen eilten.
»Nein«, erwiderte er, »als ich aufwachte, standen wir schon.«
Sie gingen durch den ganzen Zug, fanden jedoch keinen Schaffner, keinen Kellner, keinen Zugführer. Immer
wieder sahen sie sich an, sagten aber kein Wort. Sie kannten die Geschichten von im Stich gelassenen Zügen,
von Zugpersonal, das in plötzlicher Auflehnung gegen die Sklaverei verschwunden war.
Als sie die Spitze des Zuges erreicht hatten, stiegen sie aus. Nichts bewegte sich ringsum, nur der Wind wehte
ihnen ins Gesicht, und sie erklommen rasch die Lokomotive. Der Scheinwerfer der Lokomotive brannte und
streckte sich wie ein anklagender Arm in die Leere der Nacht aus.
Im Führerstand war niemand.
Aber der erschreckende Anblick löste in Dagny einen wilden Triumphschrei aus: »Das ist anständig von
ihnen. Sie sind doch noch Menschen!«
Sie hielt bestürzt inne, als hörte sie den Schrei eines Fremden. Sie bemerkte, daß Kellogg sie mit einem leisen
Lächeln neugierig musterte.
Es war eine alte Dampflokomotive, die beste, die die Gesellschaft für den Comet hatte auftreiben können. Die
Glut war mit Asche bedeckt. Das Manometer stand tief, und hinter der großen Windschutzscheibe vor ihnen fiel
der Scheinwerfer auf ein Band von Schwellen, das ihnen hätte entgegenlaufen müssen, aber statt dessen
unbewegt dalag wie eine lange Leiter mit abgezählten und numerierten Sprossen. Sie griff nach dem Dienstplan
und sah die Namen des Personals durch, das zuletzt in diesem Zug eingeteilt gewesen war.
Der Lokomotivführer war Pat Logan gewesen. Ihr Kopf fiel langsam herunter, und sie schloß die Augen. Sie
dachte an die erste Fahrt auf den grünblauen Gleisen, an die Pat Logan in den stummen Stunden seiner letzten
Fahrt ebenso gedacht haben mußte wie sie jetzt.
»Miss Taggart?« sagte Owen Kellogg leise.
Sie hob den Kopf. »Ja«, sagte sie, »Ja…«, ihre farblose Stimme hatte den metallenen Klang der
Entschlossenheit. »Wir werden ein Telefon finden und anderes Personal anfordern müssen.« Sie sah auf ihre
Uhr. »In dem Tempo, in dem wir gefahren sind, werden wir wohl ungefähr achtzig Meilen von der Oklahoma-
Staatslinie entfernt sein. Ich glaube, Bradshaw ist der nächste Bahnhof, den wir anrufen können. Es müssen etwa
dreißig Meilen bis dort sein.«
»Kommen irgendwelche Taggart-Züge hinter uns?«
»Der nächste ist Nr. 253, der transkontinentale Güterzug, aber er wird erst gegen sieben hier sein, wenn er
keine Verspätung hat, was ich bezweifle.«
»Nur ein Güterzug in sieben Stunden?« Die Frage entschlüpfte ihm gegen seinen Willen, aber er sagte die
Worte in einem Ton, der verriet, wie sehr er immer noch an der großen Eisenbahngesellschaft hing, für die er
einmal mit Stolz gearbeitet hatte.
Ein Lächeln zuckte über ihre Lippen. »Unser transkontinentaler Verkehr ist nicht mehr das, was er zu Ihrer
Zeit war.«
Er nickte nachdenklich. »Es kommen wohl auch keine Züge von Kansas Western heute nacht hier durch?«
»Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube nicht.«
Er blickte auf die Telegraphenmasten am Rand der Strecke. »Hoffentlich haben die Kansas -Western-Leute
ihre Telefone noch in Ordnung.«
»Sie meinen, daß das, gemessen an dem Zustand der Strecke, nicht sehr wahrscheinlich ist. Aber wir werden
es versuchen müssen.«
»Ja.«
Sie wandte sich zum Gehen, blieb dann aber stehen. Sie wußte, es war sinnlos, etwas dazu zu sagen, aber
ohne daß sie es wollte, kamen ihr die Worte über die Lippen. »Wissen Sie«, sagte sie, »daß unsere Männer die
roten Laternen hinter den Zug gestellt haben, um uns zu schützen, ist in seiner Bedeutung kaum zu ermessen.
Sie… haben sich mehr Sorgen um das Leben der Menschen gemacht als ihr Land um das ihre.«
Der rasche Blick, den er ihr zuwarf, schien ihre Bemerkung noch zu unterstreichen. Dann antwortete er ernst:
»Ja, Miss Taggart.«
Als sie die Leiter an der Lokomotive hinunterstiegen, sahen sie auf der Strecke eine Gruppe von Fahrgästen
stehen, und aus dem Zug stiegen noch weitere aus, um sich der Gruppe zuzugesellen. Instinktiv erkannte sie, daß
die Menschen, die sie wartend hatte sitzen sehen, wußten, daß jemand die Verantwortung übernommen hatte und
daß man sich jetzt unbesorgt hinauswagen konnte. Sie alle blickten sie mit einer forschenden Miene der
Erwartung an, als sie näher kam. Die unnatürliche Blässe des Mondscheins schien die Unterschiede in den
Gesichtern zu verwischen und das hervorzuheben, was sie alle gemeinsam hatten: einen behutsam prüfenden
Ausdruck, aus dem Furcht, Empörung und Unverschämtheit sprachen.
»Ist hier jemand, der der Sprecher der Fahrgäste sein möchte?« fragte sie.
Sie blickten einander an. Niemand antwortete.
»Nun gut, Sie brauchen nicht zu sprechen. Ich bin Dagny Taggart, die Stellvertretende Vorstands Vorsitzende
dieser Eisenbahn, und…« – ein raschelndes Geräusch, halb Bewegung, halb Flüstern, das einem Stöhnen der
Erleichterung ähnelte, war die Antwort – »…und ich werde sprechen. Wir befinden uns in einem Zug, der von
seinem Personal verlassen worden ist. Es ist kein Unfall passiert. Die Lokomotive ist intakt. Aber es ist niemand
da, der den Zug fahren kann. Es ist das, was die Zeitungen einen ‘eingefrorenen’ Zug nennen. Sie wissen alle,
was es bedeutet, und Sie kennen die Gründe. Vielleicht kannten Sie die Gründe schon längst, ehe die Männer sie
entdeckten, die heute nacht davongelaufen sind. Das Gesetz verbietet Desertion. Aber das nützt jetzt auch
nichts.«
Eine Frau schrie plötzlich mit hysterischer Gereiztheit: »Was werden wir tun?«
Dagny machte eine Pause und sah sie an. Die Frau drängte sich in die Gruppe, um ein paar Menschenleiber
zwischen sich und dem Anblick der großen Leere zu haben, der sich weithin dehnenden und sich im Mondlicht –
dem toten Leuchten ohnmächtiger, entliehener Kraft – auflösenden Ebene. Die Frau hatte einen Mantel über ihr
Nachthemd gezogen. Der Mantel sprang auf, und ihr dicker Bauch zeichnete sich unter dem dünnen Stoff des
Nachthemds ab – mit jener obszönen Schlampigkeit, die annimmt, daß jede menschliche Selbstenthüllung
häßlich ist, und die sich nicht bemüht, das Häßliche zu verbergen. Einen Augenblick lang bedauerte Dagny, daß
sie weitersprechen mußte. »Ich werde die Strecke hinuntergehen müssen, um ein Telefon zu finden«, fuhr sie mit
einer Stimme fort, die so klar und kalt wie das Mondlicht war. »In Abständen von fünf Meilen sind längs der
Gleise Nottelefone. Ich werde neues Zugpersonal anfordern. Es wird einige Zeit dauern, bis es hier ist. Ich bitte
Sie, im Zug zu bleiben und die Ordnung aufrechtzuerhalten, soweit Sie das können.«
»Was ist mit den marodierenden Banden?« fragte eine andere Frau nervös.
»Richtig«, sagte Dagny. »Es ist besser, mich begleitet jemand. Wer will mitgehen?«
Sie hatte die Frage der Frau mißverstanden. Niemand antwortete. Niemand sah sie oder jemand anderen an.
Man sah im Mondschein keine Augen, sondern nur feuchte, glänzende Ovale. Das dort waren, dachte sie, die
Menschen der neuen Zeit, die forderten, daß man sich für sie opferte. In ihrem Schweigen spürte sie Wut – eine
Wut, die sagte, daß sie die Pflicht hatte, ihnen solche Augenblicke zu ersparen. Und aus einem ihr neuen Gefühl
der Grausamkeit blieb sie bewußt eine Weile stumm.
Sie merkte, daß auch Owen Kellogg wartete. Aber er beobachtete nicht die Fahrgäste, sondern Dagnys
Gesicht. Als es ihm zur Gewißheit geworden war, daß niemand aus der Menge antworten würde, sagte er ruhig:
»Ich gehe natürlich mit Ihnen, Miss Taggart.«
»Ich danke Ihnen.«
»Und was wird mit uns?« rief die nervöse Frau.
Dagny wandte sich ihr zu und antwortete im förmlichen, kühlen Ton eines Vorgesetzten: »Es sind bisher
keine Überfälle von Marodeuren auf ‘eingefrorene’ Züge vorgekommen – leider.«
»Wo sind wir eigentlich?« fragte ein untersetzter Mann in einem mehr als teuren Mantel und mit einem mehr
als wabbeligen Gesicht. Seine Stimme hatte den Ton, den jemand, der unfähig zur Personalführung ist,
Bediensteten gegenüber anwendet. »In welchem Teil welchen Staates?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie.
»Wie lange werden wir hier festsitzen?« fragte ein anderer im Ton eines Gläubigers, der einen Schuldner
einschüchtern will.
»Ich weiß es nicht.«
»Wann werden wir in San Francisco sein?« fragte ein dritter wie ein Richter, der mit einem Verdächtigen
spricht.
»Ich weiß es nicht.«
Der fordernde Groll machte sich Luft in einem leisen Knistern, als platzten Kastanien im dunklen Ofen der
Köpfe dieser Menschen auf, die jetzt gewiß waren, daß man sich ihrer annahm.
»Das ist ja einfach empörend«, schrie eine Frau und sprang vor, um Dagny ihre Worte ins Gesicht zu
schleudern. »Sie haben kein Recht, uns das zuzumuten. Ich habe nicht die Absicht, mitten im Niemandsland
warten zu müssen. Ich erwarte, daß der Zug weiterfährt.«
»Halten Sie Ihren Mund«, sagte Dagny, »oder ich schließe die Türen ab und lasse Sie, wo Sie sind.«
»Das können Sie nicht tun! Es ist Ihre Aufgabe, Ihre Fahrgäste zu befördern. Dazu sind Sie da. Sie haben kein
Recht, mich schlecht zu behandeln! Ich werde es dem Amt für Vereinheitlichung melden!«
»Falls ich Ihnen einen Zug zur Verfügung stelle, der Sie zu Ihrem Amt bringt«, sagte Dagny und wandte sich
ab.
Sie bemerkte, daß Kellogg sie ansah. Sein Blick war wie eine Linie, die ihre Worte unterstrich, damit sie
selber sich ihrer bewußt wurde.
»Suchen Sie irgendwo eine Taschenlampe«, sagte sie. »Ich hole währenddessen meine Handtasche, und dann
gehen wir los.«
Als sie sich auf den Weg zum Streckentelefon machten und an der stummen Reihe der Wagen vorübergingen,
sahen sie, wie jemand aus dem Zug ausstieg und ihnen entgegengeeilt kam. Sie erkannte den blinden Passagier.
»Schwierigkeiten?« fragte er und blieb stehen.
»Das Zugpersonal ist ausgerissen.«
»Ach. Was kann man da tun?«
»Ich gehe zu einem Telefon, um den nächsten Bahnhof anzurufen.«
»Sie können nicht allein gehen. Nicht in dieser Zeit. Es ist besser, ich gehe mit.«
Sie lächelte. »Danke schön. Aber es ist nicht nötig. Mr. Kellogg hier begleitet mich. Sagen Sie, wie ist
eigentlich Ihr Name?«
»Jeff Allen.«
»Hören Sie, Allen, haben Sie schon einmal bei einer Eisenbahn gearbeitet?«
»Nein.«
»Jetzt arbeiten Sie bei einer. Sie sind stellvertretender Zugführer und Stellvertreter der Stellvertretenden
Vorstandsvorsitzenden. Es ist Ihre Aufgabe, sich in meiner Abwesenheit um diesen Zug zu kümmern, die
Ordnung aufrechtzuerhalten und dafür zu sorgen, daß die Herde nicht in Panik gerät. Sagen Sie, daß ich Sie
ernannt habe. Sie brauchen keinen Beweis in der Hand zu haben. Die Leute gehorchen jedem, der Gehorsam
erwartet.«
»Jawohl«, antwortete er mit einem verstehenden Blick.
Sie erinnerte sich daran, daß Geld in der Tasche die Macht hatte, das Selbstvertrauen zu stärken. Sie nahm
eine Hundertdollarnote aus ihrer Handtasche und steckte sie ihm in die Hand. »Als Vorschuß«, sagte sie.
»Jawohl.«
Sie ging weiter, als er hinter ihr herrief: »Miss Taggart!«
Sie drehte sich um. »Ja?«
»Ich danke Ihnen«, sagte er.
Sie lächelte, hob kurz die Hand zum Abschiedsgruß und setzte ihren Weg fort.
»Wer ist das?« fragte Kellogg.
»Ein Landstreicher, der als blinder Passagier erwischt wurde.«
»Ich glaube, er kriegt die Sache geregelt.«
»Ganz sicher.«
Sie gingen stumm an der Lokomotive vorüber und weiter in der Richtung, in die das Licht des Scheinwerfers
fiel. Anfangs, als sie von Schwelle zu Schwelle schritten und das grelle Licht von hinten auf sie fiel, war es
ihnen noch, als wären sie zu Hause, in dem normalen Bereich einer Eisenbahn. Dann beobachtete sie das Licht
auf den Schwellen unter ihren Füßen, beobachtete, wie es langsam schwächer wurde, versuchte, es festzuhalten,
weiter den immer mehr verblassenden Schein zu sehen, bis sie merkte, daß es nur noch der Mondschein war, der
auf das Holz fiel. Ein Schauer, gegen den sie sich nicht wehren konnte, ließ sie zurückblicken. Der Scheinwerfer
hing noch hinter ihnen wie die glänzende Silberkugel eines Planeten, täuschend nahe, aber einer anderen Sphäre
und einem anderen System angehörend.
Owen Kellogg ging stumm neben ihr, und sie war gewiß, daß sie das gleiche dachten.
»Er hätte es nicht gekonnt, ach Gott, er hätte es nicht gekonnt«, sagte sie plötzlich, ohne sich bewußt zu
werden, daß sie laut dachte.
»Wer?«
»Nathaniel Taggart. Er hätte nicht mit Leuten wie diesen Fahrgästen arbeiten können. Er hätte keine Züge für
sie fahren lassen können. Er hätte sie nicht anstellen können. Er hätte sie weder als Kunden noch als Arbeiter
brauchen können.«
Kellogg lächelte. »Sie meinen, er hätte nicht dadurch reich werden können, daß er sie sich zunutze machte,
Miss Taggart?«
Sie nickte. »Sie…«, er hörte das leise Zittern ihrer Stimme, in dem Liebe und Schmerz und Empörung
mitschwangen, »sie haben all die Jahre gesagt, er sei dadurch aufgestiegen, daß er andere mit ihren Fähigkeiten
nicht zum Zuge kommen ließ, daß er ihnen keine Chance ließ und daß… jegliches menschliche Unvermögen in
seinem eigennützigen Interesse lag… Aber er… hat keinen Gehorsam von den Menschen gefordert.«
»Miss Taggart«, sagte er in einem seltsam strengen Ton, »vergessen Sie nicht, daß er einen Lebenskodex
repräsentierte, der – für eine kurze Spanne in der Geschichte der Menschheit – die Sklaverei aus der zivilisierten
Welt vertrieb. Denken Sie daran, wenn Sie das Gefühl haben, seine Feinde fallen Ihnen in die Arme.«
»Haben Sie je von einer Frau namens Ivy Starnes gehört?«
»O ja.«
»Ich muß immerzu denken, daß sie dies genossen haben würde – das Schauspiel, das diese Fahrgäste heute
nacht boten. Darauf war sie aus, aber wir – wir können damit nicht leben. Wir, Sie und ich, können es nicht.
Niemand kann es. Es ist nicht möglich, damit zu leben.«
»Wie kommen Sie auf den Gedanken, Ivy Starnes’ Ziel sei Leben?«
Irgendwo tief in ihrem Innern fühlte sie etwas – wie das, was sie am Rande der Prärie sah, und das weder
Lichtstrahlen noch Nebel noch Wolken waren –, das sie nicht fassen konnte, etwas, das undeutlich in ihr rumorte
und verlangte, begriffen zu werden.
Sie sagte kein Wort, und wie die Glieder einer sich in ihrem Schweigen aufrollenden Kette klang der
regelmäßige Rhythmus ihrer Schritte fort, der sich den Abständen zwischen den Schwellen anpaßte und durch
das schnelle, harte Klopfen der Absätze auf Holz unterstrichen wurde.
Sie hatte keine Zeit gehabt, sich über ihn Gedanken zu machen. Sie hatte nur gewußt, daß er ein von der
Vorsehung geschickter Kamerad war, der es an Tüchtigkeit mit ihr aufnehmen konnte. Jetzt sah sie ihn mit
bewußter Aufmerksamkeit an. Sein Gesicht hatte den klaren, harten Ausdruck, der ihr in der Vergangenheit, wie
sie sich erinnerte, so sympathisch gewesen war. Aber das Gesicht war ruhiger geworden, heiterer und friedlicher.
Sein Anzug war abgetragen. Er trug eine alte Lederjacke, und selbst im Dunkeln konnte sie die abgeschabten
Stellen an dem Leder erkennen.
»Was haben Sie gemacht, seit Sie Taggart Transcontinental verlassen haben?« fragte sie.
»Alles mögliche.«
»Wo arbeiten Sie jetzt?«
»Es sind mehr oder weniger Sonderaufgaben.«
»Welcher Art?«
»Jeder Art.«
»Arbeiten Sie nicht für eine Eisenbahn?«
»Nein.«
Dieses knappe Nein klang beredter als eine weitschweifige Erklärung. Sie wußte, daß ihm klar war, warum sie
ihn danach fragte: »Kellogg, wenn ich Ihnen sagen würde, daß ich auf dem ganzen Taggart-Netz keinen einzigen
erstklassigen Mann mehr habe, wenn ich Ihnen jede Stellung, die Sie wollen, zu jeglichen Bedingungen, zu
jedem Gehalt, das Sie mir nennen, anbieten würde – würden Sie dann zu uns zurückkommen?«
»Nein.«
»Sie waren entsetzt über den Rückgang unseres Verkehrs. Ich glaube, Sie haben keine Ahnung, was unser
Verlust an Menschen uns angetan hat. Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich in den letzten drei Tage durchgemacht
habe, um jemand zu finden, der fähig ist, eine fünf Meilen lange Strecke zu bauen. Ich muß eine fünfzig Meilen
lange Strecke durch die Rockies bauen, aber ich weiß nicht, wie ich es fertigbringen soll. Ich habe das Land nach
Männern durchkämmt. Doch es gibt keine. Und dann laufe ich plötzlich Ihnen in die Arme, finde Sie hier in
einem Wagen des Zuges, wo ich das halbe Netz für einen Anges tellten wie Sie hingeben würde. Verstehen Sie,
daß ich Sie da nicht einfach wieder gehen lassen kann? Sagen Sie, was Sie wollen. Möchten Sie Leiter eines
Bezirks werden? Oder Assistent der Stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden?«
»Nein.«
»Sie arbeiten doch wohl noch immer für Ihren Lebensunterhalt?«
»Ja.«
»Sie scheinen nicht sehr viel zu verdienen.«
»Für meine Bedürfnisse reicht es.«
»Warum sind Sie bereit, für jeden anderen, nur nicht für Taggart Transcontinental zu arbeiten?«
»Weil Sie mir nicht den Job geben würden, den ich haben möchte.«
»Ich?« Sie blieb stehen. »Großer Gott, Kellogg – haben Sie denn nicht verstanden? Ich würde Ihnen jeden Job
geben, den Sie nennen.«
»Gut: Hilfsarbeiter.«
»Was?«
»Handlanger. Reiniger.« Er lächelte über das Gesicht, das sie machte. »Nein? Sehen Sie, ich habe ja gesagt,
Sie würden mir den Job nicht geben.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie Tagelöhner werden möchten?«
»Jederzeit, wenn Sie es mir anbieten.«
»Aber nichts Besseres?«
»Nein, nichts Besseres.«
»Verstehen Sie nicht, daß ich nur allzu viele Leute habe, die solche Arbeiten verrichten können, aber keine
anspruchsvolleren.«
»Ich verstehe es, Miss Taggart. Verstehen Sie es?«
»Was ich brauche, ist Ihr…«
»…Verstand, Miss Taggart? Mein Verstand ist nicht mehr auf dem Markt.«
Sie blickte ihn an, und ihr Gesicht wurde härter. »Sie sind einer von ihnen, nicht wahr?« sagte sie schließlich.
»Von welchen?«
Sie antwortete nicht, zuckte die Achseln und ging weiter.
»Miss Taggart«, fragte er, »wie lange wollen Sie dazu da sein, Ihre Fahrgäste zu befördern?«
»Ich werde die Welt nicht der Kreatur ausliefern, die Sie zitieren.«
»Die Antwort, die Sie der Frau gegeben haben, war realistischer.«
Sie hatten ihren Weg lange, wortlose Minuten fortgesetzt, bevor sie fragte: »Warum haben Sie mir heute
nacht beigestanden? Warum wollten Sie mir helfen?«
Ungezwungen, fast fröhlich, antwortete er: »Weil kein Fahrgast in dem Zug ist, der dringender an sein Ziel
kommen muß als ich. Wenn der Zug wieder weiterfahren kann, hat niemand größeren Nutzen davon als ich. Und
wenn ich etwas brauche, sitze ich nicht herum und warte – wie Ihre Kreatur – darauf, daß man mich befördert.«
»Das tun Sie nicht? Und wenn keine Züge mehr fahren würden?«
»Dann würde ich nicht darauf rechnen, wichtige Reisen mit der Bahn machen zu können.«
»Wohin wollen Sie?«
»In den Westen.«
»Mit einer Sonderaufgabe?«
»Nein. Für einen Monat Urlaub mit ein paar Freunden.«
»Urlaub? Und das ist so wichtig für Sie?«
»Wichtiger als alles auf der Welt.«
Sie waren zwei Meilen gegangen, als sie an einem Pfahl neben der Strecke einen kleinen grauen Kasten
erreichten: das Nottelefon. Der Kasten, von vielen Stürmen gepeitscht, hing schief. Sie riß ihn auf. Das Telefon
war da – ein vertrauter beruhigender Gegenstand, der im Licht von Kelloggs Taschenlampe glänzte; aber in dem
Augenblick, in dem sie den Hörer ans Ohr preßte, wußte sie, und als er sah, wie ihre Finger auf die Gabel
schlugen, wußte er, daß das Telefon tot war.
Ohne ein Wort reichte sie ihm den Hörer. Sie hielt die Taschenlampe, während er sich rasch an dem Apparat
zu schaffen machte, ihn dann aus der Wand riß und die Drähte prüfte.
»Die Drähte sind in Ordnung«, sagte er. »Sie haben Strom. Nur der Apparat funktioniert nicht. Aber vielleicht
ist der nächste in Ordnung. Der nächste ist fünf Meilen entfernt«, fügte er hinzu. »Es wird uns nichts anderes
übrigbleiben, als weiterzugehen.«
Weit hinter ihnen war der Scheinwerfer der Lokomotive noch sichtbar. Es war kein Planet mehr, sondern ein
winziger Stern, der im Nebel der Ferne leuchtete. Vor ihnen erstreckten sich die Gleise in einen bläulichen
Raum, und nichts kennzeichnete ihr Ende.
Sie wurde sich bewußt, wie oft sie sich zu dem Scheinwerfer umgedreht hatte. Solange er in Sicht blieb, kam
es ihr vor, als ob eine Rettungsleine sie festhielte, so daß ihnen nichts geschehen konnte. Jetzt mußten sie sie
zerreißen und… von dem Planeten abspringen, dachte sie. Sie bemerkte, daß auch Kellogg sich zu dem
Scheinwerfer umdrehte.
Sie sahen einander an, sagten aber nichts. Das Knirschen eines Kiesels unter ihrer Schuhsohle hallte wie der
Knall eines Feuerwerkskörpers in die Stille. Mit einer kalt bewußten Bewegung trat er gegen den Telefonapparat
und stieß ihn in den Graben: Der Lärm zerriß die Leere.
»Der verdammte Hund«, sagte er ruhig, ohne die Stimme zu erheben, mit einem Ekel, der bar jeden Gefühls
war. »Er hatte wahrscheinlich keine Lust, sich um seine Arbeit zu kümmern, und weil er seine Lohntüte braucht,
hat niemand das Recht zu verlangen, daß er die Telefone in Ordnung hält.«
»Gehen wir weiter«, sagte sie.
»Wir können uns etwas ausruhen, wenn Sie müde sind, Miss Taggart.«
»Ich bin nicht müde. Wir haben keine Zeit, müde zu sein.«
»Das ist unser großer Irrtum, Miss Taggart. Wir sollten uns Zeit nehmen.«
Sie lachte kurz auf und setzte ihren Fuß, statt zu antworten, energisch auf die nächste Schwelle. Sie gingen
weiter. Es war mühsam, auf den Schwellen zu gehen. Aber als sie versuchten, neben den Gleisen zu gehen,
merkten sie, daß das noch mühsamer war. Der Boden, halb Sand, halb Staub, gab unter ihren Absätzen nach wie
eine weiche, widerstandslose Substanz, die weder flüssig noch fest war. Sie gingen von neuem von Schwelle zu
Schwelle, und es war fast, als gingen sie durch einen Fluß von einem Baumstamm zum anderen.
Sie dachte, was für eine riesige Entfernung fünf Meilen plötzlich geworden waren und daß ein dreißig Meilen
entfernter Bahnhof jetzt unerreichbar war – nach einer Ära, in der Menschen, die in Tausenden von Meilen
dachten, transkontinentale Strecken gebaut hatten. Dieses Netz aus Schienen und Lichtern, das sich von Ozean
zu Ozean erstreckte, hing jetzt an einem gerissenen Draht, an einer unterbrochenen Verbindung in einem
verrosteten Telefon – nein, dachte sie, an etwas viel Mächtigerem und viel Empfindlicherem. Es hing an den
Gedankenverbindungen in den Köpfen der Menschen, die wußten, daß die Existenz eines Drahts, eines Zuges,
eines Berufs, ihrer selbst und ihrer Handlungen ein Absolutes war, dem man nicht entrinnen konnte. Wenn es
solche Köpfe nicht mehr gab, war ein Zweitausendtonnen-Zug von den Muskeln ihrer Beine abhängig. Müde?
dachte sie. Selbst die Anstrengung des Gehens war ein Stück Wirklichkeit in der Stille ringsum. Das Gefühl der
Anstrengung war ein besonderes Erlebnis, es war Schmerz und konnte nichts anderes sein – inmitten eines
Raumes, der weder hell noch dunkel war, eines Bodens, der weder nachgab noch widerstand, eines Nebels, der
sich weder bewegte noch still hing. Ihrer beider Anstrengung war der einzige Beweis ihrer Bewegung: Nichts
veränderte sich in der Leere um sie, nichts nahm Gestalt an, um ihr Weiterschreiten zu kennzeichnen. Sie hatte
sich in ungläubiger Verachtung über die Sekten gewundert, die die Vernichtung des Universums als das zu
erstrebende Ideal predigten. Dort, dachte sie, war ihre Welt und der verwirklichte Inhalt ihres Denkens.
Als das grüne Licht eines Signals neben der Strecke auftauchte, war es für sie ein Punkt, den sie erreichen und
hinter sich lassen mußten; aber unvereinbar mit der flutenden Auflösung ringsum, brachte es ihnen kein Gefühl
der Erleichterung. Es schien aus einer längst erloschenen Welt zu kommen, wie jene Sterne, deren Licht bleibt,
nachdem sie erkaltet sind. Der grüne Kreis leuchtete im Raum, kündete eine freie Strecke an, forderte zur
Bewegung auf, wo es nichts mehr zu bewegen gab. Wer war jener Philosoph, dachte sie, der verkündet hatte, daß
es Bewegung ohne Entitäten gibt, die sich bewegen? Dies war auch seine Welt. Sie merkte, wie sie sich immer
mühsamer vorwärtsschleppte, wie gegen einen Widerstand, der nicht Druck, sondern Sog war. Ihr Blick
wanderte zu Kellogg und sie bemerkte, daß auch er wie ein Mensch ging, der gegen einen Sturm ankämpft. Es
kam ihr vor, als wären sie beide die einzigen Überlebenden der Wirklichkeit – zwei einsame Gestalten, die sich
nicht durch einen Sturm kämpften, sondern durch etwas Schlimmeres: durch die Nicht-Existenz.
Es war Kellogg, der nach einer Weile zurückblickte, und sie folgte seinem Blick: Kein Scheinwerfer war
mehr hinter ihnen. Sie blieben nicht stehen. Den Blick geradeaus, griff er abwesend in seine Tasche. Sie war
sicher, daß es eine unwillkürliche Bewegung war. Er zog ein Päckchen Zigaretten heraus und hielt es ihr hin.
Sie war nahe daran, eine Zigarette zu nehmen – dann ergriff sie plötzlich sein Handgelenk und riß ihm das
Päckchen aus der Hand. Es war eine schneeweiße Packung, die als einzigen Aufdruck das Dollarzeichen hatte.
»Geben Sie mir die Taschenlampe«, befahl sie und blieb stehen. Er blieb gehorsam stehen und beleuchtete mit
seiner Taschenlampe das Päckchen in ihrer Hand. Sie fing seinen Blick auf. Es war ein leicht erstaunter und sehr
belustigter Blick.
Auf der Packung war kein Firmenname, keine Adresse, nur das in Gold geprägte Dollarzeichen. Auf den
Zigaretten war das gleiche Zeichen.
»Woher haben Sie das?« fragte sie.
Er lächelte: »Wenn Sie so viel wissen, daß Sie das fragen, Miss Taggart, dann müßten Sie auch wissen, daß
ich darauf nicht antworten werde.«
»Ich weiß, daß es etwas bedeutet.«
»Das Dollarzeichen? Es bedeutet sehr viel. Es steht immer auf den Jacken der fetten, schweineähnlichen
Gestalten, die in Karikaturen Gauner, Schwindler, Schurken kennzeichnen sollen – als das unauslöschliche
Brandmal des Bösen. Es symbolisiert als das Geld eines freien Landes Leistung, Erfolg, Kompetenz, die
schöpferische Kraft des Menschen. Und genau aus diesem Grunde wird es als Brandmal der Schande benutzt. Es
steht auf der Stirn eines Mannes wie Hank Rearden als Zeichen der Verdammung. Wissen Sie übrigens, was das
Zeichen bedeutet? Es stellt die Initialen der Vereinigten Staaten dar.«
Er knipste die Taschenlampe aus, aber er rührte sich nicht von der Stelle; sie konnte in seinem Gesicht den
Anflug eines bitteren Lächelns sehen.
»Wußten Sie, daß die Vereinigten Staaten das einzige Land in der Geschichte sind, das sein eigenes
Monogramm als Symbol der Verderbtheit benutzt? Fragen Sie sich selber, warum. Fragen Sie sich, wie lange ein
Land, das so etwas tat, zu bestehen hoffen konnte und wessen moralische Maßstäbe es zerstört haben. Es war das
einzige Land in der Geschichte, in dem der Reichtum nicht durch Raub, sondern durch Arbeit erworben wurde,
nicht durch Gewalt, sondern durch Handel, das einzige Land, dessen Geld das Symbol des Rechts des Menschen
auf seinen Verstand, auf seine Arbeit, sein Leben, sein Glück, auf sich selbst war. Wenn das nach den heutigen
Maßstäben der Welt böse ist, wenn das der Grund ist, uns zu verdammen, dann nehmen wir – wir, die
Dollarjäger und Dollarmacher – es hin und sind bereit, uns von dieser Welt verdammen zu lassen. Wir tragen das
Dollarzeichen stolz auf der Stirn als Kennzeichen unseres Adels – das Kennzeichen, für das zu leben und, wenn
es sein muß, zu sterben wir bereit sind.«
Er streckte seine Hand nach dem Päckchen aus. Sie hielt es fest, als ob ihre Finger es nicht hergeben wollten,
aber dann legte sie es ihm doch auf die Handfläche. Betont langsam, als wollte er damit die Bedeutung dieser
Geste unterstreichen, bot er ihr eine Zigarette an. Sie nahm sie und steckte sie zwischen die Lippen. Er nahm
selber eine, zündete ein Streichholz an, gab ihnen beiden Feuer, und sie gingen weiter.
Sie gingen über verfaulende Schwellen, die widerstandslos in den nachgebenden Boden sanken, im weiten
fließenden Lichtkreis des Mondes und in wallendem Nebel. Sie hielten zwei brennende Feuerpunkte in ihren
Händen, die immer wieder zu zwei kleinen Kreisen aufglühten und ihre Gesichter erhellten.
»Feuer, eine gefährliche Kraft, in seinen Fingerspitzen gezähmt…« hörte sie den alten Mann sagen, den alten
Mann, der gesagt hatte, daß diese Zigaretten nirgendwo auf der Erde hergestellt würden. »Wenn ein Mensch
denkt, dann ist ein Funken Feuer in seinem Geist, und das Glimmen seiner Zigarette ist darum sozusagen das
Symb ol seines Denkens.«
»Ich wünschte, Sie würden mir sagen, wer sie herstellt«, sagte sie in einem hoffnungslos bittenden Ton.
Er lächelte gutmütig. »Ich kann Ihnen nur sagen, sie werden von einem Freund von mir hergestellt, aber – da
er nicht dazu da ist, Fahrgäste zu befördern, verkauft er sie nur an seine Freunde.«
»Würden Sie mir diese Packung verkaufen?«
»Ich glaube, Sie werden sie nicht bezahlen können, Miss Taggart, aber wenn Sie es durchaus wollen…«
»Was kostet sie?«
»Fünf Cent.«
»Fünf Cent«, wiederholte sie verblüfft.
»Fünf Cent«, sagte er und fügte hinzu: »In Gold.«
Sie blieb stehen und starrte ihn an. »In Gold?«
»Ja, Miss Taggart.«
»Okay, wie ist Ihr Wechselkurs? Wieviel ist es in unserem Geld?«
»Es gibt keinen Wechselkurs, Miss Taggart. Kein Betrag in materieller oder – geistiger – Währung, deren
Kurswert von Mr. Wesley Mouch festgesetzt wird, reicht aus, um diese Zigaretten zu kaufen.«
»Ich verstehe.«
Er griff in seine Tasche, zog das Päckchen heraus und reichte es ihr. »Ich schenke es Ihnen, Miss Taggart«,
sagte er, »weil Sie es überreichlich verdient haben – und weil Sie es für den gleichen Zweck brauchen wie wir.«
»Für welchen Zweck?«
»Uns – in Augenblicken der Entmutigung, in der Einsamkeit der Verbannung – an unsere wahre Heimat zu
erinnern, die auch immer die Ihre gewesen ist, Miss Taggart.«
»Ich danke Ihnen«, sagte sie. Sie steckte die Zigaretten in ihre Tasche; er sah, daß ihre Hand zitterte.
Als sie den vierten der fünf Meilenpfosten erreichten, hatten sie eine lange Weile geschwiegen, weil sie ihre
ganze Kraft brauchten, um ihre Füße weiterzubewegen. Weit vor sich sahen sie einen Lichtpunkt, der zu niedrig
am Horizont stand und zu grell war, um ein Stern sein zu können. Während sie gingen, beobachteten sie ihn
immer wieder, sagten aber nichts, bis sie wußten, daß es ein inmitten der leeren Wüste helleuchtender
Signalturm war. »Was ist das?« fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Es sieht aus wie…«
»Nein«, unterbrach sie ihn hastig, »das kann nicht sein. Nicht in dieser Gegend.« Sie wollte nicht, daß er das
mit Namen nannte, was sie seit vielen Minuten gehofft hatte. Sie durfte nicht daran denken, sie durfte sich nicht
bewußt machen, daß der Gedanke eine Hoffnung war.
Sie fanden den Telefonapparat an dem fünften Meilenpfosten. Das Signallicht hing wie ein grelles kaltes
Feuer kaum eine halbe Meile weiter südlich.
Das Telefon funktionierte. Sie hörte das Summen der Leitung wie den Atem eines lebenden Wesens, als sie
den Hörer abnahm. Dann meldete sich eine schleppende Stimme: »Jessup in Bradshaw.« Die Stimme klang
schläfrig.
»Hier spricht Dagny Taggart von…«
»Wer?«
»Dagny Taggart von Taggart Transcontinental…«
»Ach… ach ja… Ich verstehe… Ja?«
»Ich spreche vom Telefon Nr. 83 an Ihrer Strecke. Der Comet liegt sieben Meilen nördlich von hier fest. Das
Zugpersonal ist abgehauen.«
Ein kurzes Schweigen folgte, dann sagte der Mann: »Was soll ich da tun?«
Sie schwieg ebenfalls einen Augenblick, weil sie es einfach nicht glauben konnte. »Sind Sie der Zugabfertiger
vom Nachtdienst?«
»Ja.«
»Dann schicken Sie uns sofort anderes Zugpersonal.«
»Das vollzählige Personal für einen Zug?«
»Ja, natürlich.«
»Jetzt?«
»Ja.«
Wieder ein Schweigen. »Die Vorschriften sagen nichts darüber.«
»Geben Sie mir den Stationsvorsteher«, sagte sie mühsam.
»Er ist auf Urlaub.«
»Geben Sie mir den Bezirksleiter.«
»Er ist für ein paar Tage nach Laurel gefahren.«
»Geben Sie mir den Vertreter des Stationsvorstehers.«
»Das bin ich.«
»Hören Sie«, sagte sie langsam, sich zur Geduld zwingend, »verstehen Sie, daß da ein Zug, ein Schnellzug,
vom Personal verlassen inmitten der Prärie steht?«
»Ja. Aber woher soll ich wissen, was ich da tun soll? In den Vorschriften steht nichts darüber. Wenn Sie einen
Unfall hätten, würden wir den Hilfszug schicken. Aber wenn es kein Unfall ist… Den Hilfszug brauchen Sie
doch wohl nicht?«
»Nein, den Hilfszug brauchen wir nicht. Wir brauchen Personal. Verstehen Sie, Personal, damit der Zug
weiterfahren kann!«
»Die Vorschriften sagen nichts über Züge ohne Personal oder über Personal ohne Zug. Es gibt keine
Vorschrift, mitten in der Nacht das Personal für einen Zug zusammenzutrommeln und es auf die Jagd nach
einem Zug zu schicken, der irgendwo steht. Ich habe so etwas noch nie gehört.«
»Sie hören es jetzt. Wissen Sie nicht, was Sie zu tun haben?«
»Woher soll ich es wissen?«
»Wissen Sie, daß es Ihre Aufgabe ist, den Zugverkehr aufrechtzuerhalten?«
»Meine Aufgabe ist es, die Vorschriften zu befolgen. Wenn ich Zugpersonal schicke und es eigentlich gar
nicht darf, dann weiß Gott allein, was geschehen wird. Wie kann ich das auf meine Kappe nehmen, bei all den
Vorschriften heutzutage und wo es das Amt für Vereinheitlichung gibt?«
»Und was wird geschehen, wenn Sie einen auf der Strecke festliegenden Zug einfach stehenlassen?«
»Das ist nicht meine Schuld. Ich habe nichts damit zu tun. Man kann mir da keine Vorwürfe machen. Ich
kann nichts dafür.«
»Aber Sie müssen jetzt helfen.«
»Niemand hat mir das gesagt.«
»Ich sage es Ihnen.«
»Wie soll ich wissen, ob Sie berechtigt sind, mir das zu sagen oder nicht? Es ist nicht unsere Aufgabe,
Taggart-Züge mit Personal zu versorgen. Sie müssen die Züge mit Ihrem eigenen Personal fahren lassen. So hat
man es mir gesagt.«
»Aber dies ist ein Notstand.«
»Niemand hat mir etwas von einem Notstand gesagt.«
Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu beherrschen. Sie sah, wie Kellogg sie mit einem bitter heiteren
Lächeln beobachtete.
»Hören Sie«, sagte sie in das Telefon, »wissen Sie, daß der Comet vor über drei Stunden in Bradshaw hätte
sein müssen?«
»Ja, gewiß. Aber deswegen werde ich keinen Ärger bekommen. Heutzutage fährt kein Zug mehr
fahrplanmäßig.«
»Wollen Sie, daß wir Ihre Strecke für immer blockieren?«
»Der nächste Zug, der hier durchkommt, ist der Zug Nr. 4, der in nördlicher Richtung um acht Uhr
siebenunddreißig in Laurel abfährt. Sie können bis dahin warten. Der Zugabfertiger vom Tagesdienst wird dann
da sein. Sie können mit ihm sprechen.«
»Sie elender Idiot! Dies ist der Comet!«
»Was interessiert mich das? Dies ist nicht Taggart Transcontinental. Sie erwarten eine Menge für Ihr Geld.
Sie machen uns nur Scherereien mit all der Extraarbeit für die kleinen Leute, die keinen Extralohn bekommen.«
Seine Stimme wurde winselnd und dreist zugleich. »Sie können nicht so zu mir sprechen. Die Zeiten sind
vorüber, in denen Sie zu Leuten so sprechen konnten.«
Sie hatte nie geglaubt, daß es Menschen gab, bei denen eine gewisse Methode wirkte, die sie nie angewendet
hatte. Solche Männer wurden von Taggart Transcontinental nicht angestellt, und sie war nie zuvor gezwungen
gewesen, mit ihnen zusammenzuarbeiten.
»Wissen Sie, wer ich bin?« fragte sie im kalten, herrischen Ton einer Drohung.
Es wirkte. »Ich… ich glaube, ja«, antwortete er.
»Dann lassen Sie sich sagen, wenn Sie nicht sofort Zugpersonal schicken, verlieren Sie Ihren Job eine Stunde,
nachdem ich in Bradshaw bin – wohin ich früher oder später kommen werde. Sorgen Sie lieber dafür, daß ich
möglichst früh dorthin komme.«
»Jawohl«, sagte er.
»Fordern Sie vollzähliges Zugpersonal an, und geben Sie den Männern die Anweisung, uns nach Laurel zu
fahren, wo wir unsere eigenen Männer haben.«
»Jawohl. Aber würden Sie bitte der Verwaltung mitteilen, daß Sie mich dazu veranlaßt haben?«
»Das werde ich tun.«
»Und daß Sie die Verantwortung dafür tragen?«
»Ich trage sie.«
Es gab ein Schweigen, dann fragte er hilflos: »Aber wie soll ich jetzt die Männer herbeirufen? Die meisten
von ihnen haben kein Telefon.«
»Haben Sie keinen Boten?«
»Doch. Aber er kommt erst am Morgen.«
»Ist im Augenblick sonst niemand dort?«
»Der Putzer im Lokomotivschuppen.«
»Dann soll er die Männer holen.«
»Jawohl. Bleiben Sie bitte am Apparat.«
Sie lehnte sich an den Telefonkasten, um zu warten. Kellogg lächelte.
»Und mit so jemand wollen Sie eine Eisenbahn – eine transkontinentale Eisenbahn – in Gang halten?« fragte
er.
Sie zuckte die Achseln.
Sie konnte ihre Augen nicht von dem Signalturm losreißen. Er schien so nah, so leicht zu erreichen. Es war
ihr, als ob der uneingestandene Gedanke wild gegen sie kämpfte und als ob sie die Stimmen dieses Kampfes in
ihrem Inneren hörte: Ein Mann, der fähig ist, eine noch unerschlossene Energiequelle nutzbar zu machen, ein
Mann, der an einem Motor arbeitet, der alle anderen Motoren nutzlos macht… Sie konnte mit ihm sprechen, mit
diesem großen Intellekt, in wenigen Stunden… in nur wenigen Stunden… Vielleicht war es gar nicht nötig, zu
ihm zu eilen… Es war das, was sie tun wollte… Es war das einzige, was sie tun wollte… Ihre Arbeit? Was war
ihre Arbeit: etwas zu tun, bei dem sie ihren Verstand voll und ganz einsetzen konnte? Oder den Rest ihres
Lebens damit zu verbringen, für unfähige Zugabfertiger zu denken? Warum hatte sie arbeiten wollen? Um das zu
bleiben, als was sie begonnen hatte: Nachttelefonistin in Rockdale? Oder noch darunter? Sie war besser gewesen
als dieser Zugabfertiger, selbst in Rockdale! Sollte dies die Endsumme sein: ein Ende, das weniger war als der
Anfang?… Es gab keinen Grund zur Eile? Sie war der Grund… Die Leute brauchten Züge, aber nicht den
Motor? Sie brauchte den Motor… Ihre Pflicht? Gegen wen?
Es dauerte lange, bis sich der Zugabfertiger wieder meldete. Seine Stimme klang mürrisch: »Der Putzer sagt,
er kann die Männer holen. Aber es hat gar keinen Zweck. Wie kriege ich sie zu Ihnen? Wir haben keine
Lokomotive.«
»Keine Lokomotive?«
»Nein. Der Bezirksleiter brauchte eine, um nach Laurel zu fahren, und die anderen sind in den Werkstätten.
Sie sind schon wochenlang dort, und die Rangierlokomotive ist heute früh entgleist. Die Reparatur wird bis
morgen nachmittag dauern.«
»Was ist mit der Lokomotive des Hilfszugs, den Sie uns schicken wollten?«
»Ach, die ist im Norden. Dort war gestern ein Unfall. Sie ist noch nicht wieder zurück.«
»Haben Sie einen Dieselwagen?«
»So etwas haben wir noch nie besessen. Das gibt es hier nirgends.«
»Haben Sie eine Draisine?«
»Die haben wir.«
»Schicken Sie sie auf der Draisine.«
»Jawohl.«
»Sagen Sie den Männern, sie sollen hier am Streckentelefon Nr. 83 anhalten, um mich und Mr. Kellogg
mitzunehmen.« Sie blickte auf den Signalturm.
»Jawohl.«
»Rufen Sie den Taggart-Wagenmeister in Laurel an. Setzen Sie ihn von der Verspätung des Comet in
Kenntnis und erklären Sie ihm, was geschehen ist.« Sie steckte ihre Hand in die Tasche, und plötzlich ergriffen
ihre Finger etwas. Sie fühlte die Zigarettenpackung. »Sagen Sie«, fragte sie, »was ist das für ein Signalturm,
etwa eine halbe Meile von hier?«
»Von da, wo Sie sind? Ach, das muß der Notlandeplatz der Flagship-Airlines sein.«
»Aha… Das ist alles. Sorgen Sie dafür, daß Ihre Männer sofort abfahren. Sagen Sie ihnen, sie sollen Mr.
Kellogg am Streckentelefon Nr. 83 mitnehmen.«
»Jawohl.«
Sie hängte ein. Kellogg grinste.
»Das ist ein Flugplatz, nicht wahr?« fragte er.
»Ja.« Sie blickte auf das Licht, und ihre Hand umklammerte immer noch das Zigarettenpäckchen in ihrer
Tasche.
»Die Leute werden also Mr. Kellogg mitnehmen?«
Sie drehte sich zu ihm um. Es wurde ihr plötzlich bewußt, welchen Entschluß sie unbewußt gefaßt hatte.
»Nein«, sagte sie. »Nein, ich hatte nicht vor, Sie hier zu verlassen… Nur, ich habe auch etwas Wichtiges im
Westen zu erledigen und müßte möglichst schnell dort sein, und darum dachte ich, ich versuche, ein Flugzeug zu
bekommen. Aber ich kann es nicht, und es ist auch nicht notwendig.«
»Kommen Sie«, sagte er und setzte sich in Richtung des Flughafens in Bewegung.
»Aber ich… «
»Wenn da etwas ist, das Sie lieber tun möchten, als sich dieser Schwachköpfe anzunehmen – dann tun Sie
es.«
»Es ist dringender als alles in der Welt«, flüsterte sie.
»Ich werde Sie vertreten und den Comet Ihrem Mann in Laurel übergeben.«
»Ich danke Ihnen… aber wenn Sie hoffen… Ich desertiere nicht.«
»Ich weiß.«
»Warum sind Sie dann so darauf bedacht, mir zu helfen?«
»Ich möchte nur, daß Sie einmal erleben, wie es ist, wenn man das tut, was man möchte.«
»Es ist wenig wahrscheinlich, daß auf dem Flugplatz eine Maschine steht.«
»Doch, ich bin fest davon überzeugt.«
Am Rande des Flugplatzes standen zwei Maschinen: die eine… die halb verkohlten Trümmer eines Wracks,
das es sich nicht einmal mehr auszuweiden lohnte – die andere… ein fabrikneuer Dwight-Sanders-Eindecker, ein
Flugzeugtyp, den man im ganzen Land vergeblich suchte.
Auf dem Flugplatz war ein schläfriger Wächter, ein junger untersetzter Mann, der trotz seiner ein wenig nach
College riechenden Redeweise ein geistiger Verwandter des Zugabfertigers in Bradshaw war. Er wußte nichts
von den beiden Flugzeugen: Sie waren schon dort gewesen, als er vor einem Jahr seine Stellung angetreten hatte.
Er hatte sich nie nach ihnen erkundigt, auch niemand anders hatte es getan. In dem langsamen Dahinsiechen der
fernen Verwaltung, in der allmählichen Auflösung einer großen Fluggesellschaft hatte man den Sanders-
Eindecker vergessen, wie man so etwas überall vergaß, wie das Modell des Motors in einem Abfallhaufen
vergessen worden war und, obwohl es dort sichtbar lag, weder den Erben noch denen, die nach ihnen die Firma
übernommen hatten, etwas gesagt hatte…
Es gab keine Vorschriften, die dem jungen Wächter sagten, ob er das Flugzeug behalten mußte oder nicht. Die
Entscheidung wurde für ihn durch das sichere Auftreten der beiden Fremden gefällt: durch ein Papier, das die
Dame als Miss Dagny Taggart, Stellvertretende Vorstandsvorsitzende einer Eisenbahngesellschaft, auswies;
durch kurze Andeutungen auf eine geheime dringende Mission, die ihm nach Washington klang; durch die
Erwähnung einer Vereinbarung mit den Leitern der Fluggesellschaft in New York, deren Namen er nie zuvor
gehört hatte; durch einen Scheck über fünfzehntausend Dollar mit der Unterschrift von Miss Taggart als Pfand
für die Rückkehr des Sanders-Flugzeugs und durch einen anderen Scheck über zweihundert Dollar als Lohn für
sein persönliches Entgegenkommen.
Er tankte das Flugzeug, überprüfte es, so gut er konnte, fand eine Karte der Flughäfen des Landes – und sie
sah, daß ein Landeplatz in den Außenbezirken von Afton, Utah, als noch in Betrieb darauf gekennzeichnet war.
Sie war zu erregt, zu geschäftig gewesen, um etwas zu fühlen, aber im letzten Augenblick, als der Wächter die
Scheinwerfer anschaltete, als sie schon im Begriff war, das Flugzeug zu besteigen, hielt sie inne, um in die Leere
des Himmels und dann zu Owen Kellogg hin zu sehen. Er stand allein in dem weißen Glanz, stand mit
gespreizten Beinen fest auf einer Insel aus Beton in einem Kreis blendender Lichter, hinter denen nichts war als
pechschwarze Nacht – und sie fragte sich, wer von ihnen beiden das größere Risiko auf sich nahm und der
hoffnungsloseren Leere ins Auge sah.
»Falls mir etwas passiert«, sagte sie, »sagen Sie bitte Eddie Willers in meinem Büro, er soll Jeff Allen eine
Stellung geben, wie ich es ihm versprochen habe.«
»Ja… Ist das alles, was ich tun soll – falls etwas passiert?«
Sie dachte nach und lächelte traurig, erstaunt darüber, daß es alles war. »Ja, das ist wohl alles… nur sagen Sie
noch Hank Rearden, was geschehen ist, und daß ich Sie gebeten habe, es ihm mitzuteilen.«
»Ich werde es tun.«
Sie hob den Kopf und sagte fest: »Ich erwarte dennoch nicht, daß etwas passiert. Wenn Sie nach Laurel
kommen, rufen Sie Winston in Colorado an und sagen Sie, daß ich morgen mittag da sein werde.«
»Ja, Miss Taggart.«
Sie wollte ihm die Hand zum Abschied reichen, aber das schien ihr unpassend, und dann erinnerte sie sich an
das, was er über Zeiten der Einsamkeit gesagt hatte. Sie nahm die Zigarettenpackung heraus und bot ihm stumm
eine seiner eigenen Zigaretten an. Sein Lächeln verriet deutlich, daß er es verstand, und die kleine Flamme seines
Streichholzes, das ihre beiden Zigaretten anzündete, war wie ein sehr langes Händeschütteln.
Darauf kletterte sie an Bord – und was ihr dann bewußt war, war keine Folge einzelner Augenblicke und
Bewegungen, sondern ein einziger Augenblick und eine einzige Bewegung, ein Fortschreiten, das ein Ganzes
bildete wie die Noten eines Musikstücks: von der Berührung des Starters durch ihre Hand – zu dem Dröhnen des
Motors, das wie ein Bergrutsch jede Verbindung mit der Zeit hinter ihr abschnitt – zu dem Propeller, der sich zu
drehen begann und in einem zarten Sprühen wirbelnder Luft verschwand – bis zum Start auf der Rollbahn – zu
der kurzen Pause – dann zu dem Vorwärtsschnellen – zu der langen, gefährlichen Fahrt, der sich kein Hindernis
in den Weg stellen durfte, der geradlinigen Fahrt, die die Kraft dadurch sammelt, daß sie zu einer immer härteren
und sich immer mehr steigernden Anstrengung ansetzt, der geraden Linie zu einem Ziel – zu dem unbemerkten
Augenblick, da die Erde allmählich versinkt und die ungebrochene Linie in dem einfachen natürlichen Akt des
Steigens in den Raum weiterfährt. Sie sah die Telegraphendrähte am Bahndamm an ihren Fußspitzen
vorübergleiten. Die Erde fiel immer weiter hinunter, und es war ihr, als ob ihr Gewicht von ihren Füßen abfiel,
als ob die Erde zu einem Ball zusammenschrumpfte, zu einer Sträflingskugel, die sie mitgeschleppt und verloren
hatte. Ihr Körper schwang, trunken von der jähen Entdeckung, und ihre Maschine schaukelte mit ihrem Körper,
und es war die Erde dort unten, die mit dem Schaukeln des Flugzeugs schwankte. Es war die Entdeckung, daß
ihr Leben jetzt in ihrer eigenen Hand lag, daß es nicht mehr notwendig war zu streiten, zu erklären, zu belehren,
zu bitten, zu kämpfen; daß es auf nichts mehr ankam als zu sehen, zu denken und zu handeln. Dann wurde die
Erde zu einer großen schwarzen Fläche, die sich immer weiter ausdehnte, während sie im Kreise fliegend immer
höher stieg. Als sie zum letzten Mal hinunterblickte, waren die Lichter des Flugplatzes erloschen, nur das Licht
des Signalturms brannte noch.
Nun war sie mit den Lampen an ihrem Armaturenbrett und den Sternen hinter der Glasscheibe allein. Nichts
stützte sie mehr als der Pulsschlag der Maschine und die Köpfe der Menschen, die dieses Flugzeug erdacht
hatten. Aber was stützt einen überhaupt? dachte sie. Ihre Flugroute führte diagonal durch den Staat Colorado
nach Nordwesten. Sie wußte, sie hatte die gefährlichste Route gewählt. Diese Route war so gefährlich, weil sie
allzu lange über das wild zerklüftete Gebirge hinwegging. Aber sie war die kürzeste, und die Höhe bürgte für
Sicherheit, und im Vergleich zu dem Zugabfertiger in Bradshaw schien jedes Gebirge ungefährlich.
Die Sterne waren wie Schaum, und der Himmel schien voll flutender Bewegung zu sein, der Bewegung sich
setzender und sich formender Blasen, des Kreisens von Wellen, die sich nicht fortbewegten. Auf der Erde
blitzten immer wieder Lichter auf, und sie wirkten heller als das bewegungslose Blau darüber, aber sie hingen
allein zwischen dem Schwarz von Asche und dem Blau einer Krypta; sie schienen um einen schwachen Halt zu
kämpfen. Sie grüßten sie und verschwanden.
Der blasse Streifen eines Flusses stieg langsam aus der Leere auf und blieb lange in Sicht, während er ihr
unmerklich entgegenfloß. Er sah wie eine phosphoreszierende Ader aus, die durch die Haut der Erde
hindurchschimmerte, eine zarte Ader ohne Blut.
Als sie die Lichter einer Stadt sah wie eine Handvoll über die Prärie gestreuter goldener Münzen, die grellen
Lichter, die elektrischer Strom speiste, schienen sie so fern wie die Sterne und ebenso unerreichbar. Die Kraft,
die sie erhellt hatte, war dahin. Die Kraft, die Elektrizitätswerke in leeren Prärien geschaffen hatte, war
verschwunden, und sie wußte nicht, wohin man gehen sollte, um sie zurückzuholen. Dennoch, dies waren ihre
Sterne gewesen, dachte sie hinunterblickend, dies war ihr Ziel gewesen, ihr Signallicht, das Streben, das sie zu
ihrem Aufstieg hinaufzog. Was andere beim Anblick der Sterne zu fühlen behaupteten – Sterne, die Millionen
Jahre entfernt waren und einem darum nicht die Verpflichtung zum Handeln auferlegten, sondern als nutzloser
Flitter dienten –, hatte sie beim Anblick elektrischer Birnen gefühlt, die die Straßen einer Stadt erleuchteten. Es
war die Erde da unten, die die Höhe gewesen war, die sie hatte erreichen wollen. Und sie fragte sich, wie es dazu
gekommen war, daß sie sie verloren hatte; wer aus ihr eine Sträflingskugel gemacht hatte, die sie durch den
Sumpf schleppen mußte; wer ihre Verheißung von Größe in eine nie zu erreichende Vision verwandelt hatte.
Aber die Stadt war vorüber, und sie mußte geradeaus blicken, zu den Bergen von Colorado, die sich auf ihrem
Weg erhoben.
Die kleine gläserne Scheibe auf dem Armaturenbrett zeigte, daß sie jetzt höher stieg. Das Dröhnen des
Motors, das durch die Metallhülse rings um sie hindurchhallte, dessen Zittern am Steuerknüppel sie an ihren
Handflächen spürte wie den Schlag eines Herzens, das sich zu einer feierlichen Anstrengung spannt, sprach zu
ihr von der Kraft, die sie über die Gipfel hinwegtrug. Die Erde war jetzt eine geschrumpfte Skulptur, die hin- und
herschwankte, aus der jähe Flammen schossen, die das Flugzeug treffen wollten. Es waren die gezackten Spitzen
der Berge, die den milchigen Glanz der Sterne durchbohrten, sich vor ihr aufreckten und immer breiter wurden.
Ihr Geist war eins mit ihrem Körper und ihr Körper eins mit dem Flugzeug, und so kämpfte sie gegen den
unsichtbaren Sog, der sie hinabzog.
Es kamen Augenblicke der Ruhe, als die Berge über mit Nebel gefüllten Tälern zusammenschrumpften, dann
stieg der Nebel höher, verschluckte die Erde. Wäre nicht das Dröhnen der Motoren gewesen, hätte Dagny
glauben können, bewegungslos in der Luft zu schweben.
Doch sie brauchte die Erde nicht zu sehen. Das Armaturenbrett ermöglichte ihr jetzt die Sicht. Es war das zu
Meßinstrumenten kondensierte Wissen der besten Ingenieure, das sie jetzt auf ihrem Weg geleitete. Es genügte
die Instrumente lesen zu können, um gewissermaßen eine kondensierte Sicht zu haben. Wie waren die, die ihr
diese kondensierte Sicht gegeben hatten, dafür belohnt worden? Von kondensierter Milch über kondensierte
Musik zur kondensierten Sicht von Präzisionsinstrumenten – welchen Reichtum hatten sie der Welt gegeben,
und was hatten sie dafür erhalten? Wo waren sie jetzt? Wo war Dwight Sanders? Wo war der Erfinder ihres
Motors?
Der Nebel hob sich, und in einem Sichaufhellen sah sie einen Feuerfunken auf einer Felswand. Es war kein
elektrisches Licht, es war eine einsame Flamme in der Finsternis der Erde. Sie wußte, wo sie war, und sie kannte
diese Flamme: Es war Wyatts Fackel. Sie war jetzt nahe an ihrem Ziel. Irgendwo hinter ihr im Nordosten ragten
die Berge auf, durch die der Taggart-Tunnel gebohrt worden war. Die Berge gingen allmählich in die Ebene von
Utah über. Sie ließ ihr Flugzeug dichter zur Erde gleiten.
Die Sterne verschwanden, der Himmel wurde dunkler, aber in der Wolkenwand im Osten begannen sich
dünne Risse zu zeigen, erst als Fäden, dann als schwache Lichtreflexe, dann als gerade Bänder, die noch nicht
rosa, aber nicht mehr blau waren, die Farbe eines kommenden Lichts, die erste Andeutung des kommenden
Sonnenaufgangs. Sie tauchten immer wieder, auf und verschwanden, wurden allmählich heller, wodurch der
Himmel noch dunkler wirkte, und rissen ihn dann weiter auf, eine Verheißung gleichsam, die um ihre Erfüllung
ringt. Sie hörte in ihrem Inneren die Takte einer Musik, einer Musik, an die sie sich nur selten gern erinnerte; es
war nicht Halleys Fünftes, sondern sein Viertes Konzert, der Schrei eines Kampfes der Qual, durch den die
Akkorde des Themas hindurchbrachen wie eine ferne Vision, die erreicht werden mußte. Schon von weitem sah
sie den Flughafen von Afton; zuerst als ein Viereck aus Funken, dann als einen plötzlichen Durchbruch weißer
Strahlen; er war für ein Flugzeug erleuchtet, das im Begriff war, aufzusteigen, und sie mußte mit der Landung
warten. Im Dunkel um den Platz kreisend, sah sie den silbernen Leib eines Flugzeugs, der sich wie ein Phönix
aus dem weißen Feuer erhob und – in einer geraden Linie, die einen Augenblick lang fast eine Lichtspur im
Raum hinter sich zurückließ – in östlicher Richtung davonflog. Dann flog sie an seiner Stelle hinunter, um in den
leuchtenden Strahlentrichter einzutauchen – sie sah den Streifen Beton auf sich zufliegen, sie spürte den Ruck
der Räder, die das Flugzeug rechtzeitig anhielten, dann das Nachlassen der Bewegung, und das Flugzeug wurde
zu einem zahmen sicheren Auto, als es ruhig über die Rollbahn fuhr.
Es war ein kleiner privater Flugplatz, der dem bescheidenen Verkehr einiger in Afton noch bestehender
Industriebetriebe diente. Sie sah einen einsamen Wächter auf sich zueilen. In dem Augenblick, als das Flugzeug
stillstand, sprang sie hinaus, und die Stunden des Fluges wurden in ihr durch das ungeduldige Wissen
ausgelöscht, daß es noch mehrere Minuten dauern würde, bis sie am Ziel war.
»Kann ich irgendwo einen Wagen bekommen, der mich sofort zum Institute of Technology fährt?« fragte sie.
Der Wächter blickte sie verwirrt an. »Ja, ich glaube, aber… aber, was wollen Sie dort? Da ist niemand mehr.«
»Mr. Quentin Daniels ist dort.«
Der Wächter schüttelte langsam den Kopf. Dann hob er den Daumen und deutete auf die kleiner werdenden
Schlußlichter des Flugzeugs. »Dort ist Mr. Daniels jetzt.«
»Wie?«
»Er ist abgeflogen.«
»Abgeflogen? Warum?«
»Er ist mit dem Mann abgeflogen, der vor zwei, drei Stunden hier angekommen ist.«
»Welchem Mann?«
»Weiß ich nicht. Habe ihn noch nie vorher gesehen. Aber, der hat eine Maschine!«
Gleich darauf saß sie wieder am Steuer, fuhr die Rollbahn hinunter, stieg in die Luft, und ihr Flugzeug zielte
wie ein Geschoß auf zwei Lichter, ein rotes und ein grünes, die fern am östlichen Himmel schimmerten – wobei
sie immer von neuem wiederholte: Nein, nein, sie dürfen es nicht. Sie dürfen es nicht. Sie dürfen es nicht. Sie
dürfen es nicht… Diesmal nicht, dachte sie, und umklammerte den Steuerknüppel, als wäre er der Feind, den sie
nicht loslassen durfte. Ihre Worte brachen wie Feuergarben aus ihr heraus, und die Glut in ihr hielt sie
zusammen: Diesmal nicht…! Dem Zerstörer Auge in Auge gegenübertreten… Herausbekommen, wer er war
und wohin er verschwand… Den Motor nicht… Er wird den Motor nicht in das unheimliche Dunkel seiner
unbekannten Welt schleppen…
Diesmal wird er nicht entrinnen…
Ein Lichtstreifen stieg im Osten auf, und er schien von der Erde zu kommen wie ein lange zurückgehaltener
Atem, der plötzlich ausgestoßen wird.
Im tiefen Blau darüber war das Flugzeug des Fremden ein Funke, der die Farbe immer wieder wechselte und
wie ein Pendel, das die Zeit schlägt, im Dunkel hin- und herschwang.
Aus der Ferne sah es aus, als ob der Funke sich der Erde näherte, und sie öffnete das Drosselventil weit, damit
sie den Funken nicht aus den Augen verlor, damit er nicht am Horizont verschwand. Das Licht strömte in den
Himmel, als würde es durch das andere Flugzeug von der Erde weggezogen. Das Flugzeug flog in südöstlicher
Richtung, und sie folgte ihm in die aufgehende Sonne hinein.
Das durchsichtige eisige Grün des Himmels schmolz zu blassem Gold, und das Gold wurde zu einem See
unter einer dünnen, gläsernen rosa Schicht. Die Wolken rissen und waren nur noch lange Fetzen rauchigen
Blaus. Sie starrte unverwandt auf das Flugzeug des Fremden, als wäre ihr Blick ein Tau, das ihre Maschine zog.
Das Flugzeug des Fremden war jetzt ein kleines schwarzes Kreuz, das an dem sich rötenden Himmel immer
kleiner wurde. Dann sah sie, daß die Wolken nicht verschwanden, sondern wie erstarrt am Rand der Erde hingen
– und sie merkte, daß das Flugzeug den Bergen von Colorado entgegenflog. Sie nahm es ohne Erregung wahr;
sie fragte sich nicht, ob ihr Flugzeug oder ihr Körper die Kraft hätten, es wieder zu versuchen. Solange sie sich
zu bewegen vermochte, würde sie sich bewegen und dem kleinen Punkt folgen, der mit dem Letzten ihrer Welt
davonflog. Sie spürte nur eine Leere nach der glühenden Leidenschaft von Haß und Zorn und dem verzweifelten
Verlangen nach einem Kampf auf Leben und Tod. Das alles hatte sich in eine einzige kalte Entschlossenheit
verwandelt, die Entschlossenheit, dem Fremden zu folgen, wer immer er war, wohin immer er sie führte, ihm zu
folgen und – sie gab es sich nicht zu, aber tief in der Leere ihres Inneren war die Bereitschaft – ihr Leben
hinzugeben, wenn sie ihm das seine vorher nehmen konnte.
Automatisch vollführte ihr Körper die Bewegungen, die notwendig waren, um das Flugzeug zu steuern,
während die Berge in einem bläulichen Nebel in der Tiefe versanken und die gezackten Gipfel sich auf ihrem
Weg erhoben wie in Rauch gehüllte Gebilde von einem noch unheimlicheren Blau. Sie merkte, daß die
Entfernung zwischen ihr und dem Flugzeug des Fremden kleiner geworden war: Er hatte sein Tempo für das
gefahrvolle Überfliegen des Gebirges verlangsamt, während sie, ohne an die Gefahr zu denken, im gleichen
Tempo weitergeflogen war und nur die Muskeln ihrer Arme und Beine darum kämpften, das Flugzeug oben zu
halten. Sie preßte die Lippen aufeinander, und es war fast wie ein Lächeln: Er flog ihr Flugzeug für sie, dachte
sie, er hatte ihr die Kraft gegeben, ihm mit der unerschütterlichen Sicherheit einer Somnambulen zu folgen. Als
gehorchte sie dem Kommando eines Fremden, bewegte sich die Nadel ihres Höhenmessers langsam aufwärts.
Dagny stieg höher und höher, und sie fragte sich, wann ihr Atem und ihr Propeller versagen würden. Er flog
südöstlich den höchsten Bergen entgegen, die der Sonne den Weg versperrten.
Es war sein Flugzeug, das vom ersten Sonnenstrahl getroffen wurde. Es leuchtete einen Augenblick lang auf
wie ein weißes Feuer, dessen Flammen aus seinen Tragflächen aufzüngelten. Die Gipfel der Berge waren das
nächste: Sie sah, wie die Sonne auf den Schnee in den Spalten fiel und dann an den Granithängen herunterfloß.
Sie warf tiefe Schatten auf die Vorsprünge und gab den Bergen ihre lebendige endgültige Gestalt. Sie flogen
über den unbewohnten, unbewohnbaren, Bergsteigern oder Flugzeugen unerreichbaren wildesten Teil des
Gebirges von Colorado. In einem Umkreis von hundert Meilen war keine Landung möglich. Sie blickte auf ihre
Tankanzeige: Sie konnte noch eine halbe Stunde fliegen. Der Fremde flog geradewegs auf einen anderen
höheren Bergkamm zu. Sie fragte sich, warum er diesen Kurs gewählt hatte, den kein Verkehrsflugzeuge nahm
oder nehmen würde. Sie wünschte, diese Gebirgskette läge hinter ihr; es war die letzte Anstrengung, deren sie
noch fähig war.
Das Flugzeug des anderen verlangsamte plötzlich seine Geschwindigkeit noch mehr. Gerade, als sie
erwartete, daß es höher hinaufsteigen würde, verlor es an Höhe. Die Granitmauer erhob sich auf seinem Weg,
bewegte sich ihm entgegen, griff nach seinen Tragflächen – aber er ging in einer langen glatten Linie weiter
hinunter. Sie konnte keine Unterbrechung, kein Schwanken, kein Zeichen eines Versagens des Motors
entdecken. Es war wie eine ruhige, bewußte Bewegung. In einem plötzlichen Aufblitzen der Sonne auf seinen
Tragflächen ging das Flugzeug in eine lange Kurve, wobei die Strahlen wie Wasser von seinem Leib
heruntertropften, und flog dann in den breiten glatten Kreisen einer Spirale, als ob es landen wollte, wo keine
Landung denkbar war.
Sie beobachtete es ohne den Versuch, es sich zu erklären, ohne zu glauben, was sie sah, und wartete, daß das
Flugzeug wieder aufsteigen und seinen alten Kurs fortsetzen würde. Aber in gleichmäßigen gleitenden Kreisen
ging es tiefer hinunter, einem Boden entgegen, den sie nicht sehen konnte, und an den sie nicht zu denken wagte.
Wie Reste zerbrochener Kiefer standen in Reihen Zähne aus Granit zwischen ihrem Flugzeug und seinem; sie
konnte nicht sagen, wohin seine Spiralbewegung zielte. Sie wußte nur, daß es zwar nicht nach Selbstmord
aussah, aber nur Selbstmord sein konnte.
Einen Augenblick lang sah sie die Sonne an seinen Tragflächen glänzen. Dann sank das Flugzeug wie ein
Mensch, der sich mit vorgebeugtem Oberkörper und ausgestreckten Armen heiter dem Schwung des Fallens
überläßt, in die Tiefe und verschwand hinter den Felskämmen.
Sie flog weiter, fast darauf wartend, daß es wieder erschien, unfähig zu glauben, daß das, was sich so einfach
und ruhig vollzogen hatte, eine grauenvolle Katastrophe war. Sie flog bis zu der Stelle, wo das Flugzeug
abgestürzt war. Es schien ein von Felsen umschlossenes Tal zu sein.
Sie überflog das Tal und blickte hinunter. Eine Landung war dort unmöglich, und es war auch nichts von
einem Flugzeug zu sehen. Der Talgrund sah aus wie ein Stück Erdkruste, das in den Tagen, als die Erde
erkaltete, zerbröckelt und seitdem so geblieben war. Die Felsen rieben sich aneinander, große Blöcke hingen
bedrohlich an ihren Flanken, lange, dunkle Spalten zogen sich hinunter, und ein paar gekrümmte Kiefern
wuchsen fast horizontal in die Luft. Es gab hier nicht einmal eine ebene Stelle von der Größe eines
Taschentuchs. Kein Flugzeug konnte sich hier verstecken, und man sah auch nicht die Trümmer eines
Flugzeugs. Sie ging in eine scharfe Kurve, kreiste über dem Tal und ging dann ein wenig tiefer. Durch eine
optische Täuschung, die sie sich nicht erklären konnte, schien der Boden des Tals deutlicher sichtbar als die
übrige Welt. Sie konnte ihn gut genug überblicken, um zu sehen, daß dort kein Flugzeug war, und doch war das
unmöglich. Sie kreiste und ging noch tiefer. Sie blickte um sich und zu ihrem Schrecken wurde ihr plötzlich
bewußt, daß dies ein stiller Sornmermorgen war, daß sie allein war, verloren in einer Region der Rocky
Mountains, der sich zu nähern ein Flugzeug nie wagen würde, und daß sie, während sie ihren letzten Treibstoff
verbrauchte, nach einem Flugzeug suchte, das nie existiert hatte, auf der Verfolgungsjagd nach einem Zerstörer,
der verschwunden war, wie er immer verschwand. Vielleicht war es nur ein Trugbild, mit dem er sie hierher
gelockt hatte, um sie zu vernichten. Aber im nächsten Augenblick schüttelte sie den Kopf, preßte die Lippen
fester aufeinander und flog tiefer.
Sie dachte, sie dürfe etwas so Kostbares wie das Gehirn Quentin Daniels’ nicht auf einem dieser Felsen unter
ihr im Stich lassen, wenn er überhaupt noch lebte und sie ihn erreichen konnte, um ihm zu helfen. Sie war in den
Ring der Talwände hinuntergegangen. Es war gefährlich, der Raum war viel zu eng, aber sie kreiste weiter und
ging immer tiefer. Ihr Leben hing von ihren Augen ab, und ihre Augen mußten zweierlei tun: den Boden des
Tals absuchen und die Granitwände beobachten, die ihre Flügel jeden Augenblick abreißen konnten. Die Gefahr
war für sie nur ein Teil der Aufgabe. Sie hatte keine Bedeutung mehr für sie. Die Leidenschaft, die sie in sich
fühlte, war fast Freude, es war die letzte Kampfeswut einer verlorenen Schlacht. Nein, nein, schrie sie in ihrem
Inneren, schrie sie dem Zerstörer zu, der Welt, die sie verlassen hatte, den Jahren, die hinter ihr lagen, dem
langsamen Fortschreiten der Vernichtung, dem langen Weg zu Niederlage und Untergang. Nein…! Nein…!
Nein…! Ihre Augen blickten auf das Armaturenbrett, und dann saß sie eine Sekunde still, um Atem zu holen.
Der Höhenmesser hatte, als sie das letzte Mal auf ihn gesehen hatte, auf 11.000 Fuß gestanden. Jetzt stand er auf
10.000. Aber der Boden des Tals hatte sich nicht verändert. Er war nicht näher gekommen. Er blieb so fern, wie
er bei ihrem ersten Blick hinunter gewesen war.
Sie wußte, daß die Zahl 8.000 in diesem Teil Colorados Bodenhöhe bedeutete. Sie hatte gar nicht gemerkt,
wie tief sie hinuntergegangen war. Sie hatte nicht gemerkt, daß der Boden, der ihr aus der Höhe so deutlich
sichtbar und so nah erschienen war, jetzt ganz verschwommen und fern wirkte. Sie blickte auf die gleichen
Felsen aus der gleichen Perspektive. Sie waren nicht größer geworden, ihre Schatten hatten sich nicht bewegt,
und das unnatürliche Licht hing immer noch über dem Talgrund. Sie glaubte, ihr Höhenmesser funktioniere nicht
mehr, und sie flog kreisend weiter hinunter. Sie sah, wie sich die Nadel unter der Glasscheibe abwärts bewegte,
sah, wie die Granitwände sich aufwärtsbewegten, sah, wie der Ring der Berge höher wurde, wie ihre Gipfel am
Himmel immer enger aneinander rückten. Aber der Boden des Tals blieb unverändert, als versänke sie in einem
Brunnenschacht ohne Boden. Die Nadel bewegte sich: 9.500, 9.300, 9.000, 8.700.
Der Lichtstrahl, der sie traf, kam von nirgendwo her. Es war, als würde die Luft im Flugzeug und außerhalb
des Flugzeugs plötzlich und lautlos in einem kalten blendenden Feuer bersten. Die Erschütterung schleuderte sie
zurück, ihre Hände ließen den Steuerknüppel los und legten sich vor ihre Augen. In dem Bruchteil einer
Sekunde, in dem sie den Steuerknüppel wieder ergriff, war das Licht verschwunden, aber ihr Flugzeug trudelte,
die Stille dröhnte in ihren Ohren, und der Propeller reckte sich steif vor ihr auf; ihr Motor war tot.
Sie versuchte, das Flugzeug noch einmal hochzureißen, aber es fiel weiter und was ihr ins Gesicht flog, waren
nicht zerklüftete Felsen, sondern das grüne Gras eines Feldes, wo nie zuvor ein Feld gewesen war. Es war keine
Zeit, das übrige zu sehen. Es war keine Zeit, zu versuchen, es sich zu erklären. Es war keine Zeit, aus dem
Trudeln herauszukommen. Die Erde war eine grüne Decke, die auf sie herunterkam, nur ein paar hundert, sich
schnell verringernde Meter entfernt.
Von einer Seite zur anderen geschleudert wie ein beschädigtes Pendel, sich an den Steuerknüppel klammernd,
halb sitzend, halb kniend, bemühte sie sich, die Maschine zu einem Gleitflug zu bringen, um eine Bauchlandung
zu versuchen, während der grüne Boden um sie herumwirbelte, über ihr und dann unter ihr vorbeiraste und seine
Spiralen immer enger wurden. Ihre Arme zerrten an dem Steuerknüppel, ohne daß sie zu ahnen vermochte, ob es
ihr gelingen könnte, da sie kaum noch Raum und Zeit hatte – plötzlich spürte sie so klar und vollkommen wie
nie das Lebensgefühl, das immer ihr eigen gewesen war. In einem jähen Bekenntnis zu ihrer Liebe – zu ihrer
Liebe zum Leben – zu dem unvergleichlichen Wert ihrer selbst – in der rebellischen Leugnung der Katastrophe
spürte sie die stolze leidenschaftliche Gewißheit, daß sie überleben würde.
Und als Antwort an die Erde, die ihr entgegenflog, hörte sie in ihrem Inneren wie eine Verhöhnung des
Schicksals, wie einen Schrei des Trotzes die Worte der Redensart, die sie haßte, die Worte der Niederlage, der
Verzweiflung und eines Flehens um Hilfe:
»Wer ist John Galt?«
A GLEICH A
I. Atlantis

Als Dagny die Augen öffnete, sah sie blauen Himmel, grüne Blätter und das Gesicht eines Mannes. Ihr erster
Gedanke war: Ich weiß, wo ich bin. Dies war die Welt, von der sie als Sechzehnjährige geträumt hatte, und jetzt
war dieser Traum Wirklichkeit geworden. Daß sie in dieser Welt war, erschien ihr so natürlich und so
selbstverständlich wie ein überwältigendes Glück, dem man sich nach dem ersten Erstaunen hingibt mit dem
erlösten Seufzer: Endlich!
Sie sah über sich das Gesicht eines Mannes, und sie wußte, dies war es, was sie in all den Jahren, seit sie
denken konnte, selbst um den Preis ihres Lebens zu sehen gewünscht hatte: ein Gesicht, das frei war von Leid
und Angst und Schuld. Die Form des Mundes verriet Stolz, einen Stolz, der sich seiner offensichtlich bewußt
war. Die kantigen Flächen seiner Wangen mochten an Härte, Anmaßung und Hochmut denken lassen, doch das
Gesicht als Ganzes strafte diesen Eindruck Lügen; aus ihm sprachen gelassene Entschlossenheit und unbeirrbare
Gewißheit. Es war ein Gesicht selbstbewußter Schuldlosigkeit, die Vergebung weder heischte noch gewährte,
ein Gesicht, das nichts zu verbergen und nichts zu scheuen hatte, das sich nicht fürchtete, gesehen zu werden
oder selbst zu sehen; darum war es auch die freie und tiefe Hingabe seines Blickes, die ihr zuerst auffiel und sie
fesselte. Der Mann sah sie an, als ob seine Augen sein kostbars tes und köstlichstes Werkzeug und ihr Gebrauch
ein endloses, freudiges Abenteuer wären. Einen Augenblick lang glaubte Dagny, die Gegenwart eines Wesens zu
empfinden, das nur Geist und Bewußtsein war, doch dann erkannte sie verwundert, daß sie so intensiv wie nie
zuvor und mit allen Sinnen die Nähe eines Männerkörpers wahrnahm. Der leichte Stoff seines Hemdes betonte
die Umrisse seiner Gestalt, anstatt sie zu verbergen. Seine Haut war von Sonne, Wind und Wetter gebräunt. Sein
Körper strahlte die Klarheit, Festigkeit und Härte eines Metallgusses aus, etwa einer in weicher Kupfer-
Aluminium-Legierung gegossenen und nachträglich leicht mattierten Statue. Das Hellbraun seiner Haut ging
harmonisch in das dunkle Kastanienbraun seines Haares über, in dessen losen Strähnen sich die Sonnenstrahlen
schimmernd fingen. Nur seine Augen glänzten in diesem gedämpften Spiel von Licht und Farbe, sie glänzten
hell, fast hart, wie die einzigen unmattierten Stellen des Gusses. Sie waren tief und leuchteten von innen heraus
wie von Grünspan überhauchtes Kupfer.
Er sah lächelnd auf sie herab. Es war kein Blick des Erstaunens über eine Entdeckung, eher ein vertraulicher
Gruß, als ob auch er das Langerwartete und Niebezweifelte sah.
Dies war ihre Welt, dachte sie, in der die Menschen so waren, wie sie sein sollten, und das Leben lebten, zu
dem sie geschaffen waren, und alles andere, all die Jahre widersinnigen Kampfes, die hinter ihr lagen, waren nur
ein grausamer Scherz, ein häßlicher Traum gewesen. Sie lächelte ihn an wie einen Mitverschworenen,
erleichtert, befreit, spöttisch erhaben über all die Dinge, die jetzt so nichtig geworden waren. Er lächelte zurück,
und es war das gleiche Lächeln wie das ihre, als ob er das gleiche fühlte wie sie und wußte, was sie dachte.
»Wir hätten nichts davon ernst zu nehmen brauchen, nicht?« flüsterte sie.
»Nein, nichts.«
Und dann erwachte sie plötzlich zu vollem Bewußtsein und begriff, daß dieser ihr noch eben so vertraut
erschienene Mann in Wahrheit ein völlig Fremder war. Sie versuchte, von ihm wegzu rücken, doch nur ihr Kopf
bewegte sich schwach auf dem Gras, das sie unter ihrem Haar spürte. Sie versuchte sich aufzurichten. Ein
stechender Schmerz im Rücken warf sie wieder zurück.
»Nicht bewegen, Miss Taggart. Sie sind verletzt.«
»Sie kennen mich?« Ihre Stimme war unpersönlich und hart.
»Seit vielen Jahren.«
»Kenne ich Sie?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Wie heißen Sie?«
»John Galt.«
Sie sah ihn starr an.
»Warum sind Sie erschrocken?« fragte er.
»Weil ich es glaube.«
Er lächelte, als empfange er ein rückhaltloses Geständnis über die Bedeutung, die sie seinem Namen beimaß.
Es war ein Lächeln, das die Herausforderung eines Gegners annahm und sich zugleich über die Selbsttäuschung
eines Kindes belustigte. Dagny glaubte, sie wäre aus der Bewußtlosigkeit erwacht nach einem Sturz, der mehr
zerschmettert hatte als bloß ein Flugzeug. Sie konnte jetzt die Einzelheiten nicht zusammenfügen, konnte sich
nicht der Vorstellungen erinnern, die sich für sie mit dem Namen John Galt verbanden, der nur noch eine dunkle
Leere war, die sie langsam wieder füllen mußte. Doch konnte sie dies nicht jetzt tun, denn dieser Mann war zu
grelle Gegenwart, blendete sie wie der Strahl eines Scheinwerfers, der alle Formen außerhalb seines Lichtkegels
in dichtes Dunkel zurückweist.
»Bin ich etwa Ihnen nachgeflogen?« fragte sie.
»Ja.«
Langsam blickte sie umher. Sie lag im Gras einer Wiese, am Fuß eines Granitfelsens, der hinter ihr Tausende
von Metern hoch steil in den blauen Himmel ragte. Vor ihr, am gegenüberliegenden Rand der Wiese, versperrten
Felsblöcke, Nadelbäume und das flimmernde Laubwerk von Birken den Blick auf die Ebene, die sich bis an
ferne, den Horizont abschließende Berge erstreckte. Ihr Flugzeug war nicht zerschmettert; es lag wenige Meter
weit von ihr entfernt flach auf dem Bauch im Gras. Keine andere Maschine war zu sehen, kein Gebäude, kein
Zeichen menschlicher Ansiedlung.
»Wie heißt dieses Tal?« fragte sie.
Er lächelte. »Taggart Terminal«, sagte er.
»Was soll das heißen?«
»Das werden Sie bald wissen.«
Ein dumpfer Impuls der Abwehr drängte sie auszuprobieren, was ihr noch an Kraft geblieben war. Arme und
Beine konnte sie bewegen, vermochte auch, den Kopf zu heben, doch sie fühlte einen stechenden Schmerz, als
sie tief zu atmen versuchte. Sie sah einen dünnen Faden Blut an ihrem Strumpf hinunterrinnen.
»Kann man diesen Talkessel verlassen?« fragte sie.
Seine Stimme klang ernst, doch das Schimmern seiner metallgrünen Augen war ein Lächeln: »Derzeit nicht.
Manchmal schon.«
Sie setzte sich auf, um sich zu erheben. Er bückte sich, ihr zu helfen, doch sie raffte in einer federnden
Bewegung ihre ganze Kraft zusammen, wich seinem Griff aus, schnellte sich hoch, kämpfte um Halt, keuchte:
»Ich kann selbst…« und fiel gegen ihn, gelähmt von einem jähen Schmerz im Knöchel ihres Fußes, der ihr
Gewicht nicht tragen wollte.
Er nahm sie auf die Arme und lächelte. »Es geht noch nicht, Miss Taggart«, sagte er und schritt quer über die
Wiese. Sie lag still, die Arme um seinen Hals geschlungen, den Kopf an seiner Schulter, und dachte: jetzt,
während dieser wenigen Minuten, solange dies andauert, darfst du dich ganz hingeben, alles vergessen und nur
dich selbst fühlen. Und dann fragte sie sich: Wann hast du dies schon einmal erlebt? Es hatte in ihrem Leben
einen Augenblick gegeben, da sie die gleichen Worte zu sich gesprochen hatte, doch konnte sie sich nicht
erinnern, wann. Sie hatte es schon einmal erlebt, dieses Gefühl der Gewißheit, des Endgültigen, des Erreichten,
des Nicht-mehr-Bezweifelten. Doch war ihr das Erlebnis neu, sich beschützt zu fühlen und zu wissen, daß es
richtig war, diesen Schutz anzunehmen, sich auszuliefern; richtig, weil dieses besondere Gefühl der Sicherheit
nicht Schutz vor der Zukunft war, sondern Schutz gegen die Vergangenheit, eine Gewißheit, die Schlacht nicht
unter diesem Schutz überlebt, sondern sie durch ihn gewonnen zu haben, eine Hilfe, die nicht ihre Schwäche
stützte, sondern ihre Stärke mehrte. Und während sie überdeutlich den Druck seiner Hände gegen ihren Körper
spürte und ganz nahe vor ihren Augen das Gold und Kupfer seiner Haare und die Schatten seiner Wimpern auf
der Haut seiner Wangen sah, fragte sie sich verwundert: Wovor beschützt er mich…? War nicht er selbst der
Feind gewesen…? Warum…? Sie wußte es nicht mehr, sie erinnerte sich nur dumpf, daß sie vor wenigen
Stunden aus zwingenden Gründen zu einem klaren Ziel aufgebrochen war. Sie mußte den verlorenen Faden ihrer
Gedanken wiederfinden.
»Wußten Sie, daß ich Sie verfolgte?« fragte sie.
»Nein.«
»Wo ist Ihre Maschine?«
»Auf dem Flugplatz.«
»Wo ist der Flugplatz?«
»Am anderen Ende des Tales.«
»Ich habe keinen Flugplatz gesehen, als ich das Tal überflog, auch nicht diese Wiese. – Wie kommt es, daß
sie jetzt da ist?«
Er hob den Blick zum Himmel. »Können Sie dort oben etwas entdecken? Schauen Sie genau hin.«
Sie ließ den Kopf nach hinten fallen, suchte den Himmel ab, sah aber nichts als das friedliche Blau des
Morgens, bis sie nach einer Weile einige Streifen flimmernder Luft unterschied.
»Hitzewellen«, sagte sie.
»Refraktorstrahlen«, antwortete er. »Der Talboden, den Sie sahen, war ein zweitausend Meter hoher
Bergrücken, der acht Kilometer von hier entfernt liegt.«
»Ein…was?«
»Ein Bergrücken, den kein Flieger je als Landeplatz benutzen würde. Was Sie sahen, war sein über dieses Tal
projiziertes Spiegelbild.«
»Ein Spiegelbild?«
»Ja, ähnlich einer Fata Morgana in der Wüste, ein von einer Schicht erhitzter Luft zurückgeworfenes Bild.«
»Wodurch erhitzt?«
»Durch ein Strahlenfeld, das dieses Tal gegen alles abschirmt, aber natürlich bei einer mutigen Frau, wie Sie
es sind, eine Ausnahme macht.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich hätte nie geglaubt, daß ein Flugzeug versuchen würde, auf eine Höhe von weniger als zweihundert Meter
hinunterzugehen. Sie haben den Strahlenschirm durchstoßen. Einige Strahlen sind magnetisch und sollen jeden
Motor, den sie treffen, außer Betrieb setzen. Nun, dies war der zweite Punkt, in dem Sie mich geschlagen haben.
Ich bin auch noch nie bis hierher verfolgt worden.«
»Warum legen Sie einen Strahlenschirm über das Tal?«
»Weil dieses Tal Privateigentum ist und es bleiben soll.«
»Was ist es für ein Tal?«
»Ich werde es Ihnen zeigen, da Sie nun einmal hier sind. Ihre Fragen werde ich beantworten, wenn Sie alles
gesehen haben.«
Sie schwieg. Es kam ihr zum Bewußtsein, daß sie ihn über alles ausgefragt hatte, nur nicht über ihn selbst. Es
war, als stellte er eine selbständige Einheit dar, die sie mit dem ersten Blick ganz erfaßt hatte wie etwas
Unbestreitbares, Unbedingtes, eine selbstverständliche Tatsache, als wüßte sie durch stumme Wahrnehmung
schon alles über ihn und könnte durch weitere Fragen nichts anderes erfahren als die Bestätigung des intuitiv
Erkannten.
Er trug sie einen schmalen Pfad hinunter, der in Windungen zur Sohle des Tales führte. Auf dem Hang rings
um sie standen unbeweglich starr, in männlich karger Schlichtheit hohe, dunkle Pyramiden von Tannen und
bildeten gleich stilisierten Statuen einen schroffen Gegensatz zu dem üppigen, weiblich verspielten Laubwerk
der Birken, das hell in der Sonne flimmerte. Sonnenstrahlen fielen durch das Gewirr der Blätter wie durch die
Maschen eines Spitzengewebes, huschten über sein Haar und tanzten auf ihren Gesichtern. Dagny konnte nicht
sehen, was tiefer unten lag, hinter der nächsten Biegung des Weges. Ihre Augen kehrten immer wieder zu seinem
Gesicht zurück. Auch er sah von Zeit zu Zeit auf sie herab. Zuerst schaute sie jedesmal weg, als fühlte sie sich
ertappt. Dann aber, als wäre sie durch ihn ermutigt, hielt sie seinem Blick stand, wenn sie ihm begegnete. Sie
erkannte, daß er wußte, was sie bewegte, und daß auch er die Bedeutung seines Blickes nicht vor ihr zu
verbergen suchte.
Sie wußte, daß sein Schweigen das gleiche Geständnis ablegte wie das ihre. Er trug sie nicht in der
unpersönlichen Art eines Mannes, der eine verletzte Frau trägt. Es war eine Umarmung, obwohl nichts in seinem
Benehmen ihr zu diesem Schluß Anlaß gab. Sie fühlte, daß sein ganzer Körper die Berührung empfand. Sie hörte
das Geräusch des Wasserfalls, bevor sie das schmale Rinnsal sah, das wie ein zerrissener Schleier über den
Felsvorsprung hing. Das Plätschern drang an ihr Ohr wie durch ein gedämpftes, rhythmisches, vieltöniges
Rauschen, das nicht lauter klang als das Säuseln einer aufsteigenden Erinnerung. Sie ließen den Wasserfall hinter
sich, doch das Rauschen blieb, wurde stärker, klarer, wurde zu Musik und kam nicht mehr, wie sie bis dahin
geglaubt hatte, aus ihr selbst, sondern von irgendwo hinter den Blättern der nun dichter stehenden Bäume hervor.
Der Weg machte eine scharfe Biegung, Dagny sah auf einer plötzlich auftauchenden Lichtung ein kleines Haus,
und gleichzeitig wurde ihr Auge von einem Sonnenstrahl getroffen, den die Scheibe eines offenen Fensters
reflektierte. Da dachte sie an einen anderen Augenblick, in dem ein unwiderstehliches Gefühl sie dazu gedrängt
hatte, sich wie jetzt ganz der Gegenwart hinzugeben – es war in der Nacht gewesen, als sie in einem staubigen
Wagen des »Comet« zum ersten Mal das Thema des Fünften Konzerts von Halley gehört hatte –, und sie begriff
plötzlich, daß sie dieses Thema jetzt wieder hörte; dieses Mal stieg es in klaren, scharfen Akkorden von den
Saiten eines Flügels auf, und Dagny erkannte den kraftvollen Anschlag kundiger, sicherer Finger.
Sie schnellte ihm ihre Frage ins Gesicht, als hoffte sie, ihn unvorbereitet zu überraschen. »Das ist doch das
Fünfte Konzert von Richard Halley?«
»Ja.«
»Wann hat er es geschrieben?«
»Warum fragen Sie ihn nicht selbst?«
»Ist er hier?«
»Er selber spielt es. Dies ist sein Haus.«
»Oh…!«
»Sie werden ihn sehen. Später. Er wird sich freuen, mit Ihnen sprechen zu können. Er weiß, daß die Platten
seiner Werke die einzigen sind, die Sie sich abends, wenn Sie allein sind, anhören.«
»Woher weiß er das?«
»Ich habe es ihm gesagt.«
In ihrem Gesicht formte sich eine Frage, doch sie sah den Blick seiner Augen und lachte, und ihr Lachen war
eine Antwort auf diesen Blick. Sie durfte jetzt keine Fragen mehr stellen, dachte sie, sie durfte nicht mehr
zweifeln, jetzt, mit dieser Musik im Ohr, die triumphierend durch das flimmernde Laubwerk emporstieg, dieser
Musik der Befreiung, der Erlösung, so gespielt, wie ihr Schöpfer sie empfunden, wie ihr Verstand sie aus dem
Takt ratternder Räder des Zuges hatte heraushören wollen. Aus den Tönen jener Nacht hatte sich vor ihrem
geistigen Auge dieses Bild geformt, das Bild dieses Tales und dieses Morgens und dieser Sonne…
Und dann stockte ihr Atem, denn der Pfad hatte wiederum eine scharfe Wendung genommen und aus dem
Waldstück herausgeführt, und Dagny sah von der Höhe auf dem Grund des Tales eine Siedlung. Es war keine
Stadt, nur eine Ansammlung von Häusern, wahllos auf dem Talboden und den grasbewachsenen Hängen der
Berge verstreut, deren Felswände sich hinter den Dächern jäh in den Himmel reckten und die Siedlung wie eine
unübersteigbare Ringmauer umschlossen. Es waren kleine, neue Wohnhäuser von klarer, kantiger Form, mit
großen Fenstern, in deren Scheiben das Licht des Morgens sich glitzernd spiegelte. Am fernen Ende des Tals
standen mehrere Gebäude, die größer zu sein schienen, und die schwachen Rauchfahnen darüber zeigten an, daß
es sich um ein Industriegelände handelte. Doch nahe vor Dagny stand auf einem Steilhang eine schlanke
Granitsäule, und auf ihr glänzte, blendete, überstrahlte alles ein meterhohes Dollarzeichen aus reinem Gold. Es
schien im freien Raum als Wahrzeichen über der Siedlung zu schweben. Es fing die Sonnenstrahlen ein und
spiegelte sie, einem Energieverteiler gleich, in schimmerndem Schein waagerecht über die Dächer, als wollte es
sie schützen und segnen.
»Was ist das?« fragte Dagny und deutete mit angehaltenem Atem auf das Zeichen.
»Ach, das ist ein Privatscherz von Francisco.«
»Von welchem Francisco?« flüsterte sie und wußte schon die Antwort.
»Francisco d’Anconia.«
»Ist er auch hier?«
»Er kann jeden Tag kommen.«
»Was meinten Sie damit, ein Scherz von ihm?«
»Er schenkte dem Besitzer des Tales dieses Zeichen zum Geburtstag, und dann machten wir alle es zu
unserem Sinnbild. Wir fanden den Einfall treffend.«
»Sind Sie nicht der Besitzer dieses Tales?«
»Ich? Nein.« Er blickte zum Fuß des Hügels hinunter und fügte, mit einer Kopfbewegung ins Tal deutend,
hinzu: »Dort kommt er.«
Ein Wagen hatte am Ende eines Fahrweges gehalten, und zwei Männer eilten den Pfad herauf ihnen entgegen.
Sie konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Der eine von ihnen war groß und schlank, der andere kleiner,
stämmiger. Sie verlor die beiden aus den Augen, während Galt den Windungen des Pfades folgte und sie weiter
den Hang hinuntertrug.
Sie sah die Männer wieder, als sie plötzlich wenige Schritte vor ihr hinter einem Felsvorsprung auftauchten.
Der Anblick ihrer Gesichter traf sie wie ein Schlag.
»Na, sowas!« rief der Stämmige, den sie nicht kannte, entgeistert aus.
Sie aber starrte nur auf die große, vornehme Gestalt seines Begleiters. Es war Hugh Akston.
Hugh Akston sprach sie auch als erster mit einem höflichen Lächeln an.
»Miss Taggart, zum ersten Mal in meinem Leben werde ich widerlegt. Ich hatte gesagt, Sie würden ihn nie
finden. Jetzt sehe ich Sie in seinen Armen.«
»In wessen Armen?«
»Nun, in den Armen des Erfinders Ihres Motors.«
Sie hielt den Atem an und schloß die Augen. Sie begriff, daß sie diesen Schluß hätte selbst ziehen können und
müssen. Als sie die Augen öffnete, sah sie Galt an. Er lächelte freundlich, aber auch leicht spöttisch, als wollte er
ihr zeigen, daß er wohl verstand, was dies für sie bedeutete.
»Es wäre Ihnen recht geschehen, wenn Sie sich den Hals gebrochen hätten!« fuhr der Stämmige sie mit einer
Barschheit an, die Besorgtheit, fast Zärtlichkeit verriet. »So ein Unfug… von einem Menschen, den wir
brennend gerne bei uns aufgenommen hätten, wenn er sich’s hätte einfallen lassen, durch die Vordertür
hereinzukommen.«
»Miss Taggart, darf ich Ihnen Midas Mulligan vorstellen?« sagte Galt.
»Oh«, hauchte sie und lächelte schwach; sie war nicht länger fähig zu staunen. »Ich glaube fast, ich bin
wirklich bei meinem Absturz ums Leben gekommen, und dies ist eine Art von Dasein nach dem Tode.«
»Es ist ein anderes Dasein«, sagte Galt. »Doch kommen Sie sich nicht eher neugeboren als gestorben vor?«
»O ja«, flüsterte sie, »ja…« Sie wandte sich lächelnd an Mulligan. »Wo ist die Vordertür?«
»Hier«, erwiderte er und setzte die Spitze seines Zeigefingers auf die Stirn.
»Ich habe den Schlüssel verloren«, sagte sie schlicht und ohne Groll. »Mir scheint, ich habe jetzt alle
Schlüssel verloren.«
»Sie werden sie wiederfinden. Aber zum Teufel, was taten Sie in dem Flugzeug?«
»Ich folgte jemand.«
»Ihm?« Er deutete auf Galt.
»Ja.«
»Sie können froh sein, daß Sie noch am Leben sind. Sind Sie ernstlich verletzt?«
»Ich glaube nicht.«
»Sie werden uns ein paar Fragen beantworten müssen, wenn man Sie wieder zusammengeflickt hat.« Er
drehte sich brüsk um und ging voraus nach dem Wagen hinunter. Nach einigen Schritten wandte er im Gehen
den Kopf nach hinten, sah Galt an und sagte: »Was tun wir jetzt? Einen solchen Fall hatten wir nicht vorgesehen.
Sie ist unser erster Streikbrecher.«
»Ihr erster… was?« fragte sie.
»Lassen Sie nur«, sagte Mulligan und sah Galt wieder an.
»Was tun wir mit ihr?«
»Überlassen Sie sie mir«, erwiderte Galt. »Ich bin schuld an der Panne und trage die Verantwortung.
Übernehmen Sie Quentin Daniels.«
»Ach, der ist kein Problem. Ihm braucht man nur das Tal zu zeigen. Alles andere scheint er zu wissen.«
»Ja. Er hat im Grunde den ganzen Weg allein zurückgelegt.« Galt sah, daß Dagny ihn bestürzt betrachtete,
und sagte: »Für etwas muß ich Ihnen noch danken, Miss Taggart. Es war ein Kompliment für mich, daß Sie
Quentin Daniels als Ersatz für mich wählten. Keiner hätte meine Rolle besser spielen können.«
»Wo ist er?« fragte sie. »Bitte, sagen Sie mir, was geschehen ist.«
»Nun, Midas holte uns mit dem Wagen auf dem Flugplatz ab, brachte mich nach Hause und nahm Daniels mit
zu sich. Ich war eben unterwegs, um mit den beiden zu frühstücken, als ich Ihre Maschine abtrudeln und auf der
Wiese dort oben landen sah. Ich war als erster bei Ihnen.«
»Wir sind ihm sofort gefolgt«, sagte Mulligan. »Ich wünschte, daß der Insasse der Maschine sich den Hals
brechen sollte. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß es einer der beiden einzigen Menschen war, für die ich eine
Ausnahme machen würde.«
»Wer ist der andere?« fragte sie.
»Hank Rearden.«
Sie zuckte zusammen wie unter einem neuen unerwarteten Schlag. Verwundert bemerkte sie, daß Galt ihr
Gesicht gespannt beobachtete und daß über seine Züge ein Ausdruck huschte, der zu schnell wieder verschwand,
als daß sie ihn hätte entziffern können.
Sie hatten den Wagen erreicht. Es war ein Hammond Cabrio, eines der teuersten Modelle, einige Jahre alt,
aber offensichtlich mit Sorgfalt und Liebe gepflegt. Das Verdeck war zurückgeschlagen. Galt ließ sie vorsichtig
auf dem Rücksitz nieder, hielt sie aber mit einem Arm umschlungen. Sie empfand von Zeit zu Zeit einen
stechenden Schmerz, doch beachtete sie ihn nicht. Sie sah unverwandt zu den fernen Häusern der Siedlung
hinunter. Mulligan setzte sich ans Steuer, und der Wagen kam langsam in Bewegung. Als sie an dem
Dollarzeichen vorbeifuhren, traf ein goldener Strahl ihre Augen und blendete sie.
»Wer ist der Eigentümer dieses Unternehmens?« fragte sie.
»Ich«, sagte Mulligan.
»Und was ist er?« Sie deutete auf Galt.
Mulligan grinste. »Er arbeitet bei mir.«
»Und Sie, Dr. Akston?« fragte sie.
Er sah zu Galt hinüber. »Ich bin einer seiner beiden Väter, Miss Taggart. Derjenige, der ihn nicht verraten
hat.«
»Oh! « sagte sie, als ein weiterer Zusammenhang sich für sie erschloß. »Ihr dritter Schüler?«
»Jawohl! «
»Der Buchhaltergehilfe!« rief sie aus, von einer neuen Erinnerung überfallen.
»Wieso das?«
»So nannte ihn Dr. Stadler. Er meinte, das sei sein dritter Schüler wohl geworden.«
»Er hat mich überschätzt«, warf Galt ein. »Bewertet nach seinen Maßstäben und denen seiner Welt, bin ich
viel weniger.«
Der Wagen war in einen breiteren Weg eingebogen und fuhr nun auf ein Haus zu, das auf einem Steilhang
über dem Tal stand. Sie sah einen Mann mit schnellen Schritten auf die Stadt zugehen. Er trug einen blauen
Arbeitsanzug und hielt eine Lunchbox in der Hand. Sein hastiger Gang kam ihr vertraut vor. Als der Wagen ihn
überholte, sah sie sein Gesicht und warf sich herum. Vor Schmerz und Überraschung schrie sie laut auf: »Oh,
halten Sie! Halten Sie! Lassen Sie ihn nicht weggehen!«
Es war Ellis Wyatt.
Die drei Männer lachten, doch Mulligan brachte den Wagen zum Stehen.
»Ach…«, sagte sie leise, wie zur Entschuldigung. Sie hatte vergessen, daß Wyatt nicht von hier verschwinden
konnte.
Wyatt rannte auf den Wagen zu. Auch er hatte sie erkannt. Als er vor ihr stand, vom schnellen Laufen und vor
Erregung keuchend, sah sie auf seinem Gesicht das junge, triumphierende Lächeln, das sie nur einmal zuvor, auf
dem Bahnsteig von Wyatt Junction, gesehen hatte.
»Dagny! Sind Sie auch endlich eine von uns?«
»Nein«, sagte Galt. »Miss Taggart ist ein Streikbrecher.«
»Was ist sie?«
»Miss Taggart ist mit ihrem Flugzeug abgestürzt. Haben Sie es nicht gesehen?«
»Abgestürzt? Hier?«
»Ja.«
»Ich habe ein Flugzeug gehört, doch ich…« Der Ausdruck der Bestürzung in seinen Zügen wurde zu einem
halb bedauernden, halb entschuldigenden Lächeln. »Ich verstehe. Eine zu dumme Geschichte, Dagny.«
Sie starrte ihn hilflos an, unfähig, die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart
wiederherzustellen. Und hilflos, wie man im Traum einem toten Freund die Dinge sagt, die man im Leben zu
sagen versäumt hat, sprach sie, in Erinnerung an einen Telefonanruf, der ihn fast zwei Jahre zuvor nicht erreicht
hatte, die Worte, die sie ihm hatte sagen wollen, wenn sie ihn je wieder treffen sollte: »Ich… ich habe versucht,
Sie zu erreichen.«
Er lächelte. »Wir haben seither ständig versucht, Sie zu erreichen, Dagny… Wir sehen uns heute abend.
Haben Sie keine Angst, jetzt verschwinde ich nicht mehr… und ich glaube, Sie auch nicht.«
Er winkte den anderen zu und entfernte sich rasch. Dabei ließ er seine Lunchbox im Takt seiner Schritte
schwingen. Sie wandte sich Galt zu, als Mulligan weiterfuhr, und sie entdeckte, daß er sie gespannt beobachtet
hatte. Ihre Gesichtszüge wurden hart, als gäbe sie den Schmerz offen zu, den sie empfand, und nähme die
Genugtuung, die ihm dieser Schmerz bereiten mochte, mit Verachtung zur Kenntnis. »Ich sehe«, sagte sie, »Sie
schrecken vor nichts zurück, um mich zu verblüffen.«
Doch aus seinem Gesicht sprach weder Grausamkeit noch Mitleid, sondern nur der Anspruch der gerechten
Sache. »Es ist unser oberstes Gesetz, Miss Taggart«, antwortete er, »daß jeder, der zu uns kommt, zuerst mit
eigenen Augen sehen soll, was ihn erwartet.«
Der Wagen hielt vor einem alleinstehenden Haus. Es war ein niedriger Bau aus rauhen Granitblöcken, dessen
Vorderfront fast ganz aus einem Fenster bestand. »Ich werde den Doktor rüberschicken«, rief Mulligan im
Weiterfahren, während Galt sie den Pfad zum Eingang hinauftrug.
»Ihr Haus?« fragte sie.
»Ja«, antwortete er und stieß die Tür mit dem Fuß auf.
Er trug sie über die Schwelle in einen von Sonnenlicht erfüllten Wohnraum, dessen Wände aus gefirnißtem
Kiefernholz bestanden. Ihr Blick glitt neugierig über den rohen Dachsparren zur Decke, die wenigen, offenbar
selbstangefertigten Möbel, durch eine offene Tür in eine kleine Küche, in der sie außer Regalen und einem Tisch
aus rohem Holz zu ihrem Erstaunen einen chromblitzenden Elektroherd sah. Die Einrichtung erinnerte in ihrer
Einfachheit an eine Siedlerhütte, in der alles auf das Wesentliche beschränkt ist, doch hier war diese Einfachheit
nicht erzwungene Primitivität, sondern gewollte, mit modernsten Mitteln erreichte Sachlichkeit.
Er trug sie durch die Flut der Sonnenstrahlen in ein kleines Gästezimmer und legte sie auf ein Bett. Vor einem
offenen Fenster stieg ein felsiges, mit Kiefern bewachsenes Gelände steil in den Himmel. An der Wand neben
dem Bett bemerkte sie einige verstreut in das Holz eingeschnitzte Inschriften, die, nach dem Charakter der
Schriftzeichen zu urteilen, von verschiedenen Personen stammten; sie konnte die Worte nicht entziffern. Eine
zweite, halboffene Tür des Raumes führte in ein Schlafzimmer.
»Bin ich hier Gast oder Gefangene?« fragte sie.
»Das können nur Sie selbst entscheiden.«
»Wie kann ich das, wenn ich es mit einem Fremden zu tun habe?«
»Mit einem Fremden? Haben Sie nicht eine Eisenbahnlinie nach mir benannt?«
»Oh… Ja…« Wieder schnappte ein Glied in der Kette ihrer Erinnerungen ein. »Ja, ich…« Sie sah die hohe
Gestalt, das in der Sonne lodernde Haar, das verhaltene Lächeln in den gnadenlos wachen Augen, erinnerte sich
des Kampfes um ihre Eisenbahnlinie und des Sommertags, an dem der erste Zug gefahren war, und dachte, wenn
je eines Menschen Gestalt als Wahrzeichen für eine Eisenbahnlinie dienen konnte, dann war es diese. Sie
murmelte: »Ja… ich habe es getan«, und sich dessen erinnernd, was dann später geschehen war, fügte sie hinzu,
»doch ich habe sie nach einem Feind benannt.«
Er lächelte. »Das ist ein Widerspruch, den Sie früher oder später selbst auflösen müssen, Miss Taggart.«
»Sie waren es doch, der mein Werk zerstört hat?«
»Aber nein, es war der Widerspruch.«
Sie schloß die Augen, bevor sie fragte: »Und welche von den Geschichten, die ich über Sie gehört habe, sind
wahr?«
»Alle.«
»Haben Sie selbst sie verbreitet?«
»Nein. Wozu sollte ich das? Ich habe nie den Wunsch gehabt, daß man über mich spricht.«
»Aber Sie wissen doch, daß Sie eine Legende geworden sind?«
»Ja.«
»Und der junge Erfinder der Twentieth Century Motor Company ist das einzig Wahre an dieser Legende?«
»Ja, das einzig wirklich Wahre.«
Sie konnte die nächste Frage nicht unbefangen aussprechen; ihre Stimme wurde zu einem tonlosen Flüstern,
als sie sagte: »Der Motor… der Motor, den ich fand… das war Ihr Werk?«
»Ja.«
Sie konnte es nicht verhindern, daß ihr Kopf in der Erregung vorschnellte. »Das Geheimnis der
Energieumwandlung…«, begann sie und verstummte sofort wieder.
»Ich könnte es Ihnen in fünfzehn Minuten erklären«, sagte er als Antwort auf eine verzweifelte Bitte, die sie
nicht ausgesprochen hatte, »doch keine Macht der Welt kann mich dazu zwingen. Wenn Sie das verstehen, dann
verstehen Sie alles, was Sie unbegreiflich finden.«
»Und die Geschichte jener Nacht… vor zwölf Jahren… Jener Frühlingsnacht, in der Sie vor einer
Versammlung von sechstausend Mördern sprachen… ist sie auch wahr?«
»Ja.«
»Sie sagten ihnen, daß Sie den Motor der Welt anhalten würden.«
»Ja, das habe ich gesagt.«
»Und was haben Sie getan?«
»Ich habe nichts getan, Miss Taggart. Und das ist mein ganzes Geheimnis.«
Sie sah ihn eine Zeitlang schweigend an. Er stand vor ihr, abwartend, als könnte er ihre Gedanken lesen.
»Der Zerstörer…«, sagte sie mit einer Stimme der Verwunderung und der Hilflosigkeit.
»… die elendste Kreatur, die je gelebt hat«, vollendete er den Satz im Ton eines Zitats, und sie erkannte ihre
eigenen Worte wieder, »der Mann, der den Verstand der Welt lahmlegt.«
»Wie gründlich Sie mich beobachtet haben«, sagte sie. »Wie lange schon?«
Obwohl der Ausdruck seiner Augen sich kaum veränderte, glaubte sie, das Aufleuchten von Erinnerungen in
seinem Blick wahrzunehmen, und in seiner Stimme klang ein vielsagender, ihr unverständlicher Unterton mit,
als er ruhig antwortete: »Seit Jahren.«
Sie schloß die Augen, ließ sich zurücksinken und gab sich der seltsamen, fast fröhlichen Gleichgültigkeit hin,
die sie plötzlich überkam, als verlangte ihr ganzes Wesen danach, in der Schwäche ihrer Wehrlosigkeit
aufzugehen.
Der Arzt, der kurz darauf eintrat, war ein grauhaariger Mann mit einem sanften, klugen Gesicht und sicheren,
unauffällig selbstbewußten Bewegungen.
»Miss Taggart, darf ich Ihnen Dr. Hendricks vorstellen?« sagte Galt.
»Doch nicht Dr. Thomas Hendricks?« rief sie mit der ungewollten Unhöflichkeit eines überraschten Kindes
aus; es war der Na me eines großen Chirurgen, der vor sechs Jahren verschwunden war.
»Er ist es«, erwiderte Galt.
Dr. Hendricks nickte ihr lächelnd zu und wandte sich dann an Galt. »Midas sagte mir, Miss Taggart sollte
wegen eines Schocks behandelt werden, doch nicht wegen des bereits erlittenen, sondern wegen der noch zu
erwartenden.«
»Das überlasse ich Ihnen«, sagte Galt. »Ich gehe inzwischen auf den Markt, um etwas für das Frühstück zu
besorgen.«
Erstaunt beobachtete sie Dr. Hendricks, während er ihre Verletzungen untersuchte. Er hatte einen Apparat
mitgebracht, den sie nie zuvor gesehen hatte, einen kleinen tragbaren Röntgenschirm. Sie erfuhr, daß sie sich
zwei Rippen angebrochen, einen Fußknöchel verstaucht, an einem Knie und an einem Ellenbogen starke
Hautabschürfungen und am übrigen Körper mehrere Prellungen zugezogen hatte. Nachdem Dr. Hendricks mit
schnellen und sicheren Händen ihre Wunden verbunden und die angebrochenen Rippen durch ein straffes
Pflaster zusammengepreßt hatte, fühlte sie sich wie eine Maschine, die von einem geübten Mechaniker überholt
worden war und nun keiner weiteren Behandlung mehr bedurfte.
»Ich würde Ihnen raten, im Bett zu bleiben, Miss Taggart.«
»O nein! Wenn ich mich vorsichtig und langsam bewege, spüre ich überhaupt nichts mehr.«
»Sie sollten versuchen zu schlafen.«
»Glauben Sie wirklich, ich könnte jetzt schlafen?«
Er lächelte. »Das dachte ich mir.«
Sie war wieder angezogen, als Galt zurückkam. Dr. Hendricks gab ihm einen Bericht über ihren Zustand und
fügte hinzu: »Ich werde morgen zur Kontrolle vorbeikommen.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Galt. »Schicken Sie die Rechnung an mich.«
»Auf keinen Fall«, protestierte sie. »Ich zahle die Rechnung selbst.«
Die beiden Männer lächelten einander zu, als hätten sie es mit einem Bettler zu tun, der mit seinem Reichtum
prahlt.
»Wir werden später darüber sprechen«, sagte Galt.
Als Dr. Hendricks gegangen war, versuchte sie aufzustehen und zu gehen. Doch sie konnte kaum auftreten
und mußte sich an den Möbeln festhalten. Galt nahm sie auf die Arme, trug sie in die Küche und setzte sie auf
einen Stuhl an den für zwei Personen gedeckten Tisch. Sie merkte, daß sie hungrig war, als sie den dampfenden
Kaffeetopf auf dem Herd, die beiden Gläser Orangensaft und das schwere weiße Tongeschirr sah, das auf der
polierten Tischplatte in der Sonne funkelte. »Wann haben Sie zum letzten Mal geschlafen und gegessen?« fragte
er.
»Ich weiß es nicht… ich habe im Zug zu Abend gegessen mit…« Sie schüttelte den Kopf in bitterer
Selbstironie. Mit einem armen Teufel, dachte sie, der auf der Suche nach einem Rächer war, der ihn nicht
verfolgte und sich ihm auch nicht stellen wollte, nach dem Rächer, der ihr jetzt am Tisch gegenübersaß und ein
Glas Orangensaft trank. »Ich weiß es nicht mehr… mir ist, als lägen Jahrhunderte und Kontinente dazwischen.«
»Wie kamen Sie dazu, mich zu verfolgen?« fragte er.
»Ich landete auf dem Afton-Flugplatz, als Sie gerade gestartet waren. Der Flugwart sagte mir, daß Quentin
Daniels mit Ihnen gegangen war.«
»Ich erinnere mich, Ihre Maschine gehört zu haben, als Sie über dem Flugplatz kreisten, um zur Landung
anzusetzen. Doch dies war das einzige Mal, daß ich nicht an Sie dachte. Ich hatte erwartet, daß Sie mit dem Zug
kommen würden.«
Sie sah ihm fest in die Augen und fragte: »Wie soll ich das verstehen?«
»Was?«
»Daß dies das einzige Mal war, daß Sie nicht an mich dachten.«
Er hielt ihrem Blick stand. Sie sah das gleiche, kaum wahrnehmbare ironische Lächeln seinen stolzen Mund
umspielen, das sie bereits mehrere Male bemerkt hatte. »Wie es Ihnen beliebt«, antwortete er.
Sie ließ einen Augenblick vorübergehen, um das, was sie sagen wollte, durch die Strenge ihres
Gesichtsausdrucks zu unterstreichen, und fragte dann in einem Ton, der zugleich Anklage war: »Sie wußten, daß
ich kommen würde, um Quentin Daniels zu sehen?«
»Ja.«
»Und Sie beeilten sich, ihn zu entführen, weil ich ihn nicht mehr antreffen sollte. Sie wußten, was sein
Verschwinden für mich bedeuten würde?«
»Gewiß.«
Sie senkte den Blick und schwieg. Er erhob sich und ging zum Herd, um das Frühstück zu bereiten. Sie sah
ihm stumm zu, wie er Brot röstete und Eier und Speck briet. Seine Bewegungen waren gelassen und sicher, doch
war es nicht die Gewandtheit eines Kochs. Seine Hände bewegten sich mit der Schnelligkeit und Präzision, mit
der ein Techniker die Hebel einer Schalttafel bedient. Sie erinnerte sich plötzlich, wo sie schon einmal jemand so
gekonnt und zugleich so gegen alle Vernunft solche Arbeiten hatte verrichten sehen.
»Haben Sie das von Dr. Akston gelernt?« fragte sie, auf den Herd deutend.
»Unter anderem, ja.«
»Hat er Sie gelehrt, Ihre Zeit… Ihre Zeit!« – sie konnte die Empörung in ihrer Stimme nicht unterdrücken –
»auf eine solche Arbeit zu verwenden?«
»Ich habe meine Zeit auf Arbeiten von weit geringerer Bedeutung verwandt.«
Als er den Teller vor sie hinstellte, fragte sie: »Wo haben Sie das Essen her? Gibt es hier einen
Lebensmittelladen?«
»Den besten der Welt. Lawrence Hammond führt ihn.«
»Wer?«
»Lawrence Hammond, der Automobilfabrikant. Der Speck stammt von Dwight Sanders, früher
Flugzeugfabrikant, und die Eier und die Butter von Richter Narragansett, ehemals Vorsitzender des
Staatsgerichtshofs von Illinois.«
Sie sah betroffen auf ihren Teller, als scheute sie sich, das Essen anzurühren. »Das ist das teuerste Frühstück,
das mir je vorgesetzt wurde, wenn ich bedenke, was die Zeit wert ist, die der Koch und die anderen darauf
verwandt haben.«
»Einerseits ja, aber andererseits wird es das billigste Frühstück sein, das Sie je gegessen haben, denn nichts
von ihm ist durch die Hände der Schmarotzer gegangen, die von jedem Bissen der anderen profitieren wollen.«
Nach einer Pause fragte sie gleichmütig, doch mit einem lauernden Unterton in der Stimme: »Was tun Sie
eigentlich alle hier?«
»Wir leben.«
Nie hatte dieses Wort ihr so echt geklungen.
»Welche Stellung haben Sie hier?« fragte sie weiter. »Midas Mulligan sagte, daß Sie hier arbeiten.«
»Ich bin das Mädchen für alles, möchte ich sagen.«
»Das was?«
»Man ruft mich, wenn irgendeine der technischen Anlagen nicht in Ordnung ist, zum Beispiel die
Stromversorgung.«
Sie sah ihn forschend an. Und plötzlich sprang sie auf, starrte auf den Elektroherd, fiel aber sofort vor
Schmerz aufstöhnend auf ihren Stuhl zurück.
Er lachte. »Ja, so ist es. Doch tragen Sie es mit Fassung, sonst schickt Sie Dr. Hendricks zurück ins Bett.«
»Der Strom…«, stammelte sie, »der Strom hier… wird mit Hilfe Ihres Motors erzeugt?«
»Ja.«
»Er ist gebaut? Er läuft? Er arbeitet?«
»Er hat Ihr Frühstück zubereitet.«
»Ich will ihn sehen.«
»Verrenken Sie sich nicht Ihre armen Knochen noch mehr, um diesen Herd zu untersuchen. Es ist ein
elektrischer Herd wie jeder andere, nur hundertmal billiger im Betrieb. Und das ist alles, was Sie zu sehen
bekommen werden, Miss Taggart.«
»Sie haben versprochen, mir das Tal zu zeigen.«
»Ich werde es Ihnen zeigen. Doch nicht den Generator.«
»Werden Sie mir das übrige jetzt sofort zeigen, sobald wir mit dem Frühstück fertig sind?«
»Wenn Sie es wünschen… und wenn Sie laufen können?«
»Ich kann es.«
Er stand auf, ging zum Telefon und wählte eine Nummer. »Hallo, Midas…? Ja… Hat er…? Ja, sie ist in
Ordnung… Wollen Sie mir Ihren Wagen für heute vermieten…? Danke. Zum üblichen Preis… fünfundzwanzig
Cent… Können Sie ihn rüberschicken…? Haben Sie zufällig einen Spazierstock? Sie wird ihn brauchen… Heute
abend? Ich denke, ja. Gut. Danke.« Er hängte ein. Sie starrte ihn ungläubig ein.
»Habe ich richtig verstanden… Mr. Mulligan, den ich auf ungefähr zweihundert Millionen Dollar schätze,
berechnet Ihnen fünfundzwanzig Cent für die Überlassung seines Wagens?«
»Sie haben richtig verstanden.«
»Aber um Himmels willen, könnte er Ihnen denn den Wagen nicht umsonst, aus Höflichkeit oder aus
Gefälligkeit zur Verfügung stellen?«
Er sah sie eine Weile offen an, als wollte er ihr Gelegenheit geben, den belustigten Ausdruck seines Gesichts
zu studieren. Dann antwortete er: »Miss Taggart, wir haben keine Gesetze, keine Vorschriften, keinerlei
Organisation mit Satzungen in diesem Tal. Wir sind hierher gekommen, um auszuruhen, um uns zu erholen.
Doch wir haben gewisse Bräuche, die wir alle streng beachten, denn sie haben mit den Dingen zu tun, von denen
wir uns erholen wollen. Deshalb warne ich Sie, es gibt ein Wort, das in diesem Tal verboten ist, und es lautet:
‘umsonst’.«
»Entschuldigen Sie«, sagte sie leise. »Sie haben recht.«
Er schenkte ihr noch einmal Kaffee ein und bot ihre eine Zigarette an. Sie lächelte, als sie die Zigarette aus
dem Päckchen gezogen hatte und sie betrachtete. Sie hatte als Logo das Dollarzeichen.
»Wenn Sie heute abend nicht zu müde sind…«, sagte er, »Mulligan hat uns zum Essen eingeladen. Es werden
noch andere Gäste da sein, mit denen Sie vielleicht gern zusammenkommen.«
»Aber gewiß! Ich werde nicht zu müde sein. Ich glaube, ich werde überhaupt niemals mehr müde sein.«
Sie hatten eben das Frühstück beendet, als sie Mulligans Wagen vor dem Haus halten sah. Der Fahrer sprang
heraus, rannte den Pfad zur Tür hinauf und stürzte ins Zimmer, ohne vorher zu klingeln oder anzuklopfen. Sie
brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, daß der keuchende, aufgelöste junge Mann niemand anders war als
Quentin Daniels.
»Miss Taggart«, rief er, nach Atem ringend. »Es tut mir leid!« Der Ton verzweifelten Schuldbewußtseins in
seiner Stimme stand im Widerspruch zu dem Ausdruck strahlender Freude in seinem Gesicht. »Ich habe nie
zuvor mein Wort gebrochen! Es gibt keine Entschuldigung für das, was ich getan habe. Ich kann Sie nicht um
Verzeihung bitten. Ich weiß, Sie werden es mir nicht glauben, doch es ist wahr… ich… ich hatte es einfach
vergessen!«
Sie sah Galt an. »Ich glaube es Ihnen.«
»Ich vergaß, daß ich Ihnen versprochen hatte zu warten. Ich hatte alles vergessen, bis Mr. Mulligan mir vor
wenigen Minuten sagte, daß Sie mit einem Flugzeug hier abgestürzt sind, und dann wußte ich, daß es meine
Schuld war, und wenn Ihnen etwas Ernstes zugestoßen wäre… mein Gott! Geht es Ihnen wieder besser?«
»Ja. Machen Sie sich keine Sorgen. Setzen Sie sich.«
»Ich weiß nicht, wie man sein Ehrenwort vergessen kann. Ich weiß nicht, was mit mir geschehen ist.«
»Ich weiß es.«
»Miss Taggart, ich habe monatelang daran gearbeitet, immer auf Grund dieser einen Hypothese, die ich für
die richtige hielt, doch je länger ich arbeitete, um so hoffnungsloser wurde alles. Während der letzten beiden
Tage hatte ich in meinem Laboratorium über einer mathematischen Gleichung gebrütet, deren Lösung mir immer
weiter zu entschwinden schien. Doch war ich entschlossen, nicht aufzugeben, und wenn ich an Ort und Stelle
sterben müßte. Es war spät in der Nacht, als er hereinkam. Ich glaube, ich habe ihn überhaupt nicht wirklich
bemerkt. Er sagte, er wolle mich sprechen. Ich bat ihn zu warten und arbeitete weiter an meiner Gleichung. Ich
vergaß völlig, daß er da war. Ich weiß nicht, wie lange er neben mir stand und mir zuschaute. Ich erinnere mich
nur, daß plötzlich seine Hand vor meinen Augen auftauchte, mit dem Schwamm all meine Zahlen wegwischte
und eine kurze Formel an die Tafel schrieb. Dann erst nahm ich ihn bewußt wahr. Und ich schrie auf. Die
Formel war zwar nicht der letzte Schlüssel zu dem Motor, doch sie war der Weg zu ihm, ein Weg, an den ich nie
gedacht hatte, den ich aber jetzt sofort als den einzig richtigen erkannte. Ich erinnere mich, daß ich ihn anschrie:
‘Woher wissen Sie…?’ und er antwortete, indem er auf das Foto Ihres Motors zeigte: ‘Ich habe ihn erfunden.’
Und das ist das letzte, woran ich mich erinnern kann, Miss Taggart, ich meine, das letzte, was mich selbst, was
meine eigene Person betrifft, denn dann sprachen wir nur noch über statische Elektrizität und
Energieumwandlung und den Motor.«
»Wir sprachen während des ganzen Fluges tatsächlich nur über Physik«, bemerkte Galt lächelnd.
»Doch vorher fragten Sie mich, ob ich mit Ihnen gehen wollte«, sagte Daniels, »ob ich bereit wäre, nie wieder
zurückzukommen und alles aufzugeben. Was war dieses ‘alles’? Eine Arbeitsstätte, die in Trümmer zerfiel und
vom Dschungel überwuchert wurde, eine Zukunft als Wachhund einer Sklavengesellschaft, ein Wesley Mouch
und die Verordnung 10-289, Kreaturen, niedriger als Tiere. Menschen, die auf dem Bauch kriechen und
grunzend beteuern, daß es keine menschliche Vernunft gibt…! Miss Taggart«, rief er beschwörend aus, »er
fragte mich, ob ich das aufgeben wollte, um mit ihm zu gehen! Er mußte mich zweimal fragen. Ich traute meinen
Ohren nicht beim ersten Mal. Ich konnte nicht begreifen, daß es überhaupt nötig war, einem Menschen diese
Frage zu stellen, daß es jemand geben könnte, der nicht begeistert ja sagte. Mich zu fragen, ob ich mit ihm gehen
wollte…? Ich wäre mit ihm zusammen von einem Wolkenkratzer gesprungen, nur um seine Formel von ihm zu
erfahren, bevor wir auf dem Pflaster zerschellten! «
»Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Daniels«, sagte sie und sah ihn mit einem nachdenklichen Blick an, der
nicht frei von Neid war. »Übrigens, Ihren Kontrakt haben Sie erfüllt. Sie haben mich zu dem Geheimnis des
Motors geführt.«
»Auch hier werde ich eine Art Wachhund sein«, erklärte Daniels mit strahlendem Lächeln. »Mr. Mulligan hat
mir gesagt, er macht mich zum Pförtner. Aber raten Sie mal, wo…? Im Kraftwerk! Und wenn ich fleißig lerne,
werde ich zum Elektriker avancieren. Ist er nicht ein wunderbarer Mann… Midas Mulligan? So wie er will ich
sein, wenn ich einmal sein Alter erreicht habe. Ich will Geld machen! Viel Geld! Millionen! So viele, wie er
gemacht hat! «
»Daniels!« rief sie lachend aus. Sie dachte an den stillen, selbstbeherrschten, nur seiner weltfremden
Wissenschaft lebenden jungen Mann, den sie gekannt hatte. »Was ist los mit Ihnen? Kommen Sie zu sich!
Wissen Sie, was Sie sagen… wo Sie sind?«
»Ich bin hier, Miss Taggart, hier, wo alles möglich ist! Ich werde der größte Elektriker der Welt sein und der
reichste! Ich werde…«
»Sie werden jetzt zurückgehen zu Mr. Mulligan«, unterbrach ihn Galt, »und vierundzwanzig Stunden
schlafen, sonst lasse ich Sie überhaupt nicht in die Nähe des Kraftwerks.«
»Jawohl, Mr. Galt«, erwiderte Daniels gehorsam.
Als sie aus dem Haus traten, war das Sonnenlicht über die Gipfel und Hänge herabgerieselt und hatte einen
Kranz von glitzerndem Schnee und schimmerndem Granit in das Tal gelegt. Ihr war plötzlich, als gäbe es nichts
mehr außerhalb dieses Ringes, und sie gab sich verwundert dem freudigen und stolzen Gefühl hin, innerhalb
sicherer Grenzen zu sein und zu wissen, daß alles, was einen noch angeht, im Bereich der eigenen Augen liegt.
Es verlangte sie danach, die Arme über die Dächer unter ihr auszustrecken und mit ihren Fingerspitzen die
Gipfel auf der anderen Seite des Tals zu berühren. Doch sie konnte ihre Arme nicht heben. Mit einer Hand auf
einen Stock gestützt und mit der anderen auf Galts Arm, ging sie langsam zu dem Wagen, setzte mühsam die
Füße voreinander wie ein Kind, das laufen lernt. Sie saß neben Galt, der um die Stadt herum zu Midas Mulligans
Haus fuhr. Es stand auf einem Hügel und war das größte und einzige zweistöckige Haus im Tal, eine seltsame
Mischung aus Festung und Wohngebäude mit gedrungenen Granitmauern und einer großen, offenen Terrasse.
Galt hielt, um Daniels aussteigen zu lassen, und fuhr dann den Berg hinauf.
Der Gedanke an Mulligans Millionen, der teure Wagen und der Anblick von Galts Händen auf dem Steuerrad
veranlaßten sie, sich zum ersten Mal zu fragen, ob Galt ebenfalls ein reicher Mann war. Sie musterte verstohlen
seine Kleidung. Die grauen Flanellhosen und das weiße Hemd schienen von einer für langes Tragen berechneten
Qualität zu sein. Das Leder seines schmalen Gürtels war gesprungen. Die Uhr an seinem Handgelenk war ein
Meisterwerk der Feinmechanik, doch das Gehäuse bestand aus einfachem, rostfreiem Stahl. Das einzige an ihm,
was an Luxus erinnern konnte, war die Farbe seines Haars, das wie Goldfäden im Fahrtwind wehte.
Plötzlich tauchten hinter einer Wegbiegung grüne Weideflächen auf, die sich bis an ein fernes Gutsgebäude
erstreckten. Sie sah Schafherden, einige Pfe rde, eingezäunte Schweinepferche, die ausladenden Dächer von
Holzscheunen und weit im Hintergrund einen Metallschuppen, der seiner Bauart nach nicht zu der Farm zu
gehören schien. Ein Mann in einem bunten Cowboyhemd kam auf sie zugelaufen. Galt hielt an und winkte ihm,
gab ihr jedoch keine Antwort auf ihren fragenden Blick. Er überließ es ihr selbst, während der Mann näherkam,
zu entdecken, daß es Dwight Sanders war.
»Hallo, Miss Taggart«, begrüßte Sanders sie lächelnd.
Schweigend ließ sie ihren Blick über seine hochgekrempelten Hemdsärmel gleiten, über seine schweren
Stiefel, über das weidende Vieh. Dann sagte sie: »Das ist also alles, was von Sanders Aircraft übrig geblieben
ist.«
»O nein. Sie vergessen den wunderbaren Eindecker, mein bestes Modell, mit dem Sie oben auf dem Hang
eine Bruchlandung gemacht haben.«
»Oh, Sie wissen davon? Ja, ja, es war eines von Ihren Flugzeugen, eine ausgezeichnete Maschine. Doch ich
fürchte, ich habe sie ziemlich übel zugerichtet.«
»Sie sollten sie reparieren lassen.«
»Ich glaube, ich habe ihr den Bauch aufgerissen. Das kann hier niemand reparieren.«
»Ich kann es.«
Dies waren die Worte und der Ton des Selbstvertrauens, die sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte, dies war
die Haltung, die zu erleben sie längst aufgegeben hatte. Doch das Lächeln auf ihren Lippen erstarb. »Wie?«
fragte sie bitter, »Auf Ihrer Schweinefarm?«
»O nein. In meinem Flugzeugwerk.«
»Wo ist es?«
»Wo glauben Sie denn, daß es ist? In dem Gebäude in New Jersey, das Tinky Holloways Vetter von meinen
bankrotten Nachfolgern mit Hilfe einer Regierungsanleihe und eines Steuererlasses erworben hat? In dem
Gebäude, in dem er sechs Maschinen gebaut hat, die nie vom Boden kamen, und acht, die es zwar taten, aber
dann jede mit vierzig Fluggästen an Bord abstürzten?«
»Wo ist es dann?«
»Dort, wo ich wohne.«
Er zeigte den Hang hinauf. Durch die Wipfel der Kiefern sah sie auf dem Boden des Tales das betonierte
Rechteck eines Flugplatzes.
»Wir haben einige Maschinen, und es ist meine Aufgabe, sie betriebsfähig zu erhalten«, sagte er. »Ich bin hier
der Schweinefarmer und der Flugwart. Und ich kann sagen, ich habe schöne Erfolge in der Produktion von
Speck und Schinken, und zwar ohne Hilfe der Leute, von denen ich sie früher kaufen mußte. Doch diese Leute
können keine Flugzeuge ohne mich bauen, und ohne mich können sie nicht einmal Schinken und Speck
produzieren.«
»Aber Sie haben doch inzwischen keine weiteren Flugzeuge gebaut?«
»Nein, das habe ich nicht. Und ich habe auch nicht die Dieselmotoren gebaut, die ich Ihnen einmal versprach.
Seit ich Sie das letzte Mal sah, habe ich nur einen Traktor entworfen, und davon habe ich nur einen einzigen
gebaut, und zwar als Einzelherstellung. Eine Massenproduktion war auch nicht nötig. Denn mit diesem Traktor
schaffe ich in vier Stunden soviel wie ein normaler Traktor in acht. Dort haben Sie den Beweis…« Sein
ausgestreckter Arm, der über das Tal hinwegzeigte, bewegte sich wie ein königliches Zepter… »Die Hühner-
und Milchfarm von Richter Narragansett…« Sein Zeigefinger deutete auf einen langen, flachen Streifen
grünlichen Goldes am Fuße einer Felswand, dann auf eine Fläche saftigen Grüns… »und die Getreidefelder und
Tabakstauden von Midas Mulligan…« Sein Arm hob sich und schwenkte zu einem Hügel hinüber, auf dem
lange Reihen junger Bäume angepflanzt waren… »und dort die Obstgärten von Richard Halley.«
Ihre Augen waren langsam dem weiten Bogen gefolgt, den sein Arm beschrieben hatte, und zogen ihm immer
wieder nach, lange nachdem er seinen Arm wieder hatte sinken lassen. Doch sie sagte nur: »Ich sehe.«
»Glauben Sie jetzt, daß ich Ihre Maschine reparieren kann?« fragte er.
»Ja. Aber haben Sie sie denn gesehen?«
»Gewiß. Midas bestellte sofort zwei Ärzte; Hendricks für Sie und mich für Ihr Flugzeug. Ich kann es wieder
klarmachen. Doch es wird eine teure Angelegenheit für Sie werden.«
»Wieviel wird die Reparatur kosten?«
»Zweihundert Dollar.«
»Zweihundert Dollar?« wiederholte sie ungläubig. Der Preis erschien ihr viel zu niedrig.
»In Gold, Miss Taggart.«
»Ach so…! Und wo kann ich das Gold kaufen?«
»Überhaupt nicht«, sagte Galt.
Sie warf den Kopf herum und sah ihn herausfordernd an. »Warum nicht?«
»Dort, wo Sie herkommen, ist es durch Gesetz verboten.«
»Hier bei Ihnen nicht?«
»Nein.«
»Dann verkaufen Sie es mir. Bestimmen Sie selbst den Wechselkurs. Nennen Sie mir Ihren Preis – in meinem
Geld.«
»In Ihrem Geld? Sie besitzen keinen Penny, Miss Taggart.«
»Wie bitte?«
»Sie sind arm wie eine Kirchenmaus in diesem Tal. Sie besitzen Millionen in Taggart-Transcontinental-
Aktien, doch damit können Sie nicht einmal ein Pfund Speck auf der Sanders-Schweinefarm kaufen.«
»Ich verstehe.«
Galt lächelte und wandte sich an Sanders. »Bringen Sie die Maschine in Ordnung. Miss Taggart wird schon
irgendwie dafür bezahlen.« Er drückte auf den Starter und fuhr weiter. Sie saß steif neben ihm und stellte keine
Fragen.
Ein Streifen von grellem Türkisblau tauchte zwischen den Felsen auf, die sich am Ende des Weges erhoben.
Sie brauchte mehrere Sekunden, bis sie begriff, daß es ein See war. Das unbewegte Wasser verdichtete das Blau
des Himmels und das Grün der mit Kiefern bewachsenen Berge zu einer Farbe von so leuchtender Reinheit, daß
selbst der Himmel vor ihr zu verblassen schien. Ein brodelnder und dampfender Wasserlauf schoß zwischen den
Kiefern hervor und stürzte über die Felsenklippen hinunter in den See. Neben dem Wasserfall stand ein kleines
Steingebäude.
Als Galt vor der offenen Tür hielt, trat ein Mann im Arbeitsanzug über die Schwelle. Es war Dick McNamara,
der einst ihr bester Bauunternehmer gewesen war.
»Guten Tag, Miss Taggart!« sagte er mit fröhlicher Stimme. »Es freut mich zu sehen, daß Sie nicht ernstlich
verletzt sind.«
Sie neigte den Kopf in schweigender Begrüßung, wie vor der Erinnerung an Verlust und Schmerz der
Vergangenheit, an einen Abend der Verzweiflung und an das traurige Gesicht, mit dem Eddie Willers ihr
mitgeteilt hatte, daß dieser Mann verschwunden war. Sie dachte, ernstlich verletzt wurde ich nicht bei meinem
Absturz mit dem Flugzeug, wohl aber an jenem Abend in meinem einsamen Büro. Und laut sagte sie: »Was tun
Sie hier? Wofür haben Sie mich eigentlich im denkbar schlimmsten Augenblick im Stich gelassen?«
Er lächelte und zeigte auf das Gebäude hinter sich und auf den felsigen Hang, wo eine Wasserleitungsröhre
im Unterholz verschwand. »Ich sorge für die technischen Leitungen im Tal«, sagte er, »Wasser, Strom und
Telefon.«
»Allein?«
»Früher ja. Doch im letzten Jahr haben wir uns so stark vergrößert, daß ich drei Männer als Gehilfen
einstellen mußte.«
»Was für Männer? Woher kamen sie?«
»Nun, einer von ihnen ist ein Professor der Wirtschaftswissenschaften, der draußen keine Stellung bekam,
weil er lehrte, daß man nicht mehr verbrauchen soll, als man produziert. Der zweite ist ein Geschichtsprofessor,
der keine Stellung bekam, weil er lehrte, daß nicht die Bewohner der Slums dieses Land geschaffen haben. Und
der dritte ist ein Professor der Psychologie, der keine Stellung bekam, weil er lehrte, daß die Menschen fähig
sind zu denken.«
»Und diese drei Professoren arbeiten jetzt bei Ihnen als Klempner und Leitungsflicker?«
»Sie würden staunen, wie gut sie ihre Sache machen.«
»Und wem haben sie unsere Hochschulen überlassen?«
»Denen, die dort nicht unerwünscht sind.« Er grinste. »Wie lange ist es her, daß ich Sie im Stich gelassen
habe, Miss Taggart? Noch nicht ganz drei Jahre, nicht wahr? Ich weigerte mich, Ihre John-Galt-Linie zu bauen.
Wie weit sind Sie mit Ihrer Linie gekommen? Ich habe inzwischen die paar Meilen, die Mulligan gebaut hatte,
ehe ich hierherkam, zu einem Netz von mehreren hundert Meilen von Rohren und Drähten erweitert, und das nur
innerhalb dieses Tales.«
Ihm entging nicht das kurze Aufleuchten fachmännischer Anerkennung in ihrem Blick. Er lächelte, sah ihren
Begleiter an und fuhr fort: »Sehen Sie, Miss Taggart, wenn wir die John-Galt-Linie im übertragenen Sinne als
eine Richtschnur des Handelns betrachten, dann bin ich derjenige, der ihr gefolgt ist, und Sie haben sie
verraten.«
Sie warf einen Blick auf Galt. Er sah sie an, doch sie konnte in seinen Zügen nicht lesen, was er dachte.
Während sie am Rande des Sees weiterfuhren, fragte sie ihn: »Sie haben diese Strecke bewußt gewählt, nicht
wahr? Sie wollen mir alle die Männer zeigen, die…«, sie stockte, weil es ihr aus einem unerklärlichen Grunde
widerstrebte, auszusprechen, was sie gedacht hatte, und sagte statt dessen: »…die ich verloren habe?«
»Ich zeige Ihnen alle, die ich Ihnen entführt habe«, erwiderte er freimütig, fast herausfordernd.
Dies war der Ursprung der Schuldlosigkeit auf seinem Gesicht, dachte sie; er hatte die Worte benutzt, die ihr
auf der Zunge lagen und die sie ihm ersparen wollte, er hatte die Schonung abgelehnt, die nach seinen
Wertmaßstäben eine Beleidigung war, und mit Stolz ausgesprochen, was sie ihm vorwerfen wollte.
Sie sah einen hölzernen Steg in den See hinausragen. Auf den Planken lag eine junge Frau in der Sonne und
beobachtete die Schwimmer mehrerer ausgeworfener Angeln. Sie blickte auf, als der Wagen sich ihr näherte,
sprang mit einer schnellen, ein wenig zu schnellen Bewegung auf die Füße und lief von der Spitze des Stegs
nach dem Uferweg. Sie trug lange, bis über ihre nackten Knie hochgekrempelte Hosen. Ihr langes Haar war
zerzaust. Ihre großen Augen leuchteten freudig. Galt winkte ihr zu.
»Hallo, John! Wann bist du zurückgekommen?« rief sie im Laufen. »Heute morgen«, antwortete er lächelnd,
fuhr aber weiter.
Dagny wandte den Kopf nach hinten und sah den Blick, mit dem die junge Frau, die jetzt stehen geblieben
war, Galt nachschaute. Und obwohl zugleich entsagende Hoffnungslosigkeit aus der Verehrung dieses Blickes
sprach, empfand sie den Schmerz der Eifersucht.
»Wer ist das?« fragte sie.
»Unsere beste Fischerin. Sie liefert den Fisch für Hammonds Lebensmittelladen.«
»Was ist sie außerdem?«
»Sie haben also schon bemerkt, daß es für jeden von uns hier ein ‘Außerdem’ gibt. Sie ist Schriftstellerin.
Draußen wollte niemand verlegen, was sie schrieb. Sie hält die Sprache für ein Werkzeug der Vernunft.«
Der Wagen bog in einen schmalen Weg ein, der durch eine dichte Wildnis von Kiefern und Unterholz in eine
steile Schlucht aufstieg. Sie wußte, was sie erwartete, als sie ein primitives, an einen Baum genageltes
Wegschild sah, auf dem über einem Pfeil die Worte »Buena-Esperanza-Paß« standen.
Der Weg führte aber nicht auf einen Paß, sondern endete vor einer schmalen, hohen Mauer von
schieferartigem Fels, an der ein dichtes Gewirr von Rohren, Pumpen und Ventilen wie ein Strang knotiger
Schlinggewächse emporkletterte. Und auf der Höhe der Mauer ragte ein riesiges hölzernes Schild in den
Himmel, und die stolze Gewalt der Buchstaben, die ihre Botschaft einem undurchdringlichen Dickicht von
Kiefern und Farngestrüpp verkündeten, war beredter und vertrauter als die Worte, die sie bildete: Wyatt Oil. In
einem schillernden Strahl floß Öl aus dem Mundstück eines Rohres in einen Tank am Fuß der Mauer, als
einziger Zeuge eines geheimnisvollen Vorganges im Innern des Gesteins, als unscheinbares Endprodukt dieser
gewaltigen, verwickelten Anlage. Doch die Anlage hatte keine Ähnlichkeit mit einem Bohrturm, und sie
erkannte die Größe des Geheimnisses, das der Buena-Esperanza-Paß barg, denn dies war Öl, gewonnen aus
Schiefer, gewonnen nach einer Methode, deren Ergiebigkeit allen bisherigen menschlichen Erfahrungen
widersprach.
Ellis Wyatt stand auf einem Vorsprung des Felsens und beobachtete die Skala eines Meßinstrumentes, das in
den Stein eingelassen war. Er sah den Wagen am Fuß der Mauer halten und rief hinunter: »Hallo, Dagny! Bin
sofort bei Ihnen!«
Jetzt sah sie auch die beiden Gehilfen Wyatts, ein großes Muskelpaket, das auf halber Höhe der Mauer eine
Pumpe bediente, und einen jungen Mann, der an dem Tank arbeitete. Der junge Mann hatte hellblondes Haar und
ein Gesicht von ungewöhnlich klaren Formen. Sie glaubte, dieses Gesicht zu kennen, doch sie konnte sich nicht
erinnern, wann und wo sie es gesehen hatte. Der junge Mann bemerkte ihren fragenden Blick, lächelte und pfiff,
als wollte er ihr helfen, leise, fast unhörbar die ersten Noten von Halleys Fünftem Konzert. Es war der junge
Techniker des Comet.
Sie lachte. »Es war also das Fünfte Klavierkonzert von Richard Halley.«
»Gewiß«, erwiderte er. »Doch einem Streikbrecher konnte ich das natürlich nicht verraten.«
»Einem was?«
»Wofür bezahle ich Sie?« fragte Ellis Wyatt, der jetzt herankam, seinen Gehilfen. Der junge Mann lachte und
griff nach dem Schraubenschlüssel, den er aus der Hand gelegt hatte. »Miss Taggart konnte Sie nicht
rausschmeißen, wenn Sie bei der Arbeit geschwatzt haben, aber ich kann es.«
»Das ist einer der Gründe, weshalb ich der Eisenbahn den Rücken gekehrt habe, Miss Taggart«, sagte der
junge Mann.
»Wußten Sie, daß ich es war, der Ihnen Ihren besten Techniker entführte?« sagte Wyatt. »Jetzt ist er mein
bester Schmierer. Doch auf die Dauer werde ich ihn ebensowenig halten können wie Sie. Er wird mir auch
weglaufen.«
»Und zu wem wird er dann überlaufen?« fragte sie.
»Zur Musik. Zu Richard Halley. Er ist sein bester Schüler.«
Sie lächelte. »Ich weiß, hier ist der Ort, wo man nur Aristokraten für die stumpfsinnigsten Arbeiten
verwendet.«
»Sie sind alle Aristokraten, das ist wahr«, erwiderte Wyatt, »denn sie wissen, daß es keine Arbeit gibt, die
ehrwidrig ist, sondern nur beschränkte Menschen, die sich einbilden, für ehrliche Arbeit zu vornehm zu sein.«
Das Muskelpaket über ihnen an der Pumpe beobachtete sie und verfolgte neugierig ihr Gespräch. Sie blickte
zu ihm hinauf. Er sah aus wie ein Lastwagenfahrer. Sie fragte ihn: »Was waren Sie draußen? Professor der
vergleichenden Sprachwissenschaft, nehme ich an.«
»Nein«, erwiderte er. »Ich war Lastwagenfahrer.« Dann grinste er und fügte hinzu: »Das wollte ich aber nicht
bleiben.«
Ellis Wyatt sah sich in seinem Reich mit einem Blick um, aus dem zugleich Stolz und das Verlangen nach
Anerkennung sprachen. Es war der Stolz eines Malers bei der Eröffnung seiner Ausstellung in einer Galerie.
Sie deutete lächelnd auf die Anlage und fragte: »Schieferöl?«
»Ja.«
»Ist es das gleiche Verfahren, an dem Sie gearbeitet haben, als Sie noch auf der Erde waren?« Sie hielt die
Luft an, erschrocken über die Worte, die sie unbewußt ausgesprochen hatte.
Er lachte. »Als ich in der Hölle war… Ja. Jetzt bin ich auf der Erde.«
»Wieviel erzeugen Sie?«
»Täglich zweihundert Faß.«
Bedauern klang aus ihrer Stimme, als sie sagte: »Mit diesem Verfahren wollten Sie täglich fünf Tankzüge
füllen.«
»Dagny«, erwiderte er ernst und deutete fast feierlich auf den Tank, »ein Liter von diesem Öl ist mir mehr
wert als ein ganzer Zug davon drüben in der Hölle, denn er gehört mir, mir allein; jeder Tropfen ist mein
Eigentum, über das kein anderer verfügen kann als ich.« Er streckte seine gespreizten Hände aus, stellte die
Ölspuren auf ihnen wie einen Schatz zur Schau, und ein schwarzer Tropfen funkelte an einer Fingerspitze wie
eine dunkle Gemme in der Sonne. »Mein«, fuhr er beschwörend fort. »Sind Sie so sehr dem Ungeist verfallen,
daß Sie vergessen haben, was dieses Wort bedeutet, welches stolze Gefühl sich damit verbindet? Sie sollten
versuchen, es wieder zu lernen.«
»Sie vergraben sich in der Wildnis«, erwiderte sie schroff, »und erzeugen täglich zweihundert Faß Öl,
während Sie die Welt damit überfluten könnten. «
»Wozu? Um die Plünderer zu füttern?«
»Nein! Um den Reichtum zu ernten, den Sie gesät haben.«
»Ich bin jetzt reicher, als ich es je in der Welt war. Was ist Reichtum anderes als ein Mittel, sein Leben zu
verlängern? Es gibt zwei Wege, es zu tun: Entweder man erzeugt mehr, oder man erzeugt schneller. Und das tue
ich: Ich gewinne Zeit.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Ich mache alles, was ich brauche, selbst. Ich verbessere meine Erzeugungsmethoden, und um jede Stunde,
die ich gewinne, verlängere ich mein Leben. Früher benötigte ich fünf Stunden, um diesen Tank zu füllen, jetzt
nur noch drei. Die zwei Stunden, die ich so spare, gehören unbestritten mir, als wäre mein Tod für je fünf
Stunden, die mir zugedacht waren, um weitere zwei hinausgeschoben. Es sind zwei Stunden, die ich bei einer
Arbeit erübrige, um sie für eine andere Aufgabe zu verwenden, zwei Stunden, in denen ich daran arbeiten kann,
meine Methoden noch mehr zu vervollkommnen, um zu wachsen, um vorwärtszukommen. Dies ist mein
Sparkonto, auf das ich meinen Gewinn einzahle. Gibt es draußen in der Welt ein Panzergewölbe, in dem dieses
mein erspartes Eigentum sicher wäre?«
»Doch welchen Spielraum haben Sie hier, um zu wachsen, um vorwärtszukommen? Wo ist Ihr Markt, auf
dem Sie Ihren Absatz steigern, Ihren Profit erhöhen können?«
Er lächelte überlegen. »Mein Markt? Mein Profit? Ich arbeite hier für den Nutzen, nicht den Profit – für
meinen Nutzen und nicht für den Profit der Plünderer. Nur diejenigen, die mein Leben bereichern, sind mein
Markt. Nur diejenigen, die schaffen, nicht diejenigen, die nur verbrauchen, sollten auf dem Markt zugelassen
sein. Ich handle nur mit denen, die mir etwas zu bieten haben, und nicht mit denen, die nur etwas haben wollen,
und das möglichst noch umsonst. Wenn mein Öl mich billiger zu stehen kommt, verlange ich dafür einen
geringeren Preis von denjenigen, denen ich es verkaufe, um von ihnen Dinge zu erwerben, die ich brauche. So
verlängere ich mit jedem Liter meines Öls, das sie verbrauchen, ihr Leben um eine zusätzliche Zeitspanne. Und
da sie Menschen sind wie ich, bemühen auch sie sich, die Dinge, die sie erzeugen, schneller zu erzeugen, und
verlängern so mein Leben zusätzlich um eine Minute, eine Stunde oder einen Tag durch das Brot, die Kleider,
das Holz und das Metall, durch alles, was ich bei ihnen kaufe« er warf einen Blick auf Galt – »und um ein
zusätzliches Jahr durch den Strom, den ich jeden Monat abnehme. So ist unser Markt beschaffen, und so
regulieren sich bei uns Angebot und Nachfrage und damit die Preise; es ist also himmelweit verschieden von den
korrupten Methoden der Welt da draußen. In welche stinkenden Abflußkanäle hat man dort unsere durch unsere
Arbeit und unseren Verstand ersparten Stunden und Tage gegossen? Sie haben uns gezwungen, unser Leben
ihrem gefräßigen Moloch ‘Umsonst’, ihrem Faß ohne Boden, dem ‘Fortschritt ohne eigenes Verdienst’, zu
opfern. Wir fördern den Erfolg, nicht das Versagen. Wir mehren die echten Werte, wir päppeln keine verlogenen
Gefühle hoch. Wir sind frei, unabhängig voneinander, und dennoch wachsen wir miteinander. Reichtum, Dagny?
Welcher Reichtum ist größer, als freier Herr seines Lebens zu sein und es zu leben, um zu wachsen? Alles, was
lebt, muß wachsen. Nichts kann stillstehen. Was nicht wächst, muß untergehen. Sehen Sie hier…« Er zeigte auf
eine Pflanze, die sich unter einem schweren Felsblock hervorkämpfte. Ein langer, knorriger Stamm, verkrampft
und verdreht durch unnatürlich behindertes Wachstum, mit welken, gelben Resten unentwickelter Blätter und
einem einzigen grünenden Zweig an der Spitze, reckte sich der Sonne mit der Verzweiflung einer letzten,
sinnlosen Anstrengung entgegen. »Das ist das Schicksal, das sie uns drüben in der Hölle zugedacht hatten.
Können Sie sich vorstellen, daß ich mich ihm unterwerfe?«
»Nein«, antwortete sie leise.
»Und daß er es tun könnte?« Er zeigte auf Galt.
»Mein Gott, nein!«
»Dann wundern Sie sich über nichts mehr, was Sie in diesem Tal noch zu sehen bekommen.«
Sie schwieg, als sie weiterfuhren. Auch Galt blieb stumm.
Im dichten Grün eines nahen Waldes sah sie plötzlich eine Kiefer sich zur Seite neigen und krachend
zwischen den anderen Stämmen verschwinden. Der Baum war von Menschenhand gefällt worden.
»Wer ist der Holzfäller bei Ihnen?« fragte sie.
»Ted Nielsen.«
Der Weg wurde jetzt weniger kurvenreich und fiel sanfter ab. Inmitten eines rostbraunen Hanges sah sie zwei
Vierecke von unterschiedlicher grüner Färbung, das dunkle, staubige Grün von Kartoffelstauden und das helle,
silbrige Grün von Kohlköpfen. Ein Mann in rotem Hemd fuhr auf einem kleinen Traktor durch die Reihen und
jätete Unkraut.
»Wer ist hier der Kohlkönig?« fragte sie.
»Roger Marsh.«
Sie näherten sich der Sohle des Tales. Sie sah unmittelbar vor sich die Dächer der Siedlung und in der Ferne
den kleinen leuchtenden Punkt des goldenen Dollarzeichens. Galt hielt vor dem ersten Gebäude, das auf einem
flachen Hügelrücken stand. Es war ein aus Backsteinen erbautes Fabrikgebäude, aus dessen Schornstein
Rauchwolken stiegen, die an der Unterseite rötlich schimmerten. Obwohl sie entschlossen war, sich über nichts
mehr zu wundern, traf sie ein leichter Schock, als sie das Schild über dem Tor las. Es trag die Aufschrift
»Stockton Foundry«.
Während sie, auf ihren Stock gestützt, aus dem Sonnenlicht in das trübe Dunkel der Werkhalle trat, befiel sie
zugleich ein Gefühl der Fremdheit und des Heimwehs. Dies war der industrielle Osten, den sie in den letzten
Stunden um Jahrhunderte hinter sich gelassen zu haben glaubte. Dies war der alte, vertraute, der geliebte Anblick
von rotglühenden Sturzbächen, die zu grauen Stahlstangen erstarrten, von Funkenregen aus einem unsichtbaren
Himmel, von Flammen, die plötzlich aus dunklem Nebel züngelten, von weißem Metall, das in Sandformen
flimmerte. Der Dunst verbarg die Wände des Baus, löste dessen Dimensionen auf, und einen Augenblick lang
war ihr, als stände sie in der großen, jetzt stillgelegten Gießerei in Stockton, Colorado, in Nielsens
Motorenfabrik oder in Reardens Stahlwerk.
»Hi, Dagny!«
Das lächelnde Gesicht, das aus dem Dunst heraus auf sie zukam, gehörte Andrew Stockton, und sie sah eine
rußige Hand sich ihr in einer Geste selbstbewußten Stolzes entgegenstrecken, die ihre Visionen von eben noch
einmal wachrief.
Sie griff nach dieser rußigen Hand und drückte sie kräftig. »Hallo«, sagte sie leise, nicht wissend, ob sie die
Vergangenheit oder die Zukunft grüßte. Dann schüttelte sie den Kopf und fügte hinzu: »Wie kommt es, daß Sie
hier nicht Kartoffeln pflanzen oder Schuhe flicken? Sie sind Ihrem alten Beruf tatsächlich treu geblieben?«
»Ach, die Schuhe flickt hier Calvin Atwood vom Kraftwerk der Stadt New York. Im übrigen ist mein Beruf
einer der ältesten und wird überall sofort gebraucht. Und trotzdem hatte ich am Anfang hier schwer zu kämpfen.
Ich mußte zunächst einen Konkurrenten aus dem Feld schlagen.«
»Wieso das?«
Er grinste und deutete auf eine Glastür, hinter der ein sonnendurchfluteter Raum lag. »Das ist mein
geschlagener Konkurrent«, sagte er.
Sie sah einen jungen Mann über einen langen Tisch gebeugt. Er arbeitete an dem Modell für die Gußform
eines Bohrkopfes. Er hatte die schlanken, kräftigen Finger eines Pianisten und das gespannte Gesicht eines
Chirurgen, der eine schwierige Operation durchfuhrt.
»Er ist mein Modelleur«, sagte Stockton. »Als ich hierher kam, betrieben er und sein Partner eine Art von
kombinierter Handgießerei und Reparaturwerkstatt. Ich eröffnete eine richtige Gießerei und nahm ihnen in
kurzer Zeit alle Kunden weg. Der Junge verstand nicht viel von unserem Beruf und übte ihn nur als
Nebenbeschäftigung aus. Er ist nämlich ein ehrgeiziger Bildhauer. Und so kam es, daß er mein Angestellter
wurde. Er verdient jetzt innerhalb weniger Stunden mehr Geld als in seiner eigenen Gießerei. Sein Partner war
ein Chemiker, der jetzt in die Landwirtschaft abgewandert ist. Er stellt ein Düngemittel her, das die Ernteerträge
hier im Tal zum Teil verdoppelt hat… Sprachen Sie nicht von Kartoffeln? – bei Kartoffeln fast verdreifacht.«
»Demnach könnte ein anderer Sie ebenfalls aus dem Felde schlagen und aus Ihrem Beruf drängen?«
»Gewiß, jederzeit. Ich kenne einen Mann, der es könnte und auch tun wird, wenn er hierher kommt. Doch
weiß Gott! – ich würde bei ihm als Schornsteinfeger arbeiten. Er würde dreimal soviel produzieren wie jeder
andere.«
»Wer denn?«
»Hank Rearden.«
»Ja…«, sagte sie leise. »O ja!«
Sie fragte sich, warum sie so spontan zugestimmt hatte. Zugleich hielt sie es für grotesk, sich Hank Rearden in
diesem Tal vorzustellen. Und doch war sein Platz hier, gerade er gehörte hierher. Dies war der Ort, nach dem er
in seiner Jugend aufgebrochen war und den er während seines ganzen Lebens vergeblich gesucht, das Ziel, um
das er verzweifelt gekämpft hatte. Die flammengeröteten Spiralen des aufsteigenden Dampfes erschienen ihr wie
der Rauch eines heiligen Beschwörungsfeuers, und während vor ihrem geistigen Auge wie ein Spruchband der
Satz vorüberzog: »Ewig jung bleibt, wer erreicht, was er in seiner Jugend erträumt hat«, hörte sie den
zerknitterten kleinen Mann in dem Slum-Diner sagen: »John Galt hat den Jungbrunnen auf dem Gipfel eines
Berges gefunden und wollte ihn den Menschen bringen. Doch er kam nie zurück, denn er erkannte, daß er ihn
nicht hinunterschaffen konnte.«
In der Tiefe des Dunstes schoß eine Funkengarbe hoch, und sie sah den breiten Rücken eines Vorarbeiters, der
mit dem Arm weit ausholte, um einen unsichtbaren Arbeitsvorgang zu lenken. Jetzt warf er den Kopf herum und
schrie jemand einen Befehl zu, und sie erkannte das Profil, und ihre Augen weiteten sich. Stockton sah ihr
Erstaunen, lachte auf und rief in den Dunst:
»Ken! Kommen Sie mal her! Hier ist eine alte Freundin von Ihnen!«
Noch immer ungläubig starrte sie Ken Danagger an, als er auf sie zukam. Der Großindustrielle, den sie so
verzweifelt an seinem Schreibtisch zu halten versucht hatte, von dem aus er eine kleine Welt beherrschte, steckte
in einem völlig verschmutzten Arbeitsanzug. Sein Gesicht darüber leuchtete hell vor Freude.
»Hallo, Miss Taggart. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß wir uns bald wiedertreffen würden.«
Wie in Zustimmung und zum Gruß neigte sie den Kopf, doch ihre Hand umklammerte schmerzhaft die
Krücke ihres Stockes, während sie ihre letzte Begegnung noch einmal im Geist erlebte, die qualvolle Stunde des
Wartens, dann das lächelnde Gesicht über dem Schreibtisch und das Klicken einer Glastür, die sich hinter einem
Fremden schloß.
So kurz war der inhaltsvolle Augenblick der Erinnerung, daß die beiden Männer vor ihr das Neigen ihres
Kopfes nur für einen Gruß halten mochten, doch als sie den Blick wieder hob, sah sie Galt an, und in seinen
Augen erkannte sie, daß er sie verstand; er las in ihrem Gesicht die aufsteigende Erkenntnis, daß er der Mann
gewesen war, der Danaggers Büro verlassen hatte, als sie es an jenem Tag betrat. Doch sein Gesicht gab ihr
keine Antwort; aus ihm sprach der feierliche Ernst, mit dem ein Mensch sich der Tatsache stellt, daß Wahrheit
Wahrheit ist.
»Ich hatte es nicht geglaubt«, sagte sie leise zu Danagger. »Ich hatte nicht erwartet, Sie je wiederzusehen.«
Danagger sah sie an, als hätte er sie früher einmal als vielversprechendes Kind entdeckt, und betrachtete sie
nun mit zärtlicher Neugier. »Ich weiß«, sagte er. »Doch warum schauen Sie mich so entsetzt an?«
»Ich… ach, es ist alles so widersinnig, so unbegreiflich… das zum Beispiel.« Sie deutete auf seine schmutzige
Arbeitskleidung.
»Was gefällt Ihnen nicht an meiner Kleidung?«
»Ich meine… ist dies das Ende des neuen Weges, den Sie gehen wollten?«
»Beim Himmel, nein! Es ist der Anfang.«
»Und was ist Ihr Ziel?«
»Bergbau. Allerdings nicht Kohle, sondern Eisen.«
»Wo?«
Er zeigte in die Richtung der Berge. »Hier an Ort und Stelle. Haben Sie je erlebt, daß Midas Mulligans Nase
sich geirrt hätte? Sie würden staunen, was man in diesem Felsen finden kann, wenn man zu suchen versteht. Und
das ist es, was ich getan habe, ich habe gesucht und suche weiter.«
»Und wenn Sie kein Eisenerz finden?«
Er zuckte die Achseln. »Nun, dann gibt es anderes zu tun. Ich habe in meinem Leben immer zu wenig Zeit
gehabt, nie genug, um alles zu tun, was ich tun wollte.«
Mit einem Blick fast spöttischer Neugier wandte sie sich an Stockton. »Ziehen Sie sich da nicht einen
Lehrling groß, der Ihr gefährlichster Konkurrent werden kann?«
»Das ist die Sorte, die ich am liebsten einstelle. Dagny, haben Sie wirklich zu lange unter den Plünderern
gelebt? Denken Sie auch schon, daß die Tüchtigkeit eines Menschen eine Gefahr für die anderen ist?«
»O nein! Ich war die einzige unter ihnen, die nicht so dachte.«
»Jemand, der Angst hat, die fähigste Kraft zu engagieren, die er finden kann, ist ein Stümper und ein Betrüger
in seinem Geschäft, nicht wert, es zu betreiben. Der verächtlichste Mensch auf Erden, verächtlicher als der
gemeinste Verbrecher, ist für mich der Unternehmer, der jemand nicht einstellt, weil er ihn für zu tüchtig hält. So
habe ich immer gedacht und… sagen Sie, worüber lächeln Sie?«
Sie hatte gelächelt, während sie ihm zuhörte, doch es war ein Lächeln ungläubigen Staunens. »Es ist so
verblüffend zu hören, was Sie sagen«, erwiderte sie, »weil es so richtig ist.«
»Wie kann ein Mensch, der seinen Verstand gebraucht, anders denken?«
Sie lachte leise vor sich hin. »Sie müssen nämlich wissen, als ich ein Kind war, erlaubte ich, jeder
Unternehmer müßte so denken.«
»Und jetzt?«
»Inzwischen habe ich gelernt, es von niemand zu erwarten.«
»Aber Sie selbst glauben doch, daß es richtig ist?«
»Ich habe verlernt, bei den anderen damit zu rechnen.«
»Aber zum Teufel, es ist doch logisch!«
»Ich habe es aufgegeben, an die Vernunft der Menschen zu glauben.«
»Das darf ein Mensch nie tun, wenn er sich nicht selbst aufgeben will«, sagte Ken Danagger.
Sie saßen wieder im Wagen und fuhren die letzte Steigung des Weges hinunter, als sie Galt ansah und er sich
ihr im gleichen Augenblick zuwandte, als hätte er es erwartet.
»Sie waren an dem Tag bei Danagger, nicht wahr?« fragte sie.
»Ja.«
»Wußten Sie, daß ich draußen wartete?«
»Ja.«
»Wußten Sie, was es für mich bedeutete, hinter jener verschlossenen Tür zu warten?«
Sie hätte nicht zu sagen gewußt, was für ein Blick es war, mit dem er sie ansah. Es war kein Blick des
Mitleids, kein Bedauern über den Schmerz, den er ihr zugefügt hatte; es war ein Blick, mit dem man andere
leiden sieht, doch es schien nicht ihr Leben zu sein, das er sah.
»0 ja«, erwiderte er ruhig, fast zufrieden.
Der Anblick des ersten Ladens, der an der einzigen Straße des Tales auftauchte, war überraschend wie der
eines Freilichttheaters. Sie glaubte eine offene Bühne zu sehen, die in den heiteren Farben einer
Operetteninszenierung dekoriert war, mit roten Vierecken, grünen Kreisen, goldenen Dreiecken und silbernen
Säulen, die nichts anderes waren als Kisten voll Tomaten, Körbe voll Salat, Pyramiden von Orangen und Stapel
von Konservendosen. Der Firmenname auf dem Besatz des buntgestreiften Sonnendaches lautete: Hammond
Grocery Market. Ein Mann in Hemdsärmeln, eine vornehme Erscheinung mit kühnem Profil und grauen
Schläfen, war dabei, einen Klumpen Butter für eine attraktive junge Frau abzuwiegen, die an der Theke stand;
ihre Haltung hatte die Schwerelosigkeit einer Tänzerin, und der Rock ihres Baumwollkleides wehte leicht im
Wind w ie ein Ballett-Kostüm. Dagny lächelte unwillkürlich, obwohl der Mann Lawrence Hammond war.
Die Läden waren kleine, einstöckige Gebäude, und während sie an ihnen vorbeifuhren, las sie vertraute
Namen auf ihren Schildern, als wären sie Überschriften auf den Seiten eines Buches, die vom Fahrtwind des
Wagens umgeblättert wurden: Mulligan General Store, Atwood Leather Goods, Nielsen Lumber, dann über dem
Tor eines kleinen Backsteingebäudes das Dollarzeichen und den Schriftzug: Mulligan Tobacco Company. »Wer
ist Mulligans Teilhaber?« fragte Dagny.
»Dr. Akston«, erwiderte Galt.
Sie sah nur wenige Leute auf der Straße, mehr Männer als Frauen, und sie bewegten sich mit der bewußten
Eile von Menschen, die einem wichtigen Geschäft nachgehen. Sie blieben beim Anblick des Wagens stehen und
winkten Galt zu. Sie musterten Dagny ohne jede Spur von Überraschung, sie zu sehen. »Werde ich schon lange
hier erwartet?« fragte sie.
»Sie werden immer noch erwartet«, antwortete er.
Jetzt sah sie ein würfelförmiges Gebäude aus großen Glaswänden, die in Holzrahmen eingesetzt waren, und
einen Augenblick lang schien ihr der Rahmen vor ihr nur dazu gemacht, das Gemälde einer Frau einzufassen,
einer großen, zerbrechlich schlanken Frau mit hellblondem Haar und einem Gesicht von solcher Schönheit, daß
es wie verschleiert erschien, als hätte der Maler diese Schönheit nur angedeutet, weil er sich unfähig fühlte, sie
mit Farben wiederzugeben. Im nächsten Augenblick bewegte die Frau den Kopf, und Dagny erkannte, daß
Menschen an den Tischen hinter der Glaswand saßen, daß dies ein Café war, daß die Frau hinter einer Theke
stand und daß sie Kay Ludlow war, der Filmstar, dessen Gesicht man nicht vergessen konnte, wenn man es
einmal gesehen hatte, die einmalige Kay Ludlow, die vor fünf Jahren von der Leinwand und aus der Welt
verschwunden war und an deren Stelle dann Mädchen mit nichtssagenden Namen und auswechselbaren
Gesichtern getreten waren. Doch dem Schock dieses Wiedererkennens folgten sofort der Gedanke an die Filme,
die jetzt gedreht wurden, und die Einsicht, daß Kay Ludlows Schönheit in diesem gläsernen Café einem reineren
Zweck diente als in der Hauptrolle eines Films, der den Gemeinplatz verherrlichte, daß die Erde ein Jammertal
ist.
Das nächste Gebäude war ein kleiner, flacher Block aus rauhen Granitsteinen, dessen klare Linien in ihrer
strengen Zweckmäßigkeit wie ein geometrisches Ornament wirkten, doch sie sah wie in einer Vision den
senkrechten Strich eines Wolkenkratzers, der in den diesigen Himmel Chicagos ragte, des Wolkenkratzers, der
einst in riesigen Neonbuchstaben das Zeichen getragen hatte, das sie jetzt in goldenen Lettern auf einem Schild
über der schlichten Tür aus Kiefernholz las: Mulligan Bank.
Galt verringerte die Geschwindigkeit, während sie an der Bank vorbeifuhren, als spürte er den Schauer, der
Dagny bei ihrem Anblick durchlief, und als wollte ihn verlängern.
Der fabrikähnliche Backsteinbau, der sich an die Bank anschloß, trug das Firmenschild: Mulligan Mint.
»Eine Münzanstalt?« fragte sie. »Was tut Mulligan hier mit einer Münzanstalt?« Galt griff in die Tasche und
ließ zwei kleine Geldstücke in ihre Hand fallen, die sie unwillkürlich geöffnet hatte. Es waren winzige, dünne
Münzen aus glänzendem Gold, kleiner als Eincentstücke, Münzen, wie sie seit den Tagen von Nat Taggart nicht
mehr im Umlauf waren. Sie trugen auf der einen Seite den Kopf der Freiheitsstatue und auf der anderen die
Inschrift »Vereinigte Staaten von Amerika – Ein Dollar«, doch die aufgeprägten Jahreszahlen waren die der zwei
letzten Jahre. »Dies ist das Geld, das wir hier benutzen«, sagte er. »Midas Mulligan prägt es.«
»In wessen Auftrag und Vollmacht?«
»Das steht auf der Münze… auf beiden Seiten.«
»Und was benutzen Sie als Kleingeld?«
»Auch das prägt Mulligan, in Silber. Wir nehmen keine andere Währung an in diesem Tal. Wir erkennen nur
wirkliche Werte an.«
Sie betrachtete die Münzen nachdenklich. »Sie sehen aus wie… wie etwas aus den ersten Tagen des Zeitalters
meiner Ahnen.«
Mit einer weiten Geste zeigte er auf das Tal ringsum. »Sieht hier nicht alles so aus?«
Sie aber starrte weiter auf die beiden dünnen, zierlichen, fast gewichtslosen Goldplättchen in der Höhlung
ihrer Hand und begriff, daß der ganze Aufbau von Taggart Transcontinental auf ihnen geruht hatte, daß sie die
Grundlage aller Taggart-Strecken, Taggart-Brücken und des Taggart-Wolkenkratzers gewesen waren. Sie
schüttelte den Kopf und ließ die Münzen in seine Hand zurückgleiten.
»Sie machen es mir nicht leicht«, sagte sie mit leiser Stimme.
»Ich mache es Ihnen so schwer wie möglich.«
»Warum tun Sie das? Warum sagen Sie mir nicht all das, was ich Ihrer Ansicht nach wissen soll?«
Wieder zeigte er mit der gleichen kreisenden, bedeutungsvollen Armbewegung auf die Stadt, auf den Weg
hinter ihnen. »Ich habe bisher nichts anderes getan!«
Sie fuhren schweigend weiter. Nach einer Weile fragte sie in einem Ton, der nicht frei war von
nachdenklichem Spott: »Wie groß sind die Reichtümer, die Midas Mulligan in diesem Tal angehäuft hat?«
Er deutete nach vorn. »Urteilen Sie selbst.«
Der Weg führte jetzt über leicht hügeliges Gelände auf den Wohnbezirk des Tales zu. Die Häuser waren nicht
entlang einer Straße gebaut; sie standen in unregelmäßigen Abständen über die Erhebungen und Senkungen des
Bodens verstreut. Sie waren klein und schlicht, errichtet aus den im Tal vorhandenen Werkstoffen, meist aus
Granit und Kiefernholz, und verrieten in Entwurf und Bauweise das Streben nach Zweckmäßigkeit und die
Bemühung, jede überflüssige körperliche Anstrengung zu vermeiden. Jedes Haus schien von einem einzigen
Mann gebaut zu sein, keines glich dem anderen, und doch trugen sie alle den Stempel eines Verstandes, der jedes
Problem klar erfaßte und auf die einfachste Weise löste. Von Zeit zu Zeit deutete Galt auf eines der Häuser und
nannte dabei Namen, die ihr bekannt waren und in ihren Ohren klangen wie die Aufzählung der
höchstbewerteten Börsenpapiere der Welt oder wie die Verlesung einer Ehrenliste: »Ken Danagger… Ted
Nielsen… Lawrence Hammond… Roger Marsh… Ellis Wyatt… Owen Kellogg… Dr. Akston.«
Das Haus Dr. Akstons war das letzte im Tal. Es stand auf dem Kamm der letzten Hügelwelle vor den
ragenden Felswänden der Berge. Der Weg führte an ihm vorbei und dann in engen Windungen einen steilen,
dicht bewaldeten Hang hinauf. Die Fahrbahn verengte sich zu einem schmalen Pfad zwischen alten Kiefern,
deren hohe, aufrechte Stämme sich zu Mauern zusammendrängten und deren Zweige sich über ihnen zu einem
Dach zusammenschlossen und sie in Schweigen und Zwielicht hüllten. Auf dem schmalen Erdstreifen waren
keine Radspuren sichtbar, er sah unbegangen und vergessen aus und schien sie nach wenigen Minuten und
wenigen Windungen meilenweit von jeder menschlichen Behausung entführt zu haben. Und dann durchbrach
nichts mehr die lastende Stille als ein vereinzelter Sonnenstrahl, der in der Tiefe des Waldes zwischen den
dunklen Stämmen aufblitzte. Der plötzliche Anblick eines Hauses am Rande des Weges traf sie wie ein
unerwarteter Laut. In vollkommener Einsamkeit erbaut, abgeschnitten von allen Bindungen menschlicher
Existenz, sah es aus wie der Zufluchtsort grimmigen Trotzes oder tiefster Trauer. Es war das bescheidenste Haus
des Tals, eine Blockhütte, gezeichnet von vielen Regenfällen. Nur seine Fenster schienen den Wetterstürmen mit
der glatten, schimmernden und ungerührten Heiterkeit des Glases widerstanden zu haben.
»Wessen Haus ist… Oh!« Mit einem unterdrückten Aufschrei wandte sie jäh den Blick ab. Über der Tür,
aufleuchtend in einem Sonnenstrahl, glatt geschliffen durch die Winde von Jahrhunderten, hing das silberne
Wappen Sebastián d’Anconias.
Wie in bewußter Entgegnung auf ihre unwillkürliche Fluchtbewegung hielt Galt unmittelbar vor dem Haus.
Einen Augenblick lang ruhten ihrer beiden Blicke ineinander. In ihren Augen lag eine Frage, in seinen stand ein
Befehl geschrieben. Ihr Gesicht war hart in offener Herausforderung, seines in entschlossenem Ernst
undurchdringlich verhüllt. Sie verstand seine Absicht, begriff aber nicht das Motiv seiner Grausamkeit. Sie
gehorchte. Auf ihren Stock gestützt, stieg sie aus dem Wagen und stand aufrecht, das Gesicht voll dem Haus
zugewandt. Ihr Blick fing sich in dem silbernen Helmbusch des Wappens, das aus dem Marmorpalast in Spanien
über das Meer gekommen war, an der Lehmhütte in den Anden gehangen hatte und jetzt an dem Blockhaus in
Colorado hing als Wappen eines Mannes, der sich nicht unterwerfen wollte. Die Tür der Hütte war geschlossen.
Die Sonne drang nicht in die blendende Finsternis hinter den Scheiben. Kiefernäste hingen über das Dach
herunter, ausgestreckt wie Arme, die schützen, trösten, segnen wollen. Die nur zuweilen vom Knarren eines
Zweiges oder dem Fall eines Tropfens durchbrochene Stille schien alles Leid zu bergen, das hier heimlich
erlitten worden war und nie eine Stimme gefunden hatte. Sie stand und lauschte, erfüllt vom Gefühl einer tiefen,
verzichtenden, klaglosen Hochachtung, den längst vergessenen Worten, die sie einst dieses Leid hatten erahnen
lassen und die ihr jetzt in ihrer vollen Bedeutung aus dieser Stille widerklangen: Laß uns sehen, wer wem mehr
Ehre macht… du Nat Taggart… oder ich Sebastián d’Anconia… Dagny, hilf mir, daß ich bleibe… daß ich es
ablehne… obwohl er recht hat!
Sie wandte sich um und sah Galt an, den Mann, gegen den sie Francisco nicht hatte helfen können. Er saß am
Steuer des Wagens. Er war ihr nicht gefolgt. Er hatte nichts getan, um ihr in diesem Augenblick beizustehen, von
dem er wußte, wie schmerzlich er für sie sein mußte, als bestünde er darauf, daß sie selbst und ohne Hilfe die
Rätsel der Vergangenheit erkannte und als achtete er die Intimität ihres einsamen Grußes an Verlorenes. Sie sah,
daß er immer noch so dasaß, wie sie ihn verlassen hatte, den Vorderarm im gleichen Winkel gegen das Steuerrad
gestützt. Seine Finger hingen lässig herab. Er beobachtete sie, doch weiter konnte sie nichts in seinem Gesicht
lesen. Sie sah nur, daß er sie gespannt, bewegungslos ansah. Als sie wieder neben ihm saß, sagte er: »Dies war
der erste Mensch, den ich Ihnen nahm.«
Sie fragte, offen, in verhaltenem Trotz: »Wieviel wußten Sie von uns?«
»Nichts, was er mir mit Worten sagte. Alles, was der Klang seiner Stimme mir verriet, wenn er von Ihnen
sprach.«
Sie senkte den Kopf. Sie hatte den Ton des Mitgefühls in der unabsichtlichen, kaum merklichen Anstrengung
vernommen, die es ihn kostete, seine Stimme gleichgültig klingen zu lassen.
Er drückte auf den Starter. Die erste Explosion des Motors fegte die das Schweigen erfüllende Vergangenheit
hinweg, und sie fuhren weiter.
Der Weg wurde breiter und strebte einem wachsenden Flecken Sonnenlicht zu. Sie sah das kurze Flimmern
von Drähten zwischen den Zweigen, als sie in die Lichtung einfuhren. Vor einer Steilwand stand auf felsigem,
leicht ansteigendem Grund ein unscheinbares kleines Gebäude. Es war ein glatter Granitwürfel von der Größe
eines Geräteschuppens. Es hatte keine Fenster und keine Öffnungen außer einer Tür aus blankem Stahl. Aus dem
Dach ragten mehrere Antennen. Galt fuhr weiter, ohne das Gebäude zu beachten. Sie fragte erregt: »Was ist
das?«
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte seinen Mund. »Das Kraftwerk.«
»Oh, bitte, halten Sie!«
Er gehorchte, hielt an und stieß mit dem Wagen bis an den Fuß der Steilwand zurück. Sie begann, den kurzen,
steinigen Hang hinaufzusteigen. Doch schon nach wenigen Schritten blieb sie stehen, als hätte eine innere
Stimme ihr gesagt, daß es nicht nötig war, weiterzugehen. Und wie in jenem Augenblick, da sie aus ihrer
Ohnmacht erwacht war und den Himmel des Tales über sich gesehen hatte, empfand sie die Gewißheit, daß sie
ihr lange gesuchtes Ziel erreicht hatte.
So stand sie auf halber Höhe des Anstiegs wie ein Pilger auf der Treppe des Heiligtums, das er nach langer
Wanderung erreicht hat, und sah zu dem unnahbaren Granitblock auf wie zu einem Altar. Mit ihrem ganzen
Bewußtsein und allen ihren Sinnen war sie einem einzigen Namen – und grenzenlosen Gefühl – hingegeben. Sie
hatte gelernt, daß ein Gefühl eine von der Rechenmaschine des Verstandes addierte Summe sein konnte, und sie
wußte, daß, was sie jetzt so übermächtig und doch so klar empfand, die Summe all dessen war, was sie je
gedacht hatte, das Ergebnis einer langen Rechnung, das jetzt gleichsam von der Stimme einer inneren
Offenbarung verkündet wurde. Sie hatte ihr Vertrauen in Quentin Daniels gesetzt, ohne Hoffnung, den Motor je
benutzen zu können, nur weil sie sich bestätigen wollte, daß die großen Taten noch nicht aus der Welt
verschwunden waren. Sie hatte sich an ihrem Glauben an die Allmacht des menschlichen Verstandes wie an
einem Rettungsring festgehalten, einem Schwimmer gleich, der in einem Ozean der Mittelmäßigkeit von
Kreaturen mit Gallertaugen, Gummistimmen, Schwammgehirnen, tauben Seelen und gelenklosen Händen zu
versinken drohte. Sie hatte zum Motiv, zur unvollendeten Melodie, zur brennenden Sehnsucht ihres Lebens
jenen jähen Aufschrei nach etwas gemacht, zu dem man aufblicken kann, der sich den Lippen Dr. Stadlers beim
Anblick des Torsos ihres Motors entrungen hatte wie ein Protest seiner von Korruption erstickten Seele. Sie war
hierhergekommen, getrieben vom Hunger ihrer Jugendzeit nach einem Zeugnis klarer, harter, strahlender
Vollendung eines Werkes. Und sie begriff, daß all dies sich gelohnt hatte, weil hier das erreicht und vollendet
war, wovon sie geträumt hatte; weil hier ein unvergleichlicher Geist einem kühnen Gedanken in Form einer
genial erdachten Anordnung von Drähten Form gegeben hatte. Diese Drähte funkelten friedlich im Schein der
Sommersonne und ließen nicht ahnen, daß sie aus dem scheinbar leeren Raum nach einer der Natur
abgerungenen Formel gewaltige Kräfte anzogen und in das geheimnisvolle Innere dieses Steinquaders leiteten,
wo sie gebändigt, verwandelt und dem Menschen dienstbar gemacht wurden.
Sie dachte daran, daß dieses kleine Gebäude, nur halb so groß wie ein Güterwagen, sämtliche Kraftwerke des
Landes mit ihrer verschwenderischen Anhäufung von Stahl und ihrer Vergeudung von Brennstoffen ersetzen
konnte. Sie dachte an den Strom, der durch blitzende Drähte aus dieser steinernen Quelle floß, um Lasten von
den Schultern jener Männer zu heben, die ihn benutzten, um ihr Leben um Stunden, Tage und Jahre zu
verlängern. Bei einem geschah es in Form einer Minute, während der er den Kopf von der Arbeit hob und in die
Sonne schaute. Ein anderer kaufte mit an der Stromrechnung gespartem Geld ein Päckchen Zigaretten mehr. Ein
dritter gewann die Stunde, um die der Arbeitstag in einer Fabrik gekürzt werden konnte, weil sie ihre Maschinen
mit diesem Strom betrieb. Und wieder einer erfreute sich eines Ferienmonats oder einer Reise durch die offene
Weite des Landes in einem Zug, den die Kraft dieses Motors antrieb. Dagny dachte daran, daß diese Befreiung
von Druck und Not, dieser Gewinn an Kraft und Zeit allen zugute kamen dank dem Triumph eines Geistes,
welcher der Materie seinen Willen aufgezwungen hatte, indem er Drähte so logisch zusammenfügte wie seine
Gedanken. Sie wußte, daß Motoren, Fabriken und Züge nicht Selbstzweck waren, sondern nur Mittel, die
Lebensfreude der Menschen zu erhöhen. Ihre tiefe, andächtige Bewunderung galt nicht nur dem Mann, der
dieses Werk gebaut hatte, sondern vor allem der Vision, die ihm die Erde als einen Ort der Freude gezeigt hatte.
Diese Vision hatte ihn erkennen lassen, daß dauerndes Streben nach immer größerem Glück der wahre Sinn des
Lebens war und allen Mühen und allem Reichtum erst die Weihe gab. Die Tür des Kraftwerks war eine glatte,
fugenlose Panzerplatte aus rostfreiem Stahl, der in der Sonne mattbläulich schimmerte. Als einzige
Unterbrechung der kahlen Strenge des Baus stand über dem Tor die Inschrift:
ICH SCHWÖRE BEI MEINEM LEBEN UND BEI MEINER LIEBE ZUM LEBEN: ICH WERDE NIE FÜR
ANDERE LEBEN, UND ICH WERDE NIE VON ANDEREN VERLANGEN, DASS SIE FÜR MICH LEBEN.
Sie wandte sich nach Galt um. Er stand neben ihr. Er war ihr gefolgt. Er hatte gewußt, daß dieser Augenblick
der Weihe ihm gehörte. Sie sah ihn an und suchte in ihm den Erfinder des Motors zu sehen, doch sie sah nur die
alltägliche Gestalt eines Mannes, der in natürlicher und lässiger Haltung neben ihr stand. Sie sah den hohen,
schlanken Körper, der Kraft und Gewandtheit verriet. Sie sah die einfache Kleidung, ein dünnes Hemd, leichte
Hosen, den um die schlanke Taille festgezogenen Gürtel. Sie sah sein zerzaustes Haar an, das wie Metallgespinst
in der Sonne glitzerte. Sie sah ihn mit dem gleichen Blick, mit dem sie sein Werk betrachtet hatte. Und plötzlich,
wie in einem Wetterleuchten, erkannte sie, daß die beiden ersten Sätze, die sie gewechselt hatten, zwischen ihnen
standen und ihr Schweigen füllten, daß alles, was sie seither gesprochen hatten, Nachklang dieser Worte
gewesen war, daß er dies gewußt und darauf gewartet hatte, daß auch sie es erkannte. Und jetzt erst bemerkte sie,
daß sie allein waren. Es war ein Bewußtwerden, das nur der Tatsache galt, keine Erklärung heischte und keine
Schlüsse zog, doch von einer tieferen Bedeutung erfüllt war. Sie waren allein in einem einsamen Wald, standen
vor einem Gebäude, das aussah wie ein antikes Heiligtum, und sie wußte, welcher Ritus angemessen war zur
Opferung auf Altären dieser Art. Ein jäher Druck stieg in ihrer Kehle auf. Sie neigte den Kopf leicht nach hinten,
nur so weit, daß sie den Hauch der Luft in ihrem Haar fühlte, das sich von ihrem Nacken löste, doch war ihr, als
schwebte sie auf dem Rücken liegend und vom Wind getragen im freien Raum. Sie sah nur seine männliche
Gestalt und die Form seines Mundes. Er stand neben ihr und sah sie an, das Gesicht unbewegt bis auf die
zitternde Bewegung seiner Lider, die sich verengten wie vor zu starkem Licht. Wie ein wilder Triumph überfiel
sie die Erkenntnis, daß er in sich den gleichen Kampf kämpfte wie sie selbst und härter litt als sie, um nicht zu
unterliegen. Jetzt wandte er den Blick von ihr ab, hob den Kopf und sah hinauf zur Inschrift seines Heiligtums.
Sie ließ ihn kurz gewähren, als gönnte sie in herablassendem Erbarmen einem Gegner, der sich zurückzog, um
seine Kräfte zu erneuern, eine Pause. Dann zeigte sie auf die Inschrift und fragte mit der harten Stimme einer
mitleidlosen Siegerin: »Was ist das?«
»Der Eid, den bis auf Sie jeder in diesem Tal geschworen hat.«
Sie sagte, den Blick auf die gemeißelten Lettern gerichtet: »So hat seit je auch die Devise meines eigenen
Lebens gelautet.«
»Ich weiß es.«
»Doch ich glaube nicht, daß Ihre Art, sie zu verwirklichen, die richtige ist.«
»Dann müssen Sie eben abwarten, wer von uns recht hat.«
Sie ging zu der Stahltür des Gebäudes hinauf, getrieben von einer plötzlichen Anwandlung des
Selbstvertrauens, das sich auch in Haltung und Bewegung ihres Körpers ausdrückte und dem Bewußtsein der
Macht entsprang, die sie durch seinen Schmerz über ihn hatte. Und sie versuchte, ohne ihn um Erlaubnis zu,
fragen, den Knauf der Tür zu drehen. Doch die Tür war verschlossen und gab unter dem Druck von Dagnys
Hand so wenig nach, als wäre das Schloß in den Stein gegossen.
»Geben Sie sich keine Mühe, diese Tür zu öffnen, Miss Taggart.«
Er näherte sich ihr übertrieben langsam, als wollte er ihr zu verstehen geben, daß er wußte, wie angespannt sie
auf jeden seiner Schritte lauschte.
»Keine physische Gewalt kann sie öffnen«, sagte er, »nur ein Gedanke. Wenn Sie versuchen, sie mit dem
stärksten Sprengstoff der Welt zu öffnen, wird eher die ganze Maschine zu einem Trümmerhaufen, als daß die
Tür nachgibt. Doch finden Sie den Gedanken, dem das Schloß gehorcht… dann gehört das Geheimnis des
Motors Ihnen, so wie…« – zum ersten Mal hörte sie einen Bruch in seiner Stimme – »…so wie jedes andere
Geheimnis, das Sie zu besitzen wünschen.«
Er sah sie an, als wollte er ihr Zeit lassen, ihn ganz zu verstehen. Dann lächelte er rätselhaft in sich hinein und
fügte hinzu: »Ich will Ihnen zeigen, wie man es macht.«
Er trat zurück. Und aufrecht, das Gesicht zu den in den Stein gemeißelten Worten erhoben, wiederholte er sie
langsam und gleichmäßig, als leiste er den Eid zum zweiten Mal. Es war keine Bewegung in seiner Stimme, nur
die scharfe Klarheit der Laute, die er im vollen Bewußtsein ihrer Bedeutung aussprach. Doch sie begriff, daß sie
Zeugin des feierlichsten Augenblicks war, dem sie je beiwohnen würde. Sie sah die unverhüllte Seele eines
Menschen und ahnte, was es ihn kostete, sie ihr in diesen Worten preiszugeben. Sie hörte das Echo jenes Tages,
als er zum ersten Mal und im vollen Bewußtsein der kommenden Jahre diesen Eid gesprochen hatte. Sie
erkannte den Geist, der einen Mann in einer dunklen Frühlingsnacht hatte aufstehen und sechstausend anderen
die Stirn bieten lassen, und sie verstand jetzt, warum diese Leute sich vor ihm gefürchtet hatten. Sie wußte jetzt,
daß in jener Nacht alles begonnen hatte, was der Welt in den zwölf Jahren widerfahren war, und sie wußte, was
wichtiger, unvergleichlich viel wichtiger war als der im Innern seines granitenen Gehäuses verborgene Motor. Es
war die Macht der Worte, die sie jetzt erschauern ließen, während eine Männerstimme sie neben ihr in
Erinnerung und Erneuerung aussprach: »Ich schwöre bei meinem Leben und bei meiner Liebe zum Leben: Ich
werde nie für andere leben, und ich werde nie von anderen verlangen, daß sie für mich leben.«
Es überraschte sie nicht, ja es erschien ihr fast selbstverständlich, daß mit dem letzten Ton die Tür sich
langsam, ohne von Menschenhand berührt zu werden, nach innen öffnete und den Blick in einen wachsenden
Spalt völliger Finsternis freigab. Im gleichen Augenblick, als eine elektrische Glühbirne im Innern des Baus
aufleuchtete, griff Galt nach dem Knauf und zog die Tür wieder ins Schloß, das mit dumpfe m Klicken
einschnappte.
»Es ist ein akustisches Schloß«, sagte er. Seine Stimme klang wieder alltäglich. »Dieser Satz stellt die
Kombination von Lauten dar, die nötig sind, um es zu öffnen. Ich habe keine Bedenken, Ihnen das Geheimnis
preiszugeben, denn ich weiß, Sie werden diese Worte nicht aussprechen, bis Sie sie so meinen, wie ich sie
verstanden wissen will.«
Sie neigte den Kopf. »Ich verspreche es Ihnen.«
Sie folgte ihm den Hang hinab zum Wagen, langsam, plötzlich fast unfähig, sich zu bewegen. Sie fie l schwer
in ihren Sitz, schloß die Augen, hörte kaum das Geräusch des Starters. Die angestaute Müdigkeit schlafloser
Stunden und die gesammelte Wucht immer neuer Erschütterungen durchbrachen jetzt die verzweifelte
Anspannung ihrer Nerven und trafen sie mit einem einzigen Schlag. Sie lag fast auf dem Sitz, bewegungslos, frei
von allen Empfindungen bis auf eine.
Sie sprach während der ganzen Fahrt kein einziges Wort und öffnete die Augen erst, als der Wagen vor
seinem Hause hielt.
»Ich rate Ihnen«, sagte er, »sich sofort hinzulegen und zu schlafen, wenn Sie heute abend zu Mulligan
mitkommen wollen.«
Sie nickte wie ein gehorsames Kind. Sie wankte mühsam auf das Haus zu, vermied aber, ohne recht zu
wissen, warum, sich von ihm helfen zu lassen. Mit letzter Kraft gelang es ihr, auf der Schwelle zu ihm zu sagen:
»Ich werde mitkommen«, sich in die Geborgenheit ihres Zimmers zu flüchten und durchzuhalten, bis sie die Tür
hinter sich geschlossen hatte. Dann brach sie zusammen, ließ sich bäuchlings auf das Bett fallen. Mehr als nur
körperliche Erschöpfung hatte sie niedergeworfen. Es war der jähe Überfall einer einzigen Empfindung gewesen,
die zu stark war, als daß man sie stehend und bewußt hätte ertragen können. Die Widerstandskraft ihres Leibes
war gebrochen, ihr Geis t war gelähmt, nur ein einziges, unteilbares Gefühl beherrschte sie, erstickte in ihr die
letzte Fähigkeit zu denken, zu urteilen, ließ ihr nichts, dieser Empfindung zu widerstehen oder sie zu
unterdrücken, nicht einmal den Willen, sie zu begreifen. Es war ein Gefühl ohne Sinn, eine ohne Ursprung und
Ziel in der Leere ihres Bewußtseins schwebende Empfindung, ein Echo ohne Stimme. Sie sah nur noch das Bild
seiner Gestalt, die vor der Tür seines Kraftwerks stand. In ihr war nichts anderes mehr, kein Wunsch, keine
Hoffnung, kein Wissen um die Bedeutung dessen, was sie empfand, noch um seinen Namen oder seine
Beziehung zu ihr selbst. Sie war nicht mehr sie selbst, kein bewußtes Wesen mehr, sie war nur noch Trägerin
dieses einen Gefühls, nur noch ihr eigenes inneres Auge, das nichts sah als ihn, und dieses Sehen war Sinn und
Zweck in sich selbst, voraussetzungslos und ohne Anspruch.
Während sie, das Gesicht in das Kissen vergraben, mit letzter Kraft in die Tiefe ihres schwindenden
Bewußtseins lauschte, stieg fern und schwach die Erinnerung an den Augenblick in ihr auf, als sie mit ihrer
Maschine vom nächtlichen Flugplatz in Kansas gestartet war. Sie hörte das Aufheulen des Motors, spürte den
Druck der wachsenden Geschwindigkeit, mit der das Flugzeug in gerader Linie auf ein Ziel zuzurasen schien…
und im gleichen Augenblick, in dem die Räder sich vom Boden lösten, schlief sie ein.
Der Talgrund strahlte noch wie ein Teich die Glut des Himmels wider, doch das Licht wandelte sich von Gold
in Kupfer, die Konturen der Hänge verschwammen, und die Gipfel waren rauchblau, als sie zu Mulligans Haus
fuhren.
In Dagnys Haltung war keine Spur von Erschöpfung oder Erschütterung zurückgeblieben. Bei
Sonnenuntergang war sie erwacht. Als sie aus ihrem Zimmer getreten war, saß Galt müßig und unbeweglich im
Schein einer Lampe und wartete auf sie. Sie war auf der Schwelle stehengeblieben, mit gefaßtem Gesicht,
entspannt, lässig selbstbewußt, als stünde sie in der Tür ihres Büros im Taggart-Gebäude. Den Oberkörper leicht
geneigt, stützte sie sich auf ihren Stock. Er hatte sie eine Zeitlang unbewegt angeschaut, und sie hatte sich
gefragt, warum sie so sicher war, daß er sie in diesem Augenblick im Geist aus der Tür ihres Büros kommen sah.
So hatte er sie immer schon sehen wollen, aber es war ihm nie geglückt. Als sie neben ihm im Wagen saß,
empfand sie nicht das Bedürfnis zu sprechen, weil sie spürte, daß keiner von ihnen die Bedeutung ihres
Schweigens vor dem anderen verhehlen konnte. Sie sah Lichter in den fernen Häusern des Tales aufglimmen und
dann plötzlich die hell erleuchteten Fenster von Mulligans Festung auf der Kuppe des Hügels. Sie fragte: »Wer
wird da sein?«
»Einige Ihrer letzten Freunde«, antwortete er, »und einige meiner ersten.«
Midas Mulligan erwartete sie vor dem Haus. Sie bemerkte, daß sein hartes, eckiges Gesicht nicht so schroff,
so abweisend ausdruckslos war, wie sie es in Erinnerung hatte; ein Ausdruck von Genugtuung lag in seinem
Blick, doch machte die Genugtuung seine Züge nicht weicher, ließ nur schwache Funken eines überlegenen
Humors in seinen Augenwinkeln aufglimmen, eines Humors, der wissender und fordernder, aber wärmer war als
sein Lächeln. Er öffnete die Tür seines Hauses und hob einladend den Arm, offensichtlich um einen Grad
langsamer, als es seinem Temperament entsprach, als wollte er seiner Geste einen verhalten feierlichen
Nachdruck verleihen. Als sie den großen Wohnraum betrat, sah sie sieben Männer, die sich bei ihrem Anblick
stumm erhoben.
»Meine Herren, Taggart Transcontinental«, sagte Midas Mulligan. Er sagte es lächelnd, doch nicht in
scherzhaftem Ton. Er schien dem Namen der Eisenbahngesellschaft die Bedeutung wiedergeben zu wollen, die
er in den Tagen Nat Taggarts gehabt hatte; die Bedeutung eines klangvollen Ehrentitels.
Dagny neigte den Kopf langsam, wie in Dankbarkeit, vor den Männern, die ihr gegenüberstanden. Sie wußte,
diese Männer hatten die gleichen Maßstäbe für Ehre und Werte wie sie selbst, kannten und ehrten wie sie Ruhm
und Glanz, die mit diesem Namen verbunden waren, und plötzlich begriff sie schmerzhaft, wie sehr sie sich ihr
Leben lang nach dieser Anerkennung gesehnt hatte.
Langsam wanderte ihr Blick grüßend von Gesicht zu Gesicht: Ellis Wyatt, Ken Danagger, Hugh Akston, Dr.
Hendricks, Quentin Daniels… Mulligan nannte die Namen der beiden anderen: »Richard Halley, Richter
Narragansett.«
Das Lächeln auf Richard Halleys Gesicht schien ihr zu sagen, daß sie sich seit Jahren kannten, als wüßte er
um ihre einsamen Abende neben ihrem Plattenspieler. Der feierlich strenge Eindruck von Richter Narragansetts
weißhaariger Erscheinung erinnerte sie daran, daß sie einmal gehört hatte, wie ihn jemand mit einer
Marmorstatue verglich, einer Marmorstatue mit verbundenen Augen, einer Gestalt, die zur gleichen Zeit aus den
Gerichtssälen des Landes verschwand, als auch die Goldmünzen aus dem Umlauf verschwanden.
»Sie gehören schon lange hierher, Miss Taggart«, sagte Midas Mulligan. »Wir hatten allerdings nicht
erwartet, daß Sie auf diesem Wege zu uns kommen würden, doch – willkommen zu Hause.«
Nein! wollte sie antworten, doch sie hörte sich leise sagen: »Danke.«
»Dagny, wie viele Jahre werden Sie noch brauchen, um zu lernen, Sie selbst zu sein?« Es war Ellis Wyatt, der
so gesprochen hatte und sie jetzt beim Arm nahm. Er führte sie zu einem Sessel, sah schmunzelnd herab auf ihr
hilfloses Gesicht, in dem Wille zum Widerstand und Lächeln gegeneinander kämpften. »Behaupten Sie nicht,
daß Sie uns nicht verstehen. Sie verstehen uns.«
»Wir stellen keine Thesen auf, Miss Taggart«, sagte Hugh Akston. »Dieses besondere Verbrechen wider den
Geist überlassen wir unseren Feinden. Wir reden nicht, wir handeln. Wir behaupten nicht, wir beweisen. Wir
verlangen keinen Gehorsam, wir versuchen zu überzeugen. Sie haben alles Sichtbare unseres Geheimnisses
gesehen. Es ist jetzt an Ihnen, die Schlußfolgerung zu ziehen. Wir können Ihnen helfen, ihr einen Namen zu
geben, doch nicht, sie anzunehmen. Sehen, erkennen und anerkennen müssen Sie selbst.«
»Mir ist, als kenne ich diese Schlußfolgerung schon«, antwortete sie schlicht, »mehr noch, ich glaube, ich
habe Sie immer gekannt, doch nie gefunden. Und jetzt fürchte ich mich vor ihr, nicht, sie zu hören, sondern nur,
weil ich ihr so nahe gekommen bin.«
Akston lächelte. »Wie kommen Sie sich hier unter uns vor?« Mit weit ausholender Geste zeigte er auf sich
und die anderen Männer.
»Unter Ihnen?« Sie mußte lachen. Doch ihr Gesicht wurde wieder ernst, als sie der Reihe nach die Köpfe der
Männer betrachtete, die sich gegen die großen Fenster abhoben, die unter den letzten Sonnenstrahlen golden
blinkten. Dann sagte sie: »Wie… nun, ich hatte nicht erwartet, einen von Ihnen je wiederzusehen, und ich habe
mich manchmal gefragt, wieviel ich für einen kurzen Blick oder ein einziges Wort geben würde und jetzt – jetzt
komme ich mir vor wie in dem Traum, den ich als Kind immer geträumt habe: Ich glaubte, daß ich eines Tages
im Himmel alle die Toten sehen dürfte, denen ich auf dieser Erde nicht begegnet war, und dann wählte ich aus
allen vergangenen Jahrhunderten die großen Männer aus, die ich sehen wollte.«
»Nun, das ist einer der Schlüssel zum Kern unseres Geheimnisses«, sagte Akston. »Fragen Sie sich selbst, ob
dieser Traum von Himmel und Größe ewig in unseren Gräbern auf uns warten oder ob er Wirklichkeit werden
soll, hier und jetzt und auf dieser Erde.«
»Ich weiß die Antwort«, sagte sie leise.
»Und wenn Sie diese großen Männer im Himmel sehen könnten«, fragte Ken Danagger, »was würden Sie
ihnen sagen?«
»Nun, einfach ‘Hallo’ oder ‘Guten Tag’, denke ich.«
»Das ist nicht alles«, sagte Ken Danagger. »Sie wollen doch etwas von Ihnen hören. Ich wußte es auch nicht,
bis ich ihn zum ersten Mal sah.«
Er zeigte auf Galt. »Er sagte es mir, und dann wußte ich, was ich während meines ganzen Lebens vermißt
hatte. Miss Taggart, Sie wollen, daß diese Männer Sie anschauen und zu Ihnen sagen: ‘Bravo, gut gemacht!’«
Sie nickte stumm und hielt den Kopf gesenkt, um ihn nicht die Tränen sehen zu lassen, die ihr plötzlich in die
Augen getreten waren.
»Also dann: Bravo, Dagny! Gut gemacht! – Zu gut! Und jetzt ist es Zeit, auszuruhen von der Last, die keiner
von uns je hätte tragen müssen.«
»Genug«, sagte Midas Mulligan mit einem ängstlich besorgten Blick auf ihren geneigten Kopf.
Doch Dagny hob das Gesicht und lächelte. »Ich danke Ihnen«, sagte sie zu Danagger.
»Wenn Sie schon von Ausruhen reden, dann setzen Sie ihr auch nicht weiter zu«, sagte Mulligan. »Für den
ersten Tag war es ohnehin schon zuviel für sie.«
»Nein.« Sie lächelte. »Sprechen Sie weiter. Sagen Sie es, was immer es auch sei.«
»Später«, sagte Mulligan.
Mulligan selbst trug das Essen auf, und Akston und Quentin Daniels halfen ihm dabei. Die Speisen waren auf
kleinen, silbernen Tabletts angerichtet, die man auf die Lehne seines Sessels stellte. Sie saßen zwanglos in dem
großen Raum verteilt. In den Fensterscheiben erlosch das letzte Feuer des Himmels, und in den Weingläsern
brach sich glitzernd das Licht der elektrischen Beleuchtung. Die Einrichtung des Raumes verriet das Bedürfnis
seines Bewohners nach Luxus, doch nach einem Luxus schlichter Vornehmheit. Sie bemerkte die kostbaren
Möbel, die, nach Gesichtspunkten der Bequemlichkeit ausgewählt, zu einer Zeit gekauft worden sein mußten, als
Luxus noch eine Kunst war. Sie sah nichts Überflüssiges in dem Raum, doch dann entdeckte sie, daß ein kleines,
unauffällig aufgehängtes Ölgemälde von einem großen Meister der Renaissance stammte und ein Vermögen
wert sein mußte und daß der orientalische Teppich unter ihren Füßen eine Kostbarkeit in Farben und Gewebe
war, die unter Glas in ein Museum gehörte. Dies war Mulligans Begriff von Reichtum, dachte sie, eines
Reichtums erlesenen Geschmacks, nicht wahlloser Anhäufung.
Quentin Daniels hockte auf dem Boden, sein Tablett auf den Knien. Er schien sich hier bereits wie zu Hause
zu fühlen. Von Zeit zu Zeit blickte er zu ihr auf und grinste sie an wie ein lausbübischer kleiner Bruder, der stolz
darauf war, ein Geheimnis entdeckt zu haben, das sie noch nicht kannte. Er war kaum zehn Minuten vor ihr in
das Tal gekommen, dachte sie, doch er war bereits einer der ihren; während sie noch eine Fremde war. Galt saß
abseits, außerhalb des Lichtkegels einer Stehlampe, auf der Lehne von Dr. Akstons Sessel. Er hatte bis jetzt kein
einziges Wort gesprochen. Er war zurückgetreten, hatte sie den anderen überlassen und saß nun im Hintergrund
der Szene wie ein Schauspieler, dessen Rolle zu Ende war. Doch immer wieder ließ sie ihren Blick zu ihm
zurückwandern, beunruhigt durch die Gewißheit, daß er der Regisseur dieses seit langem vorbereiteten Spieles
war und die Fäden immer noch in der Hand hielt.
Sie sah, daß noch jemand im Raum die Anwesenheit Galts so eindringlich empfand wie sie selbst. Hugh
Akston sah zuweilen zu ihm auf, unwillkürlich und fast verstohlen, als bemühte er sich, nicht die Einsamkeit
einer langen Trennung einzugestehen. Er sprach nicht mit ihm. Als wäre seine Gegenwart jetzt
selbstverständlich. Doch als Galt sich vorbeugte und eine Haarsträhne ihm ins Gesicht fiel, hob Akston den Arm,
schob sie zurück und ließ seine Hand kurz auf der Stirn seines Schülers liegen. Es war das einzige äußere
Zeichen innerer Bewegung, das er sich gestattete, der einzige Willkommensgruß. Es war die Geste eines Vaters.
Verwundert bemerkte Dagny, daß sie sich trotz der ungewöhnlichen Situation unbefangen und zwanglos mit den
Männern unterhielt, in deren Mitte sie saß. Die Spannung, mit der sie dieses Zusammentreffen erwartet hatte,
war zu einem Staunen darüber geworden, wie einfach sich jetzt alles abspielte.
Sie war sich der Fragen, die sie ihnen der Reihe nach stellte, kaum bewußt, doch die Antworten prägten sich
ihr Satz für Satz ein und bildeten langsam ein Ganzes.
»Das Fünfte Konzert?« erwiderte Richard Halley auf ihre Frage. »Das habe ich vor zehn Jahren geschrieben.
Wir nennen es das Konzert der Befreiung. Ich danke Ihnen, daß Sie es an wenigen Noten, die jemand irgendwo
nachts einmal vor sich hinpfiff, erkannt haben… Ja, ich weiß davon… Ja. Da Sie mein Werk kannten, mußten
Sie sofort spüren, als Sie das Motiv hörten, daß in diesem Konzert alles ausgesprochen war, worum ich gekämpft
hatte. Es ist ihm gewidmet.« Er deutete auf Galt. »O nein, Miss Taggart, ich habe die Musik keineswegs
aufgegeben. Wie kommen Sie auf so etwas? Ich habe in den letzten zehn Jahren mehr geschrieben als in jeder
anderen Schaffensperiode meines Lebens. Ich werde Ihnen vorspielen, was Sie wünschen, wenn Sie mich
besuchen… Nein, Miss Taggart, es wird draußen nicht veröffentlicht werden. Nicht eine einzige Note wird
jenseits dieser Berge je gehört werden.«
»Nein, Miss Taggart, ich habe die Medizin nicht aufgegeben«, antwortete ihr Dr. Hendricks auf ihre Frage.
»Ich habe mich in den letzten sechs Jahren in der Hauptsache der Forschung gewidmet. Ich habe eine Methode
entdeckt, die Blutgefäße des Hirns vor jenem lebensgefährlichen Bersten zu schützen, das als Hirnschlag
bezeichnet wird. Es wird die Menschen von der entsetzlichen Gefahr plötzlicher Lähmung befreien… Nein. Kein
Wort darüber wird draußen bekannt werden.«
»Das Gesetz, Miss Taggart?« sagte Richter Narragansett. »Was ist das Gesetz? Ich habe es nicht aufgegeben;
es hat aufgehört zu bestehen. Doch ich arbeite immer noch in dem gleichen Beruf, den ich gewählt habe, ich
diene der Sache der Gerechtigkeit… Nein. Die Gerechtigkeit besteht immer noch. Sie kann nicht aufhören. Die
Menschen können sie aus dem Auge verlieren, aber dann wird die Gerechtigkeit sie vernichten. Die
Gerechtigkeit aber kann ihr Dasein nicht verlieren, weil das eine zum anderen gehört. Die Gerechtigkeit ist die
Anerkennung dessen, was ist… Ja. Ich arbeite weiter in meinem Beruf. Ich schreibe eine Abhandlung über die
Philosophie des Rechts. Ich werde beweisen, daß der Menschheit dunkelstes Übel, das grausigste
Marterinstrument des menschlichen Ungeistes, das nichtobjektive, das relativistische Recht ist… Nein, Miss
Taggart, mein Buch wird d raußen nicht veröffentlicht werden; diese Menschen verständen es gar nicht mehr.«
»Mein Geschäft, Miss Taggart?« sagte Midas Mulligan. »Mein Geschäft ist Blutübertragung im Großen – und
ich betreibe es immer noch. Meine Arbeit besteht darin, Lebewesen, die fähig sind zu wachsen, mit Lebenssaft
zu versorgen. Doch fragen Sie Dr. Hendricks, ob auch die größte Menge Blut einen Organismus retten kann, der
sich weigert, zu funktionieren, oder eine heruntergekommene Kreatur erhalten, die glaubt, ohne eigene
Anstrengung leben zu können. Meine Blutbank sammelt und verteilt Gold. Gold ist ein Treibstoff, der Wunder
wirken kann; doch der beste Treibstoff nützt nichts, wenn kein Motor da ist… Nein, ich habe nicht aufgegeben.
Ich hatte es nur satt, ein Schlachthaus zu betreiben, in dem gesunden Lebewesen das Blut abgezapft wurde, um
es entnervten Halbleichen einzupumpen.«
»Ob ich aufgegeben habe?« sagte Hugh Akston. »Keiner von uns hat aufgegeben. Die Welt hat aufgegeben…
Was ist unlogisch an einem Philosophen, der Würstchen verkauft – oder Zigaretten fabriziert, wie ich es tue?
Jede Arbeit ist eine philosophische Tat. Wenn die Menschen lernen, schöpferische Arbeit und das, woraus sie
entspringt, als Maßstab ihrer moralischen Werte zu betrachten, dann werden sie jenen Zustand der
Vollkommenheit erreichen, den sie verloren haben, als sie ihr Geburtsrecht verrieten… Die Quelle der Arbeit?
Die Vernunft des Menschen, Miss Taggart, sein denkender Verstand. Ich schreibe an einem Buch über dieses
Thema, es wird die Verkündung einer neuen Moralphilosophie sein, die mich mein eigener Schüler gelehrt hat…
Ja, sie könnte die Welt retten… Nein, sie wird draußen nicht veröffentlicht werden.«
»Warum nicht?« rief sie aus. »Was tun Sie denn hier, Sie alle?«
»Wir streiken«, sagte John Galt.
Alle wandten sich ihm zu, als hätten sie auf seine Stimme und auf dieses Wort gewartet. In der plötzlichen
Stille hörte Dagny, wie ihr Herzschlag aussetzte, als sie durch den Lichtkegel einer Lampe zu ihm
hinüberblickte. Er saß lässig auf der Lehne eines Sessels, leicht vorgebeugt, den Vorderarm auf beide Knie
gestützt. Seine Hand hing locker herab. Und sein feines Lächeln gab seinen Worten den unversöhnlichen Klang
des Unwiderruflichen.
»Was ist daran so verblüffend? Es gibt nur eine Klasse von Menschen, die nie gestreikt hat. Alle übrigen
Klassen und Schichten haben, wenn sie es wollten, aufgehört zu arbeiten, unter Berufung auf ihre
Unentbehrlichkeit haben sie der Welt Forderungen gestellt, nur nicht die Menschen, die die Welt auf ihren
Schultern trugen, sie am Leben erhielten und dafür nur Haß und Tod ernteten, ohne jemals die Arbeit am Wohl
der Menschheit niederzulegen. Nun, jetzt sind sie an der Reihe zu streiken. Die Welt soll entdecken, wer sie sind,
was sie tun, und was geschieht, wenn sie sich weigern, ihre Funktionen auszufüllen. Dies ist ein Streik der
denkenden Menschen, Miss Taggart. Es ist der Verstand, der dieses Mal streikt.«
Sie bewegte sich nicht. Nur die Finger ihrer einen Hand schoben sich langsam über die Wange hinauf zur
Schläfe.
»Zu allen Zeiten«, fuhr er fort, »wurde der Verstand als ein Übel angesehen, und die es auf sich nahmen, die
Welt mit lebendigem Bewußtsein zu sehen und Folgerungen aus ihren logischen Schlüssen zu ziehen, wurden als
Ketzer, Materialisten oder Ausbeuter beschimpft, verbrannt, entehrt oder enteignet, verspottet, gefoltert oder
ermordet. Doch immer gab es einige Menschen, die in Ketten und Kerkern oder in der Einsamkeit von
Studierstuben und Handelskontoren fortfuhren zu denken, und diese Leute erhielten das Leben auf der Erde.
Ihnen, die begriffen, daß Weizen Regen braucht, um zu wachsen, daß Steine, aufeinandergelegt, eine Mauer
ergeben, daß zwei mal zwei vier ist. Nur diesen Menschen, die ihren Verstand trotz Verbot gebrauchten,
verdankt es die Menschheit, daß sie die Jahrhunderte überlebt hat, in denen die Unvernunft regierte, sei es, daß
man sie blind anbetete, sei es, daß sie sich brutal Gehorsam erzwang. Sie, die lehrten und vorlebten, daß Liebe
nicht durch Folter erzwungen und Leben nicht durch Zerstörung erhalten wird, haben die Fackel der
Menschenwürde durch die Zeitalter der Finsternis in unsere Tage hinübergerettet. Sie haben jenen, die mit ihnen
lebten, das Leben möglich und lebenswert gemacht. Der denkende Mensch hat seine Mitmenschen gelehrt, Brot
zu backen, Wunden zu heilen, Waffen zu schmieden und die Gefängnisse zu bauen, in die sie ihn warfen. Nur
der Mensch der verschwenderischen Tatkraft und der unbekümmerten Großmut hat erkannt, daß seine
Bestimmung nicht Untätigkeit ist, sein Schicksal nicht Stillstand, sondern daß der Verstand die edelste Gabe des
Menschen und das Denken seine fruchtbarste Kraft sind. Und im Dienste dieser einsamen Liebe zum Leben
wirkte und schuf er weiter zum Nutzen derer, die unverdient die Früchte seiner Arbeit genossen und ihn zum
Dank dafür an Körper und Geist mißhandelten. Oft zahlte er mit seinem Leben für die Gnade, das ihre retten zu
dürfen. So wurde sein Verdienst zur Schuld, weil er sich für seine Taten bestrafen, ja sich zwingen ließ, sie als
Schuld zu empfinden. Weil er sich mit der Rolle des Opfertieres abfand und es hinnahm, auf den Altären der
Feinde des Verstandes als Buße dafür zu verbluten, daß er die Sünde begangen hatte zu denken. Es ist der
grausige Treppenwitz der Weltgeschichte, daß die Menschen auf allen Altären, die sie je errichteten, immer den
Menschen opferten und das Tier anbeteten. In ihren Götzenbildern verherrlichten sie stets die Eigenschaften des
Tieres, nie die des Menschen. Sie lagen vor den Götzen der Triebe und der Gewalt auf dem Bauch und krochen
vor den Mystikern und Königen, denen sie sich unterwarfen. Vor Mystikern, welche die Machtlosigkeit des
Verstandes predigten und mit dem Anspruch auftraten, daß ihre dunklen Gefühle der Klarheit der Vernunft
überlegen waren, daß Erkenntnis nicht durch bewußtes Denken erworben wird, sondern in blinden, willenlosen
Eingebungen erschaut und blind und unbezweifelt geglaubt werden muß, und von Königen, die mit dem Recht
der Faust regierten, Eroberung und Raub zur Regel machten und ihre Macht auf Speere oder Bajonette
gründeten. Die Verteidiger der Seele des Menschen ließen nur seine Gefühle gelten, die Verteidiger des Körpers
nur seinen Magen, doch vereint bekämpften sie beide seinen Verstand. Aber kein Mensch, auch nicht der
geringste, kann ganz auf sein Gehirn verzichten. Keiner hat je wirklich an die Unvernunft geglaubt. Wer es
vorgab, glaubte an die Ungerechtigkeit. Ein Mensch klagt den Verstand nur dann an, wenn sein Ziel seinem
eigenen Verstand nicht erlaubt, sich zu ihm zu bekennen. Er predigt Widersprüche nur im Vertrauen darauf, daß
jemand die Last des Unmöglichen auf sich nehmen und es um den Preis seines eigenen Leidens oder Lebens
möglich machen wird. Zerstörung ist der Preis aller Widersprüche. Die Opfer machen erst das Unrecht möglich.
Der denkende Mensch läßt die Herrschaft des Ungeistes zu. Die Zerstörung der Vernunft war das Ziel allen
kritiklosen Glaubens auf Erden. Die Zerstörung des schöpferischen Gedankens war der Zweck jeder Lehre, die
Selbstaufopferung predigte. Die Zerstörer haben dies immer gewußt, wir nicht. Doch jetzt ist auch für uns die
Zeit gekommen, die Augen zu öffnen. Und was sehen wir? Was wir heute anbeten sollen, ist nicht mehr als Gott
oder König verkleidet, es ist die nackte Gestalt eingestandener menschlicher Unzulänglichkeit. Dies ist das neue
Bild, der Sinn des Daseins und das Ziel des Lebens aller, und je näher ihm einer kommt, desto höher ist sein
Lohn. Dies ist das Zeitalter des gemeinen Mannes, sagt man uns, ein Titel, den jeder beanspruchen kann und
desto mehr verdient, je mehr er versagt. Mit jeder Anstrengung, die er unterläßt, steigt er in der Achtung der
anderen, er wird für Tugenden geehrt, die er nicht übt, und für Güter bezahlt, die er nicht erzeugt hat. Doch wir,
die wir büßen müssen für unsere Schuld, Gaben zu besitzen und zu nutzen, wir sollen arbeiten, seinen
Lebensunterhalt nach seinen Befehlen zu garantieren, ohne anderen Lohn als den seiner faulen Sicherheit. Da
wir am meisten leisten müssen, haben wir am wenigsten zu sagen. Da wir besser denken können, dürfen wir
keine eigenen Gedanken haben. Da wir mit Überlegung zu handeln verstehen, sind uns Taten eigener Wahl
verboten. Wir sollen unter der Leitung und Aufsicht derjenigen arbeiten, die unfähig sind, selbst Kopf und Hand
zu gebrauchen. Sie wollen über unsere Kräfte verfügen, weil sie selbst Schwächlinge sind, und über unsere
Produkte, weil sie selbst nichts produzieren können. ‘Unmöglich!’ höre ich Sie denken. ‘Niemand kann so
wahnsinnig sein, eine solche Ordnung einführen zu wollen!’ Doch ich erwidere Ihnen: Sie sind so wahnsinnig,
es zu tun, und sie wissen, daß es wider die Vernunft ist. Doch sie glauben, wir wüßten es nicht. Sie verlassen
sich darauf, daß wir weiter für sie arbeiten und sie ernähren, solange wir leben. Und wenn wir
zusammenbrechen, dann hoffen sie auf neue Opfer, die sie füttern sollen. Diese Opfer werden einander immer
schneller folgen, weil solcher Raubbau die Substanz zerstören muß; doch das kümmert die Zerstörer nicht. Ihnen
genügt es, so wie es den Tyrannen und Schmarotzern der Menschheit in der Vergangenheit genügt hat, wenn
ihnen die Beute nicht ausgeht, solange sie leben. Bisher hat sie immer ausgereicht, denn in einer Generation
sterben die Opfer nicht aus; doch dieses Mal geht ihre Rechnung nicht auf. Die Opfer sind in den Streik getreten.
Wir streiken gegen das Märtyrertum und gegen die Moral, die uns zu Märtyrern machen will. Wir streiken gegen
die, die glauben, daß Menschen für andere Menschen leben müssen. Wir streiken gegen die viehische Roheit der
Kannibalen, die sich vom Fleisch und vom Geist der anderen nähren. Wir werden mit ihnen nur auf der
Grundlage unserer eigenen Moral verhandeln, und unser oberstes Sittengesetz lautet: Der Mensch ist ein Zweck
an sich und nicht ein Mittel zum Wohl der anderen. Wir versuchen nicht, ihnen unser Gesetz aufzuzwingen. Sie
sind frei zu glauben, was ihnen gefällt. Doch sollen sie es am eigenen Leibe erfahren, was es heißt, ohne uns
auskommen zu müssen. Und dabei werden sie ein für allemal den Widersinn ihres eigenen Glaubens begreifen.
Dieser Glaube hat die Jahrhunderte nur dank den Sühneleistungen der Opfer überdauert, die ihre Strafe als Buße
für Übertretungen von Gesetzen hinnahmen, die man nicht halten konnte. Es war das Teuflische dieses Gesetzes,
daß es gemacht war, um gebrochen zu werden. Es fordert eine Ordnung, die nicht aufrechterhalten wird von
denen, die sie befolgen, sondern von denen, die ihr zuwiderhandeln; es ist eine Moral, deren Früchte nicht aus
den Tugenden der Heiligen erwachsen, sondern aus den Missetaten der Sünder. Wir haben aufgehört, dieses
Moralgesetz zu übertreten. Wir werden es ad absurdum führen und für immer auslöschen durch ein Mittel, dem
es nicht gewachsen ist: Wir befolgen es! Wir gehorchen denen, die es vertreten. Ihnen gegenüber beachten wir
alle Bestimmungen ihres Gesetzes buchstabengetreu und ersparen ihnen alle Übel, die es verdammt. Der
Verstand ist ein Übel? Wir haben sie von den Früchten unseres Denkens befreit, und unsere Gedanken werden
nicht mehr schaden, denn wir werden sie nicht mehr auf ihren Markt bringen. Tüchtigkeit ist Egoismus und läßt
denen keine Chancen, die weniger tüchtig sind? Wir haben uns aus dem Wettbewerb zurückgezogen und den
Versagern alle Chancen überlassen. Das Streben nach Reichtum ist Sünde und die Wurzel allen Übels? Wir
verzichten darauf, Kapital zu bilden. Es ist schändlich, mehr zu verdienen, als man zum nackten Lebensunterhalt
braucht? Wir scheuen uns nicht vor der einfachsten Arbeit und schaffen – wenn es sein muß, nur mit bloßen
Händen – nicht mehr, als wir zur Befriedigung unserer unmittelbaren Bedürfnisse benötigen. Es ist ein
Verbrechen, erfolgreich zu sein, denn der Erfolg geht auf Kosten der Schwachen? Wir haben aufgehört, die
Schwachen durch unseren Ehrgeiz zu behindern, und wir haben es ihnen möglich gemacht, ohne unsere
Konkurrenz zu gedeihen. Es ist unmoralisch, Arbeitgeber zu sein? Wir bieten keine Stellungen an. Es ist
Todsünde, sich seines Lebens in dieser Welt zu freuen? Es gibt nichts mehr in ihrer Welt, das uns erfreuen
könnte, und – dies war für uns der schwerste Schritt – das Gefühl, das wir jetzt für ihre Welt empfinden, ist
jenes, das sie selbst als ein Ideal predigen: Gleichgültigkeit, totale Indifferenz, völlige Leere. Wir tun das, was
sie seit Jahrhunderten als Tugend proklamieren, und überlassen ihnen alles, was sie sich gewünscht haben. Und
jetzt sollen sie sehen, wie sie damit fertig werden.«
»Haben Sie diesen Streik begonnen?« fragte sie.
»Ja, ich war der erste, der die Arbeit niedergelegt hat.«
Er erhob sich und stand jetzt da, die Hände in den Hosentaschen, das Gesicht im Licht, ihr voll zugewandt.
Und sie sah ihn mit der Heiterkeit unerschütterlicher Siegeszuversicht lächeln.
»Man hat uns so viel über das Recht auf Streik erzählt«, fuhr er fort, »und über die Abhängigkeit des
Arbeitgebers vom Arbeitnehmer. Man hat uns zugeschrien, daß der Unternehmer ein Parasit ist, daß seine
Arbeiter ihn aushalten, ihn reich machen und seinen Luxus ermöglichen – und was ihm blüht, wenn sie die
Arbeit niederlegen. Nun, gleiches Recht für alle. Die Welt soll selbst entscheiden, wer von wem abhängt, wer
wen aushält, wer die Quelle des Reichtums ist, wer wessen Lebensunterhalt verbürgt und was wem geschieht,
wenn jemand die Arbeit niederlegt.«
Die Fenster waren jetzt schwarze Spiegel, in denen die Pünktchen der brennenden Zigaretten tiefrot glühten.
Er nahm eine Zigarette von dem Tisch, neben dem er stand, und im Schein der Streichholzflamme sah sie
zwischen seinen Fingern einen goldschimmernden Fleck auf der Zigarette, das Dollarzeichen.
»Ich kündigte, schloß mich ihm an und trat ebenfalls in den Streik«, nahm jetzt Hugh Akston das Wort, »weil
ich meinen Beruf nicht mit Menschen teilen wollte, die behaupteten, wahrhaft intelligent wäre nur, wer das
Bestehen der Intelligenz leugnet. Die Menschen würden zur Reparatur eines Rohrbruchs keinen Klempner ins
Haus rufen, der seine berufliche Tüchtigkeit dadurch zu beweisen sucht, daß er behauptet, es gäbe keine Rohre;
doch die gleiche Vorsicht scheint unnötig, wenn es sich um Philosophen handelt. Ich habe durch meinen Schüler
erfahren, daß dies durch mich möglich wurde. Wenn Denker die Leugner des Daseins der Vernunft zwar als
Kollegen einer anderen Schule, aber doch als Denker anerkennen, dann zerstören sie damit das Denken
überhaupt. Sie stimmen der Grandthese des Feindes zu und erlauben damit, daß Unvernunft amtlich zur Vernunft
erklärt wird. Eine Grandthese ist etwas Absolutes, das keine Kompromisse mit der Gegenthese erlaubt und keine
Toleranz duldet. Wie ein Bankier Falschgeld nicht annimmt und weitergibt, um die Ehre und den Kredit seiner
Bank nicht aufs Spiel zu setzen, und wie er den Fälscher nicht als Kollegen anerkennt, so kann auch ich Dr.
Pritchett nicht den Titel eines Philosophen zuerkennen und mit ihm nicht in Wettbewerb um die Gedanken der
Menschheit treten.
Dr. Pritchett hat außer seiner Absicht, sie zu zerstören, nichts auf das Konto der Philosophie einzuzahlen. Er
will nur, indem er sie leugnet, vom Konto fremder Intelligenz abheben. Er versucht, den Plänen seiner
räuberischen Herren den Stempel der Vernunft aufzudrücken. Er benutzt das Ansehen der Philosophie, um die
Versklavung des Denkens zu ermöglichen. Doch dieses Ansehen ist ein Konto, das nur bestehen kann, solange
ich die Schecks unterschreibe. Ich unterschreibe sie nicht mehr, und er soll sehen, wie er ohne mich fertig wird.
Sollen er und diejenigen, die ihm den Verstand ihrer Kinder anvertrauen, genau das bekommen, was sie sich
wünschen, eine Welt von Intellektuellen ohne Intelligenz und von Denkern, die erklären, daß sie nicht denken
können. Ich habe aufgehört, für sie zu denken. Und wenn sie die absolute Wirklichkeit ihrer nicht absoluten Welt
erleben, werde ich nicht dabei sein und nicht den Preis für ihre Widersprüche zahlen.«
»Dr. Akston hat sich zurückgezogen, weil er die Wahrheit nicht fälschen wollte«, sagte Midas Mulligan. »Ich
habe mich zurückgezogen, weil ich die Liebe nicht verraten wollte. Liebe ist die höchste Anerkennung, die man
den höchsten Werten zollt. Der Fall Hunsacker hat mir die Augen geöffnet. Ein Gerichtshof ordnete an, ich sollte
mit den Einlagen meiner Kunden die Kreditansprüche von Leuten erfüllen, die ganz offensichtlich kein Recht
hatten, sie zu stellen. Es wurde mir befohlen, von ehrlichen Menschen verdientes Geld einem Mann
auszuhändigen, dessen einziger Ansprach darin bestand, daß er unfähig war, es zu verdienen. Ich wurde auf einer
Farm geboren. Ich habe in meinem Leben mit vielen Menschen zu tun gehabt. Ich habe beobachtet, wie sie mit
ihrem Leben fertig wurden. Ich habe mir ein Vermögen geschaffen durch meine Fähigkeit, eine bestimmte Art
von Menschen zu entdecken, jene Art, die nie Vertrauen, Versprechungen oder Almosen fordert, sondern
Tatsachen, Beweise und Leistungen anbietet. Wußten Sie, daß ich Geld in Hank Reardens Unternehmen angelegt
hatte? Das war damals, als er seinen Aufstieg begann, sich in Minnesota durchgesetzt hatte und die Eisenwerke
in Pennsylvania kaufen wollte. Als ich den Gerichtsbeschluß vor mir auf meinem Schreibtisch betrachtete, hatte
ich eine Vision. Ich sah ein Bild, und ich sah es so klar, daß es für mich die ganze Welt veränderte. Ich sah das
Gesicht des jungen Rearden, so wie ich es zum ersten Mal gesehen hatte, mit stolzem Mund und leuchtenden
Augen. Ich sah ihn als Opfertier am Fuß eines Altars liegen, und sein Blut sickerte in den Boden. Doch auf dem
Altar saß als triefäugiger Götze Lee Hunsacker und winselte mit geiferndem Munde, er hätte nie eine Chance
gehabt. Es ist seltsam, wie einfach die Dinge werden, wenn man sie klar sieht. Es war nicht schwer für mich,
meine Bank zu schließen und wegzugehen, denn ich hatte erkannt und konnte nicht mehr vergessen, wofür ich
gelebt und was ich geliebt hatte.«
Dagny sah Richter Narragansett an. »War für Sie nicht der gleiche Fall der Anlaß zu Ihrem Entschluß?«
»Jawohl«, antwortete Richter Narragansett. »Ich zog mich zurück, als das Berufungsgericht mein Urteil ins
Gegenteil verkehrte. Ich hatte meinen Beruf gewählt, weil ich Wächter der Gerechtigkeit werden wollte. Doch
die Gesetze, die man mich anzuwenden zwang, machten mich zum Vollstrecker der schändlichsten
Ungerechtigkeit. Es wurde von mir gefordert, daß ich das Recht wehrloser Menschen vergewaltigen sollte.
Streitende Parteien unterwerfen sich dem Urteil eines Gerichtes in der Annahme, daß es nach einem objektiven
Gesetz gefällt wird, das beide anerkennen. Nun sah ich, daß der eine Prozeßgegner an das Gesetz gebunden war,
der andere aber nicht, der eine mußte ihm gehorchen, der andere durfte es nach seinen willkürlichen Wünschen
und Bedürfnissen auslegen und verfälschen, und das Gericht mußte zugunsten des Gesetzesverächters
entscheiden. Das Gesetz war zum Beschützer des Unrechts geworden. Ich zog mich zurück, weil ich es nicht
ertragen hätte, von einem ehrlichen Menschen mit ‘Euer Ehren’ angeredet zu werden.«
Dagnys Blick wandte sich zögernd Richard Halley zu, als freute und fürchtete sie sich zugleich, seine
Geschichte zu hören.
Er lächelte.
»Meinen langen Kampf um ihre Anerkennung hätte ich den Menschen vergeben«, begann Richard Halley.
»Es war die Art, wie sie meinen Erfolg aufnahmen, die ich ihnen nicht verzeihen konnte. Ich hatte in all den
Jahren, in denen sie mich ablehnten, keinen Haß gegen sie empfunden. Wenn mein Werk neu war, dann mußte
ich ihnen Zeit lassen, es zu verstehen. Wenn ich meinen Stolz darin sah, ihre Tradition zu brechen und sie auf die
Höhen meiner eigenen Ideen zu führen, so hatte ich kein Recht, mich zu beklagen, daß sie zu langsam waren,
mir zu folgen. Das sagte ich mir in jenen Jahren der Enttäuschung immer wieder, mit Ausnahme weniger Nächte,
da ich meinte, nicht länger warten zu können, da ich ausrief ‘Warum?’ und keine Antwort fand. Und als ich dann
an dem Abend, an dem es ihnen gefiel mir zuzujubeln, vor ihnen auf der Bühne eines Theaters stand und dachte,
dies sei der Augenblick, den zu erleben ich so lange gekämpft hatte, empfand ich nichts. Ich erlebte in diesem
Augenblick noch einmal die Nächte, in denen ich ohne Echo ‘Warum?’ geschrien hatte, und ihr Beifall erschien
mir so leer wie ihre frühere Ablehnung. Wenn sie gesagt hätten: ‘Es tut uns leid, daß wir so lange gebraucht
haben. Wir danken Ihnen, daß Sie gewartet haben’, dann wäre ich zufrieden gewesen, und sie hätten alles von
mir haben können, was ich ihnen zu geben hatte. Doch was ich in ihren Gesichtern las und was ich aus ihren
Mündern vernahm, als sie mich umdrängten, um mich zu feiern, das hatte ich sie schon früher zu anderen
Künstlern sagen hören; und ich hatte nie geglaubt, daß sie es ehrlich meinten. Sie schienen mir sagen zu wollen,
daß sie mir nichts schuldeten, daß ihre Taubheit mir eine große Aufgabe ermöglicht hatte, daß es meine Pflicht
gewesen war, so zu kämpfen, zu leiden und ihre Verachtung, ihren Hohn, ihre Ungerechtigkeit zu ertragen; und
dies um ihretwillen, damit die Zeit sie lehren konnte, mein Werk zu genießen, und daß dies ihr Recht und meine
Bestimmung war. Und dann verstand ich zum ersten Mal das Wesen ihres geistigen Plünderertums, das ich
vorher nie begriffen hatte. Ich sah sie in meine Seele greifen, genau so, wie sie in Mulligans Tasche griffen, wie
sie versuchten, mein Werk zu stehlen, so wie sie sein Geld stahlen. Ich sah ihre unverschämte Mittelmäßigkeit
prahlerisch fordern, daß andere dazu da zu sein hatten, ihre eigene Leere zu füllen. Ich sah, daß sie ebenso, wie
sie sich von Mulligans Geld zu ernähren suchten, sich seelisch gut tun wollten an den Stunden, in denen ich
meine Musik schrieb, und an dem, was mich zu ihr inspirierte, daß sie ihre Selbstachtung füttern wollten, indem
sie von mir das Eingeständnis erpreßten, daß sie Sinn und Zweck meiner Musik waren und daß sie in ihrem
Beifall für meine Leistung nicht meinen Wert anerkannten, sondern nur ihren Wert mit meiner Hilfe bestätigten.
In jener Nacht schwur ich den Eid, sie nie wieder eine Note von mir hören zu lassen. Die Straßen waren leer, als
ich das Theater verließ. Nur ein Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, wartete unter einer Laterne auf mich. Er
brauchte mir nicht viel zu sagen. Das Konzert, das ich ihm später gewidmet habe, trägt den Titel ‘Konzert der
Befreiung’.«
Dagny sah die anderen an. »Bitte, lassen Sie mich auch Ihre Gründe wissen«, sagte sie, und in ihrer Stimme
war ein leichter Bruch, als wäre sie im Begriff, gezüchtigt zu werden, wünschte aber, bis zum letzten Schlag
durchzuhalten.
»Ich habe mich zurückgezogen, als die Medizin unter staatliche Lenkung gestellt wurde«, sagte Dr.
Hendricks. »Wissen Sie, was dazu gehört, eine Hirnoperation durchzuführen? Wissen Sie, wieviel Übung es
erfordert und wieviel Jahre an besessener, undankbarer und entnervender Arbeit nötig sind, diese Übung zu
erwerben? Dieses mein Wissen und Können wollte ich nicht Menschen zur Verfügung stellen, deren einzige
Qualifikation, mir zu befehlen, darin bestand, die betrügerischen Gemeinplätze zu wiederholen, mit deren Hilfe
sie sich hatten wählen und mit der Macht ausstatten lassen, die Erfüllung ihrer Wünsche mit vorgehaltener
Pistole zu erzwingen. Ich wollte mir von ihnen nicht den Zweck und die Bedingungen meiner Arbeit
vorschreiben lassen, und auch nicht die Wahl meiner Patienten und die Höhe meiner Honorare. Ich beobachtete,
daß in allen Diskussionen, die der Versklavung der Medizin vorausgingen, über alles gesprochen wurde, nur
nicht über die Wünsche der Ärzte. Man war nur um das ‘Wohlergehen’ der Patienten besorgt, nicht um die
Belange derjenigen, die sie verbürgen sollten. Der Anspruch des Arztes auf eigene Rechte in der Ausübung
seines Berufs wurde als eigennützige Anmaßung abgetan. Er hatte nicht nach eigener Verantwortung zu handeln,
er hatte zu ‘dienen’. Wie gefährlich und widersinnig es ist, den Kranken helfen zu wollen, indem man
denjenigen, die ihnen helfen sollen, die Hände bindet und das Denken verbietet, ist ihnen nie aufgegangen. Ich
habe mich oft über die Naivität gewundert, mit der diese Menschen ihr Recht behaupteten, mich zu versklaven,
meine Arbeit zu überwachen, mein Gewissen zu vergewaltigen, meinen Verstand zu ersticken, und ich habe
mich dann gefragt, was sie eigentlich erwarteten, wenn sie unter mein Messer kämen. Doch ihre Moral hat sie
gelehrt, daß es sicher ist, sich auf die Tüchtigkeit seiner Opfer zu verlassen. Nun, diese Tüchtigkeit habe ich
ihnen entzogen. Sollen sie sehen, welche Art von Ärzten ihr System nun hervorbringen wird. Sollen sie
entdecken, daß es nicht sicher ist, sein Leben in die Hand eines Menschen zu geben, dessen Leben man entwertet
hat. Es ist nicht sicher, wenn dieser Mensch es ihnen übelnimmt, und noch unsicherer, wenn er so stumpf
geworden ist, daß er es nicht tut.«
»Ich habe mich zurückgezogen«, sagte Ellis Wyatt, »weil ich den Kannibalen nicht als Mahlzeit dienen und
zugleich auch noch den Koch spielen wollte.«
»Ich entdeckte«, sagte Ken Danagger, »daß die Menschen, gegen die ich kämpfte, Nullen waren. Ich brauchte
sie nicht, diese Kreaturen ohne Rückgrat, ohne Ziel, ohne Verantwortung und ohne Verstand. Ich wollte mir von
ihnen keine Bedingungen diktieren und keine Befehle erteilen lassen. Ich habe mich zurückgezogen, damit sie
merken, daß sie mich brauchen, nicht ich sie.«
»Ich habe mich zurückgezogen«, sagte Quentin Daniels, »weil der Wissenschaftler, der seinen Verstand in
den Dienst der brutalen, gemeinen Gewalt stellt, in meinen Augen ein größerer Verbrecher ist als der gemeinste
Mörder.«
Alle hatten jetzt gesprochen und schwiegen. Dagny wandte sich an Galt.
»Und Sie? Sie waren der erste. Was war Ihr Grund?«
Er lächelte. »Meine Weigerung, anzuerkennen, daß ich mit einer Erbsünde geboren wurde.«
»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich habe mich wegen meiner Geistesgaben nie schuldig gefühlt. Ich habe mich nie meines Verstandes
geschämt. Ich habe nie Reue darüber empfunden, ein Mensch zu sein. Ich erkannte keine unverdiente Schuld an
und konnte daher mit gutem Gewissen handeln und meinen eigenen Wert festsetzen. Seit ich denken kann, hatte
ich das Gefühl, daß ich den Menschen töten würde, der forderte, daß ich leben sollte, um seine Bedürfnisse zu
befriedigen, und ich hatte erkannt, daß dies das höchste moralische Gefühl war, dessen ein Mensch fähig ist. In
jener Nacht, in der Versammlung der Twentieth Century, als ich hörte, wie verbrecherischer Widersinn im Ton
moralischer Rechtschaffenheit ausgesprochen wurde, erkannte ich die Wurzel der Welttragödie, den Schlüssel zu
ihr und zu ihrer Lösung. Ich erkannte, was geschehen mußte. Und ich ging hinaus, um es zu tun.«
»Und der Motor?« fragte sie. »Warum haben Sie ihn nicht mitgenommen? Warum haben Sie ihn den Starnes-
Erben überlassen?«
»Er war Eigentum ihres Vaters gewesen. Er hatte mich dafür bezahlt. Doch ich wußte, daß er ihnen nicht von
Nutzen sein würde, und daß niemand je wieder von ihm hören würde. Es war mein erstes Versuchsmodell.
Niemand außer mir oder ein mir gleichwertiger Techniker konnte es vollenden oder auch nur begreifen, was es
bedeutete. Und ich wußte, daß niemand, der dazu in der Lage gewesen wäre, die Fabrik je wieder betreten
würde.«
»Wußten Sie, welch große Leistung Ihr Motor darstellte?«
»Ja.«
»Und Sie haben gewußt, daß er zu Schrott zerfallen würde, wo Sie ihn zurückließen?«
»Ja.« Er blickte hinaus in die Finsternis jenseits der Fensterscheiben und lachte leise vor sich hin, doch es war
kein Lachen der Genugtuung. »Als ich meinen Motor das letzte Mal betrachtete, bevor ich ging, dachte ich an
die Menschen, die behaupten, daß Wohlstand eine Sache der natürlichen Bodenschätze ist, die allen gehören; an
die, die glauben, daß man allgemeinen Wohlstand erreichen kann, indem man die Fabriken beschlagnahmt, und
an die, die erwarten, daß Maschinen Hirne ersetzen und Wohlstand schaffen könnten. Nun, hier war der Motor,
der für sie denken und sie reich machen konnte, und hier blieb er liegen als das, was er ohne das Gehirn eines
Menschen war: ein rostender Haufen von Metall und Drähten. Sie haben an den großen Dienst gedacht, den der
Motor der Menschheit hätte leisten können, wenn er gebaut und genutzt worden wäre. Ich glaube, daß er an dem
Tag, an dem die Menschen den Sinn ihres Schicksals aus dem Schutthaufen der verlassenen Fabrik ablesen,
einen größeren Dienst geleistet haben wird.«
»Erwarteten Sie, diesen Tag zu erleben, als Sie den Motor zurückließen?«
»Nein.«
»Sahen Sie damals eine Möglichkeit, ihn anderswo zu bauen?«
»Nein.«
»Und Sie waren willens, ihn auf dem Abfallhaufen verrotten zu lassen?«
»Um dessentwillen, was der Motor für mich bedeutete«, erwiderte er langsam, »mußte ich ihn verrotten und
für immer verschwinden lassen.« Er sah sie jetzt voll an, und sie hörte unerschütterliche und rücksichtslose
Entschlossenheit in seiner Stimme. »Genau so, wie Sie gezwungen sein werden, die Schienen von Taggart
Transcontinental verrotten und verschwinden zu lassen.«
Sie hielt seinem Blick mit erhobenem Kopf stand und sagte leise, im Ton einer freimütigen, stolzen Bitte:
»Verlangen Sie bitte nicht von mir, daß ich Ihnen jetzt eine Antwort gebe.«
»Das war auch nicht meine Absicht. Wir werden Ihnen alles sagen, was Sie wissen wollen. Wir werden Sie
nicht zu einer Entscheidung drängen.« Als er jetzt weitersprach, war sie betroffen von der plötzlichen Weichheit
seiner Stimme. »Ich sagte Ihnen, daß es für uns die härteste Prüfung war, Gleichgültigkeit gegenüber einer Welt
zu erreichen, die uns hätte gehören müssen. Wir haben sie alle durchgestanden.«
Sie sah sich in dem behaglichen, friedlichen Raum um und sah das Licht, das sein Motor spendete, auf den
Gesichtern von Männern, die eine Atmosphäre der Gelassenheit und des Selbstvertrauens ausstrahlten, die sie in
einer Gesellschaft von Menschen bisher nie wahrgenommen hatte.
»Was taten Sie, nachdem Sie die Twentieth Century verlassen hatten?«
»Ich wurde ein Sucher in der Finsternis. Ich machte es mir zur Aufgabe, in den immer dunkler werdenden
Nacht der Verwilderung der Welt die einsamen Lichter zu entdecken, die Menschen des Verstands, die
Menschen der denkenden Tat, und ich beobachtete ihren Weg, ihren Kampf und ihre Not, und überredete sie,
sich aus dieser Welt zurückzuziehen, wenn ich erkannt hatte, daß sie reif waren.«
»Und was haben Sie ihnen gesagt, um sie zu bewegen, alles im Stich zu lassen?«
»Ich sagte ihnen, daß sie im Recht waren.«
Und in Beantwortung der stummen Frage ihrer Augen fuhr er fort: »Ich weckte in ihnen den Stolz, von dem
sie nicht wußten, daß sie ihn hatten. Ich gab ihnen das unbezahlbare Gut, das ihnen fehlte, von dem sie jedoch
nicht wußten, daß sie es brauchten: die moralische Gutheißung ihrer Handlungen. Haben Sie mich nicht einen
Zerstörer und Menschenjäger genannt? Ich war der wandernde Werber für diesen Streik, der Führer des
Aufstands der Opfer, der Verteidiger der Unterdrückten, der Enterbten, der Ausgebeuteten, und wenn ich diese
Worte gebrauche, dann nehmen sie dieses eine Mal ihre wahre Bedeutung an.«
»Wer waren die ersten, die Ihnen folgten?«
Er ließ einen Augenblick in bewußter Feierlichkeit verstreichen und antwortete dann: »Meine beiden besten
Freunde. Einen von ihnen kennen Sie. Sie wissen vielleicht besser als jeder andere, welchen Preis er dafür
bezahlt hat. Unser gemeinsamer Lehre r, Dr. Akston, war der nächste. Er schloß sich uns nach einem kurzen
abendlichen Gespräch an. William Hastings, der mein Chef im Versuchslaboratorium der Twentieth Century
Motor Company gewesen war, fiel es schwerer, mit sich ins reine zu kommen. Er brauchte ein Jahr dazu. Doch
er ging zu uns über. Sie wissen davon, Miss Taggart! Dann kam Richard Halley. Und dann Midas Mulligan.«
»…der nur fünfzehn Minuten brauchte«, sagte Mulligan. Sie wandte sich ihm zu. »Sie haben sich als erster in
dieses Tal zurückgezogen?«
»Ja«, erwiderte Mulligan, »Zuerst war es nur meine private Zuflucht. Ich hatte das Tal vor Jahren gekauft,
hatte Morgen um Morgen von Farmern und Viehzüchtern erworben, die nicht wußten, was sie besaßen. Das Tal
ist auf keiner Karte verzeichnet. Dieses Haus habe ich gebaut, nachdem ich mich entschlossen hatte, mich für
immer von draußen zurückzuziehen. Ich habe alle möglichen Zugänge unterbrochen, bis auf einen, und er ist so
gut getarnt, daß ihn niemand entdecken kann. Und dann habe ich Vorräte gestapelt, um autark zu sein und für
den Rest meines Lebens hier bleiben zu können, ohne je wieder gezwungen zu werden, das Gesicht eines dieser
Plünderer zu sehen. Als ich erfuhr, daß John auch Richter Narragansett gewonnen hatte, lud ich den Richter ein,
hierher zu kommen. Dann forderten wir Richard Halley auf, mit uns zusammen zu leben. Die anderen blieben
zunächst draußen.«
»Wir hatten keine Gesetze«, sagte Galt, »bis auf ein einziges, ungeschriebenes. Wenn ein Mensch unseren Eid
leistete, so bedeutete das für ihn nur eine einzige Verpflichtung: nicht in seinem früheren Beruf zu arbeiten und
die Welt seinen Verstand nicht mehr ausnutzen zu lassen. Jeder erfüllte diese Verpflichtung auf seine von ihm
frei gewählte Weise. Die genug Geld hatten, setzten sich zur Ruhe, um von ihren Ersparnissen zu leben. Die
arbeiten mußten, um leben zu können, nahmen mit Bedacht die einfachste Arbeit an, die sie finden konnten.
Einige von uns waren berühmt gewesen, andere, wie Ihr junger Techniker, den Halley entdeckt hat, sind von uns
daran gehindert worden, es zu werden, damit sie die Bitterkeit des Ruhms nicht spüren mußten. Doch gaben wir
weder unsern Verstand auf noch die Arbeit, die wir liebten. Jeder von uns fuhr fort, in seinem wirklichen Beruf
zu arbeiten, soweit er es in seiner Freizeit ermöglichen konnte, doch er tat es heimlich, nur zu seinem eigenen
Nutzen, überließ nichts davon den Menschen, teilte es mit niemand. Wir waren über das ganze Land verstreut,
wie Ausgestoßene es immer waren, nur daß wir unser Schicksal bewußt gewählt hatten. Unser einziger Trost
waren die seltenen Gelegenheiten, da wir einander sehen konnten. Wir stellten fest, daß es uns gut tat
zusammenzukommen, weil es uns daran erinnerte, daß es noch wahre Menschen in dieser Welt gab. So kamen
wir überein, einen Monat im Jahr in diesem Tal zu verbringen, um auszuruhen, um in einer Welt zu atmen, in der
gedacht werden durfte, um unseren wirklichen Arbeiten offen nachgehen zu können und unsere Erzeugnisse und
Leistungen hier auf den Markt zu bringen, wo Leistungen und Erzeugnisse bezahlt und nicht enteignet und
bestraft werden. Jeder von uns baute hier sein eigenes Haus, auf seine eigenen Kosten, um einen Monat im Jahr
hier verbringen zu können und die übrigen elf erträglicher zu machen.«
»Sie sehen, Miss Taggart«, sagte Hugh Akston, »der Mensch ist ein soziales Wesen, doch nicht in dem Sinne,
den die Plünderer predigen.«
»Mit dem Niedergang Colorados begann der eigentliche Aufstieg des Tales«, sagte Midas Mulligan. »Ellis
Wyatt und die anderen kamen zu uns, um ständig hier zu leben, weil sie sich verbergen mußten. Was sie von
ihrem Vermögen retten konnten, machten sie zu Gold oder Maschinen, wie ich es getan hatte, und brachten sie
hierher. Wir waren bald zahlreich genug, um eine ausgeglichene Wirtschaft zu entwickeln und Arbeit für die von
uns zu schaffen, die bisher ihren Lebensunterhalt draußen hatten verdienen müssen. Jetzt sind wir soweit, daß die
meisten von uns das ganze Jahr hindurch hier leben können. Das Tal erhält sich jetzt fast völlig selbst, und die
Güter, die wir noch nicht erzeugen können, besorge ich durch eine bestimmte Verbindung von draußen. Mein
Beauftragter ist ein Mann, der mein Geld nicht in die Finger der Plünderer gelangen läßt. Wir sind kein Staat und
auch nicht eine Gesellschaft irgendwelchen Art; wir sind nur eine freiwilliger Zusammenschluß von Menschen,
die allein durch das Selbstinteresse jedes einzelnen zusammengehalten wird. Ich bin der Grundeigentümer des
Tales und verkaufe das Land an die anderen. Richter Narragansett ist als Unparteiischer für den Fall vorgesehen,
daß Streitigkeiten entstehen. Er mußte bis jetzt nicht in Aktion treten. Man sagt, es sei so schwer für die
Menschen, sich zu vertragen. Sie würden staunen, wenn Sie erlebten, wie leicht es ist, wenn beide Parteien sich
zu dem moralischen Grundsatz bekennen und stehen, daß keiner für den anderen lebt, und daß Vernunft die
einzige Sprache ist. Der Zeitpunkt nähert sich, da wir alle, die zu uns gehören, auffordern müssen, hier zu leben,
denn die Welt fällt so schnell auseinander, daß sie bald verhungern wird. Wir aber werden in der Lage sein, uns
hier in diesem Tal aus eigenen Mitteln und eigener Erzeugung zu erhalten.«
»Die Welt bricht schneller zusammen, als wir erwartet hatten«, sagte Hugh Akston. »Die Menschen machen
nicht mehr mit und geben auf. Die Leute, die Ihre Züge ‘einfrieren’, die marodierenden Banden und die
Deserteure haben nie etwas von uns gehört und wissen nichts von unserem Streik. Sie handeln aus eigenem
Antrieb. Es ist der letzte Rest von Vernunft, der sich in ihnen aufbäumt. Es ist der gleiche Protest wie der
unsere.«
»Wir hatten uns keine Frist gesetzt, als wir begannen«, sagte Galt. »Wir wußten nicht, würden wir den Tag
der Befreiung der Welt erleben, oder müßten wir unseren Kampf und unser Geheimnis der nächsten Generation
überlassen. Wir wußten nur, daß dies das einzige Leben war, das uns lebenswert erschien. Doch jetzt wissen wir,
daß wir den Tag unseres Sieges und unserer Rückkehr erleben werden, und zwar bald.«
»Wann?« flüsterte sie.
»Wenn das Gesetz der Plünderer zusammengebrochen ist.« Er sah sie an, sah ihren halb fragenden, halb
hoffenden Blick und fuhr fort: »Wenn die Religion der Selbstaufopferung sich selbst entlarvt hat, wenn die
Menschen keine Opfer mehr finden, die bereit sind, ihre verlogenen Gesetze zu verletzen und sich dafür
bestrafen zu lassen, damit die anderen von ihrer Buße leben können, wenn die Prediger dieses Opferwillens
entdecken, daß diejenigen, die willens sind, sich zu opfern, nichts zu opfern haben, und diejenigen, die etwas zu
opfern haben, nicht länger opfern wollen, wenn die Menschen sehen, daß weder ihre Herzen noch ihre Muskeln
sie retten können, der Verstand aber, den sie verdammt haben, ihre Hilferufe nicht beachtet, wenn ihre Ordnung
zusammenbricht, wie sie als Ordnung ohne Vernunft zusammenbrechen muß, wenn ihre letzte Autorität
geschwunden ist, kein Gesetz mehr beachtet wird und keine Moral mehr gilt, wenn sie nichts mehr zu essen und
keine Hoffnung mehr haben, wenn sie verzweifeln und den Weg freigeben, dann werden wir kommen und die
Welt wieder aufbauen.«
Taggart Terminal, dachte Dagny. Sie hörte die Worte wie ein dumpfes Echo in ihrem Innern, vermeinte, diese
Last nicht länger tragen zu können. Dies war Taggart Terminal, dieser Raum, nicht der riesige Bahnhof in New
York, dies war ihr Ziel, das Ende der Strecke, der Punkt jenseits der Krümmung der Erde, in dem die beiden
Geraden des Schienenpaares einander trafen, verschwanden und sie mit sich zogen, so wie sie Nathaniel Taggart
mitgezogen hatten, dies war das Ziel, das Nathaniel Taggart in der Ferne gesehen hatte, und dies war der Punkt,
auf den sein Blick über das Gewühl der Menschen im Terminal von New York hinweg immer noch gerichtet
war. Dies war es, was sie getrieben hatte, ihr Leben Taggart Transcontinental zu weihen wie einem Leib, dessen
Geist sie erst später finden sollte. Und jetzt hatte sie diesen Geist gefunden, hatte alles gefunden, wonach sie sich
immer gesehnt hatte. Hier war es, hier in diesem Raum, und es wartete darauf, von ihr in Besitz genommen zu
werden. Doch der Preis dafür war das Netz der Gleise hinter ihr, die Schienenstränge, die verrotten und
verschwinden, die Brücken, die zusammenstürzen, die Signallichter, die erlöschen würden. War dieser Preis
nicht zu hoch?… Sie wandte den Blick von dem Mann mit dem wetterharten Gesicht und den unerbittlichen
Augen ab. »Sie brauchen uns die Antwort nicht jetzt zu geben.«
Sie hob den Kopf. Er sah sie an, als wäre er jedem Schritt ihrer Gedanken gefolgt.
»Wir bestehen nie auf sofortiger Zustimmung«, sagte er. »Wir sagen keinem mehr, als er bereit ist, zu hören.
Sie sind der erste Mensch, der unser Geheimnis vor der Zeit erfahren hat. Doch da Sie nun einmal hier waren,
mußten wir Sie einweihen. Sie kennen jetzt genau die Bedeutung der Wahl, die Sie zu treffen haben. Sie mag
Ihnen schwierig erscheinen, weil Sie noch immer glauben, daß Sie sich nicht für das eine oder das andere
entscheiden müssen. Sie werden erkennen, daß es unumgänglich ist.«
»Geben Sie mir Zeit.«
»Es ist nicht an uns, Ihnen Zeit zu geben. Ihre Zeit gehört Ihnen. Sie allein können entscheiden, was Sie
wollen und wann. Wir kennen den Preis für diese Entscheidung. Wir haben ihn alle gezahlt. Daß Sie hierher
gekommen sind, mag es leichter machen für Sie… oder schwieriger.«
»Schwieriger«, erwiderte sie leise.
»Ich weiß es.«
Er hatte ebenso leise gesprochen wie sie und in dem gleichen gepreßten Ton, und einen Augenblick lang war
sie benommen wie nach einem Schlag, denn sie fühlte, daß dies, nicht die Minuten, als er sie auf seinen Armen
den Hang heruntergetragen hatte, sondern diese Begegnung ihrer Stimmen die engste physische Berührung
zwischen ihnen gewesen war.
Der Vollmond stand über dem Tal, als sie in sein Haus zurückfuhren. Der Mond hing am Himmel wie eine
flache, runde, strahlenlose Laterne, aber das Licht, das wie heller Nebel im Raum schwebte, schien nicht von
ihm auszugehen, sondern wirkte wie ein Widerschein des unnatürlich leuchtenden Talbodens. In der Stille der
Nacht und ihrer farblosen Helle schien die Erde von einem Schleier verhüllt, und ihre Formen fügten sich nicht
zu einer Landschaft, sondern fluteten an ihnen vorbei wie Wolken. Sie ertappte sich dabei, daß sie lächelte. Sie
sah hinunter auf die Häuser des Tales. Die erleuchteten Fenster schimmerten matt bläulich, die Konturen der
Mauern verschwammen, und lange Nebelbänder umspielten sie in trägen Wellen. Die Siedlung sah aus, als
versänke sie im Wasser.
»Wie nennen Sie Ihr Tal?« fragte sie.
»Ich nenne es Mulligan’s Valley«, antwortete er. »Die anderen nennen es Galt’s Gulch.«
»Ich würde es nennen…« Sie sprach es nicht aus.
Er sah sie an. Sie wußte, was er in ihrem Gesicht las. Er blickte wieder geradeaus.
Sie sah seine Lippen sich wie in einem Seufzer bewegen. Sie senkte den Blick und ließ den Arm gegen die
Außenseite des offenen Wagens fallen, als wäre ihre Hand plötzlich zu schwer geworden. Der Weg wurde steiler
und dunkler, und die Zweige der Kiefern schlossen sich über ihren Köpfen. Über einem Fels, der auf sie
zuzukommen schien, sah sie das Mondlicht in den Fenstern seines Hauses. Ihr Kopf fiel nach hinten gegen die
Lehne des Sitzes, und sie lag still, wußte nicht mehr, daß sie in einem Wagen saß, fühlte nur noch die Bewegung,
die sie weitertrug, und bot ihr Gesicht den Sternen dar.
Als der Wagen hielt, zwang sie sich, ohne zu wissen warum, John Galt beim Aussteigen nicht anzuschauen.
Sie wußte nicht, daß sie einen Augenblick lang stehen blieb und zu den dunklen Fenstern hinaufsah. Sie hörte
ihn nicht näherkommen, doch sie spürte die Berührung seiner Hände mit so bestürzender Deutlichkeit, als wäre
dies die einzige Empfindung, deren sie jetzt fähig war. Er nahm sie auf die Arme und begann, den Pfad nach
dem Haus hinaufzusteigen. Er ging langsam, sah sie nicht an, hielt sie eng an sich, als wollte er die Zeit
festhalten, als umschlängen seine Arme immer noch den Augenblick, da er sie beim Hochheben gegen seine
Brust gedrückt hatte. Sie spürte seine Schritte, als wäre jeder von ihnen eine Bewegung auf ein Ziel hin und ein
Augenblick für sich, in dem sie nicht an den nächsten zu denken wagte. Ihre Köpfe waren einander hauchnahe,
sein Haar streifte ihre Wange, und sie wußte, daß ihre Gesichter sich keinen Hauch näher kommen würden. Es
war ein Zustand plötzlicher Trunkenheit ohne Ursprung und Ende, in sich selbst genug. Ihre Haare hatten sich
ineinander verfangen wie die Strahlen zweier Himmelskörper, die sich im Raum begegneten. Sie sah, daß er die
Augen geschlossen hielt, als ob sogar ihr leibliches Bild die Vollkommenheit dieser Minute stören konnte.
Er betrat das Haus, und während er sie durch das Wohnzimmer trug, wandte er den Blick nicht nach links,
und sie tat es auch nicht, doch sie wußte, daß beide die Tür zu ihrer Linken sahen, die in sein Schlafzimmer
führte. Er trug sie ohne Aufenthalt durch die Dunkelheit des großen Raumes bis an den breiten Streifen
Mondlicht, der quer durch das Gästezimmer fiel und ließ sie auf das Bett nieder. Mit angehaltenem Atem nahm
sie das Zögern seiner Hände wahr, die ihre Schulter und Hüfte umfaßten, und erst als seine Finger sich von
ihrem Körper lösten, wußte sie, daß die Entscheidung dieser Stunde gefallen war.
Er trat zurück, drückte einen Schalter, und grelles, schonungsloses Licht erfüllte den Raum. Er stand vor ihr,
mit hartem Gesicht, abwartend, als forderte er, daß sie ihn anschaute.
»Haben Sie vergessen, daß Sie mich erschießen wollten, sobald ich Ihnen vor die Augen käme?« fragte er.
Die schutzlose Bewegungslosigkeit seines Körpers machte die Frage zur Herausforderung. Der jähe Ruck, mit
dem sie sich aufsetzte, war ein Schrei des Entsetzens und des Widerspruchs; doch sie hielt seinem Blick stand
und erwiderte gelassen: »Ja, das hatte ich mir geschworen.«
»Dann stehen Sie zu Ihrem Schwur.«
Ihre Stimme wurde leise, und in ihrer Verhaltenheit lag Wehrlosigkeit und Vorwurf. »Sie wissen genau, daß
ich es nicht tun könnte. Warum verspotten Sie mich?«
Er schüttelte den Kopf. »Das will ich gar nicht. Ich will Sie nur daran erinnern, daß Sie mich hatten töten
wollen. Das war früher Ihr gutes Recht. Solange Sie draußen in der Welt lebten, mußten Sie danach trachten,
mich zu vernichten. Und von den beiden Wegen, die Ihnen jetzt offenstehen, wird der eine Sie zu dem Tag
führen, an dem Sie es tun müssen.«
Sie antwortete nicht. Sie hielt den Blick gesenkt und sah die Strähnen ihres über die Stirn herabhängenden
Haares vor ihren Augen heftig schwingen, als sie in verzweifeltem Protest den Kopf schüttelte. »Sie sind die
einzige wirkliche Gefahr für mich. Sie sind der einzige Mensch, der mich meinen Feinden ausliefern könnte.
Wenn Sie bei ihnen bleiben, werden Sie es tun. Wählen Sie diese Möglichkeit, wenn Sie glauben, daß sie für Sie
die richtige ist; doch entscheiden Sie sich im vollen Bewußtsein aller Konsequenzen. Antworten Sie mir nicht
jetzt. Doch bevor Sie es tun«, die Strenge in seiner Stimme war Härte gegen sich selbst, »denken Sie immer
daran, daß ich die Bedeutung der beiden möglichen Antworten kenne.«
»So gut wie ich?« fragte sie leise.
»So gut wie Sie.«
Als er sich zum Gehen wandte, fiel ihr Blick auf die Schriftzüge an der Holzwand, die sie vergessen hatte. Die
Linien waren in die polierte Oberfläche des Holzes eingraviert und verrieten den starken Druck der Hand, die
jeweils den Bleistift geführt hatte. Sie entzifferte: »Du wirst es durchstehen. Ellis Wyatt.«
»Morgen früh wird alles gut ein. Ken Danagger.«
»Es ist seinen Preis wert. Roger Marsh.«
Es waren noch andere, ähnliche Inschriften über die Wände verteilt.
»Was hat das zu bedeuten?«
Er lächelte. »Dies ist der Raum, in dem sie ihre erste Nacht im Tal verbrachten. Die erste Nacht ist die
schwerste. In ihr vollzieht sich die letzte Phase des Bruchs mit der Vergangenheit, und die ist die
schmerzhafteste. Ich lasse sie hier übernachten, so daß sie mich rufen können, wenn sie mich brauchen. Ich
spreche mit ihnen, wenn sie nicht schlafen können. Die meisten können es nicht. Doch am Morgen haben sie
alles überwunden. Alle sind durch diesen Raum gegangen. Sie nennen ihn jetzt die Folterkammer oder das
Vorzimmer, weil jeder das Tal durch mein Haus betreten muß.« Er ging zur Tür. Auf der Schwelle wandte er
sich noch einmal um und fügte hinzu:
»Ich hatte nie die Absicht gehabt, Sie in diesem Zimmer schlafen zu lassen. Gute Nacht, Miss Taggart.«
II. Utopia der Habgier

»Guten Morgen.«
Galt saß am Tisch des großen Wohnraumes, als Dagny auf die Schwelle ihres Zimmers trat. Durch das
Fenster hinter ihm sah sie die Berge, die in jenem silbernen Frührot leuchteten, das heller ist als das Tageslicht,
das es verspricht. Die Sonne war irgendwo am Rand der Erde aufgegangen, doch sie hatte den Scheitel der
Bergkette, die das Tal umschloß, noch nicht erreicht; dort, wo sie erscheinen würde, glühte der Himmel und
kündete ihr Nahen. Der Willkommensgruß an den Sonnenaufgang, der Dagny vor wenigen Minuten geweckt
hatte, war nicht der Gesang von Vögeln gewesen, sondern das Klingeln des Telefons; und sie sah den neuen Tag
nicht im schimmernden Grün der Bäume vor den Fenstern, sondern im Blitzen des Chroms am Küchenherd, dem
Glitzern des gläsernen Aschenbechers auf dem Tisch und dem frischen Weiß von Johns Hemdsärmeln. Sie hörte
in ihrer Stimme das Lächeln, mit dem sie unbewußt das seine erwiderte, als sie antwortete:
»Guten Morgen.«
Er nahm mit Zahlen beschriebene Blätter von seinem Schreibtisch auf und steckte sie in die Tasche.
»Ich muß zum Kraftwerk«, sagte er. »Man hat mich soeben angerufen. Mit dem Strahlenschirm ist etwas nicht
in Ordnung. Ihr Flugzeug scheint ihn gestört zu haben. Ich werde in einer halben Stunde zurück sein und dann
unser Frühstück zubereiten. So lange müssen Sie bitte warten.«
Gerade die Sicherheit seiner Stimme und die Selbstverständlichkeit, mit der er ihre Anwesenheit und ihr
Zusammenleben in einem Haushalt anzusehen schien, unterstrichen in ihrem Empfinden die besondere
Bedeutung ihrer Lage und gaben ihr das Gefühl, daß auch er sich ihrer bewußt war.
Sie antwortete, bemüht, den gleichen unbefangenen Ton zu treffen wie er: »Wenn Sie mir meinen Stock
bringen, den ich draußen im Wagen gelassen habe, dann ist Ihr Frühstück fertig, bis Sie zurück sind.«
Er sah ein wenig erstaunt auf ihren bandagierten Fußknöchel und den dicken Verband um ihren Ellenbogen,
den der kurze Ärmel ihrer Bluse frei ließ. Die leichte, fast durchsichtige Bluse, der offene Kragen und das offen
auf die Schultern herabfallende Haar gaben ihr eher das Aussehen eines Schulmädchens als das einer Patientin,
und ihre Haltung ließ die Verbände vollends überflüssig erscheinen.
Er lächelte, doch sein Lachen schien nicht allein ihr zu gelten, sondern mehr einer verstohlenen Erinnerung.
»Wenn Sie wollen«, sagte er. Es kam ihr seltsam vor, daß sie nun allein in seinem Hause war. Sie war behindert
durch eine gewisse Scheu, die sie bisher nie empfunden hatte, die jetzt aber sogar ihre Hände hemmte, als
bedeutete es eine zu große Vertraulichkeit, die Gegenstände, die John Galt gehörten, zu berühren. Andererseits
aber fühlte sie sich frei und ungehemmt, als wäre sie hier zu Hause, weil sie Gewalt über den Besitzer dieses
Hauses hatte.
Es schien ihr auch seltsam, daß sie bei der Zubereitung des Frühstücks eine so reine Freude empfand. Die
Arbeit schien ihr ein Selbstzweck zu sein, als vollführte sie die Bewegungen des Kaffeeaufbrühens, des
Orangenausdrückens und des Brotschneidens um ihrer selbst, um jenes Vergnügens willen, das man im Tanz
sucht, aber selten findet. Ve rwundert stellte sie fest, daß sie dieses unmittelbare Vergnügen an der Arbeit seit
ihren Tagen am Schalttisch der Blockstelle Rockdale nicht mehr empfunden hatte. Als sie den Tisch deckte, sah
sie einen Mann den Pfad zum Haus heraufeilen, eine behende Gestalt, die wie im Flug über die Felsstufen des
Weges hinwegsetzte. Der Mann stieß die Tür auf, rief: »Hallo, John!« und blieb auf der Schwelle stehen, als er
Dagny erblickte. Er trug einen dunkelblauen Sweater und blaue Hosen. Sein Haar war goldblond und sein
Gesicht von so verblüffend vollkommener Schönheit, daß sie ihn bewegungslos anstarrte, nicht um ihn zu
bewundern, sondern weil sie einfach ihren Augen nicht traute.
Er sah sie an, als hätte er nicht erwartet, eine Frau in diesem Hause vorzufinden. Doch dann wandelte sich das
unpersönliche Erstaunen in seinen Zügen in überraschtes Erkennen und wurde zu einem halb belustigten, halb
triumphierenden Lächeln, »Oh, Sie sind jetzt also auch eine von uns?«
»Nein«, erwiderte sie schroff. »Das nicht. Ich bin ein Streikbrecher.«
Er lachte, wie ein Erwachsener über ein Kind lacht, das Ausdrücke gebraucht, die es nicht versteht. »Wenn
Sie wüßten, was Sie sagen, dann wüßten Sie auch, daß Sie das hier nicht sein können«, antwortete er.
»Ich bin buchstäblich mit der Tür ins Haus gefallen.«
Er musterte ihre Verbände mit fast anmaßender Neugier, schien seine Frage genau abzuwägen und sagte:
»Wann?«
»Gestern.«
»Wie?«
»In einem Flugzeug.«
»Was taten Sie in einem Flugzeug über diesem Teil des Landes?« Seine Stimme klang herrisch, fast unhöflich
wie die eines Edelmannes oder eines ungebildeten Rauhbeins, je nachdem, ob man ihn nach seinem Kopf oder
nach seiner Kleidung beurteilte. Dagny sah ihn eine Zeitlang an, ließ ihn mit Absicht auf Antwort warten. Dann
sagte sie: »Ich versuchte, in einer prähistorischen Siedlung zu landen, und es ist mir gelungen.«
»Sie sind also doch ein Streikbrecher«, sagte er und lächelte, als begriffe er jetzt das Problem ihrer
Anwesenheit in seiner vollen Tragweite. »Wo ist John?«
»Mr. Galt ist zum Kraftwerk gefahren. Er muß jeden Augenblick zurück sein.«
Er setzte sich in den Lehnstuhl, ohne aufgefordert zu sein, als wäre er hier zu Hause. Sie wandte sich
schweigend wieder ihrer Arbeit zu. Mit unverhohlenem Grinsen beobachtete er sie, als wäre es für ihn ein
besonders paradoxes Bild, sie mit so viel Umsicht einen Küchentisch decken zu sehen.
»Was hat Francisco gesagt, als er Sie hier sah?« fragte er.
Sichtlich verblüfft wandte sie sich nach ihm um, antwortete aber gleichmütig: »Er ist noch nicht hier.«
»Noch nicht hier?« Er schien bestürzt. »Sind Sie sicher?«
»Man hat es mir gesagt.«
Er zündete sich eine Zigarette an.
Sie fragte sich, welchen Beruf er fü r das Leben hier im Tal aufgegeben hatte. Es fiel ihr keiner ein; kein Beruf
schien zu ihm zu passen. Und sie ertappte sich dabei, daß sie wünschte, er möchte überhaupt keinen Beruf
gehabt haben, weil jede Arbeit für die unglaubliche Vollkommenheit seiner Schönheit zu gefährlich schien. Es
war ein unpersönliches Gefühl, sie sah in ihm keinen Mann, sondern ein lebendes Kunstwerk, und es erschien ihr
als besondere Ungerechtigkeit der Welt dort draußen, daß solche Vollkommenheit den gleichen Belastungen,
Erschütterungen und Leiden ausgesetzt sein sollte, die jeder Mann, der seine Arbeit liebte, dort ertragen mußte.
Doch begriff sie sofort den Widersinn dieses Wunsches, denn die Züge des Mannes waren von jener Härte, der
nichts auf Erden gefährlich werden konnte.
»Nein, Miss Taggart«, sagte er plötzlich und sah ihr gerade ins Gesicht. »Sie haben mich nie zuvor gesehen.«
Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie ihn so offen gemustert hatte. »Wie kommt es, daß Sie wissen, wer
ich bin?« fragte sie.
»Erstens habe ich Ihr Bild oft in den Zeitungen gesehen. Zweitens sind Sie unseres Wissens nach die einzige
Frau der Außenwelt, die in Galt’s Gulch zugelassen würde. Und drittens sind Sie die einzige Frau, die den Mut
und das Selbstbewußtsein hat, trotzdem ein Streikbrecher zu bleiben.«
»Warum glauben Sie denn, daß ich ein Streikbrecher bin?«
»Wenn Sie es nicht wären, dann wüßten Sie, daß nicht dieses Tal, sondern eher die Welt draußen der
Vorgeschichte angehört.«
Sie hörte den Lärm des Motors und sah den Wagen unten vor dem Hause halten. Ihr fiel auf, wie schnell der
Mann sich erhob, als er Galt im Wagen erblickte. Wäre sein Eifer nicht so persönlich gewesen, man hätte ihn für
eine instinktive Reaktion militärischen Drills halten können.
Ihr fiel auf, daß Galts Schritt stockte, als er eintrat und seinen Besucher erblickte. Dann aber lächelte Galt;
seine Stimme war leise, fast feierlich, wie von uneingestandener Erleichterung bewegt, als er sagte: »Hallo.«
»Hallo, John«, antwortete der Besucher freudig.
Ihr fiel auf, daß der Handschlag der beiden um einiges zu spät kam und um einiges zu lange dauerte, wie bei
Männern, die bei ihrem letzten Zusammensein nicht sicher gewesen waren, ob es nicht ihr letztes sein würde.
Galt wandte sich zu ihr. »Kennen Sie sich schon?« fragte er.
»Eigentlich nicht«, sagte der Besucher.
»Miss Taggart, darf ich Ihnen Ragnar Danneskjöld vorstellen?« Sie begriff, was für ein Gesicht sie gemacht
haben mußte, als sie Danneskjölds Stimme wie aus weiter Entfernung sagen hörte: »Sie brauchen keine Angst
vor mir zu haben, Miss Taggart. Hier in Galt’s Gulch tue ich niemand etwas.«
Sie konnte nur den Kopf schütteln, bevor sie ihrer Stimme wieder Herr wurde und sagte: »Ich fürchte mich
nicht vor dem, was Sie jemand tun, sondern vor dem, was man Ihnen tun könnte…«
Sein Lachen nahm ihr die letzte Befangenheit. »Seien Sie vorsichtig, Miss Taggart. Wenn Sie anfangen, so zu
denken, werden Sie nicht lange einer von den Streikbrechern bleiben. Doch Sie sollten von den Leuten in Galt’s
Gulch nur die vernünftigen Gedanken übernehmen und nicht ihre Fehler; seit zwölf Jahren machen sie sich
nämlich völlig unnötig Sorgen um mich.« Er sah Galt an.
»Wann bist du zurückgekommen?« fragte Galt.
»Gestern am späten Abend.«
»Setz dich. Du wirst mit uns frühstücken.«
»Aber wo ist Francisco? Warum ist er noch nicht hier?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Galt und ranzelte die Stirn. »Ich habe soeben auf dem Flugplatz nach ihm
gefragt. Niemand hat von ihm gehört.«
Als Dagny in die Küche ging, wollte Galt ihr folgen.
»Nein«, sagte sie, »heute ist das meine Arbeit.«
»Lassen Sie mich Ihnen helfen.«
»Ich denke, dies ist ein Ort, an dem niemand einen anderen um Hilfe bittet?« Er lächelte. »Ich gebe mich
geschlagen. Sie haben recht.« Nie hatte sie ihre eigenen Bewegungen so lustvoll empfunden wie jetzt, während
sie den beiden Männern das Frühstück auftrug. Sie ging hin und her, als hätten ihre Füße kein Gewicht zu tragen,
als wäre ihr Stock nur eine überflüssige elegante Note. Sie genoß bewußt die Eleganz ihrer Schritte und Griffe,
durch die sie ihre Behinderung überwand, und ihre Haltung verriet, daß sie sich von den beiden Männern
beobachtet fühlte. Sie trug den Kopf wie eine Schauspielerin auf der Bühne, wie die Königin eines Balles oder
die Siegerin eines Schönheitswettbewerbs.
»Francisco wird sich freuen zu hören, daß gerade Sie heute als sein Double einspringen«, sagte Danneskjöld,
als sie sich zu den beiden Männern an den Tisch setzte.
»Wieso sein Double?«
»Heute ist nämlich der erste Juni, und wir drei, John, Francisco und ich, haben in den letzten zwölf Jahren an
jedem ersten Juni gemeinsam gefrühstückt.«
»Hier?«
»Am Anfang nicht, wohl aber in den acht Jahren, seit dieses Haus gebaut wurde.« Er zuckte die Achseln und
lächelte. »Es wäre seltsam, wenn ein Mann wie Francisco, der mehr Jahrhunderte an Tradition hinter sich hat als
ich Jahre, als erster unsere eigene Tradition bräche.«
»Und Mr. Galt?« fragte sie. »Wieviel Jahrhunderte hat er hinter sich?«
»John? überhaupt keine. Keine hinter sich, doch alle vor sich.«
»Lassen wir die Jahrhunderte aus dem Spiel«, sagte Galt. »Erzähl mir lieber, was für ein Jahr du hinter dir
hast. Hast du Leute verloren?«
»Nein.«
»Zeit?«
»Du meinst, ob ich verwundet war? Nein. Ich habe keinen Kratzer mehr abbekommen seit damals, vor zehn
Jahren, als ich noch Amateur war, was du inzwischen vergessen haben könntest. Ich war in diesem Jahr keine
Sekunde lang in Gefahr. Ich war sicherer, als wenn ich unter dem Schutz der Verordnung 10-289 in einer
Kleinstadt einen Drugstore betrieben hätte.«
»Hast du Gefechte verloren?«
»Nein. Die Verluste waren in diesem Jahr alle auf der anderen Seite. Die Plünderer haben die meisten ihrer
Schiffe an mich verloren und die meisten ihrer Männer an dich. Auch du hattest ein gutes Jahr. Ich weiß es, ich
habe Buch geführt über deine Erfolge. Seit unserem letzten gemeinsamen Frühstück hast du in Colorado alle
gewonnen, die du haben wolltest, und noch einige andere dazu, wie zum Beispiel Ken Danagger, der einen
besonders großen Gewinn darstellt. Doch laß dir von einem noch größeren erzählen, der dir schon so gut wie
sicher ist. Du wirst diesen Mann sogar sehr bald auf deiner Seite sehen, er kann dir jeden Augenblick als reife
Frucht vor die Füße fallen. Er hat mir das Leben gerettet, und daran kannst du ermessen, wie weit er schon einer
von uns ist.«
Galt lehnte sich auf seinen Stuhl zurück, und seine Augen wurden kleiner. »Ich denke, du warst keine
Sekunde lang in Gefahr?«
Danneskjöld lachte. »Oh, ich habe ein einziges Mal ein kleines Risiko auf mich genommen. Und es hat sich
gelohnt. Es war die angenehmste Begegnung, die ich je hatte. Ich habe gewartet, um dir persönlich darüber zu
berichten. Die Geschichte wird dir bestimmt gefallen. Weißt du, wer der Mann ist? Hank Rearden. Ich…«
»Nein! «
Es war Galts Stimme gewesen, und ihr knapper, scharfer Befehlston hatte einen brutalen Beiklang gehabt, den
keiner von ihnen je aus seinem Munde gehört hatte.
»Wie?« fragte Danneskjöld leise, ungläubig.
»Erzähle es mir nicht jetzt.«
»Aber du hast doch immer gesagt, daß Hank Rearden der Mann ist, den du am dringendsten hier zu sehen
wünschst.«
»Das tue ich immer noch. Doch erzähle mir seine Geschichte später.«
Scharf beobachtete sie Galts Gesicht, doch sie fand darin keinen Schlüssel. Aus seinem unpersönlichen Blick
und der Gespanntheit seiner Züge sprach nur entschlossene Abwehr. Was immer er von ihr wissen mochte,
dachte sie, das einzige, was sein Benehmen erklärt hätte, wußte er nicht.
»Sie haben Hank Rearden getroffen?« fragte sie Danneskjöld. »Und er hat Ihnen das Leben gerettet?«
»Ja.«
»Ich würde gern mehr darüber hören.«
»Ich nicht«, sagte Galt.
»Warum nicht?«
»Sie sind keine von uns, Miss Taggart.«
»Ich verstehe.« Sie lächelte, und in ihrem Blick lag eine Herausforderung. »Fürchten Sie, ich könnte Sie daran
hindern, Hank Rearden zu gewinnen?«
»Nein, daran habe ich nicht gedacht.«
Sie bemerkte, daß Danneskjöld Galts Gesicht aufmerksam betrachtete, als wäre der Vorgang auch ihm
unerklärlich. Galt hielt seinem Blick bewußt und offen stand, als ob er Dannes kjöld aufforderte, die Erklärung in
seinen Zügen zu suchen, und ihm gleichzeitig sagen wollte, daß er sie nicht finden würde. Dagny wußte, daß
Danneskjöld sich vergeblich bemüht hatte, als sie ein feines Hohnlächeln Galts Augen umspielen sah.
»Was hast du außerdem in diesem Jahr vollbracht?« fragte Galt.
»Ich habe dem Gesetz der Schwerkraft getrotzt.«
»Das hast du schon immer getan. In welcher besonderen Form geschah es dieses Mal?«
»Auf einem Flug vom Mittelatlantik nach Colorado mit einer Maschine, die über die Sicherheitsgrenze mit
Gold beladen war. Warte ab, wie Midas staunen wird, wenn er den Betrag sieht, den ich zu hinterlegen habe.
Meine Kunden werden dieses Jahr reicher um… Übrigens, hast du Miss Taggart gesagt, daß sie zu meinen
Kunden gehört?«
»Nein, noch nicht. Du kannst es jetzt selbst tun, wenn du willst.«
»Wozu soll ich gehören?« fragte sie.
»Entrüsten Sie sich nicht, Miss Taggart«, sagte Danneskjöld, »und versuchen Sie nicht zu protestieren. Ich bin
Proteste gewohnt und gelte hier ohnehin bei allen als Enfant terrible. Keiner von ihnen billigt meine besondere
Art, unseren Kampf zu führen, John nicht und Dr. Akston auch nicht. Sie sagen, mein Leben sei zu wertvoll
dafür. Doch sehen Sie, mein Vater war Bischof, und von allem, was er mich gelehrt hat, erkenne ich nur einen
Satz an: ‘Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen!’«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Daß Gewalt ohnmächtig ist. Wenn meine Mitmenschen glauben, die kombinierte Kraft ihrer Muskeln sei ein
Mittel, mich zu beherrschen, dann mögen sie am eigenen Leib erfahren, wie ein Kampf ausgehen muß, bei dem
auf der einen Seite nichts als rohe Kraft ist und auf der anderen eine Kraft, die der Verstand lenkt. Selbst John
gesteht mir theoretisch zu, daß ich in unserem Zeitalter das moralische Recht hatte, die Methode zu wählen, die
ich gewählt habe. Im Grunde tue ich das gleiche wie er, nur auf meine Art. Er entzieht den Plünderern den Geist
des denkenden Menschen, ich entziehe ihnen dessen Erzeugnisse. Er befreit sie von der geschmähten Vernunft,
ich befreie sie von ungerechtem Reichtum. Er legt die Seele der Welt lahm, ich ihren Körper. Er ist der Lehrer,
der ihnen eine Lektion erteilt, ich helfe nur ungeduldig nach und beschleunige ihre Fortschritte. Doch wie John
befolge ich nur ihre Moral und weigere mich, ihnen zu gestatten, daß sie diese Moral nach ihrem Gutdünken auf
meine Kosten doppelzüngig auslegen, oder auf Ihre oder Reardens Kosten.«
»Wovon reden Sie überhaupt?«
»Von meiner Methode, die Steuereinnehmer zu besteuern. Alle Besteuerungsmethoden sind sehr verwickelt,
doch die meine ist höchst einfach, denn sie ist die Quintessenz aller anderen. Lassen Sie mich sie Ihnen
erklären.« Sie lauschte gespannt. Und sie hörte ihn trocken wie einen pedantischen Buchhalter über
Finanztransaktionen, Bankkonten und Einkommensteuerrückerstattungen sprechen, als läse er die staubigen
Seiten eines Hauptbuchs, in dem jede Gutschrift unter Einsatz seines Blutes verbucht worden war und jederzeit
mit seiner Zustimmung abgehoben werden konnte. Und während sie ihm zuhörte, wandte sie den Blick nicht von
der Vollkommenheit seines Gesichtes und mußte immerzu daran denken, daß die Welt auf diesen Kopf
Millionen ausgesetzt hatte, um ihn dem Tod und der Verwesung auszuliefern. Und dieses Gesicht hatte sie für zu
schön gehalten, den Gefahren eines normalen Arbeitslebens ausgesetzt zu sein, dachte sie wie betäubt und
überhörte die Hälfte dessen, was er sagte. Und dann traf sie wie ein Schlag die Erkenntnis, daß seine körperliche
Vollkommenheit nur das äußere Bild einer tieferen Wahrheit war, die ihr wie einem unvernünftigen Kind eine
derbe Lektion erteilte über die wahre Natur der Welt dort draußen und über das Schicksal, das jeden
menschlichen Wert in einem unmenschlichen Zeitalter bedrohte. Ob er der Gerechtigkeit oder einem Irrtum
diente, dachte sie, die Menschen durften ihn nicht… Nein! schrie es in ihr, seine Sache war gerecht, und sein Fall
war so fürchterlich, weil die Gerechtigkeit, wie er sie verstand, ihm keinen anderen Ausweg ließ und sie selbst
seinen Weg weder billigen noch verdammen konnte.
»…und meine Kunden, Miss Taggart, habe ich sehr sorgfältig ausgewählt. Ich mußte ihres Charakters und
ihrer weiteren Entwicklung sicher sein. Ihr Name war einer der ersten auf meiner Wiedergutmachungsliste.«
Sie zwang sich, jeden Ausdruck aus ihrem Gesicht zu bannen, und murmelte zur Antwort nur: »Ach so.«
»Ihr Guthaben ist eines der letzten noch nicht in Anspruch genommenen. Es liegt auf einem Sperrkonto der
Mulligan Bank und kann von Ihnen an dem Tage abgehoben werden, an dem Sie eine von uns werden.«
»Ich verstehe.«
»Doch Ihr Guthaben ist nicht so groß wie manche der übrigen, obwohl man Ihnen in den letzten zwölf Jahren
riesige Summen mit Gewalt abgenommen hat. Sie können an Hand der Aufstellung, die Mulligan Ihnen
übergeben wird, feststellen, daß ich Ihnen nur die Einkommensteuer zurückerstatte, die Sie von Ihrem Gehalt als
Stellvertretende Vorstandsvorsitzende und Betriebsleiterin von Taggart Transcontinental gezahlt haben, und
nicht die, die Sie für Ihr Einkommen aus Dividenden von Taggart Aktien zahlen mußten. Sie haben ein Recht
auf jeden Cent dieses Aktienbesitzes, und in den Tagen Ihres Vaters hätte ich Ihnen jeden Cent zurückerstattet,
den Sie an Dividendensteuern gezahlt haben. Aber unter der Leitung Ihres Bruders hat Taggart Transcontinental
sich an den Beutezügen der Plünderer beteiligt, hat aus Regierungsvergünstigungen, Unterstützungen,
Moratorien und Zwangsmaßnahmen Gewinn gezogen. Sie waren hierfür nicht verantwortlich. Sie waren in
Wirklichkeit das Opfer dieser Politik, doch ich zahle nur durch ehrliche produktive Leistungen erworbenes Geld
zurück, nicht aber solches, von dem auch nur ein Teil aus dem mit Gewalt erbeuteten Gut der Plünderer stammt.«
»Ich verstehe.«
Sie hatten ihr Frühstück beendet. Danneskjöld zündete sich eine Zigarette an und beobachtete Dagny
forschend durch die Rauchwolken, als wüßte er um die Schwere ihres Konflikts. Dann sah er Galt lächelnd an
und erhob sich.
»Ich muß mich beeilen«, sagte er. »Meine Frau erwartet mich.«
Dagny stockte der Atem: »Wer?«
»Meine Frau«, wiederholte er verwundert lächelnd, als verstünde er den Grund ihrer Verblüffung nicht.
»Wer ist Ihre Frau?«
»Kay Ludlow.«
Die Eröffnung hatte sie zu stark getroffen, um ihre Tragweite im gleichen Augenblick erfassen zu können.
»Wann… wann haben Sie geheiratet?«
»Vor vier Jahren.«
»Wie konnten Sie sich irgendwo lange genug zeigen, um getraut zu werden?«
»Wir sind hier getraut worden, von Richter Narragansett.«
»Wie kann…« – sie versuchte innezuhalten, doch die Worte brachen gegen ihren Willen in einem Protest
hilfloser Empörung aus ihr heraus, von dem sie nicht wußte, ob er sich gegen ihn, gegen das Schicksal oder
gegen die Welt draußen richtete – »wie kann sie elf Monate lang in dem Gedanken leben, daß Sie jeden
Augenblick…?« Sie sprach nicht zu Ende. Er lächelte, doch sie sah den feierlichen Ernst der Prüfungen, die er
und seine Frau hatten bestehen müssen, um das Recht auf dieses Lächeln zu erwerben. »Sie kann es, Miss
Taggart, weil wir nicht glauben, daß diese Erde ein Jammertal und der Mensch zum Leiden verdammt ist. Wir
glauben nicht, daß Tragik unser natürliches Schicksal ist, und wir leben nicht in ständiger Furcht vor der
unvermeidlichen Katastrophe. Wir betrachten nichts, was uns widerfährt, als ein Unglück, bis wir einen
vernünftigen Grand haben, es für ein Unglück zu halten; dann aber fühlen wir uns frei und berechtigt, es zu
bekämpfen. Nicht das Glück, sondern das Leiden betrachten wir als das Unnatürliche, und nicht der Erfolg,
sondern das Mißgeschick ist für uns die Ausnahme im Leben des Menschen.«
Galt begleitete ihn vors Haus, kam dann zurück, setzte sich wieder an den Tisch und griff betont lässig nach
der Kanne, um sich Kaffee einzuschenken.
Sie sprang auf die Füße, wie emporgeschleudert von einem Überdruck, dessen Ventil versagt hat. »Glauben
Sie etwa, ich werde sein Geld je annehmen?«
Er wartete, bis der gebogene Strahl des Kaffees seine Tasse gefüllt hatte, blickte dann zu ihr auf und
erwiderte: »Ja, das glaube ich.«
»Ich werde es nicht annehmen! Ich werde nicht zulassen, daß er sein Leben dafür aufs Spiel setzt!«
»Sie haben keine Möglichkeit, ihn daran zu hindern.«
»Ich habe die Möglichkeit, das Geld nie in Anspruch zu nehmen!«
»Jawohl, die haben Sie.«
»Dann wird es bis zum Jüngsten Tag in der Bank liegen!«
»Nein, das wird es nicht. Wenn Sie nicht darüber verfügen wollen, wird ein Teil von ihm, ein sehr kleiner Teil
allerdings nur, in Ihrem Namen auf mein Konto überwiesen werden.«
»In meinem Namen? Wofür?«
»Um Ihr Zimmer und Ihr Essen hier zu bezahlen.« Sie starrte ihn mit großen Augen an und ließ sich, mehr
verblüfft als wütend, langsam auf den Stuhl sinken.
Er lächelte. »Wie lange gedenken Sie hier zu bleiben, Miss Taggart?« Er sah ihren hilflosen Blick. »Sie haben
noch nicht darüber nachgedacht? Ich habe es getan. Sie werden einen Monat lang hier bleiben. Während des
Monats unserer Ferien, wie wir alle. Ich ersuche Sie nicht um Ihre Zustimmung; Sie haben mich auch nicht um
meine ersucht, als Sie hierher kamen. Sie haben unsere Gesetze übertreten, also müssen Sie die Folgen tragen.
Niemand verläßt das Tal während dieses Monats. Ich könnte Sie natürlich gehen lassen, aber ich werde es nicht
tun. Es gibt kein Gesetz, das mich zwingt, Sie hier zu behalten, aber als Sie mit Gewalt hier eindrangen, haben
Sie mir das Recht gegeben, nach meinem Belieben zu entscheiden, und ich werde Sie hier behalten, weil ich
wünsche, daß Sie hier bleiben. Wenn Sie am Ende dieses Monats beschließen, zurückzugehen, steht es Ihnen
frei, jedoch erst dann.«
Sie saß steif auf ihrem Stuhl, das Gesicht entspannt und um den Mund ein schwaches, lauerndes Lächeln; es
war ein gefährliches Lächeln, doch leuchteten ihre Augen kalt und waren zugleich verschleiert wie die eines
Gegners, der zum Kampf entschlossen ist, aber zu verlieren erwartet.
»Nun gut«, sagte sie.
»Es ist gegen unsere Gesetze, ohne Gegenleistung für den Lebensunterhalt eines Menschen aufzukommen.
Einige von uns haben Frauen und Kinder, doch bei Ihnen findet eine besondere Verrechnung statt, zu der ich
nicht berechtigt bin. Ich werde Ihnen also fünfzig Cent pro Tag für Ihr Zimmer und für Ihr Essen berechnen, und
Sie werden mich in bar bezahlen, wenn Sie das Konto in Anspruch nehmen, das in der Mulligan-Bank zu Ihrer
Verfügung steht. Wenn Sie das Konto nicht in Anspruch nehmen wollen, dann wird Mulligan es mit Ihrer Schuld
an mich belasten und mir das Geld geben, sobald ich es verlange.«
»Ich bin mit Ihren Bedingungen einverstanden«, antwortete sie; ihre Stimme klang überlegen und
selbstbewußt wie die eines Kaufmanns. »Doch ich werde nicht gestatten, daß dieses Geld zur Bezahlung meiner
Schulden an Sie benutzt wird.«
»Wie anders wollen Sie Ihre Verpflichtung erfüllen?«
»Indem ich mein Zimmer und mein Essen verdiene.«
»Wodurch?«
»Durch Arbeit.«
»Als was?«
»Als Ihre Köchin und Hausangestellte.«
Es traf ihn unerwartet heftig und in einer Weise, die sie nicht vorausgesehen hatte. Er brach in ein schallendes
Lachen aus, doch dieses Lachen klang wehrlos und schien sich auf mehr zu beziehen als nur auf den Sinn ihrer
Worte. Sie glaubte, eine überraschende Erinnerung in ihm geweckt zu haben, eine Erinnerung, an der sie nicht
teilhaben konnte. Er lachte, als sähe er ein fernes Bild, als lachte er diesem Bild zum Trotz, als wäre dieses
Lachen sein Sieg – und der ihre.
»Wenn Sie mich anstellen«, sagte sie mit ernstem, höflichem Gesicht und klarer unpersönlicher Stimme,
»werde ich Ihre Mahlzeiten bereiten, das Haus sauber halten, Ihre Wäsche waschen und alle andere
Verrichtungen einer Hausgehilfin erledigen als Gegenleistung für mein Zimmer, mein Essen und ein wenig
Geld, das ich für ein paar Kleidungsstücke brauche. Ich bin vielleicht für die ersten Tage durch meine
Verletzungen ein wenig behindert, doch es wird nur kurze Zeit dauern, bis ich meine Stellung voll ausfüllen
kann.«
»Und das wollen Sie wirklich tun?« fragte er.
»Jawohl, das will ich tun…« erwiderte sie und schwieg. Den Rest des Satzes sprach sie nur im Geiste vor sich
hin: »… und lieber als alles andere auf Erden.«
Er lächelte immer noch; es war ein belustigtes Lächeln, doch es schien, als könnte es jeden Augenblick zum
Ausdruck strahlenden Glücks werden. »Gut, Miss Taggart«, sagte er, »ich stelle Sie an.«
Sie neigte den Kopf in sachlicher, förmlicher Bestätigung. »Danke sehr.«
»Ich werde Ihnen Unterkunft, Verpflegung und zehn Dollar im Monat geben.«
»Einverstanden.«
»Ich werde der erste Mensch in diesem Tal sein, der eine Hausgehilfin beschäftigt.« Er stand auf, griff in die
Tasche und warf ein Fünfdollargoldstück auf den Tisch. »Vorschuß auf Ihren Lohn.«
Als sie die Hand nach dem Goldstück ausstreckte, entdeckte sie zu ihrer Bestürzung, daß sie die verzweifelte,
bebende Hoffnung eines jungen Mädchens beim Antritt seiner ersten Stellung empfand, die Hoffnung, sich
dieser Stellung würdig zu erweisen.
»Ich danke Ihnen, Mr. Galt«, sagte sie, die Augen senkend.
Owen Kellogg traf am Nachmittag ihres dritten Tages im Tal ein. Sie wußte nicht, was ihn mehr erschütterte,
als er sie beim Verlassen der Maschine am Rande des Flugplatzes stehen sah… ihre Kleidung, die aus einer
eleganten, aus dem teuersten Geschäft New Yorks stammenden Seidenbluse bestand und einem weiten,
bedruckten Kattunrock, den sie für sechzig Cent im Tal gekauft hatte, oder ihr Stock, ihre Verbände und der
Korb mit Lebensmitteln an ihrem Arm.
Er stieg mit einer Gruppe von Männern aus, erblickte sie, blieb stehen und rannte dann auf sie zu, wie gejagt
von einer Empfindung, die so stark war, daß sie ihn wie Entsetzen zu schütteln schien.
»Miss Taggart…« hauchte er und brachte kein weiteres Wort hervor, während sie ihm lachend zu erklären
versuchte, wie es kam, daß er sie hier stehen sah.
Er hörte ihr zu, als wäre unwichtig, was sie sagte, und platzte schließlich mit dem heraus, was er loswerden
mußte, um nicht daran zu ersticken: »Wir dachten, Sie sind tot.«
»Wer dachte das?«
»Wir alle… ich meine, alle in der Welt draußen.«
Und jetzt hörte sie auf zu lächeln, während er weitersprach und der überstandene Schreck in seiner Stimme
seiner Freude Platz zu machen begann.
»Miss Taggart, erinnern Sie sich nicht? Sie hatten mich beauftragt, nach Winston zu telefonieren und
Bescheid zu sagen, Sie würden am Mittag des nächsten Tages dort eintreffen. Das wäre vorgestern gewesen, am
einunddreißigsten Mai. Aber Sie landeten nicht in Winston, und am späten Nachmittag wurde von allen Sendern
die Nachricht durchgegeben, Sie wären bei einem Flugzeugabsturz irgendwo in den Rocky Mountains
umgekommen.«
Sie nickte langsam, während sie sich über die Ereignisse Rechenschaft gab, an die zu denken sie bisher
versäumt hatte.
»Ich hörte es im Comet«, fuhr er fort, »auf einem kleinen Bahnhof mitten in New Mexiko. Der Zugführer ließ
eine Stunde lang halten, und ich half ihm, telefonisch eine Bestätigung der Nachricht zu erhalten. Er war ebenso
erschüttert wie ich; alle waren es, die ganze Zugbesatzung, der Bahnhofsvors teher, die Weichensteller. Sie
umdrängten mich, während ich die Zeitungsredaktionen in Denver und New York anrief. Wir erfuhren nicht viel;
nur daß Sie am einunddreißigsten Mai kurz vor Morgengrauen auf dem Afton-Flugplatz gestartet waren, daß Sie
einem unbekannten Flugzeug zu folgen schienen, daß der Flugwart Sie nach Südosten fliegen sah, daß seither
niemand Sie wiedergesehen hatte und daß Bergungsexpeditionen die Rockies nach den Trümmern Ihrer
Maschine durchkämmten.«
Einem unbewußten Impuls folgend, fragte sie: »Hat der Comet San Francisco erreicht?«
»Das weiß ich nicht. Während er nordwärts durch Arizona kroch, stieg ich aus. Er hielt zu oft, ständig traten
neue Störungen auf, und das Durcheinander von widersprechenden Befehlen wurde immer schlimmer. Ich setzte
meine Reise nach Colorado während der Nacht auf Lastwagen und Pferdefuhrwerken fort, um rechtzeitig zu dem
Treffpunkt zu gelangen, wo Mulligans Maschine uns an Bord nehmen und hierher bringen sollte.«
Sie ging den Pfad zu dem Wagen hinauf, den sie vor Hammonds Lebensmittelladen hatte stehen lassen.
Kellogg folgte ihr, und als er wieder zu sprechen begann, wurde seine Stimme im gleichen Maße zögernder und
leiser, wie ihre Schritte sich verlangsamten, als läge etwas in der Luft, das sie beide hinauszuzögern wünschten.
»Ich habe vorher noch für Jeff Allen eine Stellung besorgt«, sagte er, und seine Stimme hatte einen feierlichen
Klang, als wollte er melden: Ich habe Ihren letzten Willen ausgeführt. »Ihr Beauftragter in Laurel hat ihn sofort
genommen und eingesetzt, als wir dort ankamen. Er konnte jeden brauchen, der körperlich – nein, der geistig
tauglich war.«
Sie kamen zu dem Wagen, doch sie stieg nicht ein.
»Miss Taggart, Sie sagten, Sie seien abgestürzt? Sie haben sich doch nicht ernstlich verletzt?«
»Nein, seien Sie unbesorgt. Ab morgen werde ich ohne Mr. Mulligans Wagen auskommen. Und in ein oder
zwei Tagen werde ich auch dieses Ding hier nicht mehr brauchen.« Sie hob ihren Stock und stieß ihn verächtlich
in den Wagen. Schweigend standen sie einander gegenüber. Sie wartete darauf, daß er weiterredete.
»Das letzte Ferngespräch von der kleinen Station in New Mexiko«, sagte er leise, »führte ich mit
Pennsylvania. Ich sprach mit Hank Rearden. Ich sagte ihm alles, was ich wußte. Er hörte mich an, ohne mich zu
unterbrechen. Dann war in der Leitung ein langes Schweigen, und dann antwortete er nur: ‘Ich danke Ihnen, daß
Sie mich angerufen haben.’« Kellogg senkte die Augen und fügte hinzu: »Ein solches Schweigen möchte ich nie
wieder hören, solange ich lebe.«
Als er die Augen wieder hob und sie ansah, war kein Vorwurf in seinem Blick, nur Wissen um das, was er nie
vermutet hätte, bevor er ihre Bitte hörte, seither aber ahnte.
»Ich danke Ihnen«, sagte sie und öffnete die Wagentür. »Kann ich Sie ein Stück mitnehmen? Ich muß nach
Hause und das Abendessen fertig machen, bevor mein Chef kommt.«
Erst als sie Galts Haus betreten hatte und in dem stillen, sonnenhellen Wohnzimmer stand, begriff sie die
volle Bedeutung dessen, was sie empfand. Sie blickte zum Fenster hinaus auf die Berge, die im Osten wie eine
Sperrmauer aufragten, und dachte an Hank Rearden, der jenseits dieser Mauer, zweitausend Meilen weit entfernt,
an seinem Schreibtisch saß, das Gesicht angespannt in der Abwehr der Verzweiflung, so wie es unter dem Druck
der letzten Jahre angespannt gewesen war, und sie wünschte, mit ihm und für ihn kämpfen zu können um der
Vergangenheit und um des Mutes willen, mit dem er bis jetzt durchgehalten hatte, so wie sie zu kämpfen
wünschte für den Comet, der sich mit letzter Anstrengung auf einer zerfallenden Strecke durch eine Wüste
schleppte. Sie schloß die Augen und erschauerte unter dem Schuldgefühl eines doppelten Verrats. Ihr war, als
hinge sie entwurzelt im freien Raum zwischen diesem Tal und dem Rest der Erde, keiner der beiden Seiten mehr
zugehörig.
Der Alptraum verschwand, als sie Galt beim Essen am Tisch gegenübersaß. Er sah sie offen und unbefangen
an, als wäre ihre Anwesenheit das Natürlichste der Welt und ihr Anblick alles, was er wahrzunehmen wünschte.
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl nach hinten, als wiche sie vor dem Anspruch seines Blickes zurück, und sagte
in bewußt kühler Abwehr: »Ich habe Ihre Hemden durchgesehen und eines gefunden, an dem zwei Knöpfe
fehlen, und ein anderes, das am Ellenbogen durchgescheuert ist. Soll ich sie ausbessern?«
»Gewiß – wenn Sie das können?«
»Ich kann es.«
Ihre Bemerkung und ihre Antwort hatten seinen Blick nicht verändert, schienen eher noch den Ausdruck der
Genugtuung verstärkt zu haben, als hätte er gerade dies von ihr hören wollen; doch war sie nicht sicher, ob es
Genugtuung war, was sie in seinen Augen sah, und sie zweifelte, ob er überhaupt gewünscht hatte, daß sie etwas
sagte. Draußen, vor dem Fenster zu ihrer Rechten, hatten Sturmwolken die letzten Reste von Sonnenlicht aus
dem östlichen Himmel verdrängt. Verwundert stellte sie fest, daß sie plötzlich einen Widerwillen dagegen
empfand, hinauszuschauen, und gleichzeitig das dringende Bedürfnis, sich mit ihrem Blick an den goldenen
Flecken des Holzes der Tischplatte, an der glänzenden Kruste des Brotes, an dem schimmernden Kupfer der
Kaffeekanne, an Galts Haar festzuklammern wie am rettenden Ufer einer Leere.
Dann hörte sie ihre eigene Stimme plötzlich wie die einer Fremden fragen, und sie wußte, daß es die Furcht
vor dem Verrat war, die aus ihr sprach: »Erlauben Sie eine Nachrichtenverbindung mit der Außenwelt?«
»Nein.«
»Überhaupt keine? Auch nicht eine Mitteilung ohne Angabe der Absenderadresse?«
»Nein.«
»Auch keine Botschaft, durch die keines Ihrer Geheimnisse preisgegeben wird?«
»Nicht von hier aus. Nicht während dieses Monats. Nie an Außenstehende.«
Sie bemerkte, daß sie seine Augen mied, und zwang sich, den Kopf zu heben und ihn anzuschauen. Sein Blick
hatte sich geändert; er war jetzt wachsam, unbewegt, fast lauernd. Und er sah sie an, als wüßte er den Grund
ihrer Fragen, und fuhr fort: »Wünschen Sie, daß ich für einen bestimmten Zweck eine Ausnahme mache?«
»Nein«, antwortete sie.
Als sie am nächsten Morgen nach dem Frühstück in ihrem Zimmer saß und einen Flicken in den Ärmel seines
Hemdes einsetzte – die Tür hatte sie geschlossen, um ihn nicht sehen zu lassen, wie sehr sie sich bemühen
mußte, mit der ungewohnten Arbeit fertig zu werden –, hörte sie einen Wagen vor dem Haus halten.
Sie hörte Galt mit schnellen Schritten durch das Wohnzimmer eilen, die Eingangstür aufreißen und im
freudig-vorwurfsvollen Ton der Erleichterung ausrufen: »Es ist aber auch Zeit!«
Sie erhob sich, blieb jedoch stehen. Sie hörte Galts Stimme, die plötzlich ernst geworden war, als hätte ihn
das, was er vor sich sah, schockiert: »Was hast du?«
»Hallo, John«, antwortete ihm eine klare, ruhige Stimme, die gefaßt klang, aber tiefe Erschöpfung verriet.
Völlig kraftlos ließ Dagny sich auf den Rand ihres Bettes nieder. Das war Franciscos Stimme!
Sie hörte Galt mit ernster Besorgnis fragen: »Was ist?«
»Ich sag es dir später.«
»Warum kommst du so spät?«
»Ich muß in einer Stunde wieder weg.«
»Wieder weg?«
»John, ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, daß ich dieses Jahr nicht bleiben kann.«
Einen Augenblick lang herrschte Stille, und dann fragte Galt bewegt: »Ist es denn wirklich so schlimm?«
»Ja. Ich… vielleicht bin ich zurück, bevor der Monat zu Ende ist. Ich weiß es nicht.« Seine Stimme klang
verzweifelt, als er fortfuhr: »Ich weiß nicht, ob ich schnell damit fertig werde – oder überhaupt nicht.«
»Francisco, bist du imstande, einen weiteren Schlag zu ertragen?«
»Ich? Mich kann jetzt nichts mehr erschüttern.«
»Es ist jemand hier, in meinem Gästezimmer, ein Mensch, den du sehen mußt. Ich we iß, es wird ein Schock
für dich sein, ihn hier anzutreffen, und deshalb halte ich es für richtig, dir vorher zu sagen, daß er noch ein
Streikbrecher ist.«
»Was? Ein Streikbrecher in deinem Haus?«
»Hör mich an…«
»Nein, das muß ich mit eigenen Augen sehen.«
Dagny hörte Franciscos spöttisches Lachen, seine eiligen Schritte, sah die Tür auffliegen und erkannte noch
verschwommen, daß Galt die Tür schloß und sie beide allein ließ.
Sie wußte nicht, wie lange Francisco vor ihr gestanden und sie angeschaut hatte, denn sie wurde sich ihrer
eigenen Wahrnehmung erst bewußt, als er vor ihr kniete, sie umklammerte und sein Gesicht gegen ihre Beine
preßte, als der Schauer, der seinen Körper durchlaufen und gelähmt hatte, sich dem ihren mitteilte und ihn
wieder bewegungsfähig machte.
Erstaunt entdeckte sie, daß ihre Hand sanft über sein Haar fuhr, und gleichzeitig dachte sie, daß sie kein Recht
hatte, dies zu tun; und sie fühlte von ihrer streichelnden Hand einen Strom heiterer Versöhnlichkeit ausgehen, die
sie beide einhüllte und die Vergangenheit glättete. Francisco bewegte sich nicht, gab keinen Laut von sich, als
wäre sie zu halten alles, was er zu sagen hatte. Als er den Kopf hob, sah er so aus, als ob es nie ein Leid in der
Welt gegeben hätte. So hatte sie empfunden, als sie in diesem Tal aus der Bewußtlosigkeit erwacht war. Er
lächelte.
»Dagny, Dagny, Dagny…« Das war kein Ausbruch eines seit Jahren zurückgehaltenen Geständnisses. Seine
Stimme klang, als wiederholte er etwas längst Gewußtes und lachte über die Behauptung, es wäre nie gesagt
worden. »Aber natürlich liebe ich dich. Hattest du Angst, als er mich zwang, es auszusprechen? Ich will es
sagen, so oft du es wünschst… Ich liebe dich, Dagny, ich liebe dich, ich werde dich immer lieben. Habe keine
Angst um mich. Ich frage nicht danach, ob du je wieder mein sein wirst. Kommt es noch darauf an, jetzt, da du
lebst und hier bist und alles weißt? Und ist nicht alles so einfach, so wunderbar einfach? Siehst du nun, warum
und wofür ich dich verlassen mußte?« Er hob den Arm und zeigte auf das Tal vor dem Fenster. »Hier ist sie,
deine Erde, dein Königreich, deine Welt, Dagny. Ich habe dich immer geliebt, und daß ich dich verließ, das war
meine Liebe.«
Er nahm ihre Hände, führte sie an seinen Mund und hielt sie, ohne sie zu küssen, gegen seine Lippen gepreßt,
als wollte er sich selbst zum Schweigen zwingen, weil die Anstrengung des Sprechens ihn von dem Glück ihrer
Gegenwart ablenkte; als schmerzte ihn der Druck der unzähligen Worte, die sich in den Jahren der Stummheit in
ihm angestaut hatten.
»Die Frauengeschichten, die man sich von mir erzählt… du hast sie nicht geglaubt, nicht wahr? Ich habe
keine von ihnen angerührt. Doch, ich denke, du wußtest es, du hast es immer gewußt. Der Playboy war eine der
Rollen, die ich spielen mußte, damit die Plünderer keinen Verdacht schöpften, während ich d’Anconia Copper
vor den Augen der ganzen Welt zugrunde richtete. Es gehört nun einmal zur grotesken Logik ihres Systems, daß
sie glauben, jeden Mann von Ehre und Ehrgeiz bekämpfen zu müssen, während sie sich vor einem
charakterlosen Lumpen, der vorgibt, ihr Freund zu sein, sicher fühlen. Sicherheit, das ist ihre letzte Weisheit.
Doch sie werden es lernen, ja, sie lernen es schon, daß Verderbtheit keine Sicherheit und Unfähigkeit keinen
Gewinn bedeutet! – Dagny, in jener Nacht, als ich erkannte, daß ich dich liebte, erkannte ich auch, daß ich dich
verlassen mußte. Es war in jener Nacht, als du mein Hotelzimmer betratst und ich zum ersten Mal sah, wer du
und was du wirklich warst, was du mir bedeutetest und was dich in der Zukunft erwartete. Wärest du weniger
wert gewesen, dann hättest du mich in meinem Entschluß eine Zeitlang aufhalten können. Doch du selbst warst
der entscheidende Grund dafür, daß ich dich verließ. Ich bat dich um Hilfe in jener Nacht, um Hilfe gegen John
Galt. Doch ich wußte gleichzeitig, daß du seine beste Waffe gegen mich warst, obwohl keiner von euch beiden
es wissen konnte. Du warst alles, was er suchte und erstrebte, alles, wofür er uns zu leben und, wenn es sein
mußte, zu sterben lehrte. Ich war bereit, ihm zu folgen, als er mich in jenem Frühling plötzlich nach New York
rief. Er rang mit dem gleichen Problem wie ich. Er löste es – Erinnerst du dich? Es war die Zeit, in der du drei
Jahre lang nichts von mir hörtest, Dagny. Als ich die Geschäfte meines Vaters übernahm, als ich begann, das
Getriebe der industriellen Welt zu durchschauen, begann ich auch, das Böse in ihr zu erkennen, das ich immer
geahnt, aber für zu ungeheuerlich gehalten hatte, um es zu glauben. Ich sah das Geschmeiß der Steuereintreiber,
die sich seit Jahrhunderten an d’Anconia Copper gemästet hatten und uns weiter aussaugten auf Grund eines
Rechtes, das es nicht gab. Ich sah, daß die Regierung Verordnungen erließ, die mir, weil ich Erfolg hatte, die
Hände binden und meinen Konkurrenten, weil sie Versager waren, helfen sollten. Ich sah, daß die
Gewerkschaften jede Forderung an mich durchsetzten, obwohl sie nur durch meine Tüchtigkeit bestehen
konnten. Ich sah, daß der Wunsch eines Menschen nach dem Geld, das er nicht verdient hatte, als gerechte
Forderung betrachtet wurde, daß ihm aber der Besitzanspruch auf das, was er erworben hatte, als Habgier
ausgelegt wurde. Ich sah die Politiker mir beruhigend zuzwinkern, ich solle mich nicht aufregen und eben noch
ein bißchen härter arbeiten. Ich verzichtete auf meine gerechten Gewinne und sah, daß sie die Schlinge um
meinen Hals desto fester zuzogen, je härter ich arbeitete. Ich sah, daß die Frucht meiner Arbeit in Kloaken
geleitet wurde, daß die Parasiten, die sich von mir nährten, von anderen ausgesaugt und so in ihrer eigenen Falle
gefangen wurden und daß es keinen Grund dafür gab, daß dies geschah, keine Antwort auf die Frage, warum das
lebendige Blut und der schaffende Geist der Erde durch dunkle Kanäle Zwecken zugele itet wurden, deren Sinn
zu erforschen keiner je gewagt hatte, und daß die Menschen nur die Achseln zuckten und sagten, daß ihr Leben
in dieser Welt nichts als Jammer sein konnte. Und dann erkannte ich, daß der gesamte verwickelte Apparat der
Weltwirtschaft mit seinen wundervollen Maschinen, seinen Tausend-Tonnen-Hochöfen, seinen Überseekabeln,
seinen Kontoren und Börsen, seinen blitzenden Lichtsignalen, seiner Energie und seiner Produktivität, daß all
dies nicht gesteuert wurde von Bankiers, Industriekapitänen und Handelsherren, sondern von unrasierten
Humanitätsaposteln, die in Bierkellern philosophierten, und von feisten Propheten, die predigten, der Tüchtige
müsse bestraft werden, weil er tüchtig war, es sei Pflicht der Begabten, den Zukurzgekommenen zu dienen, der
Mensch habe kein Recht zu leben, außer um der anderen willen. Das erkannte ich und sah keinen Weg, es zu
bekämpfen. John fand diesen Weg. Er rief uns an, und wir fuhren nach New York, um uns mit ihm zu treffen.
Nur wir zwei, Ragnar und ich. Er sagte uns, was wir tun und welche Art von Menschen wir für unsere Sache
gewinnen sollten. Er hatte soeben Twentieth Century verlassen. Er wohnte in einer Dachkammer in den Slums.
Er trat zum Fenster und zeigte auf die Wolkenkratzer der City. Er sagte zu uns, wir sollten die Lichter der Welt
auslöschen, und wenn wir die Lichter von New York ausgehen sähen, dann wäre unsere Aufgabe erledigt. Er
forderte uns nicht auf, uns sofort zu entscheiden. Er sagte uns, wir sollten überdenken, was er uns vorgeschlagen
hatte, und abwägen, was es für unser Leben bedeuten würde. Ich gab ihm meine Antwort am Morgen des
übernächsten Tages, und Ragnar einige Stunden später, am Nachmittag – Dagny, es war der Morgen nach
unserer letzten gemeinsamen Nacht. Wie in einer Vision hatte ich gesehen, daß ich dem, wofür ich kämpfen
sollte, nicht entrinnen konnte. Es war dein Anblick in jener Nacht, deine Art, über deine Eisenbahn zu sprechen,
die Erinnerung an dein Gesicht, als wir versuchten, von einem Felsen über dem Hudson die Silhouette von New
York zu sehen, dies alles zusammen machte mir klar, daß ich dich retten mußte, den Weg für dich bereiten, den
Weg nach unserer Stadt, dich nicht während der restlichen Jahre deines Lebens durch einen vergifteten Nebel
weiterstolpern lassen durfte, erhobenen Hauptes und mit dem gleichen Blick, mit dem du damals in die Sonne
geschaut hattest; du durftest nicht am Ende deines Weges anstelle der Türme einer Stadt einen fetten,
schwammigen, geistlosen Schmarotzer finden, der sein Leben damit verbringt, den Gin zu saufen, für den du mit
deiner Lebenskraft bezahlt hast! Solltest du auch weiterhin keine Freude kennen, damit sie ihm nicht ausginge?
Solltest du immer nur dem Vergnügen der anderen als Futter dienen? Solltest du nichts anderes sein als ein
Mittel zur Erhaltung unmenschlicher Kreaturen als Zweck? Dagny, das sah ich, und das konnte ich nicht
zulassen! Ich konnte nicht erlauben, daß sie dir, gerade dir, das Ungeheuerliche weiter antaten, dir und jedem
Menschenkind, das den gleichen Blick hatte wie du, jedem Menschen, der von deinem Geist beseelt war und wie
du fähig, sich stolz, schuldlos und froh seines Lebens bewußt zu sein. Dies war meine ganze Liebe, die Liebe zur
Würde des menschlichen Geistes, und um für sie zu kämpfen, verließ ich dich, und wenn ich dich auch verlor, so
wußte ich, daß ich dich, immer nur dich, mit jedem Jahr des Kampfes neu gewann. Doch jetzt weißt auch du, daß
ich so handeln mußte. Du hast dieses Tal gesehen, das nichts anderes ist als der Ort, zu dem wir als Kinder
aufgebrochen waren, du und ich. Wir haben ihn erreicht. Was kann ich anderes oder mehr verlangen, als dich
hier zu sehen? Gewiß, John hat gesagt, du seist noch ein Streikbrecher, doch das ist nur eine Frage der Zeit. Du
wirst eine von uns sein, weil du es immer gewesen bist, und wenn du selbst es noch nicht voll erkannt hast, dann
werden wir warten. Ich bin schon zufrieden, daß du lebst und ich nicht länger über die Rocky Mountains fliegen
und nach den Trümmern deiner Maschine spähen muß!«
Sie erschrak, denn jetzt begriff sie, warum er nicht rechtzeitig ins Tal gekommen war.
Er lachte. »Sieh mich nicht so an. Sieh mich nicht an, als wäre ich eine frische Wunde, die du nicht zu
berühren wagst.«
»Francisco, ich habe dir auf so viele Arten weh getan.«
»Nein! Nein, du hast mir nicht weh getan, und auch er nicht. Sprich nicht mehr darüber. Er leidet jetzt. Doch
wir werden ihn retten, und auch er wird hierher kommen, wo er hingehört, und auch er wird erkennen, was wir
erkannt haben, und über alles lächeln können, was uns quälte. Dagny, ich hatte nicht damit gerechnet, daß du auf
mich warten würdest. Ich hatte es nicht erhofft. Ich wußte, welches Risiko ich einging. Und wenn es ein anderer
sein soll als ich, nun, dann bin ich froh, daß er es ist.«
Sie schloß die Augen und preßte die Lippen zusammen, um nicht aufzustöhnen.
»Dagny, nicht so! Siehst du nicht, daß ich mich damit abgefunden habe?«
Aber er ist es doch nicht, dachte sie, nicht er, und ich kann dir nie die Wahrheit sagen, weil es ein Mann ist,
der es vielleicht nie von mir hören wird, und den ich vielleicht nie umarmen werde.
»Francisco, ich habe dich geliebt…«, sagte sie laut und hielt den Atem an, erkannte erschrocken, daß sie es
nicht und vor allem nicht in dieser Zeitform hatte aussprechen wollen.
»Nein«, erwiderte er ruhig lächelnd, »du liebst mich immer noch, selbst wenn du mir das, was du für mich
empfindest, nicht mehr gewähren willst. Ich bin noch der gleiche, der ich war, und du wirst es erkennen und
mich genauso weiterlieben, wie ich dich immer noch liebe, wenn auch deine größere Liebe jetzt einem anderen
gehört. Was immer du ihm gewährst und nicht mir, es wird nichts an deiner Liebe zu mir ändern, und für keinen
von uns wird es ein Verrat sein, weil deine Liebe zu uns beiden aus der gleichen Wurzel kommt und die
Gegengabe ist für Geschenke gleichen Wertes. Was auch in Zukunft geschehen mag, wir werden einander sein,
was wir einander immer waren, du und ich, weil du mich immer lieben wirst. Das kann sich nie mehr ändern.«
»Francisco«, fragte sie leise, »bist du dessen sicher?«
»Aber gewiß. Hast du es noch nicht begriffen, Dagny? Jede Form des Glücks hat den gleichen Ursprung, alles
Glücksbegehren ist gespeist aus der gleichen Quelle, aus unserer Liebe zu einem einzigen Wert, aus unserem
Verlangen nach der höchsten Entfaltung unseres Ichs, und jede erreichte Leistung ist Ausdruck und Erfüllung
dieser ausschließlichen Liebe. Schau um dich! Siehst du nicht, was uns allen hier offensteht, in einer
unversklavten Welt? Siehst du nicht, wie fre i ich bin zu fühlen, zu handeln, zu schaffen? Siehst du nicht, daß
alles nur ein Teil dessen ist, was du mir bist, wie ich ein Teil des Ganzen für dich bedeute? Und wenn ich dich
beim Anblick eines von mir neu gebauten Kupferschmelzofens bewundernd lächeln sehen werde, dann werde
ich die gleiche Genugtuung empfinden wie damals, als ich neben dir im gleichen Bett lag. Ob ich wünschen
werde, wieder mit dir zu schlafen? Mit Leib und Seele! Werde ich den Mann beneiden, der es darf? Aus ganzem
Herzen! Doch wie wenig wird es mir bedeuten! Denn es ist so unermeßlich viel, dich nur hier zu wissen, dich
lieben und selbst leben zu dürfen.«
Mit ernstem, wie in demütiger Verehrung gesenktem Gesicht fragte sie leise und feierlich, als erfülle sie ein
altes Versprechen: »Wirst du mir verzeihen?«
Erstaunt blickte er auf, lächelte in verstohlener Erinnerung und antwortete: »Noch nicht. Im Grunde ist nichts
zu verzeihen, doch ich werde es tun, wenn du eine von uns wirst.«
Er stand auf, zog sie zu sich empor, und als seine Arme sie umschlossen und ihre Lippen sich fanden, wurde
ihr Kuß zum Schlußsiegel ihrer Vergangenheit, zur Anerkennung der Gegenwart und Hinnahme jeder Zukunft.
Galt wandte sich zu ihnen um, als sie das Wohnzimmer betraten. Er stand am Fenster und hatte ins Tal
hinuntergeschaut, und sie war sicher, daß er die ganze Zeit dort gestanden hatte. Sie sah, daß er ihre Gesichter
forschend betrachtete, den Blick von einem zum anderen gleiten ließ, und daß seine Züge sich leicht
entspannten, als er die Veränderung in Franciscos Gesicht entdeckte. Francisco fragte ihn lächelnd: »Warum
starrst du mich so an?«
»Weißt du, wie du ausgesehen hast, als du hereinkamst?«
»Oh, habe ich wirklich so schlimm ausgesehen? Nun, ich hatte drei Nächte lang nicht geschlafen. Darf ich
mich bei dir zum Abendessen einladen, John? Ich möchte zwar gerne sofort hören, wie dein Streikbrecher
hierher kam, aber ich fürchte, ich werde mitten in deinem spannenden Bericht einschlafen, und obwohl ich mich
im Augenblick so fühle, als brauchte ich nie wieder zu schlafen, werde ich dennoch lieber zunächst nach Hause
fahren und mich bis heute abend hinlegen.«
Galt sah ihn mit einem unsicheren Lächeln an. »Wolltest du nicht in einer Stunde das Tal wieder verlassen?«
»Ich?« fragte Francisco überrascht und lachte dann glücklich: »Ja, das wollte ich, doch jetzt brauche ich es
nicht mehr! Das kannst du aber nicht wissen, denn ich habe dir ja nicht gesagt, warum ich gleich wieder gehen
wollte. Ich war auf der Suche nach Dagny – nach den Trümmern ihrer Maschine. Es hieß, sie sei in den Rockies
abgestürzt.«
»Aha!« sagte Galt und nickte bedächtig.
»Alles hatte ich erwartet, nur nicht, daß sie in Galt’s Gulch abgestürzt war«, fuhr Francisco strahlend fort.
Seine Stimme hatte den Klang freudiger Erleichterung, die den Schrecken des Gewesenen durch das Glück des
Augenblicks zu bannen vermag. »Ich flog über dem Gebiet zwischen Afton in Utah und Winston in Colorado
hin und her, über jeden Gipfel und jede Schlucht, und hielt Ausschau nach allem, was aussah wie die Überreste
einer Maschine, und wenn ich etwas auch nur entfernt Ähnliches gesehen zu haben glaubte« – er hielt inne und
ein Schauer durchlief ihn –, »dann machten wir uns in der Nacht mit den Bergungsmannschaften der Bahnstation
Winston auf die Suche, kletterten Stunde um Stunde durch das Gebirge, ohne genauen Plan und ohne Fährte, und
wenn es wieder Tag wurde, und…« – er zuckte die Achseln, als versuchte er den Gedanken zu verscheuchen,
und lächelte bitter – »ich würde es meinem schlimmsten…«
Er unterbrach sich, und sein Lächeln erstarb und machte dem Widerschein des Schmerzes Platz, der sein
Gesicht drei Tage lang gezeichnet hatte.
Nach längerem Schweigen wandte er sich an Galt. »John«, sagte er, und seine Stimme klang weich und
zugleich feierlich, »könnten wir die draußen nicht wissen lassen, daß Dagny lebt… für den Fall, daß es jemand
gibt… der so fühlt, wie ich gefühlt habe?«
Galt sah ihn offen an. »Willst du jemand, der draußen ist, der Konsequenzen entheben, die ihm erwachsen,
weil er in der Welt draußen bleibt?«
Francisco senkte die Augen, doch seine Stimme klang fest, als er antwortete: »Nein.«
»Mitleid, Francisco?«
»Ja. Aber laß nur. Du hast recht.«
Galt wandte sich von ihm mit einer Bewegung ab, die seiner Natur seltsam zu widersprechen schien; sie hatte
die unharmonische Plötzlichkeit des Unfreiwilligen.
Abgewandt blieb er stehen, und Francisco, der ihn erstaunt beobachtete, fragte leise: »Was hast du?«
Jetzt sah Galt ihn wieder an, doch zunächst ohne zu antworten. Dagny konnte die innere Bewegung, die Galts
harte Züge zu glätten schien, nicht enträtseln; sie äußerte sich in einem Lächeln, das Schmerz und Zuneigung
widerspiegelte und noch etwas Tieferes, Größeres, das sie verhüllen wollte.
»Wieviel jeder von uns in diesem Kampf auch gezahlt haben mag«, sagte Galt dann, »du hast die härtesten
Schläge hinnehmen müssen, Francisco.«
»Ich?« sagte Francisco in ungläubiger Abwehr. »Ich bestimmt nicht! Was ist mit dir los?« Er lachte kurz auf.
»Mitleid, John?«
»Nein«, erwiderte Galt fest, fast schroff.
Sie sah, daß Francisco ihn mit überraschtem Stirnrunzeln betrachtete, weil Galt sie – und nicht ihn angeschaut
hatte, als er es sagte.
Der bestürzende Eindruck, den sie empfing, als sie Franciscos Haus zum ersten Mal betrat, war nicht der
gleiche, den sie sich von seinem stummen, verschlossenen Äußeren bewahrt hatte. Es war nicht ein Gefühl
tragischer Einsamkeit, das sie berührte, sondern die Gewißheit einer klaren, selbstbewußten Offenheit. Die
Räume waren kahl und einfach. Das Haus verriet in Bauart und Einrichtung den sicheren Griff, die
Entschlossenheit und die Ungeduld, die so typisch für alles waren, was Francisco anpackte. Es sah aus wie die in
Eile, aber mit dem Instinkt der Erfahrung zusammengezimmerte Hütte eines Siedlers, der nicht hier bleiben,
sondern für eine größere Zukunft arbeiten wollte, in der soviele Taten auf ihn warteten, daß er keine Zeit auf die
Behaglichkeit des Anfangs verschwenden konnte. Es war kein Haus, das als ständiges Heim dienen sollte,
sondern als rohe Bauhütte, als Geburtsstätte eines gewaltigen Wolkenkratzers. Francisco in Hemdsärmeln
empfing sie in seinem kaum fünfzehn Quadratmeter großen Wohnzimmer mit der Würde eines Palastherrn. Von
allen Orten, wo sie ihn je gesehen hatte, war dies der Hintergrund, der am besten zu ihm paßte. So wie die
Einfachheit seiner Kleidung seine Vornehmheit betonte und ihm das Aussehen eines Edelmannes verlieh, so
machte die selbstgewählte Bescheidenheit den Raum zu einem Rahmen echten Stolzes. Ein einziger Zug von
Großartigkeit belebte die Kargheit der Einrichtung: Zwei alte Silberbecher standen in einer kleinen, offenen
Nische, die aus den rohen Stämmen einer Wand herausgehauen war. Ihre kostbaren Ornamente hatten mehr
handwerkliche Kunst und Arbeitskraft erfordert als der Bau der Hütte selbst, und sie hatten mehr Jahrhunderte
gesehen als das Holz ihrer Wände. Francisco sah sie lächelnd mit gelassenem Stolz an, als wollte er zu ihr sagen:
Dies ist, was ich bin und all diese Jahre war.
Dir Blick blieb an den Silberbechern haften.
»Jawohl«, sagte er als Antwort auf ihre stumme Frage, »sie gehörten Sebastián d’Anconia und seiner Frau.
Sie sind das einzige, was ich aus meinem Palast in Buenos Aires hierher mitgebracht habe. Dies und das Wappen
über der Tür waren alles, was ich retten wollte. Alles andere wird in wenigen Monaten zum Teufel gehen.« Er
lachte in sich hinein. »Man wird alles beschlagnahmen, alles, was zu d’Anconia Copper gehört. Doch sie werden
eine Überraschung erleben, denn sie werden nichts finden, was ihre Mühe lohnt. Und in meinem Palast werden
sie kaum die Kosten für die Heizung aufbringen können.«
»Und dann?« fragte sie. »Was wirst du dann tun?«
»Ich? Ich werde weiter für d’Anconia Copper arbeiten.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Erinnerst du dich des alten Rufs: ‘Der König ist tot, es lebe der König!’ Wenn das Gerippe des Eigentums
meiner Vorfahren zerfallen ist, dann wird meine Grube der neue, junge Körper von d’Anconia Copper, eines
Besitzes, wie ihn meine Vorfahren sich immer gewünscht, mit ihrer Arbeit erstrebt und verdient, aber nie
besessen haben.«
»Deine Grube? Welche Grube? Wo liegt sie?«
»Hier«, erwiderte er und zeigte auf die Berggipfel. »Wußtest du es nicht?«
»Nein.«
»Ich besitze eine Kupfergrube, die für die Plünderer unerreichbar ist. Sie ist hier in diesen Bergen. Ich habe
die Schürfung durchgeführt, ich habe sie entdeckt. Ich habe den ersten Stollen gegraben. Das war vor acht
Jahren. Mir hat Midas Mulligan als erstem in diesem Tal Land angeboten. Ich habe die Grube gekauft. Ich habe
sie mit eigenen Händen erschlossen, so wie Sebastián d’Anconia es getan hat. Sie wird jetzt von einem Mann
verwaltet, der mein bester Metallfachmann in Chile war. Die Grabe liefert alles Kupfer, das wir hier brauchen.
Mein Gewinn wird in Mulligans Bank hinterlegt. Er ist alles, was ich in wenigen Monaten besitzen, alles, was
ich brauchen werde.«
…um die Welt zu erobern, schien er nach dem Klang seiner Stimme sagen zu wollen, und sie nahm
verwundert den Unterschied zwischen diesem Klang und dem verschämten, widerlichen, halb drohenden, halb
winselnden Ton wahr, den die Menschen ihres Jahrhunderts dem Wort »brauchen« gegeben hatten.
»Dagny«, sprach er weiter, während er zum Fenster trat und hinausschaute, als sähe er nicht die Gipfel der
Berge, sondern über die Grenzen der Zeit hinweg, »die Wiedergeburt von d’Anconia Copper und der Welt muß
hier beginnen, hier in den Vereinigten Staaten. Dieses Land ist als einziges der Geschichte nicht aus Zufall und
blindem Stammesstreit geboren worden, sondern als ein bewußtes und gewolltes Werk des menschlichen
Verstandes. Dieses Land ist gegründet worden auf der Vorherrschaft der Vernunft, und ein wunderbares
Jahrhundert lang hat es die Welt erlöst, und das wird es jetzt von neuem tun müssen. d’Anconia Copper und
jedes andere menschliche Werte schaffende Unternehmen muß seinen ersten Schritt in die neue Zeit von hier aus
tun, denn in der übrigen Welt hat sich der Glaube erschöpft, der sie durch die Zeitalter hindurch
zusammengehalten hat, der mystische Glaube an die Vorherrschaft des Irrationalen, an dessen Wegende nur zwei
Möglichkeiten übrigbleiben, das Irrenhaus oder der Friedhof. Sebastián d’Anconia beging einen Irrtum; er
erkannte ein System an, das erklärte, Eigentum, rechtmäßig von ihm erworben, gehöre ihm nicht von Rechts
wegen, sondern aus Gnade. Seine Nachkommen zahlten für diesen Irrtum. Ich weigere mich, weiterzuzahlen. Ich
weiß, der Tag wird kommen, an dem, genährt aus ihren Wurzeln in diesem Boden, die Bergwerke,
Schmelzhütten und Erzlager von d’Anconia Copper sich wieder über die Erde ausbreiten bis hinab in mein
Heimatland, und so werde ich derjenige sein, der mit seinem Wiederaufbau begonnen hat. Vielleicht erlebe ich
diesen Tag noch. Doch niemand kann voraussagen, wann andere sich entschließen, zur Vernunft
zurückzukehren. Vielleicht werde ich am Ende meines Lebens nicht mehr geschaffen haben als diese einzige
Grube, d’Anconia Copper Nr. 1, Galt’s Gulch, Colorado, USA. Doch erinnerst du dich, Dagny, daß es immer
mein Ehrgeiz war, die Kupferförderung meines Vaters zu verdoppeln? Nun, Dagny, wenn ich am Ende meines
Lebens jährlich nur ein Pfund Kupfer produziere, dann werde ich reicher sein als mein Vater, reicher als alle
meine Vorfahren mit ihren Tausenden von Tonnen, denn dieses eine Pfund wird von Rechts wegen mir gehören
und dazu dienen, eine Welt aufzubauen, die dieses Recht anerkennt!«
Dies war in Haltung, Bewegung und Sprache und im ungetrübten Glanz seiner Augen der Francisco ihrer
Kindheit, und sie begann, ihn über seine Kupfergrube auszufragen, so wie sie ihn über seine Industriepläne
ausgefragt hatte, als sie auf ihren Spaziergängen am Ufer des Hudson an der Welt ihrer Zukunft bauten.
»Ich zeige dir mein Bergwerk«, sagte er, »sobald dein Fußgelenk ausgeheilt ist. Wir müssen einen steilen Pfad
hinaufklettern. Es ist nur ein Mauleselpfad. Eine Straße für Lastwagen gibt es dort oben nicht. Ich zeige dir
meinen neuen Schmelzofen, den ich entworfen habe. Ich arbeite schon seit einiger Zeit mit ihm. Er ist noch zu
groß und zu verwickelt für unsere augenblickliche Förderung, aber wenn er einmal voll ausgenutzt wird, sollst
du staunen, was er an Zeit, Arbeitskraft und Geld spart.«
Sie saßen nebeneinander auf dem Boden, beugten sich über die Blätter, die er vor ihr ausgebreitet hatte, und
ereiferten sich über die technischen Einzelheiten seiner Kupferhütte mit dem gleichen begeisterten Ernst, mit
dem sie einst verrostete Maschinenteile auf Schrotthaufen untersucht hatten.
Und als sie sich weiter vorbeugte, um nach einem anderen Blatt zu greifen, spürte sie, daß ihre Schulter die
seine berührte. Unwillkürlich verharrte sie einen Augenblick lang in dieser Stellung, nicht länger als ein
natürliches Verhalten im Fluß einer Bewegung rechtfertigte, und hob die Augen zu den seinen. Er sah auf sie
herab, ohne zu verhehlen, was ihn bewegte, aber auch ohne mehr zu fordern. Sie löste sich von ihm, richtete sich
wieder auf und erkannte, daß sie das gleiche verzichtende Begehren empfunden hatte wie er.
Und während sie sich dessen erinnerte, was sie in der Vergangenheit mit ihm verbunden hatte, erkannte sie
etwas, das immer ein Teil dieses Gefühls gewesen w ar, plötzlich in voller Deutlichkeit. Sie begriff: Wenn Liebe
feierliche Verwirklichung des eigenen Lebens war, dann konnte ihre Liebe zu Francisco nur Vorwegnahme
künftigen Glücks gewesen sein, Vorschuß auf eine vollkommenere Liebe. Und sie wußte jetzt, wann und wo sie
zum ersten und einzigen Mal nicht mit innerem Vorbehalt und nicht einer ungewissen Zukunft zugewandt,
sondern in volle r und endgültiger Bejahung des Augenblicks begehrt hatte. Und diese Gewißheit verdichtete sich
vor ihrem geistigen Auge zum Bild eines Mannes, der vor der Tür eines kleinen Gebäudes aus Granit stand. Die
letzte Erfüllung des Versprechens, das ihrem Leben Inhalt und Bewegung gegeben hatte, war der Mann, der
vielleicht immer Versprechen und unerreichtes Ziel bleiben würde.
Doch dies, dachte sie bestürzt, war eine Auffassung von der Bestimmung des Menschen, die sie stets
leidenschaftlich verneint und verachtet hatte, die Auffassung, daß der Mensch dazu verdammt war, immer
angezogen zu werden von der Vision des in schimmernder Ferne vor ihm Liegenden, das er nie erreichen konnte.
Ihr Begriff vom Leben und dessen Werten verbot ihr, so zu denken. Sie hatte nie in der Sehnsucht nach dem
Unmöglichen Genugtuung gefunden und nie das Mögliche für unerreichbar gehalten. Doch jetzt war sie in eine
Lage geraten, die eine neue Entscheidung von ihr forderte, eine Entscheidung, die ihr unmöglich erschien. Sie
konnte weder ihn aufgeben noch die Welt, dachte sie, als sie an diesem Abend Galt wiedersah. Die Antwort, die
das Schicksal von ihr forderte, erschien ihr in seiner Gegenwart noch schwieriger zu finden. Wenn sie ihn ansah,
wurde die Frage selbst hinfällig, denn sie vermeinte, daß nichts ihr wichtiger sein könnte, als ihn anzuschauen,
und daß nichts sie bewegen könnte, ihn zu verlassen, und gleichzeitig wußte sie, daß sie kein Recht mehr auf
seinen Anblick hatte, wenn sie auf ihre Eisenbahn verzichtete. Sie fühlte, daß sie ihn besaß, daß sie einander,
ohne es auszusprechen, mit dem Tausch des ersten Blicks verfallen waren, und zugleich ahnte und fürchtete sie
die Möglichkeit, daß er aus ihrem Leben verschwinden und irgendwann in ungewisser Zukunft auf einer Straße
der Welt dort draußen gleichgültig und fremd an ihr vorübergehen könnte.
Es fiel ihr auf, daß er sie nicht nach Francisco fragte. Als sie ihm von ihrem Besuch in Franciscos Haus
erzählte, konnte sie keine Reaktion von seinem Gesicht ablesen, weder Zustimmung noch Mißbilligung. Doch
sie glaubte, von Zeit zu Zeit einen kaum wahrnehmbaren Schatten über seine aufmerksam gespannten Züge
huschen zu sehen, als bemühte er sich über das, was sie zu ihm sagte, nicht nachzudenken.
Die einmal aufgeworfene Frage ließ sie nicht mehr los und bohrte sich immer tiefer in ihre Gedanken,
besonders an den Abenden, an denen Galt das Haus verließ und sie allein war; denn jeden zweiten Tag ging er
jetzt nach dem Abendessen weg, ohne ihr zu sagen, wohin, und kam um Mitternacht oder später zurück. Sie
versuchte, sich nicht einzugestehen, mit welcher Spannung und Unruhe sie jedes Mal auf seine Rückkehr
wartete. Sie fragte ihn nicht, wo er diese Abende verbrachte. Ihr allzu großes Verlangen, es zu wissen, hielt sie
davon ab. Sie schwieg in dunklem Trotz, der sich halb gegen ihn, halb gegen ihre eigene Neugier richtete.
Sie wollte, was sie fürchtete, nicht klar erkennen oder in unwiderrufliche Worte fassen, sie empfand nur
nagende, häßliche und verhaßte Gefühle, die in ihr miteinander im Widerstreit lagen. Eines dieser Gefühle war
blinder Groll, wie sie ihn nie zuvor empfunden hatte und den sie als Frucht ihrer Furcht erkannte, daß es eine
andere Frau in seinem Leben geben könnte. Doch dieser Groll war gemildert durch die Anerkennung der
Rechtmäßigkeit dessen, was sie befürchtete, als ob die Bedrohung bekämpft werden könnte und, wenn
unumgänglich, hingenommen werden müßte. Doch da war noch eine andere, scheußlichere Angst in ihr, die
Angst vor der ekelhaften Begegnung mit einem Akt der Selbstaufopferung, der unaussprechliche Verdacht, daß
er mit Absicht ihre Nähe mied, um sie aus der von ihm hinterlassenen Leere zurück in die Arme des Mannes zu
treiben, der sein bester Freund war.
Tage vergingen, bevor sie dieses Schweigen brach. An einem Abend, an dem er wieder ausgehen wollte,
wurde sie sich plötzlich des heftigen Vergnügens bewußt, das sie empfand, während sie ihm zusah, wie er mit
Appetit aß, was sie gekocht hatte. Und unwillkürlich, doch ohne Widerstreben, als gäbe dieses Vergnügen ihr ein
Recht, das sie sich selbst zu geben nicht wagte, als hätte Freude und nicht Not ihren Trotz gebrochen, fragte sie
ihn: »Was tun Sie jeden zweiten Abend, wenn Sie ausgehen?«
Er antwortete, nur leicht überrascht, als hätte er es für selbstverständlich gehalten, daß sie es wüßte: »Ich halte
Vorlesungen.«
»Worüber?«
»Über Physik, wie ich es jedes Jahr während dieses Monats tue. Es ist meine… Worüber lächeln Sie?« fragte
er, als er den Ausdruck der Erleichterung in dem stummen Lachen sah, das nicht seinen Worten zu gelten schien,
und dann lächelte er, bevor sie antworten konnte, selbst, als hätte er ihre Antwort schon erraten, und sie spürte in
seinem Lächeln beinahe körperlich eine fast aufdringliche Vertraulichkeit, die jedoch in verwirrendem
Gegensatz stand zu dem lässigen, unpersönlichen Ton, in dem er fortfuhr: »Sie wissen doch, daß wir uns alle in
diesem Monat in unseren eigentlichen Berufen betätigen. Richard Halley gibt Konzerte, Kay Ludlow tritt in zwei
Stücken von Autoren auf, die nicht für die Welt draußen schreiben. Und ich halte Vorlesungen und berichte über
die Arbeiten, die ich im Verlauf des Jahres durchgeführt habe.«
»Sind die Vorlesungen frei?«
»O nein. Ich erhebe eine Gebühr von zehn Dollar pro Person und Kursus.«
»Ich möchte Ihre Vorlesungen hören.«
Er schüttelte den Kopf. »Bedaure, das ist unmöglich. Es kann Ihnen gestattet werden, den Konzerten
beizuwohnen, den Theatervorstellungen oder anderen unterhaltenden Darbietungen, doch nicht meinen
Vorlesungen, bei denen von uns erarbeitete Gedanken vermittelt werden, die Sie aus diesem Tal nach draußen
mitnehmen könnten, um sie dort zu verwerten oder zu veröffentlichen. Übrigens sind meine Kunden – oder
Studenten, wenn Sie wollen – nur solche Personen, die persönliche und praktische Gründe haben, an meinen
Kursen teilzunehmen, zum Beispiel Dwight Sanders, Lawrence Hammond, Dick McNamara, Owen Kellogg und
einige wenige andere. In diesem Jahr habe ich einen neuen Hörer bekommen: Quentin Daniels.«
»Wirklich?« sagte sie mit einem Unterton von Eifersucht. »Wie kann er sich etwas so Teures leisten?«
»Auf Kredit. Ich habe ihm Ratenzahlung auf längere Frist bewilligt. Er ist es wert.«
»Wo halten Sie Ihre Vorlesungen?«
»In dem Flugzeugschuppen auf Dwight Sanders’ Farm.«
»Und wo arbeiten Sie während des übrigen Jahres?«
»In meinem Laboratorium.«
Sie fragte zögernd: »Wo ist Ihr Laboratorium? Hier im Tal?«
Er hielt ihrem fragenden Blick eine Weile schweigend stand, damit sie die Belustigung in seinen Augen sehen
und erkennen konnte, daß er ihre Absicht durchschaute, und antwortete dann: »Nein.«
»Sie haben also während dieser ganzen zwölf Jahre draußen gelebt?«
»Ja.«
»Haben Sie« – der Gedanke erschien ihr unerträglich – »haben Sie draußen einen Beruf von der Art, wie ihn
die anderen haben?«
»0 ja.« Die wachsende Belustigung in seinen Augen schien sich zu einer besonderen Bedeutung zu
verdichten.
»Sind Sie am Ende Hilfsbuchhalter?«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Was tun Sie also?«
»Ich tue das, was die Welt von mir erwartet.«
»Wo?«
Er schüttelte den Kopf. »Bedaure, Miss Taggart, das kann ich Ihnen nicht verraten. Wenn Sie sich dazu
entschließen, das Tal wieder zu verlassen, dann ist dies eines der Dinge, die Sie nicht wissen dürfen.«
Er lächelte wieder mit jenem Anflug persönlicher Vertraulichkeit, die jetzt zu sagen schien, daß er die
Drohung kannte, die in seiner Antwort lag; daß er wußte, was diese Drohung für sie bedeutete. Dann stand er
auf.
Als er gegangen war, empfand Dagny den Ablauf der Zeit in der bedrückenden Stille des Hauses wie das
Versickern einer gestaltlosen Masse in den Spalt einer grundlosen Tiefe, ein Versickern, das ihr in seiner
Langsamkeit kein Maß gab zu w issen, ob Minuten oder Stunden vergangen waren. Sie lag ausgestreckt in einem
Sessel des Wohnzimmers, niedergehalten durch jene schwere, gleichgültige Lässigkeit, die nicht bewußte
Untätigkeit ist, sondern Hemmung des Verlangens nach heimlicher Gewalt, für die es keine Ersatzbefriedigung
gibt.
Das Vergnügen, das sie empfunden hatte, als sie ihn das von ihr bereitete Essen genießen sah, dachte sie,
während sie mit geschlossenen Augen dalag und ihre Gedanken mit der trägen Zeit dahintrieben, dieses
Empfinden war der Gewißheit entsprungen, daß sie ihm eine physische Freude geschenkt hatte und daß dieser
Akt sinnlicher Lebensbejahung ihr Werk gewesen war. Es gibt Gründe, dachte sie, daß eine Frau sich wünschen
könnte, für einen Mann kochen zu dürfen. Nicht aus Pflichtgefühl, nicht in täglicher Routine, sondern im
Vollzug einer seltenen und besonderen Zeremonie von tieferer Bedeutung! Doch was haben sie aus dieser
Handlung gemacht, die Prediger einer verlogenen Ehemoral? Die als ermüdende Plackerei empfundene Pflicht
war zur eigensten Tugend der Frau erklärt, während das, was ihr Sinn und Weihe gab, verschämt als Sünde
verdammt wurde. Die Arbeit in einer dunstigen Küche sollte den Rang eines geistigen Rituals haben, einer
feierlichen, täglich wiederholten Unterwerfung unter ein Gesetz, während die Begegnung zweier Körper in
einem Bett zur reinen Befriedigung körperlicher Bedürfnisse erniedrigt wurde, zu einem Akt der Auslieferung an
einen tierischen Instinkt, dem kein Anspruch auf menschliche Würde und geistige Größe zustand. Sie sprang auf.
Sie wollte nicht an die Welt da draußen oder deren Moral denken, doch sie wußte auch, daß dies nicht der
eigentliche Pol ihrer Gedanken war. Aber auch an das, was ihrem Denken Nahrung und Richtung gab, wollte sie
nicht denken, nicht an das, was sich immer wieder gegen ihren Willen in ihr Bewußtsein drängte.
Sie lief im Zimmer auf und ab, voll Verachtung für die zerfahrene Unbeherrschtheit ihrer Bewegungen, hin
und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, die häßliche Stille durch Arbeit zu erfüllen, und dem Wissen, daß
leere Geschäftigkeit ihr nicht die ersehnte Ruhe bringen konnte. Sie zündete eine Zigarette nach der anderen an
und legte sie sogleich wieder weg, angewidert von der Vergeblichkeit des vorgetäuschten Zweckes. Sie sah sich
in dem Raum um wie ein ruheloser Flüchtling, der leblose Gegenstände um einen Grund zu sinnvollem
Verweilen anfleht. Sie wünschte, etwas zu finden, das gereinigt, ausgebessert, in Ordnung gebracht werden
müßte, und wußte nur allzu gut, daß keine Mühe sich lohnen würde. Wenn nichts mehr der Mühe wert erscheint,
getan zu werden. sagte eine unerbittliche Stimme in ihr, dann bedeutet dies , daß du dir einen Wunsch verhehlst,
der dir mehr wert ist als alles andere. Gestehe dir ein, was du wirklich willst! Sie entzündete ein Streichholz,
brachte die Flamme mit einer wütenden Bewegung an das Ende einer Zigarette, die ihr, ohne zu brennen, seit
einer Weile im Mundwinkel gehangen hatte. Was willst du? wiederholte die Stimme mit der fordernden Strenge
eines Richters. Ich will, daß er zurückkommt! antwortete sie, die Worte wie einen lautlosen Schrei einem inneren
Ankläger zurufend, so wie man einem wilden Tier, das einen verfolgt, einen Knochen zuwirft, um es
abzulenken.
Ich will, daß er zurückkommt, entgegnete sie leise dem Vorwurf, daß kein Grund zu so großer Ungeduld
bestand. Ich will, daß er zurückkommt, flüsterte sie bittend und wich der spöttischen Bemerkung aus, daß ihre
Antwort nicht genügte. Ich will, daß er zurückkommt, schrie sie in wildem Trotz, um jede weitere Mahnung zu
überhören.
Ihr Kopf dröhnte vor Erschöpfung. Die Zigarette zwischen ihren Fingern war bis zur Hälfte abgebrannt. Sie
drückte die Glut aus und ließ sich wieder in einen Sessel fallen.
Ich kann dieser Stimme nicht entrinnen, dachte sie. Ich werde das hören, solange ich nicht die richtige
Antwort gebe. Das, was du willst, sagte die Stimme jetzt, während Dagny durch einen aufziehenden Nebel zu
stolpern glaubte, soll dir geschehen, doch alles, was weniger ist als volle Hinnahme und ehrliche Überzeugung,
ist Verrat an dem, was er dir bedeutet. Dann soll er mich wegwerfen, dachte sie stumm, als hätte die Stimme sich
im Nebel verloren und könnte sie nicht mehr hören. Laß ihn mich morgen verdammen, doch heute will ich ihn
haben. Sie vernahm keine Antwort, denn ihr Kopf war gegen die Lehne des Sessels gesunken. Sie war
eingeschlafen. Als sie die Augen öffnete, sah sie ihn drei Schritte weit vor sich stehen in einer Haltung, als hätte
er sie schon eine geraume Weile beobachtet.
Sie sah ihm forschend ins Gesicht und erkannte mit der Klarheit ungeteilter Wahrnehmung die Bedeutung
seines Blickes. In diesem Blick lag das, worum sie in den letzten Stunden gerungen hatte. Sie nahm es ohne
Erstaunen hin, weil sie noch nicht genug Herrin ihres Denkens war, um bezweifeln zu können, was sie sah.
»So sehen Sie aus«, sagte er mit weicher Stimme, »wenn Sie in Ihrem Büro einschlafen«, und sie wußte, daß
auch er genau wußte, was er sagte. Wie er es sagte, verriet ihr, wie oft er daran gedacht hatte und aus welchem
Grund. »Sie sehen aus, als würden Sie in einer Welt erwachen, in der Sie nichts zu fürchten und nichts zu
verbergen haben«, und sie wußte, daß der erste Ausdruck ihres Gesichts ein Lächeln gewesen war, fühlte es im
gleichen Augenblick, da es schwand, weil sie begriff, daß sie beide aus ihrer Verzauberung zurückgekehrt
waren. Er aber sagte gelassen, im vollen Bewußtsein seiner Worte: »Doch hier ist es wirklich so.«
Ihre erste Empfindung im wiedereroberten Bereich der Wirklichkeit war ein Gefühl der Macht. Sie setzte sich
in einer fließenden, lässigen Bewegung höchster Selbstsicherheit auf, spürte das Bewußtsein ihrer Überlegenheit
Muskel um Muskel ihren Körper durchdringen. Sie fragte, und der träge Ton harmloser Neugier in ihrer Stimme
gab ihren Worten einen schwachen Beiklang der Verachtung: »Woher wissen Sie, wie ich aussehe – in meinem
Büro?«
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich Sie seit Jahren beobachte.«
»Wie haben Sie es fertiggebracht, mich so genau zu beobachten? Von welcher Stelle aus?«
»Hierauf werde ich Ihnen jetzt nicht antworten«, sagte er schlicht und ohne Schärfe.
Die Bewegung, mit der sie sich langsam zurücklehnte, ihr kurzes Schweigen und dann der tiefe und rauhe Ton
ihrer Stimme gaben ihren Worten einen Nachklang bewußten Triumphes: »Wann haben Sie mich zum ersten
Mal gesehen?«
»Vor zehn Jahren«, erwiderte er und sah sie dabei voll und offen an, um ihr zu zeigen, daß er ihre Frage in
ihrer letzten unausgesprochenen Bedeutung verstanden und beantwortet hatte.
»Wo?« Das Wort klang wie ein Befehl.
Er zögerte, und dann sah sie ein feines Lächeln, das nur seinen Mund umspielte, ohne seine Augen zu
erreichen, jene Art von Lächeln, mit dem man in Sehnsucht, Bitterkeit und Stolz ein um schmerzlichen Preis
erworbenes Eigentum betrachtet. Seine Augen schienen nicht auf sie gerichtet zu sein, sondern auf die Frau jener
Zeit, als er sagte: »Unten im Taggart Terminal.«
Sie wurde sich plötzlich ihrer Haltung bewußt. Sie war in ihrem Sessel nach vorn gerutscht, hatte die
Schulterblätter an der Lehne nach unten gleiten lassen und ein Bein vorgestreckt, so daß sie mehr lag als saß, und
mit ihrer eleganten durchsichtigen Bluse, ihrem weiten, grellbunten, handbedruckten Rock, ihren dünnen
Strümpfen und ihren hochhackigen Pumps sah sie nicht aus wie die Leiterin einer Eisenbahn, als die er sie, nach
dem Ausdruck seiner Augen zu urteilen, zu sehen schien, sondern wie das, was sie jetzt war, seine Hausgehilfin.
Sie beobachtete, wie ein langsames Aufleuchten den Schleier der Entfernung vor seinen dunkelgrünen Augen
auflöste und die Vision der Vergangenheit durch die unmittelbare Wahrnehmung ihrer Gegenwart ersetzte. Sie
begegnete seinem Blick mit einem starren Lächeln, in dem zugleich Abwehr und Herausforderung lagen.
Er wandte sich ab, doch als er sich von ihr entfernte, waren seine Schritte ebenso beredt wie der Klang seiner
Stimme. Sie wußte, daß er das Zimmer verlassen wollte, wie er es immer getan hatte; er war nie länger geblieben
als nötig war, um ihr gute Nacht zu sagen, wenn er nach Hause kam. Sie war Zeugin seines inneren Kampfes.
Doch ob es seine plötzlich umschwenkenden Schritte waren, durch die sie diesen Kampf miterlebte, oder ob ihr
ganzer Körper wie ein Radarschirm die Motive seiner Bewegungen empfing, hätte sie nicht sagen können. Sie
wußte nur, daß er, der nie eine Schlacht gegen sich selbst gekämpft oder verloren hatte, jetzt nicht genug Macht
über sich besaß, diesen Raum zu verlassen.
Sein Verhalten verriet kaum etwas von seiner inneren Spannung. Er zog seine Jacke aus, warf sie beiseite und
setzte sich, in Hemdsärmeln, das Gesicht ihr zugewandt, auf der anderen Seite des Zimmers ans Fenster. Doch er
setzte sich auf die Armlehne des Sessels und ließ so offen, ob er gehen oder bleiben würde.
Dann durchschoß sie plötzlich ein übermächtiges Gefühl; wie unter einem Schlag zuckte sie innerlich
zusammen. Sie brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, daß das, was sie fast hatte aufschreien lassen, nur
eine zufällige Bewegung gewesen war. Aber durch diese Bewegung hatte sich ihr die lange Linie seines Körpers
präsentiert: von den Schultern zur Taille, von den schmalen Hüften die Beine hinunter. Sie sah weg, um ihn nicht
sehen zu lassen, daß sie zitterte, und sie entließ alle Gedanken des Triumphes und allen Zweifel, wer von ihnen
beiden der Stärkere wäre.
»Ich habe Sie seither oft gesehen«, sagte er ruhig und fest, doch ein bißchen langsamer als gewöhnlich, als ob
er alles beherrschen könnte, außer seinem Bedürfnis zu sprechen.
»Wo haben Sie mich gesehen?«
»An vielen verschiedenen Orten.«
»Doch Sie achteten darauf, daß Sie selbst ungesehen blieben?« Sie wußte, daß sein Gesicht ihr nicht hätte
entgehen können. »Ja.«
»Warum? Hatten Sie Angst?«
»Ja.«
Er sagte es ohne Scham, und sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, daß er zugab zu wissen, was
sein Anblick für sie bedeutet hätte. »Wußten Sie, wer ich war, als Sie mich zum ersten Mal sahen?«
»O ja. Mein schlimmster Feind, außer einem.«
»Wie?« Diese Antwort hatte sie nicht erwartet. Gefaßt fügte sie hinzu: »Und wer ist der schlimmste?«
»Dr. Robert Stadler.«
»Hatten Sie mich mit ihm der gleichen Kategorie zugeteilt?«
»Nein. Er ist mein bewußter Gegner. Er ist der Mann, der seine Seele verkauft hat. Wir wollen ihn nicht für
uns gewinnen. Sie – Sie waren immer eine von uns. Ich wußte es, lange bevor ich Sie sah. Ich wußte auch, daß
Sie die letzte sein würden, die sich uns anschließt. Und die, die am schwersten zu gewinnen war.«
»Wer hat es Ihnen gesagt?«
»Francisco.«
Sie ließ einige Sekunden verstreichen und fragte dann: »Was sagte er?«
»Er sagte, daß von allen, die auf unserer Liste standen, Sie am schwersten zu gewinnen sein würden. Das war,
als ich zum ersten Mal von Ihnen hörte. Francisco selbst hatte Ihren Namen auf unsere Liste gesetzt. Er erklärte
mir, daß Sie die einzige Hoffnung für die Zukunft von Taggart Transcontinental waren, daß Sie uns lange Zeit
Widerstand leisten und einen verzweifelten Kampf um Ihre Bahn kämpfen würden, weil Sie Ihrem Werk mit
übermenschlichem Mut und allzu verbissener Zähigkeit verschworen waren.« Er sah sie forschend an. »Mehr
sagte er mir nicht. Er sprach von Ihnen, als unterhielten wir uns über einen unserer zukünftigen Streikgenossen.
Ich wußte, daß Sie als Kinder Freunde gewesen waren, sonst nichts.«
»Wann sahen Sie mich nach diesem Gespräch?«
»Zwei Jahre später.«
»Wo?«
»Auf einem Bahnsteig des Taggart Terminals. Es war spät in der Nacht. Es war reiner Zufall.« Sie wußte, daß
diese Worte für ihn eine Niederlage, eine Waffenstreckung bedeuteten, daß er sie nicht aussprechen wollte, aber
gegen seinen Willen sagen mußte. Sie hörte den Widerstreit von Drängen und Widerstand in seiner Stimme. Er
konnte nichts anderes tun als reden, um zwischen ihr und ihm den Kontakt herzustellen, nach dem er sich
verzehrte. »Sie trugen ein Abendkleid. Ihr Umhang war von Ihren Schultern geglitten. Zuerst sah ich nur Ihre
nackten Schultern, Ihren Rücken und Ihr Profil. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde Ihr Umhang
weiter hinabgleiten, und Sie würden nackt dastehen. Dann erst erkannte ich, daß Sie ein langes Kleid trugen, das
die Farbe von Eis hatte und aussah wie die Tunika einer griechischen Göttin. Doch Ihr kurzgeschnittenes Haar
und Ihr kühnes, herrisches Profil waren unverkennbar amerikanisch. Sie sahen auf einem Bahnsteig frappierend
fehl am Platze aus, und ich sah Sie im Geiste auch nicht auf einem Bahnsteig, sondern in einem Rahmen, von
dem ich glaubte, daß er Ihnen gemäßer wäre. Doch plötzlich wußte ich, daß Sie wirklich zwischen die Gleise, die
Rampen und Pfeiler gehörten, daß der einzige Rahmen für ein fließendes Gewand und nackte Schultern und ein
Gesicht, so lebendig wie das Ihre, dieser Bahnsteig war und nicht eine Luxuswohnung. Sie sahen aus wie ein
Symbol des Luxus, das dort stand, wo er seine Quelle hatte. Sie erschienen mir als ein Magnet, der den Segen
und den Glanz des Reichtums wieder auf die zurücklenkt, die ihn zu Recht besaßen, auf die Männer, die
Eisenbahnen gebaut und Industrien gegründet hatten. Sie waren Sinnbild der Leistung und ihres Lobes zugleich.
In Ihrem Bild vereinigten sich für mich zum ersten Mal in der Wirklichkeit zwei Begriffe, die ich als erster für
untrennbar erklärt hatte, Tatkraft und Lebensgenuß. Und ich dachte, wenn unser Zeitalter sich von seinen wahren
Göttern Bilder machen und dem Geist der amerikanischen Eisenbahnen ein Denkmal in Form einer Statue
errichten wollte, dann wären Sie dafür das würdige Modell. Dann erkannte ich, was Sie taten, und ich wußte, wer
Sie waren. Sie gaben drei Bahnhofsangestellten Befehle. Ich konnte Ihre Worte nicht verstehen, doch Ihre
Stimme klang klar, knapp und selbstbewußt. Sie konnten nur Dagny Taggart sein. Ich trat näher, nahe genug, um
zwei Sätze zu hören. ‘Wer hat das gesagt?’ fragte einer der Männer. ‘Ich’, antworteten Sie. Das war alles, was
ich hörte. Es war genug.«
»Und dann?«
Langsam hob er den Blick, suchte den ihren, um ihn über die Breite des Zimmers hinweg festzuhalten, und
die unterdrückte Eindringlichkeit seiner Worte, die seine Stimme dämpfte, gab ihnen einen heiseren Beiklang
von Selbstverspottung, der zugleich verzweifelt und sanft ergeben war. »Dann wußte ich, daß die Preisgabe
meines Motors nicht der schmerzlichste Preis war, den ich für diesen Streik zu zahlen haben würde.«
Sie fragte sich, welcher anonyme Schatten zwischen den Fahrgästen, die an ihr vorbeigeeilt waren, für sie
damals unwirklich und unbekannt wie der Dampf der Lokomotiven, der sie einhüllte, welcher Schatten und
welches Profil seine gewesen waren. Sie fragte sich, wie nahe sie ihm wohl während dieses von ihr nicht bewußt
erlebten Augenblicks gewesen war. »Warum haben Sie nicht mit mir gesprochen, damals oder später?«
»Erinnern Sie sich zufällig noch, was Sie an jenem Abend auf dem Bahnsteig taten?«
»Ich erinnere mich vage an eine Nacht, in der man mich von einer Party weggerufen hatte. Mein Vater war
auf Reisen, und der neue Bahnhofsvorsteher hatte einen Fehler gemacht, durch den der gesamte Verkehr in den
Tunneln zum Stillstand gekommen war. Der frühere Vorsteher hatte eine Woche zuvor unerwartet gekündigt.«
»Ich hatte ihn dazu veranlaßt.«
»Ach so…«
Ihre Stimme erstarb, und ihre Lider sanken, als verzichtete sie auf Sprache und Gesicht, um ungestört in sich
hineinhorchen zu können. Wenn er damals nicht widerstanden hätte, dachte sie, wenn er damals oder später zu
ihr gekommen wäre und das entscheidende Wort gesprochen hätte, was wäre dann geschehen? – Sie erinnerte
sich, was sie empfunden hatte, als sie ausrief, daß sie den Zerstörer niederschießen würde, sobald sie ihn zu
Gesicht bekäme. Ich würde ihn erschossen haben, später, wenn ich seine Rolle entdeckt hätte. Und ich hätte ihn
entlarvt, ihn entlarven müssen. Und dennoch… Sie erschauerte, weil sie erkannte, daß sie immer noch wünschte,
er wäre zu ihr gekommen, denn der Gedanke, den zu denken sie sich verbot, den sie aber wie eine dunkle Wärme
ihren Körper durchfluten ließ, lautete: Ich hätte ihn erschossen, aber nicht bevor…
Sie hob die Lider, und sie erkannte, daß dieser Gedanke ihn aus ihren Augen ebenso nackt anstarrte, wie er sie
aus seinen traf. Sie sah seinen verschleierten Blick und seinen verkrampfen Mund, sah ihn sich in Ohnmacht
winden und fühlte sich selbst wie trunken von dem Wunsch, ihn noch mehr leiden zu machen, sein Leid zu
erleben über das Maß ihrer und seiner Kräfte hinaus und ihn dann in hilfloser Lust aufgehen zu sehen.
Er stand auf und wandte den Blick zur Seite, und sie konnte nicht erkennen, ob das leichte Heben seines
Kopfes oder die Anspannung seiner Züge seinem Gesicht den seltsam klaren und ruhigen Ausdruck verliehen,
als wäre es bis auf die Nacktheit seiner reinen Form aller Gefühle entblößt.
»Jeden Mann, den Ihre Gesellschaft in den letzten zehn Jahren verloren hat, obwohl sie ihn dringend
brauchte«, sagte er, »habe ich Ihnen weggenommen.« Seine Stimme hatte den eintönigen und kalten Klang eines
Buchhalters, der einen unbesonnenen Einkäufer daran erinnert, daß der Wert einer Ware ein Zwang ist, dem
niemand entrinnen kann. »Ich habe alles untergraben, was Taggart Transcontinental trägt, und wenn Sie sich
entscheiden zurückzugehen, dann werde ich erleben, wie die Gesellschaft über Ihrem Kopf zusammenbricht.«
Er drehte sich um und wollte das Zimmer verlassen. Sie hielt ihn zurück. Es war mehr ihre Stimme als ihre
Worte, was seinen Schritt stocken ließ. Es war eine Stimme ohne Gefühl, hohl in ihrer Leere, ohne Farbe außer
einem schleppenden Unterton, der wie ein inneres Echo, wie eine verhaltene Drohung klang, die Stimme eines
bettelnden Menschen, der noch einen Begriff von Ehre hat, doch lange darüber hinaus ist, das Gesicht wahren zu
wollen:
»Sie wünschen also, mich hier zu behalten?«
»Mehr als alles andere in der Welt.«
»Sie könnten mich halten.«
»Ich weiß es.«
Seine Stimme hatte den gleichen Klang wie zuvor ihre. Er machte eine Pause, um wieder zu Atem zu
kommen. Als er weitersprach, war der heisere, drohende Unterton seiner Stimme verschwunden und hatte dem
klaren Klang lächelnden Verstehens Platz gemacht.
»Daß Sie den Geist unseres Tales anerkennen, das möchte ich. Was würde es mir nützen, Sie körperlich hier
zu haben, ohne Sie auch seelisch mit uns eins zu wissen? Dies wäre nur jene Art verfälschter Wirklichkeit, durch
welche die meisten Menschen sich um ihr eigenes Leben betrügen. Ich bin hierzu nicht geschaffen.« Er wandte
sich zum Gehen. »Und Sie sind es auch nicht. Gute Nacht, Miss Taggart!«
Er ging in sein Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich.
Sie war unfähig zu denken, als sie in der Dunkelheit ihres Zimmers auf ihrem Bett lag, unfähig zu denken
oder zu schlafen, und das stumme Stöhnen, das ihren Verstand übertönte, schien nur eine fühllose Äußerung
ihrer Nerven zu sein; doch sein Schwinden und Schwellen waren wie das Wimmern eines unterdrückten Schreis,
den sie nicht als Worte, sondern nur als Schmerz empfand. Er soll kommen, er soll zusammenbrechen, alles soll
zusammenbrechen, meine Eisenbahn und sein Streik und alles, wovon und wofür wir gelebt haben! Alles soll
zugrunde gehen, was wir waren und was wir sind, wenn er nur kommt, und wenn ich morgen sterben muß, dann
will ich sterben, doch erst morgen, aber heute soll er kommen, um jeden Preis, den er verlangt. Ich habe nichts
mehr, das ich ihm nicht geben würde! Ist es dies, was es heißt, ein Tier zu sein? Es ist es, und ich bin ein Tier.
Sie lag auf dem Rücken, preßte die Handflächen auf das Laken neben ihren Hüften, um sich davon
zurückzuhalten, aufzustehen und in sein Zimmer zu gehen; sie wußte, daß sie jetzt selbst dazu fähig war. Das bin
nicht ich, das ist ein Körper, den ich weder verleugnen noch beherrschen kann! Doch irgendwo tief in sich spürte
sie, nicht als Worte, sondern wie einen ruhenden, ausstrahlenden Punkt die Gegenwart eines Richters, der sie
beobachtete, nicht mehr in finsterer Verdammung, sondern in belustigter Zustimmung, als wollte er sagen: Dein
Körper? Wenn er nicht das wäre, als was du ihn siehst, würde dein Körper dich dann soweit bringen? Warum
begehrst du seinen Körper und nicht einen anderen? Meinst du es ehrlich, wenn du die Dinge aufgeben willst, für
die ihr beide gelebt habt? Wie kannst du aufgeben, was du in diesem Augenblick bejahst, indem du ihn begehrst?
Sie brauchte es nicht in Worten zu hören, sie wußte es, sie hatte es immer gewußt. Nach einer Weile erlosch die
brennende Glut dieses Wissens, und zurück blieb nichts als dumpfer Schmerz und die Kühle des Lakens unter
ihren heißen Händen – und die mehr verwunderte als neugierige Frage, ob auch er wach lag und den gleichen
qualvollen Kampf kämpfte wie sie. Sie hörte keinen Laut im Haus und sah kein Licht aus seinem Zimmer auf die
Bäume vor dem Fenster fallen. Viel später hörte sie aus der Dunkelheit seines Zimmers zwei Geräusche, die ihr
Antwort gaben. Sie begriff, daß er wach war und daß er nicht kommen würde. Sie hatte das Knirschen eines
Schrittes gehört und das Klicken eines Feuerzeuges.
Richard Halley hörte auf zu spielen, drehte dem Flügel den Rücken zu und sah Dagny an. Er sah sie das
Gesicht in der unwillkürlichen Bewegung eines Menschen senken, der eine starke Ge mütsbewegung verbergen
will, erhob sich, lächelte und sagte leise: »Ich danke Ihnen.«
»Nicht doch«, flüsterte sie in dem Bewußtsein, daß ihr selbst Dankbarkeit angestanden hätte und daß es
müßig war, sie auszudrücken. Sie dachte an die Jahre, in denen die Werke, die er ihr soeben vorgespielt hatte,
hier in dieser kleinen Blockhütte auf einem Hang des Tales komponiert worden waren, in denen diese
Klangherrlichkeiten zu dem tönenden Denkmal einer Idee geformt wurden, die den Sinn des Lebens in seiner
Schönheit feierte; an die Jahre, in denen sie selbst durch die Straßen New Yorks gewandert war in der
hoffnungslosen Suche nach einer Äußerung echter Lebensfreude, noch das Krächzen einer modernen Symphonie
im Ohr, als bellte ein heiserer Lautsprecher seinen blinden Haß gegen alles Erdenglück hinter ihr her.
»Nein, ich meine es, wie ich es sage«, widersprach ihr Richard Halley lächelnd. »Ich bin Geschäftsmann und
tue nichts ohne Gegenleistung. Sie haben mich bezahlt. Wollen Sie wissen, warum ich heute abend für Sie
spielen wollte?«
Sie hob überrascht den Kopf. Er stand in der Mitte seines Wohnzimmers. Sie waren allein. Das Fenster stand
offen. Draußen ragten die dunklen Schatten der Bäume in den sommerlichen Abendhimmel, und zwischen ihnen
schimmerten die fernen Lichter des Tals.
»Miss Taggart, wieviel Menschen gibt es, denen mein Werk das gleiche bedeutet wie Ihnen?«
»Nicht viele«, antwortete sie schlicht, nicht als Selbstlob oder Schmeichelei, sondern in objektiver Achtung
vor den Werten, die zur Beurteilung standen.
»Das ist die Bezahlung, die ich verlange. Nicht viele können sie aufbringen, ich meine nicht die Freude, die
Sie beim Hören meiner Musik empfunden haben, und auch nicht Ihre Rührung. Zum Teufel mit aller Rührung!
Ich denke an Ihr Verständnis und an die Tatsache, daß Ihre Freude über meine Musik gleicher Natur war wie die
meine, daß sie aus der gleichen Quelle stammte, aus Ihrer Intelligenz, aus dem bewußten Urteil eines Verstandes,
der fähig ist, mein Werk mit den gleichen Wertmaßstäben zu beurteilen, nach denen es geschrieben wurde. Ich
denke nicht an die Tatsache, daß Sie überhaupt etwas empfanden, sondern daß Sie empfanden, was ich Sie
empfinden lassen wollte, nicht die Tatsache, daß Sie mein Werk bewundern, sondern daß Sie es um der Dinge
willen bewundern, die ich bewundert wissen wollte.« Er lächelte. »In den meisten Künstlern gibt es etwas, das
stärker ist als ihr Verlangen nach Bewunderung, nämlich ihre Furcht, die Natur der Bewunderung zu erkennen,
die ihnen zuteil wird. Diese Furcht habe ich nie gekannt. Ich mache mir keine törichten Illusionen über mein
Werk und seine Wirkung, dazu schätze ich beides zu hoch ein. Ich lege keinen Wert darauf, gedankenlos,
instinktiv, gefühlsmäßig oder blind bewundert zu werden. An blinder Bewunderung liegt mir nicht, denn ich
habe zuviel zu zeigen, an der Bewunderung der Tauben ebensowenig, denn ich habe zuviel zu sagen. Ich will
nicht mit dem Herzen bewundert werden, sondern mit dem Kopf. Und wenn ich einen Zuhörer finde, der diese
unschätzbare Fähigkeit besitzt, dann betrachte ich ihn als einen echten Kunden, und meine Darbietung wird zu
einem gerechten Handel mit gerechtem Gewinn für beide Teile. Der echte Künstler ist ein Händler in geistigen
Gütern, Miss Taggart, ein Händler, der den Preis seiner Ware genau kennt und sich nicht scheut, den Preis zu
fordern. Verstehen Sie mich jetzt?«
»Ja«, antwortete sie ungläubig, weil der Mann, von dem sie es am wenigsten geglaubt hätte, sich zu ihrer
Auffassung von geistigem Stolz bekannt hatte.
»Wenn Sie mich verstehen, warum haben Sie dann vor wenigen Minuten noch ein so trauriges Gesicht
gemacht? Was bedrückte Sie?«
»Die Jahre, in denen Ihr Werk ungehört blieb.«
»Aber es ist nicht ungehört geblieben. Ich habe jedes Jahr zwei oder drei Konzerte gegeben. Hier in Galt’s
Gulch. Nächste Woche ist wieder eins. Ich hoffe, Sie kommen. Der Eintrittspreis beträgt fünfundzwanzig Cent.«
Sie mußte lachen. Er lächelte, und dann wurde sein Gesicht langsam wieder ernst wie unter dem Schatten
eines unausgesprochenen Gedankens. Er blickte in die Dunkelheit hinter dem Fenster hinaus auf eine Stelle, wo
in einem Spalt zwischen den Ästen, vom Mondlicht gebleicht und seiner Goldfarbe beraubt, das Dollarzeichen
wie eine Arabeske aus schimmerndem Stahl am Himmel hing.
»Miss Taggart, können Sie verstehen, warum ich drei Dutzend moderne Künstler für einen einzigen echten
Geschäftsmann hergeben würde? Warum ich mehr mit Ellis Wyatt gemein habe oder Ken Danagger, der
übrigens stockunmusikalisch ist, als mit Männern wie Mort Liddy und Balph Eubank? Eine Sy mphonie und eine
Kohlengrube, beide sind schöpferische Leistungen, die aus der gleichen Quelle stammen, aus der Fähigkeit, mit
den eigenen Augen zu sehen, aus der Fähigkeit also, einen selbständigen Akt rationaler Erkenntnis zu vollziehen,
was bedeutet, zu erkennen und zu verwirklichen, was bisher nicht erkannt und nicht verwirklicht war. Man
spricht von der Gabe der Intuition, die nur den Komponisten und Dichtern eigen ist; was aber war wohl die
treibende Kraft in jenen Männern, die entdeckten, wie man die Schätze der Natur nutzbar macht, wie man eine
Kohlengrube erschließt, wie man einen Elektromotor baut? Man spricht von einem heiligen Feuer, das in der
Brust des Künstlers brennt; was aber belebt den Industriellen, der sich mit seinem neuen Metall gegen die ganze
Welt durchsetzt wie die Erfinder des Flugzeuges, die Erbauer der Eisenbahnen, die Entdecker von Bakterien und
neuen Kontinenten es zu allen Zeiten getan haben? Man spricht von einer bedingungslosen Hingabe an das
Streben nach Wahrheit; Miss Taggart, haben Sie je gehört, daß die Moralisten und Kunstapostel der vergangenen
Jahrhunderte von einer bedingungslosen Hingabe der Künstler an das Streben nach Wahrheit gesprochen haben?
Gibt es aber ein großartigeres Beispiel einer solchen Hingabe als einen Mann, der behauptet, eine bestimmte
Legierung von Stahl und Kupfer habe gewisse Eigenschaften, die sie zu besonderen Leistungen befähigen, und
der, selbst wenn die Welt ihn um seiner Überzeugung willen zugrunde richtet, die Erkenntnis seines Verstandes
nie verleugnen wird? Dies, Miss Taggart, ist ein Beispiel echter und mutiger Liebe zur Wahrheit und nicht der
Träumer ohne Standards, der sich stolz brüstet, er habe fast die Perfektion eines Wahnsinnigen erzielt, weil er ein
Künstler ist, der nicht die leiseste Ahnung hat, was seine Kunst darstellt oder bedeutet, und der sich durch so
primitive Begriffe wie ‘Sinn’ oder ‘Inhalt’ nicht behindert fühlt, weil er sich als Medium geheimnisvoller Kräfte
sieht und behauptet, nicht zu wissen, wie und warum er schafft: sein Werk käme vollkommen unbewußt und
spontan aus ihm heraus, so wie der Betrunkene sich erbricht. Er denke nicht und wolle auch nicht denken, er
fühle nur, sagt er, der sinnlos stammelnde Kretin! Ich, der ich weiß, wieviel Selbstzucht, Fleiß und geistige
Konzentration erforderlich sind, um ein Kunstwerk zu schaffen; ich, der ich weiß, daß es ein Übermaß an harter
Arbeit erfordert, ich stelle den technischen Leiter eines Bergwerks über jedes sogenannte Medium
geheimnisvoller Kräfte. Der Bergwerksleiter weiß, daß es keine Gefühle gibt, die seine Kohlenkarren unter der
Erde in Bewegung halten, und er weiß, was sie wirklich in Bewegung hält. Er leugnet nicht das Bestehen von
Gefühlen, o nein! Wir alle fühlen, er, Sie und ich, und in Wirklichkeit sind wir die einzigen, die echter Gefühle
fähig sind und die wissen, woher ihre Gefühle kommen. Doch wir wissen nichts über diejenigen, die behaupten,
daß sie für ihre Gefühle nicht verantwortlich sind, wir wissen nicht, was sie fühlen, weil wir so lange versäumt
haben, uns Rechenschaft darüber abzulegen. Wir haben zwar begonnen, sie zu durchschauen, doch wir müssen
immer noch für die Fehler der Vergangenheit teuer bezahlen. Und die am schwersten gefehlt haben, müssen am
teuersten bezahlen. Es sind die Künstler, die jetzt erleben müssen, daß sie als erste ausgerottet werden, weil sie
selbst den Triumph ihrer Todfeinde vorbereitet haben, indem sie ihnen halfen, ihre einzigen und wahren Gönner
zu vernichten. Denn wenn es einen tragischeren Toren gibt als den Unternehmer, der nicht weiß, daß er ein
Paradebeispiel höchsten menschlichen Schöpfergeistes ist, dann kann es nur der Künstler sein, der glaubt, daß
der Unternehmer sein Feind ist.«
Als sie durch die Straßen des Tals ging und mit dem Entzücken eines Kindes die in der Sonne funkelnden
Schaufenster der Läden betrachtete, dachte sie, daß hier tatsächlich alles Geschäftliche die absichtsvolle
Erlesenheit der Kunst atmete, und als sie in der Dunkelheit eines aus Brettern errichteten Konzertsaales saß und
der beherrschten Leidenschaft und mathematischen Präzision von Richard Halleys Musik lauschte, dachte sie,
daß die Kunst dort vom strengen Geist ehrbarer Geschäfte beseelt war.
Beide, Geschäft und Kunst, strahlten hier den Glanz durchsichtiger Planung aus, dachte sie, als sie auf der
Bank eines Freilichttheaters saß und Kay Ludlow auf der Bühne spielen sah. Es war für sie ein Erlebnis, das sie
seit ihrer Kindheit nicht mehr gekannt hatte, das Erlebnis, drei Stunden lang von einem Stück gefesselt zu
werden, das ihr eine Geschichte, die sie nicht kannte, in Worten erzählte, die sie nie gehört hatte, und dabei ein
Thema behandelte, das nicht der Rumpelkammer der Vergangenheit entnommen war. Es war der so lange
vermißte Genuß, durch ein Kunstwerk von scharfsinniger Klugheit, logischem Aufbau und überraschender
Neuheit in Spannung gehalten zu werden und es von einer Künstlerin dargestellt zu sehen, die eine Rolle spielte,
deren geistige Schönheit ihrer körperlichen Vollkommenheit entsprach.
»Warum ich hier bin, Miss Taggart?« sagte Kay Ludlow zu ihr nach der Vorstellung. »Alle Eigenschaften
menschlicher Größe, die darzustellen ich die Begabung und das Verlangen hatte, suchte die Welt draußen zu
erniedrigen. Sie ließen mich nur verderbte Charaktere spielen, Dirnen, vergnügungssüchtige und gewissenlose
Frauen, die am Ende immer besiegt wurden von dem ersten besten kleinen Mädchen, das die Tugend der
Mittelmäßigkeit verkörperte. Man benutzte mein Talent, um es zu beschmutzen. Deshalb bin ich gegangen.«
Seit ihrer Kindheit hatte Dagny dieses Gefühl erhebender Fröhlichkeit nach einer Theatervorstellung nicht
mehr empfunden, die Gewißheit, daß es Dinge im Leben gab, die zu erstreben sich lohnte, und nicht das Gefühl,
in eine Kloake geschaut zu haben. Als das Publikum die erleuchteten Bankreihen verließ, um in der Dunkelheit
zu versickern, sah sie Ellis Wyatt, Richter Narragansett und Ken Danagger, Männer, die einst im Ruf gestanden
hatten, jede Form von Kunst zu verachten. Das letzte und eindrucksvollste Bild, das ihr dieser Abend bot, war
der Anblick zweier großer, aufrechter, schlanker Gestalten, die sich miteinander auf einem Pfad zwischen den
Felsen entfernten, während ein verirrter Lichtstrahl das Gold ihrer Haare aufglänzen ließ. Es waren Kay Ludlow
und Ragnar Danneskjöld, und sie fragte sich, ob sie es ertragen könnte, in eine Welt zurückzukehren, in der diese
beiden Menschen zum Untergang verurteilt waren. Sie fühlte sich jedesmal in ihre eigene Kindheit
zurückversetzt, wenn sie den beiden Söhnen der jungen Frau begegnete, der die Bäckerei gehörte. Sie sah sie oft
auf den Pfaden und Straßen des Tals, zwei furchtlose Knaben, sieben und vier Jahre alt. Sie schienen dem Leben
ins Auge zu schauen, wie sie selbst es getan hatte. Sie hatten nicht den Blick der Kinder der Welt draußen, den
Blick voll heimlicher Angst und Verachtung, den Blick kindlicher Abwehr gegen Erwachsene, den Blick eines
Wesens, das im Begriff ist zu entdecken, daß es Lügen hört, und lernt, Haß zu empfinden. Die beiden Jungen
zeigten die offene und freundliche Zutraulichkeit von Kätzchen, die nicht erwarten, daß jemand ihnen weh tun
könnte, sie hatten ein natürliches, unprahlerisches Bewußtsein ihres eigenen Wertes, das unschuldige Vertrauen,
daß jeder Fremde diesen Wert anerkennen mußte, und eine kühne Neugier, gepaart mit der Gewißheit, daß es
nichts im Leben gab, was der Entdeckung nicht wert oder verschlossen war; sie sahen aus, als würden sie jede
Böswilligkeit, der sie begegneten, geringschätzig zurückweisen, nicht weil sie gefährlich, sondern weil sie dumm
war; sie würden keine Bosheit in dumpfer Resignation als gegebenes Naturgesetz hinnehmen.
»Sie sind meine persönliche Lebensaufgabe, Miss Taggart«, sagte die junge Mutter zu ihr, während sie einen
Laib frisches Brot einwickelte und ihn Dagny lächelnd über die Theke reichte. »Sie sind der Inhalt meines
Berufes, den man trotz allem Geschwätz über die Mutterschaft in der Welt draußen nicht erfolgreich ausüben
kann. Ich glaube, Sie kennen meinen Mann; er ist der Professor der Volkswirtschaft, der jetzt als Klempner bei
Dick McNamara arbeitet. Sie wissen wahrscheinlich, daß es keinen kollektiven Beitritt zur Gemeinschaft des
Tales gibt, und daß Familien oder Verwandte nur mitgebracht werden können, wenn jede einzelne Person aus
eigener Überzeugung freiwillig den Eid auf unseren Streik leistet. Ich bin nicht nur meines Mannes wegen
hierher gekommen, sondern um meiner selbst willen. Ich kam, um meine Söhne zu Menschen erziehen zu
können. Ich wollte sie nicht einem Erziehungssystem ausliefern, das dazu erdacht worden ist, das Gehirn eines
Kindes verkümmern zu lassen, es davon zu überzeugen, daß die Vernunft ohnmächtig ist und sein Dasein ein
sinnloses Chaos, das das Kind nicht meistern kann. Damit versetzt man ein Kind nur in einen Zustand
chronischer Lebensangst. Sie wundern sich über den Unterschied zwischen meinen Kindern und den Kindern
draußen, Miss Taggart? Der Grund ist so einfach. Hier in Galt’s Gulch gibt es niemand, der es nicht als
ungeheuerlich betrachten würde, einem Kind auch nur im entferntesten einreden zu wollen, daß sein Leben
sinnlos ist, daß es überhaupt so etwas wie ein Sein ohne Sinn gibt.«
Sie dachte an die Lehrer, die der Welt draußen fehlten, als sie Dr. Akston und seine drei Schüler am Abend
ihrer alljährlichen Zusammenkunft vereint sah.
Der einzige Gast außer ihr selbst war Kay Ludlow. Man saß im Hinterhof von Dr. Akstons Haus. Das weiche
Licht der untergehenden Sonne spielte auf ihren Gesichtern, und tief unter ihnen, auf dem Grunde des Tales,
sammelte sich der blaue Nebel des Abends.
Nachdenklich betrachtete sie die drei schlanken Gestalten, die in Sportwesten und offenen Hemden,
entspannt, auf Gartenstühlen lehnten: John Galt, Francisco d’Anconia, Ragnar Danneskjöld.
»Schauen Sie nicht so erstaunt drein, Miss Taggart«, sagte Dr. Akston, »und begehen Sie nicht den Irrtum,
meine drei Schüler für eine Art von übermenschlichen Wesen zu halten. Sie sind etwas Größeres und
Erstaunlicheres als das, sie sind normale Menschen, etwas, das die Welt nie gesehen hat, und ihre einzige
Heldentat besteht darin, daß es ihnen gelungen ist, es zu bleiben. Es bedarf eines außergewöhnlichen Verstandes
und einer noch ungewöhnlicheren moralischen Sauberkeit, von den hirnzerstörenden Einflüssen
jahrhundertealter Anschauungen unberührt und menschlich zu bleiben; denn Mensch sein heißt vernünftig sein,
seinen Verstand gebrauchen.«
Sie spürte einen neuen Zug in Dr. Akstons Einstellung, einen Wechsel im Ernst seiner sonstigen
Zurückhaltung; er schien sie in seinen Kreis miteinzuschließen, als wäre sie mehr als nur ein Gast. Francisco
benahm sich, als wäre ihre Anwesenheit bei ihrem Zusammensein ebenso selbstverständlich wie erfreulich. Galts
Gesicht verriet keinerlei Reaktion. Er wahrte die Haltung des höflichen Begleiters, der sie auf Verlangen Dr.
Akstons mitgebracht hatte.
Sie bemerkte, daß Dr. Akstons Blick immer wieder zu ihr zurückkehrte, als wäre er stolz darauf, seine
früheren Schüler jemand vorzuführen, der ihre Vorzüge zu schätzen wußte. Und im Gespräch kam er immer
wieder auf das gleiche Thema zurück wie ein Vater, der sich freut, einen Zuhörer gefunden zu haben, der sich für
das interessiert, was seinem Herzen am nächsten ist.
»Sie hätten sie sehen müssen, als sie noch im College waren, Miss Taggart. Sie konnten keine drei jungen
Menschen finden, die eine unterschiedlichere Herkunft hatten, und dennoch fanden sie einander unter Tausenden
auf den ersten Blick: Francisco, der reichste Erbe der Erde, Ragnar, der europäische Aristokrat, und John, der
Selfmademan in jedem Sinne, mittellos, elternlos, bindungslos. Er war als Sohn eines Tankstellenwärters an
einer Straßenkreuzung in Ohio geboren worden, wo die Füchse einander gute Nacht sagten, und hatte sein
Elternhaus mit zwölf Jahren verlassen, um seine eigenen Wege zu gehen; doch auf mich hat er immer den
Eindruck gemacht, als wäre er in die Welt gekommen wie Minerva, die Göttin des Verstandes, die voll
erwachsen und bewaffnet Jupiters Haupt entsprang. Ich erinnere mich noch heute genau an den Tag, an dem ich
die drei zum ersten Mal bewußt sah. Sie saßen in der letzten Bank des Seminarraums, in dem ich eine
Sondervorlesung für fortgeschrittene Studenten hielt, eine Vorlesung, die so schwierig war, daß immer nur
wenige Außenseiter daran teilnahmen. Die drei sahen selbst für Anfangssemester zu jung aus; sie waren damals
kaum sechzehn, wie ich später erfuhr. Am Ende der Vorlesung stand John auf und stellte mir eine Frage. Es war
eine Frage, die ich mit Stolz von einem meiner Studenten nach sechs Jahren Philosophiestudium gehört hätte.
Sie betraf Platons Metaphysik und warf ein Problem auf, mit dem Platon sich nicht auseinander gesetzt hatte. Ich
antwortete John und forderte ihn auf, nach der Vorlesung in mein Büro zu kommen. Er kam, oder richtiger, sie
kamen alle drei. Denn ich sah die beiden anderen in meinem Vorzimmer und bat sie ebenfalls herein. Ich sprach
eine Stunde lang mit ihnen. Dann sagte ich alle meine Verabredungen ab, und wir unterhielten uns bis zum
Abend, mit dem Ergebnis, daß ich ihnen erlaubte, trotz ihres jugendlichen Alters an meiner Vorlesung
teilzunehmen. Sie bestanden die Prüfungen mit den besten Noten. Ihre Fachgebiete waren Physik und
Philosophie. Jedermann außer mir war erstaunt über ihre Wahl, denn moderne Denker betrachten es als
überflüssig, sich um die Realität zu kümmern, und moderne Physiker halten es für überflüssig zu denken. Ich
dachte anders, und ich wunderte mich darüber, daß die drei ebenso dachten wie ich. Robert Stadler war Dekan
der physikalischen Fakultät, ich der philosophischen. Wir hoben alle Regeln und Beschränkungen für diese drei
Studenten auf. Wir befreiten sie von allen unwesentlichen Routinekursen, stellten ihnen die schwierigsten
Aufgaben und machten es ihnen so möglich, das Studium unserer beiden Fächer innerhalb von vier Jahren zu
absolvieren. Das bedeutete harte Arbeit. Und während dieser vier Jahre arbeiteten sie außerdem, um ihren
Lebensunterhalt zu verdienen. Francisco und Ragnar erhielten Zuwendungen von ihren Eltern. John hatte
keinerlei Unterstützung. Doch alle drei nahmen in ihrer Freizeit Stellungen an, um Geld zu verdienen und
praktische Erfahrungen zu sammeln. Francisco arbeitete in einer Kupferhütte, John in einem Eisenbahnstellwerk
und Ragnar – nein, Miss Taggart, Ragnar war nicht der Unruhigste, sondern der Gewissenhafteste von den
dreien – arbeitete als Gehilfe in der Universitätsbibliothek. Sie hatten genügend Zeit für alles, was sie tun
wollten, doch nicht für das übliche Studentenleben mit Parties und den ganzen gemeinsamen Aktivitäten. Sie…
– Ragnar!« Er unterbrach sich plötzlich und rief Ragnar mit strenger Stimme zu: »Setz dich nicht auf den
Boden!«
Danneskjöld war von seinem Sessel geglitten und saß nun im Gras, den Kopf an Kay Ludlows Knie gelehnt.
Er erhob sich gehorsam und grinste lausbübisch. Dr. Akston lächelte, als wollte er sich entschuldigen.
»Eine alte Angewohnheit von mir«, erklärte er Dagny, »vermutlich ein bedingter Reflex. Ich habe ihn immer
so ermahnt, wenn ich ihn erwischte, daß er sich an kalten, nebeligen Abenden in meinem Garten auf den
Erdboden setzte, so wie eben; er war in diesen Dingen leichtsinnig und machte mir Kummer, denn er hätte
wissen müssen, wie gefährlich es war und…«
Er brach plötzlich ab, denn er las in Dagnys Augen den gleichen Gedanken, der ihm selbst gekommen war,
den Gedanken an die Gefahren, denen sich der erwachsene Ragnar aussetzte. Dr. Akston zuckte die Achseln und
spreizte die Hände in einer Geste hilfloser Selbstironie. Kay Ludlow lächelte ihm verständnisvoll zu.
»Mein Haus stand innerhalb des Universitätsgeländes«, fuhr er seufzend fort, »auf einer steilen Klippe über
dem Eriesee. Wir vier verbrachten manche Nacht zusammen. Wir saßen an warmen Abenden, so wie jetzt hier,
in meinem Garten, nur hatten wir anstelle dieser Bergwand aus Granit den See vor uns, der sich friedlich in die
verschwimmende Ferne ausdehnte. Ich mußte mich an diesen Abenden mehr anstrengen als in meinen
schwierigsten Vorlesungen, um alle Fragen zu beantworten, die sie mir stellten, und die Probleme zu diskutieren,
die sie aufwarfen. Um Mitternacht bereitete ich ihnen eine heiße Schokolade und zwang sie zu trinken, denn ich
hatte sie immer im Verdacht, daß sie nicht ordentlich aßen, und dann sprachen wir weiter, während der See in
der Dunkelheit versank und der Himmel heller zu werden schien als die Erde. Einige Male blieben sie so lange,
bis ich plötzlich bemerkte, daß der Himmel dunkler wurde und der See wieder auftauchte und wir die Nacht
durchgeredet hatten. Es war nicht recht von mir. Ich wußte, daß sie nicht genug Schlaf hatten, doch ich vergaß es
manchmal, verlor selbst den Sinn für die Zeit. Wenn sie bei mir waren, hatte ich immer das Gefühl, es sei früh
am Morgen und ein unerschöpflicher Tag läge vor uns. Sie sprachen nie von dem, was sie später einmal tun
wollten, sie wünschten sich nie, daß eine geheimnisvolle Allmacht sie mit unergründlichen Fähigkeiten
beschenkte, mit denen sie ihre Pläne ausführen könnten. Sie sprachen nur von dem, was sie wirklich tun würden.
Kann Zuneigung feige machen? Ich weiß nur, daß ich einige Male Furcht empfand um sie, während ich ihnen
zuhörte und daran dachte, wohin die Welt trieb und was ihnen in der Zukunft bevorstand. Doch es war nicht nur
Furcht, es war mehr, es war Wut, jene unbestimmte Art von Wut, die den Menschen fähig macht zu morden, und
diese Wut packte mich, wenn ich daran dachte, daß die Weit darauf hinarbeitete, diese Kinder zu vernichten. Oh,
ich hätte morden können. Doch wen hätte ich morden sollen? Alle oder keinen! Es gab keinen einzelnen Gegner,
keinen Schurken, der sich offen stellte; der Feind war nicht der erbärmliche Schmarotzer, der sich für unfähig
erklärte, sein Brot selbst zu verdienen, und nicht der willfährige Bürokrat, der sich vor seinem eigenen Schatten
fürchtete. Der Feind war die ganze Welt, die in den Abgrund der Sinnlosigkeit rollte, gestoßen von all jenen, die
sich für ehrbar hielten, weil sie glaubten, Bedürfnis sei heiliger als Tüchtigkeit und Mitleid heiliger als
Gerechtigkeit. Doch diese Schwäche überfiel mich nur in seltenen Augenblicken. Mein Glaube blieb im Grunde
unerschüttert. Ich hörte meinen Jungen zu und wußte, daß nichts sie besiegen konnte. Ich sah sie an, während sie
bei mir in meinem Garten saßen, und sah zugleich hinter meinem Hause die hohen dunklen Gebäude der Patrick-
Henry-Universität, einer der letzten Burgen des noch unversklavten Gedankens, und in der Ferne die Lichter von
Cleveland, die orangefarbene Glut der Hochöfen hinter den Batterien der Schornsteine, die blinkenden roten
Punkte der Funktürme, die langen weißen Lichtarme über den Flugplätzen am schwarzen Rand des Himmels.
Und ich wußte, daß diese Burschen im Namen der menschlichen Größe siegen würden, wenn es diese Größe je
gegeben hatte und sie dazu bestimmt gewesen war, die Welt zu bewegen. Und sie waren für mich die letzten
Nachfahren dieser Größe… Ich erinnere mich noch an eine Nacht, in der mir auffiel, daß John längere Zeit
hindurch geschwiegen hatte; ich sah näher hin und entdeckte, daß er auf der Erde eingeschlafen war. Die beiden
anderen gestanden mir, daß er seit drei Tagen nicht geschlafen hatte. Ich schickte die beiden sofort nach Hause,
brachte es aber nicht übers Herz, John zu wecken. Ich holte eine Decke, deckte ihn damit zu und ließ ihn
weiterschlafen, wo er lag. Bis zum Morgen saß ich neben ihm, und während ich im Licht der Sterne sein Gesicht
betrachtete und der erste Sonnenstrahl auf seine friedlich geschlossenen Augenlider fiel, betete ich nicht, denn
ich bete nie, sondern war in einem Zustand, in dem ein Gebet nur ein irregeleiteter Versuch sein kann; in jenem
Zustand voller, bewußter Bejahung meiner Liebe zum Recht und der Gewißheit, daß das Recht siegen und dieser
junge Mann jene Zukunft haben würde, die er verdiente.«
Er hob den Arm und zeigte ins Tal hinunter. »Ich erwartete damals nicht, daß diese Zukunft so groß sein
würde – und so schwierig zu erringen.«
Es war nun dunkel, und Himmel und Berge waren eins geworden. Darunter hingen die Lichter des Tales lose
im Raum, darüber schwebte der rote Atem von Stocktons Gießerei, und die leuchtende Kette der Fenster von
Mulligans Haus sah aus wie ein nächtlicher Personenzug auf einem unsichtbaren Bahnsteig.
»Ich hatte einen Nebenbuhler«, fuhr Dr. Akston leise fort. »Es war Robert Stadler. – Runzle nicht die Stirn,
John, es ist vorüber. – John liebte ihn einst. Nun, das tat ich auch, oder richtiger gesagt, ich empfand für ihn
jenes seltene Gefühl, das man für einen Geist wie Stadler empfindet und das der Liebe schmerzlich nahe kommt:
nämlich Bewunderung. Nein, ich liebte ihn nicht, doch er und ich fühlten uns stets als zukünftige Überlebende
eines Landes, das im Begriff war, in einem Sumpf der Mittelmäßigkeit zu versinken. Die Todsünde Robert
Stadlers bestand darin, daß er nie seine geistige Heimat erkannte. Er haßte die Dummheit. Dieser Haß war das
einzige Gefühl, das ich ihn Menschen gegenüber zeigen sah… ein beißender, bitterer, müder Haß gegen alle
Unfähigkeit, die sich ihm entgegenstellte. Er wollte seinen eigenen Weg gehen, wollte ihn allein gehen und war
entschlossen, alles beiseite zu schieben, was ihn störte; er überprüfte nie die Richtigkeit seines Weges, die
Rechtmäßigkeit seiner Waffen oder die Argumente seiner Gegner. Er lief in die Irre. – Sie lächeln, Miss Taggart.
Sie hassen ihn. Sie wissen, wohin ihn sein Irrtum geführt hat. – Er sagte Ihnen, wir hätten als Rivalen um die drei
Freunde gekämpft. Das war seine Auffassung. Ich selbst habe nie so gedacht, wußte aber, daß er es tat.
Immerhin, wenn wir Rivalen waren, dann hatte ich ihm etwas voraus: Ich wußte, warum unsere drei
Lieblingsschüler beide Fächer, seines und meines, Physik und Philosophie, studieren mu ßten, um das zu
erreichen, was ihnen vorschwebte; er jedoch verstand nie ihr Interesse an meinem Fach, an der Philosophie. Er
verstand auch nie die Bedeutung der Philosophie für ihn selbst, und das war sein Unglück. Da technische
Intelligenz das einzige wa r, woran er glaubte, klammerte er sich an die drei jungen Männer wie an einen privaten
Schatz. Er war immer ein einsamer Mensch gewesen, und ich glaube, in seinem ganzen Leben waren Francisco,
Ragnar und John die einzigen Wesen, die er geliebt hat. John betrachtete er als seinen persönlichen Erben, als
seine Zukunft, seine Unsterblichkeit. John wollte Erfinder werden, was bedeutete, daß Physik sein offizielles
Hauptfach war und er seine letzten Prüfungen unter Robert Stadler ablegen würde. Francisco beabsichtigte, nach
dem ersten Examen von der Universität abzugehen und praktisch zu arbeiten; in ihm sollte sich unser beider
Erbe, das seiner geistigen Väter, am vollkommensten vereinen, er wollte Industrieller werden. Und Ragnar…
Nun, Miss Taggart, ich nehme an, Sie wissen nicht, welchen Beruf Ragnar gewählt hatte. Nein, er wollte nicht
Flugakrobat oder Großwildjäger oder Tiefseeforscher werden, sondern etwas viel Kühneres, nämlich Philosoph.
Ja, Ragnar wollte ein abstrakter, theoretischer, akademischer, weltfremder Elfenbeinturm-Philosoph werden! –
Robert Stadler liebte die drei, und ich war bereit zu töten, um sie zu beschützen. Und wenn Töten jemals eine
Lösung sein könnte, dann hätte ich Robert Stadler töten müssen. Jeder einzelne Mensch trägt die Schuld an dem
Übel, das jetzt die Welt zerstört. Aber seine Schuld ist die größte. Er hatte den Verstand, die Gefahr zu erkennen.
Statt dessen gab er seinen Namen, seine Ehre und seine Autorität her, die Herrschaft der Plünderer zu
sanktionieren. Er hat die Wissenschaft der Gewalt und den Gewehren der Plünderer ausgeliefert. John hatte das
Ungeheuerliche nicht erwartet, nicht geahnt. Auch ich nicht. John kam zur Universität zurück, um seinen
Abschlußkursus in Physik zu beenden. Er hat ihn nicht beendet. Er verließ die Universität am gleichen Tage, an
dem Robert Stadler die Errichtung des State Science Institute guthieß. Ich traf Stadler zufällig in einem Korridor
der Universität, als er nach seiner letzten Unterredung mit John aus seinem Büro kam. Er sah vollkommen
verändert aus. Ich hoffe, nie wieder eine solche Veränderung im Gesicht eines Menschen zu erleben. Er sah mich
herankommen. Er wußte nicht, aber ich wußte, was ihn zwang, auf mich zuzustürzen und auszurufen: ‘Ich bin
endgültig fertig mit euch, ihr weltfremden Idealisten!’ Ich wandte mich ab. Ich hatte gehört, wie ein Mann sein
eigenes Todesurteil aussprach. Miss Taggart, erinnern Sie sich noch der Worte, mit denen Sie mich nach meinen
drei Schülern fragten?«
»Ja«, antwortete Dagny leise.
»Aus Ihrer Frage konnte ich erkennen, was Robert Stadler Ihnen über sie gesagt hatte. Sagen Sie mir noch
eines: Warum hat er überhaupt von ihnen gesprochen?«
Er bemerkte den Anflug eines bitteren Lächelns um ihren Mund, als sie erwiderte: »Er erzählte mir ihre
Geschichte als Rechtfertigung seines Glaubens an die Ohnmacht der menschlichen Vernunft. Er stellte sie mir
als Beweise und Beispiele seiner enttäuschten Hoffnungen dar. ‘Sie besaßen die Fähigkeiten’, sagte er, ‘von
denen man hätte erwarten können, daß sie einst den Lauf der Welt ändern würden.’«
»Nun, haben sie es nicht getan?«
Sie nickte und hielt den Kopf längere Zeit hindurch gesenkt, als wollte sie betont zustimmen.
»Ich wünsche vor allem, Miss Taggart, daß Sie den Irrtum und die volle Schuld derjenigen erkennen, die
behaupten, daß diese Erde ihrer Bestimmung und ihrer Natur nach ein Reich des Bösen ist, in dem das Gute
keine Chance hat, sich durchzusetzen. Diese Menschen bekennen sich zur absoluten Macht des Bösen, ohne
vorher geprüft zu haben, was das Gute ist und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit es verwirklicht
wird. Robert Stadler selbst glaubt jetzt, daß die Vernunft letzten Endes ohnmächtig, Denken sinnlos, und somit
alles menschliche Leben irrationalen, dem Verstand unzugänglichen Gesetzen unterworfen ist. Hat er erwartet,
daß John Galt ein großer Naturwissenschaftler würde, der bereit wäre, unter dem Befehl eines Dr. Floyd Ferris
zu arbeiten? Hat er erwartet, daß Francisco ein großer Unternehmer würde, der bereit wäre, unter dem Befehl
und für den Profit eines Wesley Mouch zu produzieren? Hat er erwartet, daß Ragnar Danneskjöld ein großer
Philosoph würde, bereit, unter dem Befehl eines Dr. Simon Pritchett zu predigen, daß es keinen Verstand gibt
und daß Macht Recht ist? Hätte Robert Stadler eine solche Zukunft als vernünftig angesehen? Sie sollen
erkennen, Miss Taggart, daß gerade die Leute, die am lautesten über ihre Enttäuschungen und über das Versagen
der Tugend, die Ohnmacht der Vernunft und die Unlogik aller Logik jammern, daß gerade sie den vollen,
genauen und logischen Beweis für die Gültigkeit dessen erbracht haben, was sie predigen, und zwar einen so
unerbittlich logischen Beweis, daß sie selbst es nicht wagen, ihn zu erkennen, geschweige denn anzuerkennen. In
einer Welt, die den Bankrott der Vernunft proklamiert, die Herrschaft der brutalen Gewalt moralisch gutheißt
und die Benachteiligung der Tüchtigen zugunsten der Versager fordert, in einer solchen Welt müssen sich die
Besten gegen die Gesellschaft wenden und ihre grimmigsten Feinde werden. In einer solchen Welt muß John
Galt, der Mann höchster Geistesgaben und größter Tatkraft, ein ungelernter Arbeiter bleiben, Francisco
d’Anconia, der Großindustrielle, zum Verschwender werden und Ragnar Danneskjöld, der Mann der Logik, ein
Mann der Gewalt. Die Gesellschaft und Dr. Stadler haben alles erreicht, wofür sie eingetreten sind. Worüber
haben sie sich jetzt noch zu beklagen? Darüber, daß das Universum ohne Vernunft ist? Ist es das wirklich?«
Er lächelte. Sein Lächeln zeigte die rückhaltlose Sanftmut der Sicherheit. »Jeder Mensch baut sich seine Welt
nach seinem eigenen Bild«, fuhr er fort. »Er hat die Macht zu wählen, doch nicht die Möglichkeit, sich der Wahl
zu entziehen. Wenn er seine Macht aufgibt, gibt er seine Menschlichkeit auf, und sein Leben und die Welt, in der
er lebt, werden durch seine Schuld zum sinnlosen Chaos, wer sich aber auch nur einen einzigen eigenen
Gedanken unverdorben durch Zugeständnisse an den Willen anderer erhält, wer auch nur ein kleines Stück
Garten nach dem Bild seines Ge dankens gestaltet, der ist ein Mensch. Aber auch er wird danach gemessen, was
er geschaffen hat. Sie« – er zeigte auf seine Schüler – »machten keine Zugeständnisse, und dies« – er zeigte auf
das Tal – »ist das Maß ihrer Menschlichkeit. Jetzt kann ich meine Antwort auf die Frage, die Sie mir damals
stellten, wiederholen, weil ich weiß, daß Sie sie jetzt verstehen werden. Sie fragten mich, ob ich auf die
Entwicklung meiner Schüler stolz war. Ich bin stolz auf jede ihrer Taten heute und in der Zukunft. Ich bin stolz
auf den Weg und die Werte, die sie gewählt haben. Und dies, Dagny, ist meine Antwort.«
Er hatte ihren Vornamen wie ein Vater ausgesprochen, und während der beiden letzten Sätze hatte er nicht sie,
sondern Galt angeschaut. Sie sah, daß Galt ihm durch einen offenen, langen Blick der Zustimmung antwortete.
Dann suchten Galts Augen ihre, und Dagny las in seinem Blick das Wort, das unausgesprochen in dem
Schweigen zwischen ihnen hing, das Dr. Akston ihr zugedacht, aber nicht laut gesagt und das keiner der anderen
erfaßt hatte; und sie sah in Galts Augen einen Schimmer der Belustigung über ihre Verblüffung, der Zustimmung
und – der Zärtlichkeit.

d’Anconia Copper Nr. 1 war eine schmale Spalte in der Flanke des Berges, so, als hätte ihn ein riesiges
Messer senkrecht eingeschnitten und eine blutrote Wunde in dem rötlichbraunen Felsen zurückgelassen. Die
Sonne brannte heiß auf das klaffende Gestein. Dagny stand am Rande eines Hangpfades und stützte sich mit
einer Hand auf Galts Arm und mit der anderen auf den Franciscos. Der Wind blies gegen ihre Gesichter und über
das Tal hinweg, das mehr als tausend Meter tief unter ihnen lag.
Dies, dachte sie, während sie den Blick über das Bergwerk schweifen ließ, dies ist die Urgeschichte von der
Schaffung menschlichen Reichtums. Einige vereinzelte Kiefern hingen, gekrümmt von der Gewalt der Stürme,
über dem Einschnitt. Nur sechs Männer arbeiteten auf der freigelegten Stufe. Eine unübersichtliche Anordnung
von komplizierten Maschinen hob sich in verwirrenden Konturen gegen die Wildnis des Berges und die
Unschuld des Himmels ab. Es waren die Maschinen, die den Löwenanteil der Arbeit leisteten.
Sie bemerkte, daß Francisco sein Reich Galt mit dem gleichen Stolz zeigte wie ihr, vielleicht sogar mit
größerem Eifer. »Du hast die Grube seit dem letzten Jahr nicht gesehen, John. Warte nur ab, wie sie nächstes
Jahr aussehen wird. In wenigen Monaten bin ich draußen fertig. Und dann wird dies hier meine einzige Aufgabe
sein.«
»Um Gottes willen, nein, John!« rief er lachend aus, als Galt ihm eine Frage stellte, die sie überhört hatte;
doch sie verstand plötzlich den seltsamen Ausdruck, der jedesmal in seine Augen trat, wenn er Galt ansah. Es
war der gleiche Ausdruck, den sie in seinem Gesicht beobachtet hatte, als er in ihrem Zimmer vor ihr gestanden
und sich mit dem Blick an die Kante des Tisches geklammert hatte, um einen unerträglichen Gedanken zu
ertragen. Er hatte vor sich hingestarrt, als sähe er jemand vor sich. Dieser Jemand war Galt gewesen. Es war
Galts Bild gewesen, das ihm geholfen hatte, durchzuhalten.
Unbestimmte Angst stieg in ihr auf. Die übermenschliche Anstrengung, die Francisco sich in jenem
Augenblick abgerungen hatte, um ihren Verlust an seinen Nebenbuhler als Opfer in seinem größeren Kampf
hinzunehmen, hatte ihn so viel an Willen und Kraft gekostet, daß er jetzt unfähig war, die Wahrheit zu ahnen, die
Dr. Akston halb ausgesprochen hatte. Was wird diese Wahrheit für ihn bedeuten und ihm antun, wenn er sie
erfährt? fragte sie sich und hörte eine bittere Stimme in ihrem Inneren antworten, daß es eine solche Wahrheit
vielleicht überhaupt nicht gab. Und eine andere unbestimmte Angst stieg in ihr auf, als sie den Blick sah, mit
dem Galt Francisco betrachtete. Es war ein offener, freier, vorbehaltloser Blick der Hingabe an ein
vorbehaltloses Gefühl. Und ihre Angst gewann Gestalt in der Frage, die sie bisher nicht gewagt hatte, sich zu
stellen, die Frage, ob dieses Gefühl ihn dazu verleiten könnte, die Häßlichkeit eines Verzichts auf sich zu
nehmen.
Doch alle Angst hinwegschwemmend, begann ein Gedanke von ihr Besitz zu ergreifen, und ihr war, als müßte
sie laut über ihre Schwäche auflachen. Ihre Augen waren unbewußt den Weg zurückgewandert, auf dem sie den
Hang erstiegen hatten. Immer wieder hatte ihr Blick die zwei Meilen des beschwerlichen Bergpfades abgetastet,
der sich in engen Windungen wie ein Korkenzieher von der Sohle des Tales bis unter ihre Füße hinaufzog, und
ihr Verstand hatte angefangen, das Gesehene auf eigene Faust zu verarbeiten. Gebüsch, Kiefern und ein Teppich
von Moos bedeckten die unteren Hänge, die zwischen den grünen Wiesen des Talbodens und dem Felsmassiv
anstiegen. Die Kiefern wurden immer spärlicher, bis sie nur noch als einzelne dunkle Punkte auf dem Felsen
erschienen und sich schließlich im Schnee der Gipfel ganz verloren. Noch einmal umfaßte Dagnys Blick die
modernste und genialste Förderanlage, die sie je gesehen hatte, noch einmal verfolgte ihr Auge den Lauf des
Pfades, auf dem die kletternden Hufe und schwankenden Rücken von Mauleseln auf die altertümlichste Weise
den Transport von und nach dem Bergwerk besorgten.
»Francisco«, fragte sie und deutete auf die Förderanlage, »wer hat die Maschinen entworfen?«
»Sie sind nur Abwandlungen einer normalen Bergwerkseinrichtung.«
»Wer hat sie entworfen?«
»Ich. Wir hatten nicht viele Arbeitskräfte zur Verfügung und mußten das ausgleichen.«
»Ihr verschwendet Arbeitskraft und Zeit, wenn ihr das Erz mit Maultieren ins Tal schafft. Ihr solltet eine Bahn
bauen.«
Sie blickte auf den Pfad hinunter und bemerkte weder das Aufleuchten in seinen Augen noch den
erwartungsvollen Ton seiner Stimme, als er antwortete: »Ich weiß das; doch es wäre eine so schwierige Aufgabe,
daß die augenblickliche Fördermenge sie nicht rechtfertigen würde.«
»Unsinn! Es ist viel einfacher, als es aussieht. Im östlichen Teil des Hanges ist die Steigung gleichmäßiger
und der Stein weicher, wie ich auf unserem Weg hierher festgestellt habe. Dort wären nicht übermäßig viele
Kurven nötig. Drei oder vier Meilen Gleise oder noch weniger würden genügen.«
Sie zeigte nach Osten und bemerkte nicht die angespannte Aufmerksamkeit, mit der die beiden Männer ihr
Gesicht beobachteten.
»Ihr braucht bloß eine Schmalspurstrecke, wie die ersten Eisenbahnen sie hatten. Die ersten Eisenbahnen
wurden für Bergwerke gebaut… für Kohlenbergwerke natürlich. Siehst du diesen Grat dort? Auf ihm ist Platz
genug für ein Schmalspurgleis, ohne daß du sprengen oder verbreitern mußt. Siehst du den sanften Anstieg von
etwa einer halben Meile Länge? Er hat nicht mehr als vier Prozent Steigung, und jede Lokomotive kann ihn
schaffen.« Sie sprach schnell, klar und sicher, empfand nur die Freude, sich in ihrem Element zu bewegen, eine
ihr gemäße Funktion in ihrer Welt zu erfüllen, in der es keine schönere und wichtigere Aufgabe gab, als für jedes
Problem, das sich stellte, die beste Lösung zu finden. »Die Strecke wird sich in drei Jahren bezahlt machen. Das
Teuerste an ihr werden nach meiner rohen Schätzung einige Stahlträger sein. Und an einer Stelle werde ich
vielleicht einen Tunnel sprengen müssen, doch von höchstens zwanzig Meter Länge. Ich werde allerdings eine
Trägerbrücke brauchen, um die Strecke über die Schlucht zu führen. Doch das sieht schwieriger aus, als es ist.
Ich will es dir zeigen. Hast du ein Stück Papier?«
Sie bemerkte nicht, mit welcher Hast Galt einen Notizblock und einen Bleistift zum Vorschein brachte und ihr
hinreichte, und sie griff nach ihnen, als hätte sie erwartet, daß sie bereit waren, als träfe sie Anordnungen auf
einem wirklichen Bauplatz, wo solche Kleinigkeiten sie nicht aufhalten durften.
»Hier: Eine rohe Skizze, wie ich die Lösung sehe. Ich treibe diagonale Pfeiler in den Felsen« – sie warf
andeutende Striche auf das Papier – »der eigentliche Stahlspannbogen brauchte bloß dreißig Meter lang zu
sein… ich würde mit dieser Brücke die letzte halbe Meile der Serpentine abschneiden. Die ganze Strecke könnte
ich in drei Monaten bauen und…«
Sie unterbrach sich, sah den beiden Männern in die Augen, und das Feuer in ihren Augen erlosch. Sie
zerknüllte ihre Zeichnung und warf sie in den roten Staub des Pfades. »Ach, wozu?« rief sie aus, und zum ersten
Mal brach die Verzweiflung in ihrer Stimme durch. »Drei Meilen Schmalspurbahn bauen und ein
transkontinentales Netz aufgeben!«
Die beiden Männer sahen sie stumm an, und sie las keinen Vorwurf in ihrem Blick, nur schweigendes
Verständnis, das fast Mitleid war.
»Verzeihung«, murmelte sie und senkte die Augen.
»Wenn du dich für uns entscheidest«, sagte Francisco, »stelle ich dich auf der Stelle an – oder Midas gibt dir
innerhalb von fünf Minuten einen Kredit, damit du die Bahn selbst finanzieren kannst, wenn du sie selbst
besitzen willst.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht«, antwortete sie leise, »noch nicht…« Sie hob den Blick. Sie wußte,
daß die beiden Männer den Grund ihrer Verzweiflung kannten und daß es zwecklos war, ihren inneren Kampf zu
verbergen. »Ich habe es einmal versucht«, sagte sie. »Ich habe versucht, Taggart Transcontinental aufzugeben.
Ich weiß, was es für mich bedeuten würde: Ich würde bei jeder Schwelle, die ich hier lege, bei jedem
Hammerschlag, den ich hier höre, an das Taggart-Netz denken. Ich würde an den Taggart-Tunnel denken – und
an die Nat-Taggart-Brücke. Ja, wenn ich nie mehr irgend etwas von draußen erführe! Wenn ich hier bleiben
könnte und nie hören müßte, was sie mit meiner Eisenbahn machen!«
»Sie werden es hören müssen«, sagte Galt. Seine Stimme klang unerbittlich in ihrer Sachlichkeit, die frei war
von jedem Gefühl, außer vielleicht der Achtung vor Tatsachen. »Sie werden den ganzen Verlauf des
Todeskampfes von Taggart Transcontinental miterleben. Sie werden von jedem Zusammenstoß hören, von
jedem liegengebliebenen Zug, von jeder aufgegebenen Linie, vom Einsturz der Nat-Taggart-Brücke. Niemand
kann in diesem Tal bleiben, der seine Entscheidung nicht in vollem Bewußtsein ihrer Bedeutung und aller
Konsequenzen trifft. Niemand kann hier bleiben, der die Wirklichkeit irgendwie verfälscht.«
Sie sah ihn mit verwundert erhobenem Kopf an, denn sie begriff, daß er mit seinen Worten wissentlich eine
Chance ausschlug. Sie dachte daran, daß kein Mann der Welt draußen in diesem Augenblick so zu ihr
gesprochen hätte; dachte an die Moral der Welt, die aus der Notlüge eine Tugend machte und sie eine fromme
Lüge nannte; empfand jähen Ekel vor dieser Moral, deren ganze Niedrigkeit ihr zum ersten Mal voll zum
Bewußtsein kam, während sie das klare, offene, saubere, stolze Gesicht des Mannes, der vor ihr stand, in
geheimer Bewunderung betrachtete. Und John Galt sah die Linien ihres Mundes sich in angestrengter, zitternder
Selbstbeherrschung straffen, während sie leise sagte: »Ich danke Ihnen. Sie haben recht.«
»Sie brauchen mir nicht jetzt zu antworten«, erwiderte er. »Sie haben noch eine Woche Zeit, ehe Sie sich
entscheiden müssen.«
»Ja«, sagte sie leise, »noch genau eine Woche.«
Er wandte sich ab, hob ihre zerknüllte Zeichnung auf, glättete sie, faltete sie und steckte sie in die Tasche.
»Dagny«, sagte Francisco, »wenn du dich entscheidest, denke auch daran, wie es war, als du das erste Mal
aufgeben wolltest. Aber denke alles bis zum Ende durch. In diesem Tal wird dir die Folter erspart bleiben,
Strecken bauen zu müssen, die ins Leere führen.«
»Sag mir«, fragte sie ihn unvermittelt, »wie hast du herausgefunden, wo ich damals war?«
Er lächelte. »John sagte es mir. ‘Der Zerstörer’, erinnerst du dich? Du wundertest dich, warum der Zerstörer
niemand zu dir geschickt hatte. Doch er hatte es getan. Er hatte mich geschickt.«
»Er hatte dich geschickt?«
»Ja.«
»Was sagte er zu dir?«
»Nicht viel. Warum?«
»Was sagte er? Erinnerst du dich noch an seine Worte?«
»Ja, ich erinnere mich noch. Er sagte: ‘Wenn du eine Chance willst, dann nimm sie dir. Du hast sie verdient.’
Ich erinnere mich, weil…« Er wandte sich in plötzlichem Einfall, wie in nachträglicher Beunruhigung, an Galt.
»John, ich habe nie ganz verstanden, warum du das zu mir gesagt hast. Was meintest du mit meiner Chance?«
»Hast du etwas dagegen, wenn ich dir hierauf jetzt nicht antworte?«
»Nein, aber…«
Einer der Männer bei den Maschinen winkte Francisco, und er entfernte sich rasch, als wäre das Thema nicht
wert, weiter erörtert zu werden. Sie war sich bewußt, wie lange sie zögerte, Galt anzusehen. Sie spürte, daß er sie
dauernd betrachtete. Und dann konnte sie in seinen Augen nichts lesen, außer einem Schimmer von lächelnder
Überlegenheit, als ob er wüßte, welche Antwort sie suchte.
»Sie gaben ihm die Chance, die Sie sich selber wünschten?«
»Ich durfte keine Chance haben, solange er seine letzte nicht versucht hatte.«
»Woher wußten Sie, daß er sie verdient hatte?«
»Ich habe ihn zehn Jahre lang über Sie ausgefragt, jedesmal, wenn es möglich war, und auf jede Weise. Nein,
er hat es mir nicht gesagt. Ich entnahm es aus der Art, wie er über Sie sprach. Er wollte nicht sprechen, doch er
sprach nur zu eifrig – eifrig und widerstrebend zugleich. Und dann wußte ich, daß nicht nur eine
Kinderfreundschaft zwischen Ihnen gewesen war. Ich erkannte, wieviel er für unseren Streik aufgegeben hatte,
und wie verzweifelt er bemüht war, nicht alles für immer aufzugeben. Ich? Ich habe ihn nur über einen unserer
wichtigsten zukünftigen Bundesgenossen befragt, so wie ich ihn über viele andere befragte.«
Das Lächeln der Überlegenheit blieb in seinen Augen. Er wußte, daß er gesagt hatte, was sie zu hören
wünschte, doch daß es nicht die Antwort gewesen war auf die Frage, die sie fürchtete.
Sie wandte ihren Blick Francisco zu, der sich wieder näherte, und sie verbarg nicht länger vor sich selbst, daß
ihre plötzliche, verzweifelte Angst dem Gedanken entsprungen war, Galt könnte sie alle drei dem Moloch der
Selbstaufopferung vorwerfen.
Francisco war herangekommen und sah sie gedankenvoll an, als überlegte er eine Frage, die Funken der
Vorfreude in seinen Augen glitzern ließ.
»Dagny, du hast nur noch eine Woche Bedenkzeit«, sagte er. »Wenn du dich entscheidest zurückzugehen,
dann wird es die letzte sein, für lange Zeit.« Es war kein Vorwurf und kein Bedauern in seiner Stimme, nur eine
verhaltene Zärtlichkeit als einziges Zeichen seiner inneren Bewegung. »Wenn du jetzt gehst, gewiß, dann wirst
du dennoch wiederkommen, doch es wird nicht bald sein. Und da ich in wenigen Monaten zurückkomme, um für
immer zu bleiben, werde ich dich, wenn du gehst, vielleicht jahrelang nicht wiedersehen. Ich möchte, daß du
diese letzte Woche bei mir verbringst. Ich möchte, daß du in mein Haus ziehst. Als mein Gast, weiter nichts.«
Er sagte es offen und schlicht, als ob zwischen ihnen dreien nichts zu verheimlichen wäre und nichts
verheimlicht werden könnte. Sie sah kein Zeichen des Erstaunens in Galts Gesicht. Sie spürte, daß sich in ihrer
Brust plötzlich etwas zusammenzog und verhärtete, ein Gefühl rücksichtsloser, fast bösartiger Entschlossenheit,
das sie dunkel drängte, sofort und blind zu handeln.
»Ich bin aber nicht frei«, erwiderte sie mit einem rätselhaften Lächeln und sah Galt an. »Ich habe eine
Stellung angenommen und mich bis zum Ende des Monats verpflichtet.«
»Ich würde Sie nicht halten«, sagte Galt, und sie war wütend über den Ton seiner Stimme, der ihr keine
verborgene Bedeutung verriet und nur ihre Worte beantwortete. »Sie können Ihre Stellung aufgeben, wann
immer Sie wollen. Das liegt bei Ihnen.«
»Nein, keineswegs. Ich bin hier eine Gefangene. Erinnern Sie sich nicht? Ich muß Befehle befolgen. Ich darf
keine Vorteile fordern, keine Wünsche äußern und keine Entscheidungen treffen. Ich will, daß Sie entscheiden.«
»Wollen Sie das wirklich?«
»Ja.«
»Sie haben einen Wunsch ausgesprochen.«
Der Spott seiner Stimme lag in deren Ernst; ohne zu lächeln und trotzig, als wollte sie ihm vorwerfen, daß
sein Nichtverstehen geheuchelt war, rief sie ihm zu: »Nun gut. Dann wünsche ich es eben.«
Er lächelte wie über das naive Versteckspiel eines Kindes, das er längst durchschaut hatte. »Schön.« Aber er
lächelte nicht, als er sich an Francisco wandte und sagte: »Also – nein.«
Francisco hatte in ihrem Gesicht nur die Herausforderung eines Gegners lesen können, der zugleich der
strengste Lehrer war. Er zuckte die Achseln bedauernd, aber nicht mißmutig. »Wahrscheinlich hast du recht.
Wenn du sie nicht davon abhalten kannst zurückzugehen, kann es niemand.«
Sie hörte Franciscos Worte nicht. Sie war betäubt von dem übermächtigen Gefühl der Erleichterung, das sie
beim Klang von Galts Antwort überfallen hatte, einer Erleichterung, die ihr zeigte, wie groß die Angst gewesen
war, von der Galt sie befreit hatte. Jetzt erst, als es vorüber war, wußte sie, was von seiner Entscheidung für sie
abgehangen hatte, wußte, daß eine andere Antwort das Tal in ihren Augen zerstört hätte. Sie spürte das
Verlangen zu lachen, sie beide zu umarmen und mit ihnen zu lachen. Es schien gleichgültig zu sein, ob sie hier
bleiben oder in die Welt zurückkehren würde, eine Woche war eine endlose Spanne Zeit, jede Möglichkeit war
von unvergänglichem Sonnenlicht überflutet, und kein Kampf war zu schwer, dachte sie, wenn dies die
Wirklichkeit des Lebens war. Die Erleichterung entsprang nicht dem Wissen, daß Galt nicht auf sie verzichten
wollte, nicht einer Hoffnung, daß sie siegen würde. Ihre Befreiung entsprang der Gewißheit, daß er immer
bleiben würde, was er war.
»Ich weiß nicht, ob ich in die Welt zurückkehren werde oder nicht«, sagte sie gelassen, doch ihre Stimme
zitterte vor beherrschter Freude. »Es tut mir leid, daß ich immer noch nicht in der Lage bin, eine Entscheidung zu
treffen. Nur eines weiß ich ganz genau, daß ich keine Angst haben würde, mich zu entscheiden.«
Francisco nahm das plötzliche Leuchten ihres Gesichts als einen Beweis dafür, daß der Zwischenfall ohne
Bedeutung war. Doch Galt verstand; er sah sie mit einem Blick an, in dem sich Belustigung mit Tadel mischte.
Er sprach erst, als sie allein waren und den Pfad ins Tal hinuntergingen. Dann sah er sie wieder an, jetzt mehr
spöttisch als vorwurfsvoll, und sagte: »Mußten Sie mich wirklich erst auf die Probe stellen, um zu wissen, ob ich
auf die niederste Stufe des Altruismus sinken könnte?«
Sie antwortete nicht, sah ihn jedoch in offenem, wehrlosem Eingeständnis an. Er lächelte vor sich hin, und
einige Schritte weiter sprach er langsam, im Tonfall eines Zitats: »Niemand kann hier bleiben, der die
Wirklichkeit irgendwie verfälscht.«
Während sie schweigend an seiner Seite ging, dachte sie, daß einer der Gründe für die beglückende Befreiung,
die sie empfand, die Wirkung eines Kontrastes war; sie hatte mit der plötzlichen und unmittelbaren Lebendigkeit
sinnlicher Wahrnehmung ein genaues Bild dessen gesehen, was geschehen wäre, wenn sie alle drei die Moral der
Selbstaufopferung befolgt hätten: Galt, der um des Freundes willen auf die Frau verzichtet, die er liebt, sein
stärkstes Gefühl verleugne und sie aus seinem Leben verbannt ohne Rücksicht darauf, was er ihr und sich selbst
damit antut, um den Rest seiner Jahre in der Askese der Entsagung zu verbringen. – Sie selbst, die sich mit
einem Manne zweiter Wahl tröstet, ihm eine Liebe vortäuscht, die sie nicht empfindet, um das Opfer des
Mannes, den sie wirklich liebt, zu ermöglichen und sich dennoch in hoffnungsloser Sehnsucht nach ihm zu
verzehren und zu versuchen, eine unheilbare Wunde in Augenblicken einer müden Zuneigung zu vergessen und
ihrem Leben einen Sinn zu geben – in dem ohnmächtigen Glauben, daß Liebe immer unerfüllt und
vollkommenes Glück auf dieser Erde immer unerreichbar bleiben muß. – Und Francisco, der, betrogen von den
beiden Menschen, denen er am meisten vertraut, nach einem Glück greift, das unter seinen Händen als Lüge
zerbröckeln muß, wenn er entdeckt, daß er nicht der Mann ist, den sie liebt, sondern nur ein Ersatz, und der sich
dann aus der drohenden Verzweiflung an seinem Glück in die jämmerliche Überzeugung flüchtet, daß dem
Menschen letzte Erfüllung versagt ist… Sie alle drei, die alles besaßen, um glücklich zu sein, würden als
verbitterte Wracks enden, die verzweifelt jammern, daß das Leben nur aus Frustration besteht – der Frustration,
daß man die Unwirklichkeit nicht wirklich machen kann.
Doch dies, dachte sie, war nur unter dem Gesetz der Menschen draußen möglich, unter einem Gesetz, das
ihnen befahl, mit der Schwäche, der Verlogenheit und der Dummheit der anderen zu rechnen. Es war nur
möglich in einer Welt, in der das Leben ein Kampf gegen den Nebel des unbesehen Geglaubten ist, in der
Tatsachen nicht für wahr und wirklich gehalten werden, in der jede Form der Wirklichkeit geleugnet wird und
die Menschen das Leben von Gespenstern führen und sterben, ohne wirklich geboren zu sein. Hier, dachte sie,
als sie auf die zwischen grünen Zweigen schimmernden Dächer des Tals hinunterblickte, waren die Menschen
hell und wirklich wie Sonne und Fels, und ihre erlösende Erleichterung entstammte der Erkenntnis, daß kein
Kampf vergeblich und keine Entscheidung verhängnisvoll war, wo schleimige Ungewißheit und gestaltlose
Ausflucht das Denken nicht beherrschten.
»Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, Miss Taggart«, sagte Galt im sachlichen Ton einer theoretischen
Erörterung, »daß es keinen Interessenkonflikt, weder geschäftlicher noch rein persönlicher Art, zwischen
Menschen gibt, wenn sie das Vernunftwidrige aus ihrer Erwägung des Möglichen und die Zerstörung als Mittel
der Verwirklichung ausschalten? Es kann kein Konflikt entstehen, kein Opfer erforderlich werden und kein
Mensch dem Ziel eines anderen im Wege stehen, wenn alle begreifen, daß die Wirklichkeit absolut ist und nicht
relativiert werden kann, ohne unwahr zu werden, daß Lügen die Wahrheit nicht aufheben, daß Ungesätes nicht
geerntet und Unverdientes nicht Eigentum werden kann, daß die Zerstörung eines vorhandenen Wertes keinen
neuen Wert schafft. Der Unternehmer, der einen Markt erobern will, indem er einen überlegenen Konkurrenten
ausmanövriert; der Arbeiter, der einen Anteil am Vermögen seines Arbeitgebers fordert; der Künstler, der
seinem Rivalen dessen größeres Talent neidet; sie alle wollen die Wahrheit vergewaltigen und die Wirklichkeit
verfälschen. Wenn sie ihren unvernünftigen Willen durchsetzen, werden sie keinen Markt gewinnen, kein
Vermögen und keinen unsterblichen Ruhm, sondern nur Handel, Produktion und Kunst zerstören. Das Streben
nach dem Widersinnigen gelangt nie zum Ziel, gleichgültig, ob diejenigen, die ihm hindernd im Wege stehen,
vernichtet werden oder sich freiwillig opfern. Doch die Menschen werden nie aufhören, das Unmögliche zu
begehren, und nie ihre Sucht nach Zerstörung verlieren, solange ihnen Selbstverleugnung und Selbstaufopferung
als Mittel zur Verwirklichung des Glücks der Empfangenden gepredigt werden.«
Er unterbrach sich. Seine Stimme blieb unpersönlich wie zuvor, aber er sprach nun langsamer. »Es steht nicht
in meiner Macht, ein anderes Glück als meines zu verwirklichen oder zu zerstören. Sie hätten mehr Achtung vor
ihm und vor mir haben sollen, statt zu befürchten, was Sie befürchtet haben.«
Sie antwortete nicht, weil sie spürte, daß jedes Wort die Fülle dieses Augenblicks zum Überlaufen bringen
würde. Sie sah ihn nur mit einem Blick der Zustimmung an, der voll kindlicher Ergebenheit war und eine
Abbitte gewesen wäre, wenn nicht zugleich der Glanz der Freude in ihren Augen geleuchtet hätte.
Er lächelte in großmütigem Verstehen und unausgesprochener Billigung ihrer von ihm erratenen Gedanken.
Sie gingen schweigend weiter, und ihr war, als gingen sie durch den Sommertag einer sorglosen Jugend, die sie
nie erlebt hatte.
Es war ein zielloser Gang zweier Menschen, die sich ganz der Bewegung und dem Sonnenlicht hingaben und
nichts zu tragen hatten als die Freude des Augenblicks. In ihr Gefühl unbeschwerter Heiterkeit mischte sich die
durch das Bergabwärtsgehen verursachte Empfindung körperlicher Gewichtslosigkeit. Sie ging ohne
Anstrengung, glaubte eher, sich zurückhalten zu müssen, um nicht zu fliegen, lehnte sich mit dem Rücken gegen
den Zug ihrer Eigenbeschleunigung auf schiefer Ebene, während der Wind ihren Rock hilfreich zu einem
Bremssegel aufblies.
Sie trennten sich am Ende des Bergpfades. Er ging zu einer Verabredung mit Midas Mulligan, während sie
Hammonds Laden zusteuerte, um das zu tun, was ihr als einzige Sorge ihrer Welt erschien: für das Abendessen
einzukaufen.
Seine Frau, dachte sie laut und lauschte bewußt dem Klang des Wortes, das Dr. Akston nicht ausgesprochen,
das sie aber seither immer empfunden, jedoch nie mit Namen benannt hatte. Drei Wochen lang, dachte sie, war
sie seine Frau gewesen in jedem Sinne des Wortes bis auf einen. Aber sie wußte, daß eines Tages auch dies
dazukommen würde, und sie durfte sich der Gewißheit hingeben, durfte diesen einen Tag lang mit ihr leben.
Die Lebensmittel, die Lawrence Hammond nach ihrer Einkaufsliste auf seiner blitzenden Ladentheke
aufreihte, waren ihr nie als so wichtige und köstliche Dinge erschienen, und während ihre Gedanken sich mit
ihnen beschäftigten, nahm sie nur halbbewußt wahr, was sie plötzlich als störend empfand, und ihre
Aufmerksamkeit wurde erst vollends wach, als sie Hammond seine Arbeit unterbrechen, die Stirn runzeln und
zum Himmel aufblicken sah.
Und als sie ihn sagen hörte: »Ich glaube, da versucht jemand, es Ihnen nachzumachen, Miss Taggart«, wußte
sie, daß sie seit geraumer Zeit das Geräusch eines Flugzeugs gehört hatte, ein Geräusch, das außer am ersten Tag
dieses Monats im Tal nicht hätte gehört werden dürfen.
Sie stürzte auf die Straße. Das kleine Silberkreuz einer Maschine kreiste über den Kämmen des Bergrings,
tauchte wie eine funkelnde Libelle auf und nieder, so tief, als müßte es die Gipfel mit den Tragflächen streifen.
»Ob er weiß, was er da tut?« fragte Hammond trocken. Längs der ganzen Straße standen Menschen vor den
Läden und sahen hinauf.
»Wird… wird jemand erwartet?« fragte sie und war bestürzt über die Angst in ihrer Stimme.
»Nein«, erwiderte Hammond. »Alle, die hier etwas zu suchen haben, sind hier.« Er schien nicht beunruhigt zu
sein, nur gespannt neugierig.
Die Maschine war jetzt ein schmaler Strich, ähnlich einer silbernen Zigarette, und flog tiefer als zuvor an den
Berghängen entlang.
»Sieht aus wie ein Privateindecker«, bemerkte Hammond und blinzelte in die Sonne. »Es ist bestimmt kein
Militärflugzeug.«
»Wird der Strahlenschirm standhalten?« fragte sie gespannt, als wäre sie zur Abwehr gegen einen nahenden
Gegner bereit.
Er lachte kurz auf: »Standhalten?«
»Wird der Flieger uns sehen?«
»Der Schirm ist sicherer als ein Panzergewölbe, M iss Taggart. Sie sollten es wissen.«
Die Maschine stieg wieder, und während eines Augenblicks war sie nur ein heller Fleck, ein Stück Papier, das
vom Wind hochgeweht wurde. Sie flatterte unsicher und setzte dann zu einer neuen Abwärtsspirale an.
»Was, zum Teufel, sucht er dort oben?« sagte Hammond.
Sie warf den Kopf herum, starrte ihn an.
»Er sucht etwas«, sagte Hammond. »Aber was?«
»Gibt es hier irgendwo ein Teleskop?«
»Wie? – Ja, auf dem Flugplatz, aber…« Er wollte sie fragen, was mit ihrer Stimme los war, doch sie rannte
schon die Straße hinunter nach dem Pfad, der auf den Flugplatz führte, ohne zu wissen, daß sie lief, gejagt von
einem Grund, den auszusprechen sie nicht die Zeit und nicht den Mut hatte.
Sie fand Dwight Sanders an dem kleinen Teleskop des Kontrollturms. Er beobachtete das Flugzeug
aufmerksam mit gerunzelten Brauen.
»Lassen Sie sehen!« stieß sie atemlos hervor.
Sie umklammerte das Rohr, preßte das Auge gegen die Linse, führte mit der Hand langsam das Fernrohr, um
das Flugzeug zu verfolgen. Dann bemerkte er, daß ihre Hand sich nicht mehr bewegte, ihre Finger sich jedoch
nicht öffneten und ihr Kopf über das Teleskop gebeugt blieb, bis er näher hinsah und entdeckte, daß sie das
Okular gegen die Stirn preßte.
»Was ist Ihnen, Miss Taggart?« Langsam hob sie das Gesicht.
»Ist es jemand, den Sie kennen, Miss Taggart?« Sie antwortete nicht. Sie entfernte sich mit hastigen, fast
stolpernden Schritten, ohne zu wissen, wohin sie ging. Sie wagte nicht zu laufen. Doch sie fühlte, daß sie allein
sein, daß sie sich verbergen mußte, ohne zu wissen, ob sie sich fürchtete, von den Menschen gesehen zu werden
oder von dem Flugzeug, dessen silberne Tragflächen die Nummer von Hank Reardens Maschine trugen.
Erst als sie stolperte und fiel, bemerkte sie, daß sie gelaufen war. Sie war auf einem Vorsprung in den Klippen
über dem Flugplatz, der Sicht von der Stadt her entzogen, dem Blick von oben dargeboten. Sie erhob sich, tastete
sich an der Felswand entlang, spürte unter ihren Händen den von der Sonne erwärmten Stein und stand aufrecht,
den Rücken gegen den Fels gepreßt, unfähig, sich zu bewegen oder den Blick von der Maschine zu lösen. Die
Maschine kreiste jetzt langsam, tauchte, stieg wieder, bemühte sich, ein Flugzeugwrack in einem hoffnungslosen
Gewirr von Graten und Schluchten zu entdecken. Er suchte die Trümmer ihrer Maschine, er hatte nicht
aufgegeben, und was immer diese drei Wochen ihn gekostet hatten, was er auch fühlen mochte, das einzige
Zeugnis, das er der Welt geben konnte und seine einzige Antwort war dieses stete, eintönige Dröhnen eines
Motors, der ein zerbrechliches Flugzeug über jeden Quadratmeter einer unzugänglichen Bergkette trug.
In der leuchtenden Klarheit des Sommerhimmels erschien das Flugzeug unnatürlich nahe. Sie konnte es unter
den Stößen des Windes zittern und schwanken sehen, und es erschien ihr fast unmöglich, daß ihm der Blick nach
unten versperrt sein sollte. Das ganze Tal lag unter ihm, aufleuchtend im Grün der Wiesen, danach schreiend,
gesehen zu werden, und hier war das Ziel seiner Suche, mehr als das, mehr als die Trümmer ihrer Maschine oder
ihre Leiche, nein, sie selbst, die lebte, ihn sah und nichts sehnlicher wünschte, als von ihm gesehen zu werden.
»Hank!« schrie sie und winkte verzweifelt mit den Armen. »Hank!« Sie fiel gegen den Felsen zurück, begriff,
daß sie keine Möglichkeit hatte, ihn zu erreichen, daß sie keine Macht besaß, ihn sehen zu machen, denn keine
Macht auf Erden, außer seinem Verstand, konnte diesen Schirm durchdringen. Plötzlich und zum ersten Mal
empfand sie den Schirm nicht als bedingt überschreitbare Grenze, sondern als bedingungslose, wesentliche
Scheidewand zwischen zwei Welten. In stummer Resignation beobachtete sie die hoffnungslosen Kreise des
suchenden Flugzeugs und lauschte dem klaglosen Hilferuf des Motors, dem sie nicht antworten konnte. Die
Maschine schoß plötzlich scharf nach unten, doch es war nur der Anlauf zu ihrem Sprung über die Ringmauer
des Tals. Sie stieß steil in den offenen Himmel und entschwand dann langsam, als treibe sie ohne Ziel auf einem
unsichtbaren See.
In bitterem Mitgefühl dachte Dagny an alles, was Hank nicht gesehen hatte. Und ich? dachte sie. Wenn sie
das Tal verließ, würde sich der Schirm für sie ebenso dicht schließen, würde Atlantis unter einem Gewölbe von
Strahlen versinken, unzugänglicher als der Grund des Ozeans, und auch sie würde weiter suchen müssen nach
den Dingen, die sie nicht zu sehen gelernt hatte, und weiterkämpfen in einer Welt der Gespenster, während die
Wirklichkeit dessen, was sie begehrte, für sie nie wieder erreichbar sein würde. Doch was sie nach der Welt dort
draußen hinzog, was sie drängte, dem Flugzeug zu folgen, war nicht das Bild Hank Reardens, denn sie wußte,
daß sie nicht zu ihm zurückkehren konnte, auch wenn sie in die Welt zurückging; es war der Gedanke an Hank
Reardens Mut und den Mut all derer, die weiterkämpften, um zu überleben. Er würde die Suche nach ihr nicht
aufgeben, auch wenn alle anderen verzweifelten, wie er auch sein Stahlwerk nicht aufgeben würde und kein Ziel,
das er gewählt hatte, solange ihm auch nur eine einzige Aussicht auf Erfolg verblieb. War sie sicher, daß es für
die Welt von Taggart Transcontinental keine Aussicht mehr gab? War sie sicher, daß der Stand des Kampfes ihr
keine Hoffnung mehr auf Sieg ließ? Sie hatten recht, die Männer von Atlantis, daß sie sich zurückzogen, wenn
sie wußten, daß sie nichts von Wert hinter sich ließen, doch solange sie nicht sah, daß keine Chance ungenutzt
und keine Schlacht ungeschlagen war, hatte sie selbst nicht das Recht, bei ihnen zu bleiben. Dies war die Frage,
die sie während dreier Wochen gepeinigt hatte, weil sie der Antwort nicht um einen Millimeter nähergekommen
war.
In dieser Nacht lag sie bewegungslos wach. Sie dachte ruhig und mit leidenschaftsloser, fast mathematischer
Präzision nach, ohne Rücksicht auf Gefühle und Chancen – wie ein Ingenieur oder Hank Rearden. Den Kampf,
den er in seiner Maschine ausfocht, kämpfte sie in der Dunkelheit eines geräuschlosen Zimmers. Sie suchte wie
er, und wie er fand sie keine Antwort. Sie sah die Schriftzeichen im Holz der Wand, schwach sichtbar im
Sternenlicht, doch die Hilfe, nach der diese Männer in ihrer dunkelsten Stunde gerufen hatten, konnte sie nicht
rufen.
»Ja oder nein, Miss Taggart?«
Sie betrachtete nacheinander die Gesichter der vier Männer, die im weichen Zwielicht von Mulligans großem
Wohnzimmer vor ihr saßen: Galt, der sie mit der freundlichen, unpersönlichen Aufmerksamkeit eines
Wissenschaftlers ansah; Francisco, dessen Züge ausdruckslos waren hinter dem Schleier eines Lächelns, das zu
jeder Antwort passen würde; Hugh Akston, aus dessen Blick Zuneigung und Mitgefühl sprachen; Midas
Mulligan, der ihr die Frage ohne die seiner Stimme sonst eigene Barschheit gestellt hatte. Irgendwo, zweitausend
Kilo meter weit entfernt, ging jetzt, zur Stunde des Sonnenuntergangs, über den Dächern New Yorks die
Beleuchtung eines riesigen Kalenderblattes an, auf dem stand: 28. Juni. Und sie glaubte plötzlich, es vor sich zu
sehen, als hinge es über den Köpfen dieser Männer.
»Mir steht noch ein weiterer Tag zu«, sagte sie mit fester Stimme. »Wollen Sie ihn mir noch gönnen? Ich
glaube, ich habe meine Entscheidung getroffen, doch ich bin mir noch nicht vollkommen sicher, und ich möchte
letzte Gewißheit haben.«
»Selbstverständlich«, sagte Mulligan. »Sie haben Zeit bis übermorgen früh. Wir werden warten.«
»Wir werden, wenn nötig, auch nachher noch warten«, sagte Hugh Akston. »Allerdings in Ihrer
Abwesenheit.«
Sie stand am Fenster den vier Männern gegenüber und empfand Genugtuung, weil ihr Blick ruhig und sicher
war, ihre Hände nicht zitterten, ihre Stimme beherrscht, unsentimental und sachlich klang wie die der Männer.
Und dieses Bewußtsein gab ihr einen Augenblick lang ein Gefühl der Verbundenheit mit ihnen.
»Wenn irgendein Aspekt Ihrer Unsicherheit ein Konflikt zwischen Ihrem Herzen und Ihrem Verstand ist«,
sagte Galt, »dann folgen Sie Ihrem Verstand.«
»Prüfen Sie die Gründe, die uns sicher machen, daß wir recht haben«, sagte Hugh Akston, »doch beachten Sie
nicht die Tatsache an sich, daß wir sicher sind.
Wenn Sie nicht überzeugt sind, dann achten Sie nicht auf unsere Sicherheit. Lassen Sie sich nicht verleiten,
unser Urteil als Argument für das Ihre zu benutzen.«
»Verlassen Sie sich nicht darauf, daß wir wissen, was das Beste für Ihre Zukunft ist«, sagte Mulligan. »Wir
wissen es, aber es kann nur das Beste sein, wenn Sie es selbst wissen.«
»Berücksichtige nicht unsere Interessen oder unsere Wünsche«, sagte Francisco. »Du bist niemand als dir
selber verpflichtet.«
Sie lächelte, weder traurig noch froh, und dachte daran, daß sie keinen von diesen Ratschlägen in der Welt
draußen gehört hätte. Und da sie wußte, wie verzweifelt sie wünschten, ihr zu helfen, wo Hilfe nicht möglich
war, glaubte sie, ihnen ein Wort des Trostes sagen zu müssen.
»Ich bin mit Gewalt hier eingedrungen«, sagte sie ruhig, »und mußte darauf gefaßt sein, die Verantwortung
für die Folgen zu tragen. Ich trage sie.«
Ihre Belohnung war, Galt lächeln zu sehen; sie empfand dieses Lächeln wie die Verleihung einer
Tapferkeitsauszeichnung.
Und plötzlich dachte sie an Jeff Allen, den blinden Passagier auf dem Comet, und an den Augenblick, in dem
sie ihn bewunderte, weil er versuchte, ihr zu erzählen, wohin er unterwegs war, um ihr die Last des Mitgefühls
mit seiner Ziellosigkeit zu ersparen. Sie lächelte vor sich hin, als ihr einfiel, daß sie diese Situation jetzt in
beiden Rollen erlebt hatte und für immer wußte, daß es für einen Menschen nichts Schäbigeres und nichts
Nichtigeres geben konnte, als die Last der Entscheidung einem anderen aufzubürden. Sie fühlte Ruhe und
Sicherheit über sich kommen und wußte, daß es die Ruhe einer Spannung war, doch einer Spannung von großer
Klarheit. Sie ertappte sich dabei, daß sie dachte: In Notlagen kann man sich auf sie verlassen; ich werde mit ihr
klarkommen – und begriff, daß sie an sich selbst dachte.
»Lassen Sie sich Zeit bis übermorgen, Miss Taggart«, sagte Midas Mulligan, »noch sind Sie hier.«
»Danke«, erwiderte sie.
Sie blieb am Fenster stehen, während sie fortfuhren, über Angelegenheiten des Tales zu sprechen. Es war ihre
letzte Konferenz des Monats. Sie hatten soeben das Abendessen beendet, und sie dachte an ihr erstes Abendessen
einen Monat zuvor in diesem Hause. Sie trug, wie damals, das graue, strenge Kostüm, das sie draußen in ihrem
Büro trug, und nicht den leichten Bauernrock, der in der Sonne so angenehm zu tragen war. Noch bin ich hier,
dachte sie, und ihre Hand schloß sich fester um die Leiste des Fensterrahmens.
Die Sonne war noch nicht hinter den Bergen verschwunden, doch der Himmel war nur noch ein glattes, tiefes
Blau, das sich mit dem Blau unsichtbarer Wolken zu einem einzigen Vorhang vermischte, hinter dem sich die
Sonne verbarg. Nur die Ränder der Wolken zeichneten sich ab als Muster leuchtender Fäden, die aussahen wie
ein Netz von Neonröhren, wie ein glitzerndes Gewirr von Wasserläufen, wie – wie eine mit weißem Feuer in den
Himmel gezeichnete Eisenbahnkarte. Sie hörte Mulligan Galt die Namen derjenigen aufzählen, die nicht in die
Welt draußen zurückkehren würden.
»Wir haben Arbeit für sie alle«, erklärte Mulligan. »Dieses Jahr werden nur noch zehn oder zwölf
zurückgehen, und die meisten von ihnen, um drüben Schluß zu machen, ihren Besitz zu liquidieren und für
immer hierher zu kommen. Ich denke, dies war unser letzter Ferienmonat, denn bevor ein weiteres Jahr vorüber
ist, werden wir alle hier im Tal leben.«
»Glauben Sie?« sagte Galt.
»Wir werden es müssen, so wie die Dinge sich draußen entwickeln.«
»Ja, ich glaube es auch.«
»Francisco«, sagte Mulligan. »Sie kommen doch schon nach wenigen Monaten zurück?«
»Spätestens im November«, erwiderte Francisco. »Ich werde Ihnen über Kurzwelle Bescheid geben, wenn ich
soweit bin. Wollen Sie dann so freundlich sein, die Heizung in meinem Haus anzudrehen?«
»Das mache ich«, sagte Hugh Akston. »Und ich werde das Abendessen fertig haben, wenn du ankommst.«
»John, ich nehme als selbstverständlich an«, sagte Mulligan, »daß Sie dieses Mal nicht nach New York
zurückgehen.«
Galt sah ihn einige Sekunden ruhig an und erwiderte dann ebenso ruhig: »Ich habe mich noch nicht
entschieden.«
Dagny sah, daß Francisco und Mulligan sich bestürzt vorbeugten und ihn anstarrten, während Hugh Akston
ihm nur langsam den Kopf zuwandte; Akston schien nicht überrascht.
»Sie denken doch nicht etwa daran, auf ein weiteres Jahr in diese Hölle zurückzugehen?« rief Mulligan aus.
»Vielleicht doch.«
»Aber um Himmels willen, John! Wozu?«
»Ich werde es Ihnen sagen, wenn ich mich entschieden habe.«
»Aber für Sie ist drüben doch nichts mehr zu tun. Wir haben alle gewonnen, die wir glaubten gewinnen zu
können. Unsere Liste ist erledigt bis auf Hank Rearden, und er wird hier sein, bevor das Jahr um ist – und Miss
Taggart auch, wenn sie sich für uns entscheidet. Die beiden sind die Letzten. Ihre Arbeit ist getan. Sie kann
draußen nichts mehr interessieren – höchstens der letzte Krach, wenn ihnen die Dächer über den Köpfen
zusammenstürzen.«
»Ich weiß.«
»John, gerade Ihren Kopf möchte ich nicht draußen wissen, wenn es geschieht.«
»Sie mußten sich niemals Sorgen um mich machen.«
»Aber sehen Sie denn nicht, wozu diese Leute fähig sind? Sie sind nur einen Schritt von offener Gewalt
entfernt, ja, sie haben diesen Schritt theoretisch schon getan, ihn gesetzlich vorbereitet, und es kann nicht mehr
lange dauern, bis sie gezwungen werden, ihn praktisch zu vollziehen, und dann werden sie Amok laufen und
blind um sich schlagen. Und ich möchte nicht, daß Sie in dieses blutige Chaos hineingeraten.«
»Ich kann auf mich aufpassen.«
»John, es gibt keinen Grund für dich, dieses Risiko auf dich zu nehmen«, sagte Francisco.
»Welches Risiko?«
»Die Plünderer machen sich Gedanken über die Menschen, die verschwunden sind. Sie haben Verdacht
geschöpft. Von uns allen darfst gerade du nicht länger draußen bleiben. Es besteht immer Gefahr, daß sie
entdecken, wer und was du bist.«
»Diese Gefahr ist nur sehr gering.«
»Aber es gibt keinen Grund, dich ihr auszusetzen. Es ist nichts mehr zu tun, was Ragnar und ich nicht
erledigen könnten.«
Hugh Akston betrachtete die beiden schweigend, unbewegt in seinen Sessel zurückgelehnt. Sein Gesicht hatte
jenen Ausdruck leidenschaftsloser Spannung, mit dem ein Mensch eine Entwicklung beobachtet, die ihn
interessiert, die aber jeweils um einige Schritte hinter seiner sinnlichen Wahrnehmung zurückbleibt, Wenn ich
zurückgehe«, sagte Galt, »dann werde ich es nicht um unserer Arbeit willen tun. Ich werde es tun, um mir jetzt,
da unsere Arbeit getan ist, das einzige zu holen, was ich mir aus der Welt wünsche. Ich habe nichts aus der Welt
mitgenommen und will auch nichts von ihr. Doch etwas hält sie immer noch fest, das mir gehört und das ich ihr
nicht überlassen werde. Nein, ich beabsichtige nicht, meinen Eid zu brechen, ich werde nicht mit den Plünderern
verhandeln, ich werde niemand draußen helfen, weder einem Gegner noch einem Neutralen noch einem
möglichen Verbündeten. Wenn ich gehe, wird es nur um meiner selbst willen sein, und ich glaube nicht, daß ich
mein Leben dabei riskiere, doch wenn ich es tue – nun, ich bin jetzt frei, es zu tun.«
Er sah Dagny nicht an, doch sie mußte sich abwenden und gegen den Fensterrahmen lehnen, denn ihre Hände
zitterten.
»Aber John!« rief Mulligan aus und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das Tal hinaus. »Wenn Ihnen etwas
zustößt, was sollen wir…« Er unterbrach sich plötzlich, wie schuldbewußt.
Galt lächelte. »Was wollten Sie sagen?« Mulligan winkte ärgerlich beschämt ab, doch Galt fuhr fort:
»Wollten Sie etwa sagen, daß ich, wenn mir etwas zustößt, als der schlimmste Versager enden werde?«
»Gut«, gab sich Mulligan grimmig geschlagen, »ich werde es nicht sagen. Ich werde nicht sagen, daß wir
ohne Sie nicht fertig werden. Wir werden es. Ich werde Sie nicht bitten, um unseretwillen hier zu bleiben, und
ich verspreche Ihnen, in dieser Beziehung nie wieder rückfällig zu werden, obwohl ich gestehen muß, daß es mir
nicht leichtfällt. Ich weiß, es geht mich nichts an, wofür Sie Ihr Leben vielleicht aufs Spiel setzen. Aber
trotzdem, John, es ist ein so wertvolles Leben!«
Galt lächelte. »Ich weiß es. Deshalb habe ich auch nicht vor, es zu riskieren. Ich gedenke, kampflos zu
siegen.«
Francisco war jetzt in Schweigen verfallen. Er beobachtete Galt in verwunderter Spannung, nicht als hätte er
eine Antwort auf das gefunden, was ihn beunruhigte, sondern als ob plötzlich eine neue Frage vor ihm
aufgetaucht wäre.
»Sehen Sie mal, John«, sagte Mulligan, »da Sie sich noch nicht entschieden haben, ob Sie zurückgehen… Sie
haben sich doch noch nicht entschieden? Oder?«
»Nein, noch nicht.«
»Da Sie sich also noch nicht entschieden haben, möchte ich Ihnen doch noch einiges zu bedenken geben.
Gestatten Sie mir das?«
»Ich höre.«
»Ich fürchte die Gefahren des Zufalls, die sinnlosen, unvorhersehbaren Gefahren in einer
auseinanderfallenden Welt. Bedenken Sie, zu welcher Gefahr die komplizierten Anlagen und Maschinen in den
Händen von blinden Idioten und von Angst geschüttelten Feiglingen werden können. Denken Sie nur an die
Eisenbahnen. Jedesmal, wenn Sie einen Zug besteigen, riskieren Sie, in eine schauerliche Katastrophe
hineinzufahren, wie etwa das Unglück im Winston-Tunnel. Und es werden sich immer mehr solcher
Katastrophen ereignen und in immer schnellerer Reihenfolge. Man wird es erreichen, daß kein Tag mehr ohne
größeren Zusammenstoß vergeht.«
»Das weiß ich.«
»Und das gleiche wird in der Industrie und überall geschehen, wo Maschinen benutzt werden, die Maschinen,
von denen die Plünderer glauben, daß sie unsere Gehirne ersetzen können. Flugzeugabstürze, Öltankexplosionen,
berstende Hochöfen, Kurzschlüsse in Hochspannungsleitungen, Tunneleinstürze und zusammenbrechende
Brücken werden an der Tagesordnung sein. Die gleichen Maschinen, die das Leben der Leute draußen so sicher
gemacht haben, werden es zu einer ständigen Gefahr machen.«
»Ich weiß.«
»Ich weiß, daß Sie es wissen, aber haben Sie es schon in allen seinen Folgerungen durchdacht? Haben Sie
sich die Mühe gemacht und den Mut gehabt, es sich in seinem ganzen Ausmaß vorzustellen? Ich möchte, daß Sie
sich von dem Chaos ein genaues Bild machen, in das Sie sich begeben wollen, und zwar ehe Sie entscheiden, ob
irgend etwas rechtfertigen kann, daß Sie es tun. Sie wissen, daß die großen Städte am schlimmsten betroffen
sind. Großstädte sind auf Gedeih und Verderb auf die Eisenbahnen angewiesen und werden mit ihnen zugrunde
gehen.«
»Ohne Zweifel.«
»Wenn die Gleise unterbrochen sind, wird New York innerhalb von zwei Tagen Hunger leiden. Länger
reichen die Lebensmittelvorräte nicht. Die Stadt ernährt sich aus einem dreitausend Meilen breiten Kontinent.
Wie will man dann Nachschub nach New York bringen? Auf Ochsenkarren? Doch bevor das geschieht, werden
die Leute durch die Hölle der Rationierungen, der Hungerrevolten, der Plünderungen und Gewalttaten gehen.«
»So wird es sein.«
»Zuerst werden sie ihre Flugzeuge verlieren, dann ihre Automobile, dann ihre Lastwagen und zuletzt ihre
Pferdefuhrwerke.«
»Sehr richtig.«
»Ihre Fabriken werden nicht mehr arbeiten, ihre Hochöfen werden erkalten, ihre Sender werden schweigen.
Dann werden auch die elektrischen Lampen erlöschen.«
»Stimmt.«
»Dann wird nur noch ein einziger dünner Faden den ganzen Kontinent zusammenballen. Zunächst wird es
noch ein Zug am Tag sein, dann nur noch einer in der Woche. Dann wird die Nat-Taggart-Brücke einstürzen
und…«
»Nein, sie wird nicht einstürzen!«
Dagny hatte es gerufen, und die Gesichter der vier Männer wandten sich ihr mit jähem Ruck zu. Dagnys
Gesicht war weiß, doch gefaßter, als es bei den Worten gewesen war, die sie vorher zu ihnen gesprochen hatte.
Langsam erhob sich Galt und senkte den Kopf, als nähme er ein Urteil an.
»Sie haben Ihre Entscheidung getroffen.«
»Ja.«
»Dagny«, sagte Hugh Akston. »Das tut mir leid.« Er sprach leise, mühsam, als ob er vergeblich versuchte, mit
seinen Worten das Schweigen des Raumes zu füllen. »Ich wünsche, es wäre möglich gewesen, dies nicht zu
erleben. Alles andere wäre mir lieber gewesen. Aber ich wollte auch nicht sehen, daß Sie blieben, weil Ihnen der
Mut zu Ihrer Überzeugung fehlte.«
Dagny spreizte ihre Finger mit nach vorn gekehrten Handflächen und hängenden Armen in einer Geste
schlichter Offenheit und sagte allen so ruhig, daß ihre Worte trotz ihrer Feierlichkeit einfach klangen: »Sie sollen
folgendes wissen: Wenn das Schicksal es so wollte, daß ich nach Ablauf des nächsten Monats sterben muß, dann
hätte ich nur den einen Wunsch, diesen letzten Monat in diesem Tal zu verleben. So sehr verlangt es mich
danach, hier zu leben. Doch solange ich entschlossen bin weiterzuleben, kann ich nicht in einem Kampf
fahnenflüchtig werden, den zu kämpfen ich für meine Pflicht halte.«
»Natürlich nicht«, sagte Mulligan langsam mit achtungsvoll gedämpfter Stimme. »Nicht, solange Sie noch so
denken.«
»Wenn Sie wissen wollen, was mich zwingt zurückzugehen, dann will ich es Ihnen sagen: Ich bringe es nicht
fertig, alle Größe in der Welt, all das, was mir gehörte und Ihnen, was von uns geschaffen worden und immer
noch unser rechtmäßiges Eigentum ist, der Zerstörung preiszugeben. Denn ich kann nicht glauben, daß die
Menschen ewig nicht begreifen werden, daß sie uns gegenüber nicht blind und taub bleiben dürfen, wenn die
Wahrheit auf unserer Seite ist und wenn ihr Leben davon abhängt, daß sie diese Wahrheit anerkennen. Sie lieben
immer noch ihr Leben, und das ist der unverdorbene Rest ihres Verstandes. Solange die Menschen leben wollen,
kann ich meinen Kampf nicht verlieren.«
»Wollen die Leute das wirklich?« fragte Hugh Akston leise. »Wollen sie weiterleben? Nein, antworten Sie
mir noch nicht. Ich weiß, daß die Antwort jene Wahrheit ist, die zu begreifen und hinzunehmen für jeden von
uns die schwerste Prüfung darstellte. Nehmen Sie diese Frage mit zurück, als letzte noch zu prüfende Prämisse.«
»Sie verlassen uns als unsere Freundin«, sagte Midas Mulligan, »und wir werden alles bekämpfen, was Sie
tun, weil wir wissen, daß Sie irren, aber wir verurteilen Sie nicht.«
»Sie werden zurückkommen«, sagte Hugh Akston, »weil Ihr Irrtum ein Irrtum des Verstandes ist und nicht
ein moralisches Versagen, nicht eine Kapitulation vor dem Bösen, sondern ein Mißverstehen des Guten. Sie sind
ein unbewußtes Opfer Ihrer eigenen Tugend. Wir werden auf Sie warten, und, Dagny, wenn Sie zurückkommen,
werden Sie entdeckt haben, daß Sie keinen Konflikt mehr zwischen Ihren Wünschen zu fürchten brauchen,
keinen so tragischen Widerstreit der Werte, wie Sie ihn jetzt so tapfer durchfechten.«
»Ich danke Ihnen«, sagte sie und schloß die Augen.
»Wir müssen die Bedingungen Ihres Wegganges besprechen«, sagte Galt; er sagte es mit der Sachlichkeit
eines Beamten. »Erstens müssen Sie uns Ihr Wort geben, daß Sie weder unser Geheimn is oder einen Teil davon,
noch unseren Aufenthalt hier im Tal, noch Ihren Verbleib während des letzten Monats irgend jemand in der Welt
draußen jemals verraten werden, ganz gleich, was der Anlaß dazu sein könnte.«
»Ich gebe Ihnen mein Wort.«
»Zweitens dürfen Sie nicht versuchen, dieses Tal wiederzufinden. Sie dürfen nicht uneingeladen
wiederkommen. Wenn Sie die erste Bedingung nicht einhalten, wird es uns nicht in ernsthafte Gefahr bringen;
sollten Sie die zweite mißachten, dann würde es der Fall sein. Es ist nicht unsere Politik, uns auf den guten
Willen anderer oder auf ein Versprechen zu verlassen, dessen Einhaltung nicht erzwungen werden kann. Wir
können auch nicht erwarten, daß Sie unsere Interessen über Ihre stellen. Da Sie glauben, daß Ihr Weg der
richtige ist, mag der Tag kommen, an dem Sie es für notwendig halten, unsere Feinde nach diesem Tal zu führen.
Aus diesem Grunde werden wir Ihnen keine Möglichkeit lassen, es zu tun. Sie werden in einem Flugzeug aus
dem Tal gebracht werden, und zwar mit verbundenen Augen, und Sie werden in einer Entfernung von hier
abgesetzt werden, die es Ihnen unmöglich machen wird, den Weg aus dem Gedächtnis zurückzuverfolgen.«
Sie senkte den Kopf. »Ich verstehe.«
»Ihre Maschine ist repariert worden. Wollen Sie sie auslösen, indem Sie einen Scheck auf Ihr Konto in
Mulligans Bank unterzeichnen?«
»Nein.«
»Dann werden wir Sie hier behalten, bis Sie irgendwie dafür bezahlen. Übermorgen werde ich Sie in meiner
Maschine an einen Ort außerhalb des Tales bringen, wo Sie Gelegenheit zur Weiterfahrt finden.«
Sie nickte. »Gut.«
Es war dunkel geworden, als sie Mulligans Haus verließen. Sie traten zu dritt den Heimweg an. Die Vierecke
weniger erleuchteten Fenster hingen verstreut in der Dunkelheit, und die ersten Nebelschwaden zogen vor ihnen
vorbei wie Schatten unsichtbarer Wolken.
Sie schritten schweigend nebeneinander her, doch das Geräusch ihrer Schritte, die bald in gleichem Takt
zusammenklangen, war wie ein Gespräch, das nicht anders geführt werden konnte.
Nach einer Weile sagte Francisco: »Es ändert nichts, es macht nur die Frist ein wenig länger, und die letzte
Zeitspanne ist immer die schwierigste, aber dafür ist sie auch die letzte.«
»Ich hoffe es«, sagte sie. Und dann murmelte sie vor sich hin: »Die letzte Zeitspanne ist die schwierigste.« An
Galt gewandt fuhr sie fort: »Darf ich einen Wunsch äußern?«
»Bitte.«
»Wollen Sie mich schon morgen gehen lassen?«
»Wenn Sie es wünschen.«
Als Francisco wenige Sekunden später wieder sprach, klang seine Stimme, als antwortete er ihr auf eine
unausgesprochene Frage: »Dagny, wir alle drei lieben die gleiche Sache, wenn auch in verschiedener Gestalt.
Wundere dich nicht, daß du keine Kluft zwischen uns fühlst. Du wirst eine von uns sein, solange du deine
Schienen liebst und deine Züge, und sie werden dich zu uns zurückführen, gleichgültig, wie oft du den Weg
verlierst. Der einzige Mensch der nicht erlöst werden kann, ist der Mensch ohne Leidenschaft.«
»Ich danke dir«, sagte sie leise.
»Wofür?«
»Für… für die Art, wie du sprichst.«
»Wie ich spreche? Sag es deutlicher, Dagny.«
»Du sprichst, als ob du glücklich wärst.«
»Ich bin es – genauso wie du. Sage mir nicht, was du fühlst. Ich weiß es. Das Maß des Leids, das einer
ertragen kann, ist das Maß seiner Liebe. Die Hölle, die ich nicht ertragen könnte, wäre, dich ohne Leidenschaft
zu sehen.«
Sie nickte stumm, unfähig, eines der Gefühle, die sie bewegten, Freude zu nennen, doch sie fühlte, daß er
recht hatte. Nebelstreifen trieben vor dem Mond vorüber, und in dem trüben Schein konnte
sie den Ausdruck ihrer Gesichter nicht erkennen, während sie zwischen ihnen eins. Das einzige, was sie
wahrnahm, waren die aufrechten Umrisse ihrer Körper, der Gleichklang ihrer Schritte und ihr eigenes Gefühl,
das sie wünschen ließ, mit ihnen immer so weiter zu gehen, ein Gefühl, das sie nicht definieren konnte, außer
daß es weder Zweifel noch Schmerz war.
Als sie sich Franciscos Hütte näherten, blieb er stehen, und mit einer Geste, die sie beide erfaßte, deutete er
auf die Tür und sagte: »Wollt ihr nicht einen Augenblick mit hereinkommen, da es ja auf längere Zeit unser
letzter gemeinsamer Abend ist? Laßt uns auf die Zukunft anstoßen, deren wir alle drei sicher sind.«
»Sind wir es?« fragte sie.
»Ja«, sagte Ga lt, »wir sind es.«
Als Francisco das Licht in seinem Haus anschaltete, warf Dagny einen Blick auf die Gesichter der beiden
Männer. Sie konnte deren Ausdruck nicht entziffern. Es war nicht Glück, was sie darin las, auch kein anderes
Gefühl, das mit Freude zu tun hatte. Die Züge der Männer waren straff und feierlich; doch es war eine glühende
Feierlichkeit, dachte sie, wenn es so etwas gab, und die seltsame Wärme, die sie in sich selber spürte, sagte ihr,
daß ihr Gesicht den gleichen Ausdruck zeigen mußte.
Francisco nahm drei Gläser von einem Wandbrett, hielt jedoch wie in einem plötzlichen Einfall inne. Er
stellte eines der Gläser auf den Tisch, nahm dann die beiden Silberbecher Sebastián d’Anconias aus der Nische
und stellte sie neben das Glas.
»Fährst du sofort nach New York, Dagny?« fragte er in dem ruhigen, höflichen Ton eines Gastgebers und
brachte eine Flasche alten Weins herbei.
»Ja«, antwortete sie ebenso ruhig.
»Ich fliege übermorgen nach Buenos Aires«, sagte er, während er die Flasche entkorkte. »Ich bin nicht sicher,
ob ich später wieder nach New York komme, doch wenn ja, wird es gefährlich für dich sein, mit mir
zusammenzutreffen.«
»Das wäre mir gleich«, erwiderte sie, »es sei denn, du meinst, ich hätte kein Recht, dich überhaupt
wiederzusehen.«
»Richtig, Dagny. Du hast es nicht. Nicht in New York.«
Er hatte begonnen, den Wein einzuschenken, und sah jetzt Galt an. »John, wann wirst du dich entscheiden, ob
du zurückgehst oder hier bleibst?«
Galt hielt seinem Blick offen stand und antwortete dann langsam mit der Stimme eines Mannes, der alle
Folgen seiner Worte kennt: »Ich habe mich bereits entschieden, Francisco. Ich gehe zurück.«
Franciscos Hand hielt mitten in ihrer Bewegung inne, und seine Augen blieben eine Zeitlang nur auf John
gerichtet. Dann sah er Dagny an, stellte die Flasche auf den Tisch und trat nicht zurück, doch es war, als ob er
seinen Blick zu einem weiteren Blickwinkel zurückzöge, um sie beide gleichzeitig sehen zu können.
»Ich erkannte es vor zwölf Jahren«, sagte er. »Ich erkannte es, bevor du es erkennen konntest, und ich hätte
voraussehen müssen, daß auch du es erkennen würdest. In jener Nacht, in der du uns nach New York riefst,
entdeckte ich, daß« – er sprach weiter zu Galt, doch seine Augen richteten sich jetzt auf Dagny – »daß es der
Inbegriff dessen war, was du erstrebtest, daß es das war, wofür du uns zu leben oder, wenn es sein mußte, zu
sterben lehrtest. Ich hätte sehen müssen, daß auch du so denken würdest. Es hätte nicht anders kommen können.
Es ist gekommen, wie es kommen sollte und kommen mußte. Es war schon damals entschieden, vor zwölf
Jahren.« Er sah Galt an und lachte leise. »Und du sagst, ich sei derjenige, der die härtesten Schläge hat
hinnehmen müssen?«
In einer zu schnellen Bewegung wandte er sich ab und fuhr fort, langsam, wie in betonter Feierlichkeit, die
drei Trinkgefäße auf dem Tisch mit Wein zu füllen. Dann nahm er die beiden Silberbecher auf, betrachtete sie
einen Augenblick lang nachdenklich und reichte den einen Dagny und den anderen Galt.
»Bitte«, sagte er. »Ihr habt es verdient. Es war kein Zufall.«
Galt nahm den Becher aus seiner Hand, doch es war, als vollzogen sich Übergabe und Annahme in der
Begegnung ihrer Augen.
»Ich hätte alles dafür gegeben, wenn ich hätte erreichen können, daß es anders kommt«, sagte Galt,
»ausgenommen das, was sich nicht geben läßt.«
Dagny hielt ihren Becher vor der Brust, sah Francisco an und ließ ihn offen sehen, daß ihr Blick auch Galt
umfaßte. »Ja«, sagte sie im Ton einer Antwort. »Doch ich habe es nicht verdient. Und was du gezahlt hast, das
zahle ich jetzt, und ich weiß nicht, ob ich je genug werde zahlen können, um einen nicht anfechtbaren Titel zu
erlangen, doch wenn die Hölle der Preis ist und das Maß, dann will ich die Habgierigste von uns dreien sein.«
Sie tranken stehend, und während sie die Augen schloß und spürte, wie den Wein durch ihre Kehle rann,
erkannte sie, daß für alle, drei dieser Augenblick der schmerzlichste und – der glorreichste war, den sie je erlebt
hatten.
Sie sprach nicht zu Galt, als sie die letzte Strecke des Wegs zu seinem Haus neben ihm herging. Sie wandte
den Kopf nicht nach seiner Seite, denn sie fühlte, daß auch nur ein einziger Blick zu gefährlich war. Sie
empfanden beide in ihrem Schweigen die Ruhe vollkommenen Verstehens und die Spannung des Wissens, daß
sie nicht beim Namen nennen durften, was sie beide wußten.
Doch als sie sein Wohnzimmer betraten, sah sie ihn mit einem Blick offenen Vertrauens und plötzlich
erlangter Gewißheit an, daß sie nicht schwach werden würde und daß es jetzt gefahrlos war zu sprechen. Und sie
sagte mit ungezwungener Stimme, weder im Ton des Protestes noch des Triumphes, nur in Feststellung einer
Tatsache: »Sie gehen in die Welt draußen zurück, weil ich dort sein werde.«
»Ja.«
»Ich will nicht, daß Sie gehen.«
»Sie haben kein Recht, darüber zu befinden.«
»Sie gehen meinetwegen.«
»Nein, um meiner selbst willen.«
»Werde ich Sie draußen sehen?«
»Nein.«
»Ich darf Sie nicht sehen?«
»Nein.«
»Ich darf nicht wissen, wo Sie sind und was Sie tun?«
»Nein.«
»Werden Sie mich beobachten, wie Sie es zuvor getan haben?«
»Noch genauer.«
»Um mich zu beschützen?«
»Nein.«
»Warum also?«
»Um zur Stelle zu sein, wenn Sie sich entschließen, eine von uns zu werden.« Mit beherrschtem Gesicht, um
ihn nicht erraten zu lassen, was sie empfand, sah sie ihn fragend an, als hätte sie ihn nicht ganz verstanden.
»Alle übrigen von uns werden dann gegangen sein«, fuhr er fort. »Es wird zu gefährlich werden, länger zu
bleiben. Nur ich werde als Ihr letzter Schlüssel bleiben, bevor die Tür des Tals sich endgültig schließt.«
»Oh!« Sie verschluckte den Laut, bevor er ein Stöhnen wurde. Dann, nachdem sie ihre Beherrschung
wiedergewonnen hatte, fragte sie: »Und wenn ich Ihnen sage, daß meine Entscheidung endgültig ist und daß ich
nie eine von Ihnen werde?«
»Dann wird es eine Lüge sein.«
»Und wenn ich jetzt auf der Stelle sage, daß meine Entscheidung endgültig ist, und daß ich zu ihr stehe,
gleichgültig, was in Zukunft geschieht?«
»Gleichgültig, was die Zukunft Sie lehren und Ihnen beweisen wird?«
»Ja.«
»Das wäre schlimmer als eine Lüge.«
»Sind Sie sicher, daß meine Entscheidung falsch ist?«
»Ja.«
»Sind Sie nicht der Ansicht, daß jeder für seine Irrtümer selbst verantwortlich ist?«
»Doch.«
»Warum wollen Sie mich dann nicht die Folgen meines Irrtums allein tragen lassen?«
»Ich habe nicht die Absicht, Sie daran zu hindern.«
»Wenn ich mich aber zu spät entschließe, in dieses Tal zurückzukommen, werden Sie dann nicht um
meinetwillen ein großes Risiko vergeblich auf sich genommen haben?«
»Ich tue es nicht um Ihretwillen. Ich tue es aus Eigennutz.«
»Und welches ist Ihr eigennütziger Grund?«
»Sie. Ich will Sie hier haben.«
Sie schloß die Augen und neigte den Kopf in offenem Eingeständnis ihrer Niederlage, der Niederlage in ihrem
Bemühen, recht zu behalten und gelassen die volle Bedeutung dessen zu ermessen, was sie hinter sich lassen
wollte. Dann hob sie den Kopf wieder und, als hätte sie die Größe seiner Offenheit begriffen, verhehlte sie weder
ihren Schmerz, noch ihre Sehnsucht, noch ihre Gelassenheit. Sie wußte, daß alles in ihrem Blick zu lesen waren.
Sein Gesicht war das gleiche, wie sie es zum ersten Mal vor dem Hintergrund eines blauen Himmels und
grüner Blätter gesehen hatte, ein Gesicht von unerschütterlichem Gleichmut und heller Wachheit, ohne Schmerz
oder Furcht oder Schuld. Sie dachte, wenn es möglich wäre, würde sie sich wünschen, den Rest ihres Lebens
hier auf diesem Fleck stehen zu bleiben und ihn anzuschauen, die unerbittlich geraden Linien seiner
Augenbrauen über den dunklen grünen Augen zu sehen, die Kurve des Schattens, der den harten Schnitt seines
Mundes unterstrich, die metallene Farbe seiner Haut in dem offenen Kragen seines Hemdes und die
spannungslose Beherrschtheit seines Körpers. Doch im nächsten Augenblick erkannte sie, daß, würde ihr
Wunsch erfüllt, dieser Anblick seine Bedeutung verlieren mußte, weil sie damit alles verraten würde, was ihm
seinen Wert gab. Dann erlebte sie noch einmal, nicht in der Erinnerung, sondern als Wirklichkeit, jenen
Augenblick, da sie am Fenster ihres Zimmers in New York gestanden und auf eine im Nebel verschwimmende
Stadt, auf das versinkende Atlantis hinabgeschaut hatte, und sie wußte, daß sie jetzt die Antwort auf das Rätsel
jener Vision vor Augen hatte. Und ohne sich der Worte selbst wieder bewußt zu werden, die sie damals an die
Stadt gerichtet hatte, fühlte sie sich überwältigt von der Empfindung, aus der sie gekommen waren: Du, die ich
immer geliebt und niemals gefunden habe, du, die ich am Ende der Gleise jenseits des Horizonts zu erblicken
erwartete… Und laut sagte sie: »Ich will, daß Sie dies wissen: Ich habe mein Leben mit dem einzigen und
ausschließlichen Willen begonnen und gelebt, die Welt, in die ich geboren war, nach dem Bild meiner höchsten
Werte zu formen und nie dem Sog minderer Maßstäbe nachzugeben, wie lange und wie schwer der Kampf auch
sein würde.« – Die lautlose Stimme in ihr sprach weiter: du, dessen Gegenwart ich immer in den Straßen der
Stadt fühlte und dessen Welt ich bauen wollte… – »Jetzt weiß ich, daß ich für dieses Tal gekämpft habe.« – Es
war meine Liebe zu dir, die mich aushalten ließ. – »Es war dieses Tal, das ich als Ziel vor mir sah und das ich
nicht gegen minderen Wert tauschen und dem Verderb der Unvernunft nicht preisgeben wollte.« – Meine Liebe
und meine Hoffnung, dich zu erreichen und deiner wert zu sein an dem Tage, da ich dir von Angesicht zu
Angesicht gegenüberstehen würde. – »Ich gehe zurück, um für dieses Tal zu kämpfen, es aus seiner Versenkung
zu befreien, ihm seinen wahren, rechtmäßigen Platz wiederzugewinnen und die Erde, die Ihnen im Geist gehört,
auch in Wirklichkeit für Sie zu erobern, und um wieder an dem Tag vor Sie hinzutreten, an dem ich Ihnen eine
gewandelte Welt zeigen kann, oder um, wenn ich versage, aus diesem Tal bis ans Ende meines Lebens verbannt
zu bleiben.« – Doch was von meinem Leben bleibt, wird stets dir gehören, und ich werde in deinem Namen
weiterkämpfen, auch wenn es ein Name ist, den ich nie aussprechen werde, und ich werde dir weiterdienen, auch
wenn ich n ie siegen werde, werde weiter so handeln, als gälte es, deiner würdig zu sein an dem Tage unserer
Begegnung, obwohl ich weiß, daß er nicht kommen wird. – »Hierfür werde ich kämpfen, auch wenn ich gegen
Sie selbst kämpfen muß, selbst wenn Sie mich eine Verräterin schimpfen, und auch, wenn ich weiß, daß ich Sie
nie wiedersehen werde.«
Er hatte, unbeweglich vor ihr stehend, zugehört, ohne daß sich der Ausdruck seines Gesichts veränderte; nur
der Blick, mit dem er sie ansah, sagte ihr, daß er jedes ihrer Worte hörte, auch jene, die sie nicht ausgesprochen
hatte. Er antwortete ihr mit dem gleichen Blick, als wollte er durch ihn eine Verbindung aufrechterhalten, die
noch nicht unterbrochen werden sollte, und seine Stimme sprach im gle ichen ruhigen Tonfall wie ihre, ohne
Zeichen einer inneren Bewegung außer längeren Pausen zwischen den Worten: »Wenn Sie versagen, so wie
andere Menschen bei dem Versuch versagt haben, eine Vision zu verwirklichen, wenn Sie gleich ihnen einmal
glauben müssen, daß der Mensch die Werte und Ideale, die er erstrebt, nie erreichen kann, dann verdammen Sie
nicht diese Erde, wie sie es taten, verdammen Sie nicht das Leben. Sie haben das Atlantis gesehen, das jene
suchten. Es ist hier, es besteht wirklich. Doch man muß es nackt betreten und allein, ohne die Lumpen einer
verlogenen Vergangenheit, mit unbestechlich klarem Verstand als einzigem Besitz und dem unnachgiebigen
Willen zur Vernunft als Schlüssel. Sie werden es nicht betreten, ehe Sie nicht gelernt haben, daß es müßig ist, die
Welt überzeugen oder erobern zu wollen. Wenn Sie es gelernt haben, werden Sie erkennen, daß während der
Jahre Ihres Kampfes Atlantis für Sie immer offen war und keine Ketten Sie zurückhielten als solche, die Sie
freiwillig trugen. Während all dieser Jahre wartete das, was Sie zu gewinnen suchten, geduldig auf Sie.« Er sah
sie an, als antwortete er auf die Sätze, die in ihrer Erinnerung lebendig geworden waren: »Wartete so
unverdrossen, zäh und verzweifelt wie Sie kämpften, doch mit größerer Gewißheit. Gehen Sie hinaus, um
weiterzukämpfen! Tragen Sie weiter fremde Lasten! Nehmen Sie weiter unverdiente Strafen auf sich! Beharren
Sie auf Ihrem Glauben, der Gerechtigkeit zu dienen, indem Sie Ihren Geist der Folter der Ungerechtigkeit
ausliefern! Doch erinnern Sie sich in Ihren dunkelsten und schlimmsten Stunden, daß Sie eine andere Welt
gesehen haben! Vergessen Sie nicht, daß Sie diese Welt jederzeit betreten können, wenn Sie es wünschen!
Denken Sie daran, daß sie auf Sie wartet, und daß sie wirklich ist, daß sie Ihnen gehört!«
Dann fragte er sie, mit einer kleinen Wendung des Kopfes die stumme Verbindung ihrer Augen
unterbrechend, doch mit der gleichen klaren Stimme: »Um wieviel Uhr wollen Sie morgen starten?«
»Oh –! So früh, wie es Ihnen paßt.«
»Dann machen Sie das Frühstück für sieben fertig, damit wir um acht fliegen können.«
»Gut.«
Er griff in die Tasche und reichte ihr ein kleines, glänzendes, rundes Metallstück. Sie konnte nicht
unterscheiden, was es war. Er ließ es ihr in die offene Hand fallen. Es war eine Fünfdollargoldmünze.
»Der Rest Ihres Lohns für den Monat«, sagte er.
Ihre Finger schlossen sich zu hastig und fest um die Münze, doch sie antwortete mit tonloser, ruhiger Stimme:
»Danke.«
»Gute Nacht, Miss Taggart.«
»Gute Nacht.«
Sie schlief nicht in den Stunden, die ihr noch blieben. Sie saß auf dem Fußboden ihres Zimmers, das Gesicht
gegen das Bett gepreßt, und empfand nur seine Gegenwart hinter der Wand. Manchmal glaubte sie, er säße auf
dem Bettrand und sie zu seinen Füßen. So verbrachte sie die letzte Nacht in seinem Haus.
Sie verließ das Tal so, wie sie gekommen war, nahm nichts mit, was sie nicht mitgebracht hatte, außer dem
Fünfdollargoldstück und dem Pflaster auf ihren Rippen. Die wenigen Dinge, die sie erworben hatte, ihren bunten
Rock, eine Bluse, eine Schürze, einige Wäschestücke, legte sie sauber gefaltet in die Kommode ihres Zimmers
und betrachtete sie noch einmal kurz, bevor sie die Lade schloß; sie fragte sich, ob sie die Sachen wohl hier
wiederfinden würde, wenn sie zurückkäme.
Die Sonne glitt eben über die Gipfelkämme der Berge und zeichnete einen schimmernden Sperrkreis um das
Tal, als sie in das Flugzeug kletterte. Sie saß weit zurückgelehnt in ihrem Sitz neben Galt und sah sein Gesicht
über sich, so wie sie es gesehen hatte, als sie im Tal zum ersten Mal die Augen öffnete. Dann schloß sie die
Augen und spürte seine Hände das Tuch über ihr Gesicht legen und hinter ihrem Kopf zusammenknüpfen.
Sie nahm den ersten Knall des Motors nicht als ein Geräusch wahr, sondern wie die durch eine Explosion in
ihrem Innern verursachte Erschütterung. Nur daß es sich so anfühlte, als käme die Erschütterung aus weiter
Ferne, als hätte sie sonst die Person, in der die Explosion stattfand, verletzt.
Sie wußte nicht, wann die Räder sich vom Boden lösten, noch wann die Maschine den Ring der Berggipfel
verließ. Sie hatte als einzigen Maßstab ihres Raumbewußtseins den Takt des Motors, und ihr war, als würde sie
in einem Strom von Geräuschen, der sie von Zeit zu Zeit emporhob, davongetragen. Die Geräusche stammten
von seinem Motor, die Schwankungen wurden bewirkt durch seine Hände, die das Flugzeug steuerten; das war
alles, woran sie sich halten konnte, alles übrige war außerhalb ihrer Macht.
Sie lag bewegungslos und stumm, die Beine ausgestreckt, die Hände schlaff auf den Seitenlehnen des Sitzes,
ohne eine Bewegung zu spüren, die ihr ein Gefühl der Zeit oder des Raumes hätte geben können, vor den Augen
nur die Nacht unter der Binde und als einzige sichere Wirklichkeit nur die Gewißheit seiner Gegenwart. Sie
sprachen nicht. Einmal sagte sie unvermittelt: »Mr. Galt.«
»Ja?«
»Ach nichts. Ich wollte nur wissen, ob Sie noch da sind.«
»Ich werde immer da sein.«
Sie wußte nicht, wie viele Meilen die Erinnerung an den Klang von Worten brauchte, um wie eine Wegmarke
in die Ferne zu entweichen und zu verschwinden. Dann war wieder nur die Stille einer unteilbaren Gegenwart
um sie.
Sie wußte nicht, ob ein Tag vergangen war oder eine Stunde, als sie die nach vorn abfallende Bewegung
spürte, die anzeigte, daß sie im Begriff waren, zu landen oder abzustürzen. Was, war ihr gleichgültig. Sie spürte
das Aufsetzen der Räder, das stoßende Gleiten der auslaufenden Maschine, den Ruck des Haltens und den Knall
der einbrechenden Stille, und dann auf ihrem Haar seine Hände, die den Knoten der Binde lösten.
Sie sah gleitendes Sonnenlicht, einen Streifen verdorrte Wildwiese, der in den Himmel mündete, ohne von
Bergen aufgehalten zu werden, eine einsame Landstraße und die flimmernde Silhouette einer etwa eine Meile
weit entfernten Stadt. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr: Vor siebenundvierzig Minuten war sie noch im Tal
gewesen.
»Sie werden dort einen Taggart-Bahnhof finden«, sagte er und zeigte auf die Stadt, »und einen Zug nehmen
können.« Sie nickte.
Er folgte ihr nicht, als sie ausstieg. Er beugte sich über das Steuerrad aus der offenen Tür der Maschine, und
sie sahen einander an. Sie stand unter ihm, das Gesicht zu ihm emporgerichtet, dem Wind nicht wehrend, der in
ihrem Haar spielte, in ihrem streng geschnittenen Kostüm eine seltsame Erscheinung in der flachen
Unendlichkeit einer öden Steppe. Seine Hand deutete nach Osten, in die Richtung der nächsten unsichtbaren
Städte.
»Suchen Sie dort nicht nach mir«, sagte er. »Sie werden mich nicht finden, solange Sie mich nicht als das
suchen, was ich bin. Und wenn Sie mich brauchen, werde ich da sein.«
Sie hörte den Schlag der zufallenden Tür. Er erschien ihr lauter als das nachfolgende Aufheulen des Motors.
Sie verfolgte den Lauf der Räder des Flugzeugs, die eine Spur niedergewalztes Gras hinterließen. Dann sah sie,
wie ein Streifen Himmel sich zwischen Räder und Gras schob.
Sie sah sich um. Ein rötlicher Hitzenebel hing über der Stadt, aus deren Dächern der Stumpf eines
zerbröckelnden Schornsteins herausragte. Sie sah in ihrer Nähe ein Stück vergilbtes Papier raschelnd im Wind
wirbeln; es war eine alte Leitung. Mit leeren Augen starrte sie zur Stadt hinüber, dann auf das Papier, ohne zu
wissen, was sie sah. Sie hob die Augen zu dem Flugzeug. Sie sah den Strich seiner Tragflächen kürzer werden
und hörte das Geräusch seines Motors in gleichen Maße verebben. Es stieg noch immer wie ein silbernes Kreuz.
Wie am Gewölbe des Himmels entlang fliegend, näherte es sich langsam wieder der Erde, und dann schien es
sich nicht mehr zu bewegen, sondern nur noch zusammenzuschrumpfen. Sie beobachtete es wie einen
erlöschenden Stern, sah, wie sich das Kreuz in einen Punkt und dann in einen flimmernden Funken verwandelte,
dem sie nicht mehr mit Sicherheit folgen konnte. Als sie zu sehen glaubte, daß die ganze Weite des Himmels mit
solchen Punkten übersät war, wußte sie, daß das Flugzeug verschwunden war.

III. Gegen die Habgier

»Was soll ich hier?« fragte Dr. Robert Stadler. »Warum hat man mich hierher bestellt? Ich verlange eine
Erklärung. Ich bin es nicht gewohnt, ohne triftigen Grund über den halben Kontinent zu reisen.«
Dr. Floyd Ferris lächelte. »Deshalb muß ich es desto höher schätzen, daß Sie trotzdem gekommen sind, Dr.
Stadler.« Es war unmö glich zu sagen, ob Dankbarkeit in dieser Stimme mitklang oder Spott.
Die Sonne brannte auf sie herab, und Dr. Stadler fühlte Schweißbäche an seinen Schläfen herunterrinnen. Er
konnte hier inmitten der vielen Menschen, die herbeiströmten, um die Bänke der Tribüne zu füllen, nicht die
höchst unerfreuliche Aussprache erzwingen, um die er sich seit drei Tagen vergeblich bemühte. Doch plötzlich
begriff er, warum sein Zusammentreffen mit Dr. Ferris bis zu diesem Augenblick verzögert worden war, und er
schob seine Bedenken mit dem gleichen Unmut beiseite, mit dem er das Insekt wegwischte, das sich ihm auf die
Stirn gesetzt hatte.
»Warum konnte ich mich nicht mit Ihnen in Verbindung setzen?« fragte er. Der Sarkasmus in seiner Stimme
war noch weniger wirksam als sonst, doch er war Dr. Stadlers einzige Waffe: »Warum hielten Sie es für
notwendig, mir Ihre Mitteilungen auf amtlichem Briefpapier und dazu in einem Stil zukommen zu lassen, der
nach meiner Ansicht vielleicht angemessen ist für militärische« – Befehle wollte er sagen, doch er sagte –
»Mitteilungen, keinesfalls aber für einen wissenschaftlichen Briefwechsel?«
»Es handelt sich um eine Regierungsangelegenheit«, erwiderte Dr. Ferris liebenswürdig.
»Sind Sie sich im klaren darüber, daß ich ein überbeschäftigter Mann bin, und daß dies hier eine kaum
wiedergutzumachende Unterbrechung meiner wichtigen Arbeit bedeutet?«
»O ja«, gab Dr. Ferris bereitwillig zu.
»Sind Sie sich auch im klaren darüber, daß ich mich hätte weigern können zu kommen?«
»Sie sind aber gekommen«, erwiderte Dr. Ferris ölig.
»Warum hat man mir keine nähere Erklärung gegeben? Warum sind Sie nicht persönlich zu mir gekommen,
anstatt mir diese grünen Jungen auf den Hals zu schicken mit ihrem unverständlichen Gefasel, das halb nach
Wissenschaft und halb nach Abenteuerroman klang?«
»Ich war zu beschäftigt«, erklärte Dr. Ferris ohne Bedauern.
»Hätten Sie dann vielleicht die Liebenswürdigkeit, mir zu sagen, was Sie mitten in einer gottverlassenen
Ebene Iowas tun… und was ich dabei soll?«
Er zeigte mit einer wegwerfenden Bewegung in die staubige Prärie hinaus und auf die drei hölzernen
Tribünen. Die Tribünen waren neu errichtet, und das frische Holz schien in der Hitze zu schwitzen; er sah
goldene Harztropfen in der Sonne funkeln.
»Wir sind hier, um Zeugen eines historischen Ereignisses zu werden, Dr. Stadler, eines Ereignisses, das einen
Meilenstein in der Entwicklung von Wissenschaft, Zivilisation, öffentlicher Wohlfahrt und politischer
Anpassungsfähigkeit darstellen wird«, Dr. Ferris sprach im Ton eines Pressereferenten, der auswendig gelernte
Erklärungen abgab, »eines Ereignisses, das eine neue Epoche eröffnen wird.«
»Was für ein Ereignis? Was für eine Epoche?«
»Wie Sie feststellen können, sind nur die hervorragendsten Bürger, die führenden Köpfe unserer geistigen
Elite ausersehen worden, diesem Ereignis beizuwohnen. Wir konnten Sie, Dr. Stadler, dabei nicht übergehen –
und wir waren sicher, daß wir mit Ihrer Loyalität und mit Ihrer Mitwirkung rechnen konnten.«
Es gelang Stadler nicht, Dr. Ferris’ Blic k zu fassen. Die Tribünen füllten sich rasch, und Dr. Ferris unterbrach
sich ständig, um Neuankömmlingen zuzuwinken, die Dr. Stadler nicht kannte, die aber wichtige Persönlichkeiten
sein mußten – nach der zwar fröhlich ungezwungenen, aber doch respektvollen Art zu urteilen, mit der Dr. Ferris
ihnen zuwinkte. Sie schienen Dr. Ferris alle zu kennen und nach ihm auszuschauen, als wäre er der
Zeremonienmeister oder der Star der Veranstaltung.
»Würden Sie sich, bitte, ein wenig deutlicher ausdrücken«, sagte Dr. Stadler, »und mir verraten…«
»Hi, Spud!« rief Dr. Ferris einem stämmigen, weißhaarigen Manne zu, der in der Galauniform eines Generals
steckte.
Dr. Stadler hob die Stimme: »Ich sagte, würden Sie sich, bitte, ein wenig deutlicher ausdrücken und mir
verraten, was zum Teufel hier vorgeht…«
»Aber das ist doch sehr einfach. Es ist der glorreiche Triumph… Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment,
Dr. Stadler«, unterbrach sich Dr. Ferris hastig und stürzte davon, wie ein Lakai auf ein Klingelzeichen, in
Richtung einer Gruppe von anmaßend salopp aussehenden Männern; im Laufen wandte er sich noch einmal
lange genug Dr. Stadler zu, um zwei Worte hinzuzufügen, die er als genügende Erklärung für seine
Unhöflichkeit zu betrachten schien: »Die Presse!«
Dr. Stadler setzte sich mit einem ihm selbst unerklärlichen Widerwillen auf die Holzbank. Die drei Tribünen
standen mit kleineren Abständen in einem Bogen nebeneinander wie Ränge eines kleinen Privatzirkus und boten
je etwa dreihundert Personen Platz; sie schienen zur Beobachtung eines Schauspiels errichtet zu sein, doch sie
lagen der Leere einer flachen Prärie gegenüber, auf der nichts war außer dem dunklen Fleck einer mehrere
Meilen weit entfernten Farm. Vor einer der Tribünen, die für die Presse reserviert zu sein schien, waren
Rundfunkmikrophone installiert. Vor der Tribüne für Regierungsvertreter stand ein Kasten, der einer tragbaren
Schalttafel ähnlich sah; an seiner Stirnseite funkelten einige Metallhebel in der Sonne. Auf einem provisorischen
Parkplatz hinter den Tribünen verbreitete das blitzende Chrom neuer Luxusautos eine beruhigende Atmosphäre.
Doch das Gebäude, das einige hundert Meter weit vor den Tribünen auf einer Erhebung stand, machte auf Dr.
Stadler einen seltsamen, unbehaglichen Eindruck. Es war ein kleiner, niedriger Bau von unerkennbarer
Bestimmung, mit massiven Steinmauern, ohne Fenster außer einigen vergitterten Schlitzen, überdacht von einer
großen Kuppel, die mit ihrer plumpen Schwere das Gebäude in den Boden zu pressen schien. Aus dem unteren
Teil der Kuppel traten in unregelmäßigen Abständen einige ungleich dicke, rohe Tonrohre hervor, die keinem
industriellen oder sonst bekannten Zweck zu dienen schienen. Das ganze Gebäude vermittelte wie ein
gedunsener, giftiger Pilz den Eindruck stummer Bösartigkeit; es war offensichtlich neu, doch seine ungefüge,
schwerfällige Form ließ es aussehen wie ein im tiefen Dschungel ausgegrabenes Bauwerk aus primitiver Vorzeit,
das einem geheimen barbarischen Kult geweiht gewesen war. Dr. Stadler seufzte gereizt; er war der Geheimnisse
müde. Die Briefe, die ihn aufgefordert hatten, innerhalb von zwei Tagen zu einem nicht näher erläuterten Zweck
nach Iowa zu reisen, hatten schon die Stempel »Vertraulich« und »Streng geheim« getragen. Zwei junge
Männer, die sich als Physiker ausgaben, waren im Institut erschienen, um ihn hierher zu begleiten; seine Anrufe
in Dr. Ferris’ Büro in Washington waren unbeantwortet geblieben. Die jungen Leute hatten während eines
ermüdenden Fluges in einer Luftwaffenmaschine und einer anschließenden martervoll heißen Fahrt in einem
Regierungsauto über Wissenschaft, politische Notwendigkeiten, soziales Gleichgewicht und die Wichtigkeit der
Geheimhaltung soviel konfuses Zeug geredet, daß er am Ende weniger wußte als vor der Abreise. Es war ihm
nur aufgefallen, daß zwei Worte in ihrem Gewäsch immer wiedergekehrt waren, die auch im Text der Einladung
vorkamen, zwei Worte, die einen ominösen Klang hatten angesichts des unbekannten Zwecks seiner Reise: die
von ihm erwartete »Loyalität« und »Mitarbeit«.
Die jungen Männer hatten ihn an einen Platz in der vordersten Reihe der Tribüne gebracht, waren
verschwunden wie die Greifer eines Krans und hatten ihn dem plötzlich aufgetauchten Dr. Ferris überlassen.
Während er seine Umgebung beobachtete und Dr. Ferris erregt und wichtigtuerisch inmitten einer Gruppe von
Journalisten gestikulieren sah, beschlich ihn ein Gefühl von bestürzender Verwirrung, von unbegreiflicher
chaotischer Hilflosigkeit, hervorgerufen durch einen seelischen Mechanismus, über den er nicht Herr war und
der diesen Zustand automatisch nach Bedarf regulierte. In einem plötzlichen Anfall von Panik erkannte er
blitzartig, daß er im Unterbewußtsein das verzweifelte Bedürfnis empfand zu entfliehen. Doch jäh schlug sein
Verstand die Falltür zu den Abgründen seiner Seele zu. Er wußte, das dunkelste Geheimnis dieser Stunde,
entscheidender, unnahbarer und tödlicher als das, was in dem widerlichen steinernen Pilz verborgen sein mochte,
war die Macht, die ihn gezwungen hatte, dieser Einladung zu folgen. Er würde nie die Motive seines eigenen
Handelns erkennen können, dachte er; er dachte es nicht in verständlichen Worten, sondern empfand es wie
einen kurzen, häßlichen inneren Krampf, der ein Gefühl verbitterter Ohnmacht in ihm zurückließ. Die Worte, die
sein Denken bestimmten und es auch bestimmt hatten, als er widerwillig zustimmte, hierher zu kommen, wirkten
auf ihn wie eine autosuggestive Beschwörungsformel, die man nach Bedarf zitiert, um nicht denken zu müssen:
Was bleibt dir anderes übrig, wenn du es mit Menschen zu tun hast?
Er bemerkte, daß die laut Dr. Ferris für die Elite der Intellektuellen reservierte Tribüne größer war als die
Tribüne der Regierungsvertreter. Er ertappte sich dabei, daß er einen Stich billiger Eitelkeit empfand bei dem
Gedanken, in die vorderste Reihe gesetzt worden zu sein. Er wandte sich um und ließ seinen Blick über die
hinteren Ränge schweifen. Es war ein ernüchternder Schock für ihn, als er feststellen mußte, daß diese schäbige
zusammengewürfelte Gesellschaft nicht seiner Auffassung von einer geistigen Elite entsprach. Er sah
unterschwellig aggressive Männer und geschmacklos gekleidete Frauen. Er sah gemeine, tückische, mißtrauische
Gesichter, die von genau der Unsicherheit gezeichnet waren, die man in den Zügen eines Menschen mit Verstand
nie sehen wird. Er fand kein Gesicht, das er kannte, keines, das bedeutend erschien, und keines, das so aussah,
als könnte es diese Bezeichnung je verdienen.
Dann bemerkte er in der zweiten Reihe eine schlaksige Gestalt, die Gestalt eines älteren Mannes mit einem
langen, schlaffen Gesicht, das ihm irgendwie bekannt vorkam, an das er sich jedoch nur vage erinnerte – wie an
ein Foto in einer unappetitlichen Zeitschrift. Er beugte sich vor, deutete nach hinten und fragte die neben ihm
sitzende Frau: »Können Sie mir sagen, wer der Herr dort ist?«
Die Frau flüsterte in scheuer Ehrfurcht: »Das ist Dr. Simon Pritchett!«
Dr. Stadler wandte sich ab und wünschte, daß niemand ihn hier sehen würde, wünschte, daß niemand je
erfahren würde, daß er in dieser Gesellschaft gewesen war.
Er blickte auf und sah, daß Ferris die ganze Bande der Reporter auf ihn zuführte, sah ihn mit der Geste eines
Reiseführers in seine Richtung zeigen und hörte ihn, als er nahe genug herangekommen war, erklären: »Doch
warum sollen Sie Ihre Zeit mit mir vergeuden, wenn Sie aus der Quelle schöpfen können, wenn Sie mit dem
Manne sprechen können, der das große Ereignis dieses Tages möglich gemacht hat, mit Dr. Stadler persönlich!«
Einen Augenblick lang erschien es ihm, als träte bei seinem Anblick ein widerspruchsvoller Ausdruck in die
verbrauchten, zynischen Gesichter der Presseleute, ein Ausdruck, der nicht Achtung, Erwartung oder Hoffnung
war, sondern mehr ein Echo dieser Empfindungen, eine ferne Widerspiegelung des Ausdrucks, den sie in ihrer
Jugend beim Hören des Namens Robert Stadler gezeigt haben mochten. In diesem Augenblick empfand er einen
Impuls, den er sofort unterdrückte, den Impuls, ihnen zu sagen, daß er nichts von dem wußte, was hier vor sich
ging, daß seine Rolle in diesem Ereignis noch geringer war als ihre, daß er hierhergebracht worden war als
Lockvogel einer Bauernfängerei, fast als – Gefangener.
Statt dessen hörte er, wie er ihre Fragen bereitwillig beantwortete in dem herablassenden Ton eines Mannes,
der um alle Geheimnisse der höchsten Stellen weiß: »Ja, das State Science Institute ist stolz auf seine Leistungen
im Dienste des Gemeinwohls… Das State Science Institute ist nicht das Werkzeug irgendwelcher privaten
Interessen oder persönlicher Habgier, es dient dem Wohle der Menschheit, der gesamten Menschheit…« Wie ein
Diktaphon spuckte er die Gemeinplätze wieder aus, die er aus dem Munde von Dr. Ferris gehört hatte.
Er konnte sich nicht eingestehen, daß er einen Abscheu vor sich selbst empfand; er war sich zwar des Gefühls
an sich bewußt, hütete sich aber zu erkennen, wem es galt; er verabscheute, so glaubte er, die Männer, die ihn
umringten; denn sie zwangen ihn, dieses schmachvolle Theater zu spielen. Was bleibt dir anderes übrig, dachte
er, wenn du es mit Menschen zu tun hast?
Die Reporter machten sich kurze Notizen über seine Antworten. Ihre Gesichter zeigten jetzt den Ausdruck
von Automaten, die darauf eingestellt waren, so zu tun, als vernähmen sie Neuigkeiten in dem leeren Geklapper
eines anderen Automaten.
»Dr. Stadler«, fragte einer von ihnen, indem er auf das Bauwerk auf dem Hügel deutete, »ist es wahr, daß Sie
das Projekt X als die bisher größte Leistung des State Science Institute betrachten?«
Erwartungsvolles Schweigen trat ein.
»Projekt X…?« sagte dann Dr. Stadler.
Er erkannte, daß in seiner Stimme ein verhängnisvoll falscher Ton mitgeklungen haben mußte, denn er sah die
Köpfe der Reporter hochgehen wie beim Ertönen einer Alarmglocke, sah sie mit gezücktem Bleistift warten.
Einen Augenblick lang, während seine Gesichtsmuskeln sich zu einem verlogenen Lächeln verkrampften,
fühlte er eine unbestimmte, fast übernatürliche Angst, als ob wieder jener automatische Mechanismus in ihm
tätig wäre, der seinen Willen lähmte und für ihn handelte. »Projekt X?« sagte er leise, im Ton eines
Verschwörers. »Nun, meine Herren, der hohe Wert… und der gute Zweck… jeder Leistung des State Science
Institute dürften immer außer Frage stehen, da es sich ja um eine gemeinnützige Einrichtung handelt. Muß ich
noch mehr sagen?«
Er hob den Blick und sah, daß Dr. Ferris während des ganzen Interviews am Rande der Gruppe gestanden
hatte. Er fragte sich, ob er es sich nur einbildete, daß ihm der Ausdruck in Dr. Ferris’ Gesicht jetzt weniger
gespannt, aber impertinenter schien.
Zwei schwere, chromblitzende Wagen schossen mit voller Geschwindigkeit auf den Parkplatz und kamen mit
einem Tusch aufkreischender Bremsen zum Halten. Die Presseleute ließen ihn mitten in einem Satz stehen und
rannten den Männern entgegen, die den Wagen entstiegen waren. Dr. Stadler wandte sich an Ferris. »Was ist
Projekt X?« fragte er finster. Dr. Ferris lächelte unschuldig und unverschämt zugleich. »Eine gemeinnützige
Einrichtung«, antwortete er und lief ebenfalls den Neuangekommenen entgegen. Aus dem respektvollen
Geflüster der Menge erfuhr Dr. Stadler, daß der kleine Mann in dem schlottrigen Leinenanzug, der wie ein
Winkeladvokat aussah und in der Mitte der Gruppe schnell herankam, Mr. Thompson war, das Staatsoberhaupt.
Mr. Thompson warf den Journalisten, abwechselnd lächelnd, stirnrunzelnd oder bellend, Antworten zu. Wie eine
Katze, die sich an den Beinen von Herrchen und Frauchen reibt, schlich Dr. Ferris durch die Gruppe.
Die Gruppe näherte sich der Tribüne, und Dr. Stadler sah, daß Dr. Ferris sie in seine Richtung steuerte.
»Mr. Thompson«, sprach Dr. Ferris mit tönender Stimme, als sie vor ihm angekommen waren, »darf ich
Ihnen Dr. Robert Stadler vorstellen?«
Dr. Stadler sah die Augen des kleinen Winkeladvokaten ihn für den Bruchteil einer Sekunde scharf mustern.
Es war ein Blick, aus dem die abergläubische Scheu eines Laien sprach, der dem Vertreter einer mystischen Welt
gegenübersteht, die ihm für immer verschlossen bleiben wird, und zugleich die lauernde, berechnende
Gerissenheit eines zynischen Politikers, dem nichts heilig ist, ein Blick, der etwa der Frage entsprach: Na, wo ist
Ihr schwacher Punkt?
»Es ist eine Ehre für mich, Doktor, eine große Ehre«, sagte Mr. Thompson und schüttelte ihm die Hand.
Er erfuhr, daß der große Mann mit den hängenden Schultern und dem kurzen Haarschnitt Mr. Wesley Mouch
war. Die Namen der anderen Personen, denen er noch die Hand schütteln mußte, verstand er nicht. Als die
Gruppe sich in Richtung auf die Regierungstribüne entfernte, blieb er mit dem brennenden Bewußtsein einer
Entdeckung zurück, die er nicht zur Kenntnis zu nehmen wagte, der Entdeckung, daß er sich geschmeichelt
gefühlt hatte durch das anerkennende Nicken des kleinen Winkeladvokaten. Ein Schwarm junger Assistenten,
die aussahen wie Kinoplatzanweiser, tauchten von irgendwo mit Handkarren voll glitzernder Gegenstände auf,
die sie an das Publikum zu verteilen begannen. Es waren Feldstecher. Dr. Ferris nahm Aufstellung an einem der
Lautsprechermikrophone vor der Regierungstribüne. Auf ein Zeichen von Wesley Mouch ertönte plötzlich seine
Stimme über der Prärie, eine ölige, verlogen feierliche, dank dem Erfinder des Mikrophons zur Lautstärke eines
Riesen verstärkte Stimme: »Meine Damen und Herren! «
Die Menge war mit einem Schlag still, und alle Köpfe wandten sich in einer einzigen Bewegung Dr. Floyd
Ferris zu.
»Meine Damen und Herren, Sie sind auserwählt, in Anerkennung Ihrer hervorragenden Verdienste um das
Gemeinwohl und Ihrer sozialen Loyalität Zeugen zu werden der Enthüllung einer wissenschaftlichen
Errungenschaft von so gewaltiger Wichtigkeit, so ungeheurer Tragweite, so epochaler Möglichkeiten, daß sie bis
zu diesem Augenblick nur wenigen bekannt war, und auch diesen nur als Projekt X.«
Dr. Stadler richtete seinen Feldstecher auf den dunklen Fleck weit draußen in der Prärie.
Er sah, daß es die Ruine einer offenbar seit Jahren aufgegebenen Farm war. Zwischen den entblößtem
Dachsparren schimmerte das Blau des Himmels, und in den Fenstern blinkten die zackigen Reste der
zerbrochenen Scheiben. Er sah eine zerfallene Scheune, den verrosteten Turm eines Brunnens und das Wrack
eines umgestürzten Traktors.
Dr. Ferris sprach von den Kreuzfahrten der Wissenschaft und von den Jahren selbstloser Aufopferung,
unermüdlicher Arbeit und zäher Forschung, die das Projekt X erfordert hatte. Es war seltsam, dachte Dr. Stadler,
während er die Umgebung der Farm mit dem Glas absuchte, daß sich eine Herde von Ziegen an einem so
verlassenen Ort aufhalten sollte. Er hatte nämlich in der Nähe der zerfallenen Gebäude sechs oder sieben dieser
Tiere entdeckt, von denen einige, scheinbar dösend, auf dem Boden lagen, während die anderen träge an dem
kargen Präriegras kauten.
»Projekt X«, sagte Dr. Ferris, »ist hervorgegangen aus gewissen Forschungsergebnissen über Schallwellen.
Die Wissenschaft vom Schall besitzt erstaunliche Aspekte, die ein Laie kaum vermuten würde…«
Etwa zwanzig Meter von der Ruine entfernt entdeckte Dr. Stadler ein Gebilde, das offensichtlich neu
aufgestellt war, jedoch nicht erkennen ließ, zu welchem Zweck es dienen sollte. Es sah aus wie ein Gerüst aus
Stahlträgern, die sinnlos in die Luft ragten.
Dr. Ferris sprach jetzt über das Wesen der durch Töne erzeugten Schwingungen. Dr. Stadler richtete sein Glas
auf den Horizont jenseits der Farm, doch dort war viele Meilen weit nichts zu sehen. Die plötzliche, angestrengte
Bewegung einer der Ziegen lenkte seinen Blick zurück auf die Tiere. Er bemerkte, daß sie an Pfähle gebunden
waren.
»…und man entdeckte«, sagte Dr. Ferris, »daß es bestimmte Schallschwingungen gibt, denen kein Stoff, sei
er organisch oder anorganisch, widerstehen kann…«
Dr. Stadler sah zwischen den Tieren einen silbrigen Punkt, der sich hüpfend im Gras bewegte. Es war ein
Zicklein, das nicht angebunden war. Es umsprang spielend seine Mutter.
»Das Schallbündel wird durch ein Schaltwerk gelenkt, das sich in dem unterirdischen Laboratorium befindet,
dem Kuppelbau dort vor Ihnen«, sagte Dr. Ferris und zeigte auf das runde Gebäude auf dem Hügel. »Dieses
Schaltwerk wird von u ns das ‘Xylophon’ genannt, denn es erfordert höchste Geschicklichkeit und Vorsicht, die
richtigen Tasten zur rechten Zeit anzuschlagen, genauer gesagt, die richtigen Hebel zu bedienen. Für diese
besondere Gelegenheit ist ein Neben-Schaltwerk, das mit dem Haupt-Schaltwerk im Laboratorium verbunden
ist, hier aufgestellt worden«, – er deutete auf den Kasten vor der Regierungstribüne, »so daß Sie Zeugen des
gesamten Vorganges werden und die großartige Einfachheit des Mechanismus erkennen können…«
Dr. Stadler fand Vergnügen daran, das Zicklein zu beobachten, ein besänftigendes, beruhigendes Vergnügen.
Das kleine Geschöpf schien kaum eine Woche alt und sah aus wie eine weiße Fellkugel mit graziösen langen
Beinchen. Es sprang immer wieder hoch, übermütig, rührend ungeschickt seine vier Beine steif von sich
streckend. Es schien zu springen aus Freude über die Sonnenstrahlen, über die warme Sommerluft, über die
Entdeckung seines eigenen Daseins.
»Das Schallbündel ist unsichtbar und unhörbar, und seine Stärke, seine Richtung und seine Reichweite sind
genau einstellbar. Für die erste öffentliche Vorführung, der Sie beiwohnen werden, ist ein Wirkungsbereich von
nur zwei Meilen gewählt worden. Aus Sicherheitsgründen wurde darüber hinaus das Gelände in einer Tiefe von
zwanzig Meilen ebenfalls geräumt und abgesperrt. Die Generatorenanlage in unserem Laboratorium kann so
starke Schwingungen erzeugen, daß durch die Röhren, die Sie an der Kuppel herausragen sehen, das Gebiet in
einem Umkreis von hundert Meilen bestrichen werden könnte, also etwa von den Ufern des Mississippis in der
Nähe der Taggart-Transcontinental-Eisenbahnbrücke bis Des Moines und Fort Dodge in Iowa, bis Austin in
Minnesota, bis Woodman in Wisconsin und bis Rock Island in Illinois. Dies ist nur ein bescheidener Anfang.
Wir besitzen die technischen Kenntnisse, Generatoren mit einer Reichweite von zweihundert und dreihundert
Meilen zu bauen, doch auf Grund der Tatsache, daß man nicht in der Lage war, uns rechtzeitig eine ausreichende
Menge von hoch hitzebeständigem Metall, wie zum Beispiel Rearden Metal, zu liefern, mußten wir uns
vorläufig mit dieser Anlage von geringerem Wirkungsradius begnügen. Zu Ehren unseres großen Präsidenten
Mr. Thompson, unter dessen weitblickender Verwaltung dem State Science Institute die Mittel bewilligt wurden,
ohne die das Projekt X nicht möglich gewesen wäre, trägt diese große Erfindung nunmehr den Namen
‘Thompson-Harmonizer’.«
Die Menge klatschte Beifall. Mr. Thompson saß steif in seinem Sessel, das Gesicht in arrogantem
Selbstbewußtsein verkrampft. Dr. Stadler war überzeugt, daß dieser kleine Winkeladvokat mit dem Projekt X so
wenig zu tun hatte wie irgendeiner der Platzanweiser, daß er weder über den Verstand, noch die Initiative, noch
genügend Bösartigkeit verfügte, eine neue Mausefalle zu erfinden, daß auch er nur ein Rädchen in der großen,
lautlosen Maschine war, einer Maschine, die keinen Motor, keinen Führer, keine Steuerung hatte, einer
Maschine, die weder von Dr. Ferris, noch von Wesley Mouch, noch von einem der Statisten auf den Tribünen,
noch von einem Drahtzieher hinter den Kulissen in Bewegung gesetzt worden war, eine unpersönliche, hirnlose,
körperlose Maschine, über die keiner Herr, in der aber alle nach dem Maß ihres Mangels an Menschlichkeit
willenlose Rädchen waren. Dr. Stadler umklammerte die Kante der Bank, auf der er saß, denn er fühlte in sich
ein Verlangen, aufzuspringen und davonzulaufen.
»Über die Wirkungsweise der gebündelten Schallwellen werde ich nichts sagen, sondern es ihnen überlassen,
für sich selbst zu sprechen. Sie werden sie jetzt ni Tätigkeit sehen. Damit Ihnen nichts entgeht von dem
wunderbaren Schauspiel, bitte ich Sie, in dem gleichen Augenblick, in dem Dr. Blodgett die Hebel des
Xylophons betätigt, Ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Farm zu richten, die etwa zwei Meilen weit
entfernt vor Ihnen liegt, denn außer dem, was dort geschieht, wird nichts zu sehen sein. Auch die Wellen selbst
sind, wie gesagt, unsichtbar. Längst sind sich alle fortschrittlichen Denker darüber einig, daß es kein objektives
Sein, sondern nur Funktionen, keine absoluten Werte, sondern nur Wirkungen gibt. Und jetzt, meine Damen und
Herren, werden Sie die Funktion und die Wirkung des Thompson-Harmonizer erleben.«
Dr. Ferris verbeugte sich und ging mit langsamen Schritten vom Mikrophon weg, um seinen Platz auf der
Bank neben Dr. Stadler wieder einzunehmen.
Ein frühzeitig verfetteter junger Mann trat an den Schaltkasten und richtete seinen Blick erwartungsvoll auf
Mr. Thompson. Mr. Thompson sah einen Augenblick lang verwirrt drein, als hätte er vergessen, was er tun
sollte, bis Wesley Mouch sich vorbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.
»Einschalten!« sagte Mr. Thompson laut.
Dr. Stadler wandte mit einem Gefühl impulsiven Schauderns den Blick ab, als die Hand Dr. Blodgetts mit
einer affektierten, weibischen Bewegung den ersten Hebel der Schalttafel umlegte und dann den nächsten. Er
hob sein Glas an die Augen und richtete es auf die Farm.
Im gleichen Augenblick sah er, wie sich eine Ziege, die an ihrer Kette zerrte, um mit dem Maul eine große
trockene Distel zu erreichen, vom Boden hob, in der Luft zappelte, sich drehte und mit nach oben ausgestreckten
Beinen auf den Rücken fiel, mitten zwischen die anderen Tiere, die sich zuckend am Boden wälzten. Bis Dr.
Stadler glauben konnte, was er sah, hatte die graue Masse der Tierleiber sich beruhigt bis auf ein Bein, das steif
wie ein Stock aus ihr herausragte und zitterte wie unter einem heftigen Wind. Das Farmhaus schwankte, löste
sich in einzelne Bretter auf und stürzte in sich zusammen, gefolgt von der Steinkaskade des
auseinanderbröckelnden Kamins. Der Traktor zerschmolz zu einem Pfannkuchen. Der Turm des Brunnens
krümmte sich und fiel zur Seite, während das Seilrad sich wie aus eigenem Antrieb langsam zu drehen begann.
Das neu errichtete Stahlgerüst brach zusammen wie ein vom Lufthauch eines Seufzers umgewehtes Gebilde aus
lose aufeinandergelegten Streichhölzern. Alles geschah so schnell, so einfach und selbstverständlich, daß Dr.
Stadler kein Grauen empfand; er empfand überhaupt nichts. Was er gesehen hatte, gehörte nicht der Wirklichkeit
an, die er kannte, war ein Bild aus dem Alptraum eines Kindes gewesen, in dem stoffliche Dinge durch die Kraft
eines einzigen bösen Wunsches aufgelöst werden können. Er nahm das Glas von den Augen. Er sah auf eine
leere Ebene. Keine Farm war mehr zu sehen, nur noch ein dunkler Fleck im Gras, wo sie gestanden hatte,
unbestimmt wie der Schatten einer Wolke.
Ein einzelner hoher, dünner Schrei stieg hinter ihm aus den Rängen auf. Eine Frau war ohnmächtig geworden.
Er fragte sich verwundert, warum sie erst so lange nach dem Ereignis geschrien hatte, und stellte fest, daß nicht
einmal eine volle Minute vergangen war, seit Dr. Blodgett den ersten Hebel berührt hatte. Er hob das Glas rasch
wieder an die Augen, als suchte er Trost in der Hoffnung, draußen nichts mehr zu sehen außer dem
Wolkenschatten. Doch die Wirklichkeit war noch da; sie war ein Haufen Schutt. Er ließ den Blick immer wieder
über die Trümmer gleiten und begriff, daß er unbewußt nach dem Zicklein suchte. Er konnte es nicht entdecken;
er sah nur einen Haufen grauer Wolle.
Als er das Glas wieder senkte und sich zur Seite wandte, begegnete er dem kühlen Blick von Dr. Ferris. Er
fühlte die Gewißheit, daß Ferris während der ganzen Vorführung nicht das Ziel, sondern sein Gesicht beobachtet
hatte, als wollte er sehen, ob er, Robert Stadler, dem Strahl widerstehen konnte.
»Das wäre alles«, verkündete Dr. Blodgett durch das Mikrophon, und seine Stimme klang ölig überlegen wie
die eines Jahrmarktzauberers, der seinen gelungenen Trick kommentiert. »Kein Nagel und keine Niete der
Baulichkeit ist heil, und kein Blutgefäß in den Tierleibern ist ganz geblieben.« Eine Welle nervöser
Bewegungen, begleitet von hastigem Flüstern, ging durch die Reihen der Zuschauer. Sie sahen einander an,
erhoben sich unsicher, setzten sich zögernd wieder, schienen nichts sehnlicher herbeizuwünschen als ein Ende
dieser Pause. Unterdrückte Hysterie begann sich auszubreiten. Die Menschen schienen darauf zu warten, daß
man ihnen sagte, was sie denken sollten.
Dr. Stadler sah, wie man eine Frau von den hinteren Rängen die Stufen hinuntergeleitete. Sie hielt den Kopf
weit vorgebeugt, preßte ein Taschentuch gegen den Mund. Sie hatte sich erbrochen.
Er wandte sich ab und sah, daß Dr. Ferris ihn immer noch lauernd beobachtete. Stadler setzte sich steif auf,
Zorn und Verachtung im Blick, und fragte mit der entrüsteten Würde des größten Wissenschaftlers der Nation:
»Wer hat dieses grausige Ding erfunden?«
»Sie.«
Dr. Stadler starrte ihn entgeistert an.
»Es ist lediglich eine praktische Anwendung Ihrer theoretischen Entdeckungen«, fuhr Dr. Ferris unbeirrt
liebenswürdig fort. »Es basiert auf den unschätzbaren Ergebnissen Ihrer Forschung auf dem Gebiet der
kosmischen Strahlen und der räumlichen Übertragung von Energie.«
»Wer hat an dem Vorhaben gearbeitet?«
»Einige drittklassige Köpfe, wie Sie es nennen würden. Es war ja auch eine leichte Aufgabe. Keiner von
ihnen wäre fähig gewesen, Ihre Energieübertragungsformel zu entwickeln, doch sie anzuwenden, war nicht
schwierig.«
»Was ist der praktische Zweck dieser Erfindung? Was sind ihre epochalen Möglichkeiten?«
»Oh, haben Sie das noch nicht erkannt? Sie ist ein unvergleichliches Instrument der öffentlichen Sicherheit.
Kein Gegner würde den Besitzer einer solchen Waffe angreifen. Er wird das Land für immer frei machen von
der Angst vor Aggression und ihm ermöglichen, seine Zukunft in ungestörter Sicherheit zu planen.« Seine
Stimme hatte einen seltsam unverbindlichen Klang, als ob er weder erwartete noch sich bemühte, daß man ihm
glaubte. »Er wird alle sozialen Spannungen beseitigen. Er wird dem Frieden dienen, der Ordnung des Landes
und, wie sein Name sagt, der Harmonie unter den Menschen. Er wird alle Kriegsgefahren bannen.«
»Kriegsgefahren? Aggression? Wissen Sie denn nicht, daß die ganze Welt am Verhungern ist und all die
Volksstaaten nur noch dank der Almosen dieses Landes bestehen können? Fürchten Sie, daß diese
heruntergekommenen Wilden uns angreifen?«
Dr. Ferris sah ihm kalt in die Augen. »Innere Feinde können ebenso gefährlich sein wie äußere«, erwiderte er,
»vielleicht noch gefährlicher.« Jetzt klang seine Stimme so, als ob er mit Sicherheit erwartete, verstanden zu
werden. »Die gesellschaftliche Ordnung ist ein höchst labiles Gebilde. Bedenken Sie aber einmal, welche
segensreiche Stabilität erreicht werden könnte, wenn man an strategischen Punkten wissenschaftliche Anlagen
wie den Thompson-Harmonizer errichtete? Sie würden einen Zustand ewigen Friedens verbürgen. Glauben Sie
nicht auch?«
Dr. Stadler saß unbeweglich, schweigsam, und während die Sekunden vergingen, ohne daß sich der Ausdruck
seines Gesichtes veränderte, erweckte er immer mehr den Eindruck eines von innerem Entsetzen gelähmten
Menschen. Seine Augen starrten ins Leere, als sähe er plötzlich, was er längst geahnt, aber seit Jahren nicht hatte
sehen wollen, als spielte sich in ihm ein letzter Kampf ab zwischen der Macht des Erkannten und seinem Willen,
es zu leugnen.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden!« brachte er schließlich hervor.
Dr. Ferris lächelte. »Kein privater Unternehmer und kein profitgieriger Industrieller hätte das Projekt X
finanziert«, antwortete er im Ton einer zwanglosen Unterhaltung. »Er hätte es sich auch nicht leisten können.
Das Projekt X erforderte gewaltige Investitionen ohne Aussicht auf materiellen Gewinn. – Welchen Profit hätte
er sich davon versprechen können? Es sind keine Profite mehr zu erwarten von dieser Farm.« Er deutete auf den
dunklen Streifen draußen in der Prärie. »Projekt X aber ist, wie Sie so treffend bemerkt haben, eine
gemeinnützige, also nicht auf Profit bedachte Einrichtung. Im Gegensatz zu einer privaten Firma hat das State
Science Institute keine Schwierigkeiten bei der Beschaffung der Mittel für ein solches Vorhaben. Oder haben Sie
etwa gehört, daß das Institut in den letzten zwei Jahren finanzielle Schwierigkeiten gehabt hätte? Und dabei ist es
nicht leicht, von denen, auf die es ankommt, immer die notwendigen Gelder zur Förderung der Wissenschaft
bewilligt zu bekommen. Sie wollen für ihr Geld immer etwas Greifbares sehen. Nun, hier ist etwas Greifbares,
das einige Leute, die weiter sehen, sogar als etwas höchst Wichtiges erkannt haben. Sie überredeten die anderen,
dafür zu stimmen. Es war nicht schwer. Viele der anderen fühlten sich nämlich sicher, weil sie Geld für ein
geheimes Vorhaben bewilligten; sie hatten Vertrauen zu der Sache, weil man sie nicht für wichtig genug hielt,
eingeweiht zu werden. Es gab natürlich auch einige Skeptiker und Zweifler. Doch auch sie gaben nach, als sie
daran erinnert wurden, daß der Leiter des State Science Institute Dr. Robert Stadler ist, dessen Urteil und
Integrität sie nicht in Frage stellen können.«
Dr. Stadler blickte auf seine Fingernägel. Eine Stimme aus dem Lautsprecher riß plötzlich die
Aufmerksamkeit der Menge an sich, die der Panik ganz nahe war. Ein Sprecher mit einer Stimme, die wie ein
fröhliches Maschinengewehr knatterte und verkündete, daß die Zuschauer jetzt Zeugen der Rundfunksendung
würden, die der ganzen Nation Kunde geben würde von der großen Erfindung. Nach einem Blick auf seine
Armbanduhr, auf sein Manuskript und auf Wesley Mouchs erhobenen Arm bellte er in den glänzenden
Schlangenkopf des Mikrophons und in die Wohnzimmer, die Büros, die Fabriken, die Kinderstuben der Nation:
»Meine Damen und Herren! Hier spricht Projekt X!«
Dr. Ferris lehnte sich zu Dr. Stadler hinüber und sagte, während die Stakkato-Sätze des Sprechers wie
Pferdehufe über den Kontinent galoppierten und die neue Erfindung beschrieben: »Es ist von höchster
Wichtigkeit, daß in diesem kritischen Augenblick keine Kritik am Projekt X im Lande laut wird«, und fügte
lässig wie im Scherz hinzu: »und überhaupt keine Kritik an irgend etwas zu irgendeiner Zeit.«
»…und die politischen, kulturellen, intellektuellen und moralischen Führer der Nation«, gellte die Stimme des
Sprechers aus den Lautsprechern, »die als Ihre Vertreter und in Ihrem Namen Zeugen dieses großen Ereignisses
waren, werden Ihnen jetzt persönlich über ihre Eindrücke berichten.« Mr. Thompson bestieg als erster das
hölzerne Podest, auf dem das Mikrophon stand. Er hackte sich wie mit einem Buschmesser durch eine kurze
Ansprache, in der er die neue Ära willkommen hieß, und erklärte im Tone einer kriegerischen Herausforderung
an einen ungenannten Gegner, die Wissenschaft gehöre dem Volk und jeder Mensch auf dieser Erde habe das
Recht auf seinen Anteil an den Früchten des technologischen Fortschritts. Als nächster trat Wesley Mouch vor
das Mikrophon. Er sprach über soziale Planung und über die Notwendigkeit eines einmütigen
Zusammenschlusses zur Unterstützung der Planer. Er sprach über Disziplin. Einigkeit, Gehorsam dem Gesetz
gegenüber und die patriotische Pflicht, vorübergehende Härten zu ertragen. »Wir haben die Gehirne des Landes
mobilisiert. um für Ihr Wohl zu arbeiten. Diese große Erfindung ist das geniale Werk eines Mannes, dessen
Opferbereitschaft für die Sache der Menschlichkeit über alle Zweifel erhaben ist, eines Mannes, der von allen als
der größte Geist dieses Jahrhunderts anerkannt wird – Dr. Robert Stadler!«
»Wie?« stieß Dr. Stadler hervor und wandte sich ruckartig Dr. Ferris zu.
Dr. Ferris sah ihn mit nachsichtiger Milde an.
»Er hat mich nicht um Erlaubnis ersucht, das zu sagen!« zischte Dr. Stadler.
Dr. Ferris spreizte die Hände in einer Geste vorwurfsvoller Unschuld. »Jetzt sehen Sie, Dr. Stadler, wie
unangenehm es ist, wenn Sie sich durch politische Angelegenheiten aus der Ruhe bringen lassen, die Sie immer
für zu unwichtig gehalten haben, um sie zur Kenntnis zu nehmen. Es gehört nämlich nicht zu den Aufgaben von
Mr. Mouch, jemand um Erlaubnis zu ersuchen.«
Der Mann, der jetzt schlottrig wie eine Vogelscheuche vor dem Mikrophon stand und im gelangweilten,
hochnäsigen Ton eines Snobs zu sprechen begann war Dr. Simon Pritchett. Er erklärte näselnd, die neue
Erfindung sei ein Instrument der öffentlichen Sicherheit und verbürge das Gemeinwohl und jeder, der diese
offensichtliche Tatsache leugne, sei ein Feind der Gesellschaft und entsprechend zu behandeln. »Diese
Erfindung, das Werk Dr. Robert Stadlers, dieses hervorragenden Verfechters der Freiheit…«
Dr. Ferris öffnete eine Aktenmappe, entnahm ihr einige maschinebeschriebene Blätter und wandte sich an Dr.
Stadler: »Sie werden der Höhepunkt der Sendung sein«, sagte er. »Sie werden als letzter sprechen, am Ende der
Sendung.« Er reichte Dr. Stadler die Blätter. »Hier ist die Rede, die Sie halten werden.« Das übrige sagten seine
Augen; sie sagten, daß die Wahl seiner Worte nicht zufällig gewesen war.
Dr. Stadler nahm die Blätter, hielt sie jedoch zwischen zwei Fingern, wie jemand, der ein Stück Abfallpapier
hält, das er im nächsten Augenblick wegwerfen will.
»Ich habe Sie nicht gebeten, als Ghostwriter für mich zu schreiben«, sagte er. Der Sarkasmus in seiner
Stimme gab Ferris den Fingerzeig für seine weitere Taktik; jetzt war Sarkasmus nicht länger am Platze.
»Ich konnte nicht zulassen, daß Sie Ihre unschätzbare Zeit mit der Abfassung einer Rundfunkansprache
vergeuden«, sagte Dr. Ferris, »Ich war sicher, daß es Ihnen recht sein würde.« Er sagte es in falscher Höflichkeit,
die als falsch erkannt werden wollte, in dem Ton, mit dem man einem Bettler ein Almosen reicht, ohne ihn sein
Gesicht verlieren zu lassen.
Dr. Stadlers Reaktion verwirrte ihn. Dr. Stadler antwortete nicht, und er warf auch keinen Blick auf das
Manuskript.
»Mangel an Vertrauen«, brüllte auf dem Podium ein stiernackiger Sprecher mit der heiseren Stimme eines
Raufbolds, »Mangel an Vertrauen ist das einzige, was wir fürchten müssen! Wenn wir Vertrauen in die Pläne
unserer Führer haben, dann werden diese Pläne gelingen, und wir alle werden im Wohlstand leben, ja, im
Überfluß. Die Burschen, die herumlaufen und alles kritisieren und unsere Moral zerstören: Sie sind schuld daran,
daß es uns schlecht geht, daß wir hungern. Doch wir lassen sie nicht länger gewähren. Wir werden das Volk vor
ihnen zu schützen wissen, und, glauben Sie mir, wenn wir einen von diesen oberschlauen Zweiflern erwischen,
dann werden wir’s ihm zeigen.«
»Es wäre höchst bedauerlich«, sagte Dr. Ferris mit bekümmerter Stimme, »wenn gerade in diesem kritischen
Augenblick im Volk ein Ressentiment gegen das State Science Institute geweckt würde. Es herrschen viel
Unzufriedenheit und Unruhe im Land, und wenn die Leute die Bedeutung der neuen Erfindung mißverstehen,
sind sie fähig, ihre Wut an den Wissenschaftlern auszulassen. Wissenschaftler sind bei den Massen nie beliebt
gewesen.«
»Frieden«, flötete eine große, hagere Frau ins Mikrophon. »Diese Erfindung ist ein großes neues Instrument
des Friedens. Sie wird uns vor den bösen Plänen eigennütziger Feinde beschützen. Sie wird uns ermöglichen, in
Freiheit zu atmen und unsere Mitmenschen lieben zu lernen.« Sie hatte ein knochiges Gesicht und einen von
Langeweile verbitterten Mund und trug ein fließendes, blaßblaues Kleid, das an das Konzertgewand einer
Harfenistin erinnerte. »Sie kann als das Wunder betrachtet werden, das bisher in der Geschichte für unmöglich
gehalten wurde, als der Traum der Jahrhunderte, als die endgültige Synthese von Wissenschaft und Liebe.«
Dr. Stadler beobachtete die Gesichter auf den Tribünen. Die Menschen saßen jetzt ruhig auf ihren Plätzen, sie
hörten zu, doch in ihren Augen schimmerte ein Ausdruck von Unsicherheit, der Ausdruck einer Angst, die der
Verstand als unüberwindbar hinzunehmen im Begriff war. Sie wußten genau wie er, daß sie die Ziele der
gähnenden Röhren waren, die aus der Kuppel des Pilzgebäudes herausragten, und er fragte sich, wie sie nun
ihren Verstand zum Schweigen bringen und ihre Seelen für dieses Wissen blind machen würden. Er wußte, daß
die Worte, die sie hören und glauben wollten, sie als Ketten wie die Ziegen sicher im Bereich jener Rohre halten
würden. Sie verlangten verzweifelt danach zu glauben; er sah die verkniffenen Linien ihrer Lippen, er sah die
argwöhnischen Seitenblicke, die sie auf ihre Nachbarn warfen, als ob der Schrecken, der sie bedrohte, nicht der
Schallstrahl wäre, sondern die Menschen, die sie zwingen wollten, ihn als Schrecken zu erkennen. Ihre Augen
verschleierten sich vor der Wirklichkeit, doch der wunde Blick hinter diesem Schleier war ein Schrei um Hilfe.
»Was glauben Sie, was sie denken?« sagte Dr. Ferris mit schonungsvoller Ironie. »Vernunft ist die einzige
Waffe des Wissenschaftlers – und Vernunft hat, wie w ir ja wissen, keine Macht über die Menschen. In einer Zeit
wie der unseren, in der das Land aus den Fugen zu gehen droht und der Mob von blinder Verzweiflung bis an
den Rand der Gewalt getrieben wird, muß die Ordnung mit jedem verfügbaren Mittel aufrechterhalten werden.
Was bleibt uns anderes übrig, wenn wir es mit Menschen zu tun haben?«
Dr. Stadler antwortete nicht. Eine fette, wabbelige Frau mit einem zu engen Büstenhalter unter einem
dunklen, von Schweißflecken gebleichten Kleid, behauptete in das Mikrophon – Dr. Stadler traute seinen Ohren
nicht –, daß die neue Erfindung von den Müttern des Landes mit besonderer Dankbarkeit begrüßt wurde.
Dr. Stadler wandte sich ab; Ferris, der sein Gesicht scharf beobachtete, sah nur die edle Linie seiner hohen
Stirn und die tiefen Falten in den Winkeln eines von Bitterkeit gezeichneten Mundes. Plötzlich warf Dr. Stadler
mit unvermittelter Heftigkeit den Oberkörper herum und sah Ferris an, und sein Blick war wie Blut, das jäh aus
einer schon fast geschlossenen Wunde ausbricht. Sein Gesicht lag offen in ehrlichem Schmerz und unverhülltem
Entsetzen, als wären sie beide, er und Ferris, in diesem Augenblick menschliche Wesen, und sein Mund, rund
geöffnet wie zu einem stummen Aufschrei, formte, tonlos stöhnend, in Ungläubigkeit und Verzweiflung die
Worte:
»Wir leben in einem zivilisierten Lande, Ferris, in einem zivilisierten Land! «
Dr. Ferris ließ sich Zeit mit seiner Antwort und gab, um die Verlegenheitspause zu überbrücken, ein leises,
meckerndes Lachen von sich, bevor er sagte, als ob er etwas zitierte: »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
Dr. Stadler senkte die Augen.
Als Ferris weitersprach, hatte seine Stimme einen Unterton, der Dr. Stadler erschauern ließ, den er zunächst
nicht verstand, weil er ihn nie gehört hatte.
»Es wäre höchst bedauerlich, wenn etwas geschähe, das den Ruf des State Science Institute aufs Spiel setzen
würde. Das könnte zur Folge haben, daß das, Institut geschlossen oder einer von uns gezwungen wird, es zu
verlassen. Wohin sollten wir gehen? Wissenschaftler sind ein unzeitgemäßer Luxus in unseren Tagen, und es
gibt nicht mehr viele Personen oder Unternehmen, die sich diesen Luxus leisten können. Uns stehen keine Türen
offen. Wir wären in der Forschungsabteilung eines Industriekonzerns, wie zum Beispiel Rearden Steel, kaum
willkommen. Und wenn wir uns, was unvermeidlich sein wird, Feinde machen, so werden diese Feinde auch von
jenen gefürchtet werden, die versuchen, unser Talent zu nutzen. Ein Mann wie Rearden hätte für uns gekämpft.
Würde ein Mann wie Orren Boyle es auch tun? Doch dies sind nur theoretische Überlegungen, denn in
Wirklichkeit sind alle privaten wissenschaftlichen Forschungsstätten auf Grund der Verordnung 10-289
geschlossen worden. Die Verordnung ist, was Sie vielleicht nicht wissen, von Wesley Mouch erlassen worden.
Denken Sie vielleicht an Universitäten? Sie sind in der gleichen Lage. Sie können es sich nicht leisten, sich
jemand zum Feind zu machen. Wer würde für uns eintreten? Ich glaube, daß Männer wie Hugh Akston uns
unterstützt hätten, aber dieser Gedanke ist schon ein Anachronismus. Akston gehörte einem anderen Zeitalter an.
Die Entwicklung unserer sozialen und politischen Wirklichkeit hat sein Verbleiben darin längst unmöglich
gemacht. Und ich glaube nicht, daß Dr. Simon Pritchett oder die Generation, die unter ihm herangewachsen ist,
für uns eintreten könnte oder wollte. Ich habe nie an eine Sendung der Idealisten geglaubt. Dies ist kein Zeitalter
für weltfremden Idealismus. Wenn einer sich der Regierung widersetzen wollte, wie wollte er sich Gehör
verschaffen? Durch diese Herren von der Presse, Dr. Stadler? Über dieses Mikrophon? Gibt es in diesem Lande
noch eine unabhängige Zeitung? Eine unzensierte Funkstation? Privateigentum? Oder eine Privatmeinung?« Der
Ton seiner Stimme war jetzt eindeutig klar; es war der Ton mörderischer Erpressung. »Eine private Meinung ist
der Luxus, den sich niemand leisten kann.«
Dr. Stadlers Lippen bewegten sich zuckend, so zuckend wie die Muskeln der Ziegen. »Sie sprechen mit
Robert Stadler.«
»Das habe ich nicht vergessen. Eben weil ich es nicht vergessen habe, spreche ich so. ‘Robert Stadler’ ist ein
großer Name, und es täte mir leid, wenn er seinen Klang verlöre. Doch was ist heute ein großer Name? In
wessen Augen ist er groß?« Sein Arm zeigte in einer kreisenden Bewegung auf die Tribünen. »In den Augen der
Menschen, die Sie hier sehen? Wenn sie glauben, daß ein Werkzeug des Todes ein Instrument des Friedens ist,
wenn man es ihnen sagt, werden sie dann nicht auch glauben, wenn man es ihnen sagt, daß Robert Stadler ein
Verräter und ein Staatsfeind ist? Wollen Sie sich auf die Wahrheit berufen, Dr. Stadler? Die Wahrheit hat keinen
Platz in der gesellschaftlichen Ordnung. Grundsätze haben keinen Einfluß auf die Politik. Die Vernunft hat keine
Macht über Menschen. Alle Logik ist steril. Moral ist überflüssig. Antworten Sie mir nicht jetzt, Dr. Stadler. Sie
werden mir über das Mikrophon antworten. Sie sind der nächste Redner.«
Dr. Stadler hob die Augen. Er richtete den Blick wie hypnotisiert auf die grauen Trümmer der Farm draußen
in der Ebene und begriff, daß er dem inneren Entsetzen, das ihn ergriffen hatte, nicht mehr entrinnen konnte. Er
wußte, daß eine panische, vielfältige Angst ihn lähmte, doch diese Angst selbst hinderte ihn daran, nach ihrem
Wesen und ihrem Ursprung zu fragen. Er, der die Geheimnisse des kosmischen Raumes enträtselt hatte, war
nicht fähig, die Natur der widerstreitenden Empfindungen zu erkennen, deren Opfer er war, nicht imstande, den
Teufelskreis der dreifachen Angst, die ihn gefangen hielt, zu durchschauen, geschweige denn zu durchbrechen.
Es war die ehrenvolle Angst, Verrat an jenem Satz zu begehen, den er über dem Tor des Instituts hatte in den
Stein meißeln lassen: …dem furchtlosen Geiste und der unverletzlichen Wahrheit. Es war die nackte, brutale
Angst vor der physischen Vernichtung, eine menschenunwürdige Angst, die er in der zivilisierten Welt seiner
Jugend für unmöglich gehalten hatte. Und es war die feige Angst vor der Erkenntnis, daß er sich, wenn er der
ersten Angst gehorchte, der zweiten rettungslos auslieferte.
Er ging langsam, mit festen Schritten und erhobenem Haupt, das Manuskript seiner Rede in der krampfhaft
geballten Faust achtlos zerknüllend, auf das Rednerpodium zu. Er mochte ein Mann sein, der sich anschickt, ein
Ehrenpodest zu besteigen, oder einer, der seinen letzten Gang zur Guillotine ging. So wie ein Mensch im
Augenblick seines Todes sein ganzes Leben als Unbeteiligter wie in einem gerafften Film vor sich abrollen sieht,
so hörte Robert Stadler die Stimme des Sprechers die Liste seiner Verdienste und Leistungen und die Etappen
seiner Laufbahn verlesen. Ein leichtes Zucken überlief sein Gesicht bei den Worten: »… ehemaliger Dekan der
Physikalischen Fakultät der Patrick-Henry-Universität.« Er verstand auf seltsam unpersönliche Art, als wäre er
selbst hinter sich zurückgeblieben, daß die Menschen auf den Tribünen sogleich einem Akt der
Selbstvernichtung beiwohnen würden, der grausiger war als die Zerstörung der Farm. Er hatte die ersten drei
Stufen des Podiums erstiegen, als ein junger Reporter sich aus der Gruppe seiner Kollegen löste, auf ihn zulief,
von unten das Geländer packte und ihm den Weg versperrte.
»Dr. Stadler«, stieß er in verzweifeltem Flüstern hervor. »Sagen Sie ihnen die Wahrheit! Sagen Sie ihnen, daß
Sie nichts damit zu tun hatten! Sagen Sie ihnen, was für eine Teufelsmaschine diese Erfindung ist und wozu sie
gebraucht werden soll! Sagen Sie dem Lande, was für Menschen das sind, die es beherrschen wollen! Niemand
wird an Ihren Worten zweifeln! Sagen Sie ihnen die Wahrheit! Retten Sie uns! Sie sind der einzige, der es
kann!«
Dr. Stadler sah auf ihn hinunter. Er war jung; seine Bewegungen und seine Stimme hatten die Sicherheit und
Klarheit selbstbewußter Begabung. In seinen Augen leuchtete der Eifer einer unerschrockenen, ehrlichen
Intelligenz; es waren Augen, wie sie Dr. Stadler von den Bänken der Hörsäle zu sich hatte aufschauen sehen. Er
sah, daß diese Augen haselnußbraun waren und in der Erregung grün zu funkeln schienen.
Dr. Stadler wandte den Kopf nach hinten und sah Ferris panisch besorgt wie einen Leibwächter oder einen
Gefängnisaufseher herbeistürzen.
»Ich bin nicht hierher gekommen, um mich von aufsässigen Grünschnäbeln beleidigen zu lassen«, sagte Dr.
Stadler laut.
Dr. Ferris schoß auf den jungen Mann zu und, das Gesicht verzerrt vor Wut über den peinlichen Zwischenfall,
zischte er ihn an: »Geben Sie mir sofort Ihre Pressekarte und Ihre Arbeitsgenehmigung!«
»Ich bin stolz«, sagte Dr. Stadler in das Mikrophon zu einer aufmerksam lauschenden Nation, »daß meine
Jahre der Arbeit im Dienst der Wissenschaft mir zu der Ehre verhelfen haben, in die Hände unseres großen
Führers, Mr. Thompson, ein neues Instrument legen zu dürfen, das unschätzbare Möglichkeiten in sich birgt,
einen wohltätigen kulturerhaltenden und friedenbewahrenden Einfluß auf den Geist der Menschen auszuüben…«
Der Himmel atmete die stickige Hitze eines Backofens, und die Straßen New Yorks waren Kanäle, die nicht
Luft und Licht, sondern geschmolzenen Staub zu führen schienen. Dagny stand an der Straßenecke, wo der
Autobus des Flughafens sie abgesetzt hatte, und ließ das Bild der Stadt in wehrlosem Staunen auf sich einwirken.
Die Gebäude schienen mitgenommen von den Wochen der Sommerhitze, die Menschen aber von Jahrhunderten
namenloser Pein. Hilflos verwirrt beobachtete sie die Gesichter der Leute auf der Straße, überwältigt von einem
lähmenden Gefühl der Unwirklichkeit.
Dieses Gefühl der Unwirklichkeit hatte sie seit den frühen Morgenstunden nicht mehr verlassen, seit dem
Augenblick, da sie auf einer verlassenen Landstraße einer unbekannten Siedlung entgegengewandert war und
den ersten Menschen, den sie sah, angehalten und gefragt hatte, wo sie war.
»Watsonville«, hatte der Mann geantwortet. »Welcher Staat, bitte?« hatte sie gefragt. Der Mann hatte ihr
einen überraschten Blick zugeworfen und erwidert: »Nebraska.« Dann war er schnell weitergegangen. Sie hatte
ihm mit einem leeren Lächeln nachgesehen, hatte begriffen, daß er sich fragen mußte, wo sie herkam, und daß
keine Erklärung, die er sich geben mochte, so phantastisch s ein würde wie die Wahrheit.
Doch ebenso phantastisch war Dagny dieses Watsonville erschienen, als sie durch seine Straßen zum Bahnhof
ging. Sie hatte die Gewohnheit verloren, Verzweiflung als das normale und beherrschende Merkmal der Welt der
Menschen hinzunehmen, als etwas so Selbstverständliches, daß es unbemerkt blieb, und ihr erneuter Anblick traf
sie mit der ganzen Wucht ihrer ohnmächtigen Sinnlosigkeit. Sie hatte den Stempel der stummen Pein namenloser
Angst in den Gesichtern der Menschen gesehen, in ihren Augen den Blick der Weigerung, diese Angst zu
erkennen; sie schienen sich mit ungeheurer Anspannung in einem Zustand der Selbsttäuschung zu erhalten, nach
einem Ritual zu handeln, das dazu diente, die Wirklichkeit zu unterschlagen, die Augen vor der Welt zu
verschließen und ihr Leben aus Furcht vor einem unbekannten Verbot ungelebt zu lassen; und das Verbotene war
nichts anderes als der Wille, den Grund ihrer Angst zu erkennen und an ihrer Pflicht zu zweifeln, diese Angst
blind erdulden zu müssen. So übermächtig hatte dieses Wissen sie wieder überfallen, daß sie seither gegen das
Verlangen ankämpfen mußte, Fremden in den Weg zu treten, sie zu schütteln, ihnen ins Gesicht zu lachen und
sie anzuschreien: »So wachen Sie doch auf!«
Es gab doch keinen vernünftigen Grund für die Menschen, so unglücklich zu sein, wie sie es waren, hatte sie
sich gesagt. Doch dann war ihr wieder eingefallen, daß Vernunft eben jene Macht war, die sie aus ihrem Leben
verbannt hatten.
Sie hatte einen Zug bestiegen, der sie zum nächsten Flugplatz brachte. Sie hatte sich niemand zu erkennen
gegeben; es war ihr unwichtig erschienen. Sie hatte am Fenster des Wagens gesessen wie eine Fremde, die die
Sprache ihrer Mitreisenden nicht verstand. Sie hatte eine weggeworfene Zeitung aufgehoben. Es hatte sie Mühe
gekostet zu verstehen, was sie gedruckt vor sich sah, doch hatte sie nicht verstanden, warum es gedruckt worden
war; alles war ihr so kindisch sinnlos erschienen. Verwundert hatte sie auf einen Artikel gestarrt, in dem mit
Nachdruck darauf hingewiesen wurde, daß Mr. James Taggart der Öffentlichkeit mitteilte, seine Schwester sei
bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, und energisch allen unpatriotischen Gerüchten widersprach,
die etwas anderes behaupteten. Langsam war ihr die Verordnung wieder in Erinnerung gekommen, und sie hatte
begriffen, daß Jim durch die Möglichkeit des Verdachts beunruhigt war, sie könnte verschwunden und desertiert
sein. Der Tenor des Artikels hatte darauf schließen lassen, daß ihr Verschwinden eine Sensation erster Ordnung
gewesen und noch nicht vergessen war; so wurde Miss Taggarts tragischer Tod in einem Artikel erwähnt, der auf
die wachsende Zahl von Flugzeugunglücken hinwies, und auf der letzten Seite hatte sie ein Inserat gefunden, in
dem eine Belohnung von 100.000 Dollar für denjenigen ausgesetzt war, der die Trümmer ihrer Maschine finden
würde; dieses Inserat trug als Unterschrift den Namen Hank Rearden.
Beim Lesen dieses Namens war sie sich zum ersten Mal der Ungewöhnlichkeit ihrer Lage voll bewußt
geworden und hatte begriffen, daß ihre Rückkehr eine noch größere Sensation bedeuten mußte als ihr
Verschwinden. Sie empfand bei dem Gedanken an dramatische Empfangsfeierlichkeiten, an das Wiedersehen
mit Jim und die Fragen der Presse einen müden Widerwillen. Sie wünschte, sie hätte alle diese Aufregungen
bereits hinter sich.
Auf dem Flugplatz hatte sie einen Lokalblatt-Reporter entdeckt, der eine abreisende Regierungskommission
interviewte. Sie hatte gewartet, bis er sein Interview beendet hatte, ihm ihren Ausweis gezeigt und dem
Verblüfften erklärt: »Ich bin Dagny Taggart. Würden Sie bitte bekanntgeben, daß ich lebe und heute nachmittag
in New York eintreffe?« Die Maschine war sofort gestartet und hatte sie der Notwendigkeit enthoben, Fragen zu
beantworten.
Sie hatte mit starrem Blick Felder, Wälder, Prärien, Flüsse und Städte in der Tiefe unter sich hinfliegen sehen
und festgestellt, daß das Gefühl der Unerreichbarkeit, das sie beim Anblick der Erde aus der Höhe des
Flugzeuges empfand, das gleiche war, das sie befiel, wenn sie Menschen ansah, nur war die Entfernung, die sie
von diesen trennte, noch größer.
Die übrigen Fluggäste hatten eine Rundfunksendung verfolgt, die, nach dem Ernst ihrer Aufmerksamkeit zu
urteilen, wichtig zu sein schien. Sie selbst hatte ungewollt Satzfetzen verlogener Stimmen gehört, die über eine
neue Erfindung sprachen, von der man sich nicht genannte Vorteile für ungenannte Dinge versprach, die mit dem
Gemeinwohl zu tun hatten. Die Worte schienen so gewählt, daß man nicht erkennen konnte, was sie bedeuteten.
Dagny hatte sich gefragt, wie jemand so tun konnte, als verstünde er etwas, was er nicht verstand; doch genau
das hatten ihre Mitreisenden getan. Sie hatten sich benommen wie Kinder, die noch nicht lesen können, wenn sie
ein offenes Buch vor sich hinhalten und etwas, das ihnen gerade einfällt, vor sich hinbuchstabieren, als ob sie es
ablesen würden. Doch das Kind weiß, daß es spielt, hatte sie gedacht; diese Erwachsenen aber spielen sich selber
und einander vor, daß sie nicht spielen; sie kennen keine andere Form des Denkens und Lebens als den
Selbstbetrug. Das Gefühl von Unwirklichkeit hatte sie auch nicht verlassen, als sie landete und einer Meute von
Reportern ungesehen entkam, indem sie kein Taxi nahm, sondern in den Flughafenbus sprang. Jetzt, da sie an
einer Straßenecke New Yorks stand, war dieses Gefühl so stark, daß sie glaubte, in eine fremde Welt
zurückgekehrt zu sein.
Sie hatte nicht den Eindruck, nach Hause zu kommen, als sie ihre Wohnung betrat. Die Räume erschienen ihr
unpersönlich wie ein Hotelapartment, das ihrem früheren Heim ähnlich sah.
Doch sie spürte die erste Regung ihrer alten Energie, als sie den Telephonhörer abnahm und Reardens Büro in
Pennsylvania anrief.
»O Miss Taggart… Miss Taggart!« sagte freudig überrascht die sonst so strenge, gefühlsfremde Miss Ives.
»Guten Tag, Miss Ives. Ich habe Sie doch nicht erschreckt? Sie wußten doch, daß ich lebe?«
»O ja! Ich habe es heute morgen im Rundfunk gehört.«
»Ist Mr. Rearden in seinem Büro?«
»Nein, Miss Taggart. Er… er ist in den Rocky Mountains. Er sucht Sie. Ich meine… Ich erwarte seinen Anruf
jeden Augenblick. Er hat sein Quartier im Moment in Los Gatos, Colorado. Ich habe ihn sofort angerufen, als ich
die Nachricht hörte. Doch er war nicht da, und ich hinterließ Bescheid, daß er mich anrufen soll. Er ist nämlich
fast den ganzen Tag unterwegs… Mit dem Flugzeug… Doch er wird mich bestimmt anrufen, wenn er ins Hotel
zurückkommt.«
»Wie heißt das Hotel?«
»Hotel Eldorado in Los Gatos.«
»Ich danke Ihnen, Miss Ives.« Sie wollte den Hörer auflegen.
»O Miss Taggart!«
»Ja?«
»Was war mit Ihnen? Wo sind Sie gewesen?«
»Ich… ich werde es Ihnen erzählen, wenn ich Sie sehe. Ich bin jetzt in New York. Wenn Mr. Rearden anruft,
sagen Sie ihm, bitte, daß ich in meinem Büro bin.«
»Jawohl, Miss Taggart.«
Sie legte auf, doch ihre Hand blieb auf dem Hörer liegen, als wollte sie den Kontakt mit der ersten
Angelegenheit, die ihr wichtig war, aufrechterhalten. Sie ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, sah hinaus
auf die Stadt unter den Fenstern, und ihr graute davor, von neuem in den Nebel der Sinnlosigkeit
zurückzusinken.
Sie nahm den Hörer wieder auf und rief Los Gatos an.
»Hotel Eldorado«, sagte eine schläfrige, vorwurfsvolle Frauenstimme.
»Würden Sie, bitte, eine Nachricht für Mr. Rearden notieren? Sagen Sie ihm, sobald er zurückkommt, soll
er…«
»Einen Augenblick, bitte«, unterbrach sie die Stimme in jenem ungeduldigen Ton, der jede Anstrengung als
Zumutung zurückweist. Sie hörte das Klicken von Schaltern, ein Summen, eine Pause des Schweigens und dann
eine klare, feste Männerstimme, die »Hallo?« sagte. Es war Hank Rearden.
Sie starrte auf die Sprechmuschel wie auf die Mündung einer Pistole, unfähig zu atmen.
»Hallo?« wiederholte er.
»Hank, bist du es?«
Sie hörte einen leisen Laut, mehr ein Seufzen als ein Erschrecken, und dann das lange, leere Knistern des
Drahts.
»Hank!« – Keine Antwort. »Hank!« schrie sie in panischem Entsetzen. Sie glaubte ein Stöhnen zu hören und
hörte dann ein Flüstern, das nicht fragte, sondern alles sagte, was zu sagen war: »Dagny.«
»Hank, es tut mir leid! – Wußtest du nicht?«
»Wo bist du, Dagny?«
»Bist du…? Geht es dir gut?«
»Ja. Warum?«
»Wußtest du nicht, daß ich zurück bin – und lebe?«
»Nein, das wußte ich nicht.«
»Mein Gott, es tut mir leid, daß ich d ich angerufen habe. Ich hätte…«
»Wovon redest du? Dagny, wo bist du?«
»In New York. Hast du es nicht in den Nachrichten gehört?«
»Nein. Ich bin eben erst ins Hotel zurückgekommen.«
»Hat man dir gesagt, daß du Miss Ives anrufen sollst?«
»Nein.«
»Geht es dir gut?«
»Jetzt?« Sie hörte ein leises, tiefes Lachen. Und es wurde ein übermütiges Gelächter der Befreiung, das mit
jedem Wort anwuchs. »Wann bist du zurückgekommen?«
»Heute morgen.«
»Dagny, wo warst du?«
Sie antwortete nicht sofort. »Meine Maschine stürzte ab«, sagte sie dann. »In den Rockies. Leute haben mich
gefunden und mir geholfen, doch ich konnte niemand benachrichtigen.«
Das Lachen in seiner Stimme verstummte. »War es so schlimm?«
»Oh – ach, der Absturz? Nein, der war nicht schlimm. Ich war nicht verletzt. Nicht ernstlich.«
»Aber warum konntest du dann keine Nachricht geben?«
»Es gab keine… keine Möglichkeit.«
»Warum hast du so lange gebraucht, um zurückzukommen?«
»Ich… kann hierauf jetzt nicht antworten.«
»Dagny, warst du in Gefahr?«
Der ironische Ton ihrer Stimme klang fast wie ein Bedauern, als sie antwortete: »Nein.«
»Hat man dich festgehalten?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Du hättest also früher zurückkommen können, tatest es aber nicht?«
»Ja, so war es. Doch das ist alles, was ich dir sagen kann.«
»Wo bist du gewesen, Dagny?«
»Ich möchte jetzt nicht darüber sprechen. Laß uns warten, bis wir uns sehen.«
»Selbstverständlich. Ich werde dir keine Frage mehr stellen. Sage mir nur eins: Bist du jetzt in Sicherheit?«
»In Sicherheit? Ja.«
»Ich meine, hast du keinen dauernden Schaden davongetragen, oder haben sich keine dauernden Folgen für
dich ergeben?«
Sie antwortete, als ob sie leer lächelte: »Schäden keine, Hank. Was die Folgen betrifft, so weiß ich es noch
nicht.«
»Wirst du heute abend noch in New York sein?«
»Aber natürlich. Ich bin… ich bin zurück für immer.«
»Wirklich?«
»Warum fragst du?«
»Ich weiß nicht. Ich denke, ich bin zu sehr daran gewöhnt, was es bedeutet, wenn… wenn ich dich nicht
finden kann!«
»Ich bin zurück.«
»Ja. Wir sehen uns in wenigen Stunden.« Seine Stimme brach, als könnte er nicht glauben, was er gesagt
hatte. »In wenigen Stunden«, wiederholte er dann freudig gefaßt.
»Ich werde hier sein.«
»Dagny…«
»Ja?«
Er lachte leise. »Ach, nichts. Ich wollte nur deine Stimme noch einmal hören. Verzeih mir. Ich meine, nicht
jetzt. Ich meine, ich will jetzt nichts mehr sagen.«
»Hank, ich…«
»Sag es, wenn wir beisammen sind, Dagny. Bis dann.«
Sie stand eine Zeitlang unbeweglich und starrte auf den stummen Hörer. Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr
empfand sie Schmerz, einen heftigen Schmerz; doch sie begrüßte ihn, denn er zeigte ihr, daß sie noch lebte.
Sie rief ihre Sekretärin an und teilte ihr kurz mit, sie werde in einer halben Stunde in ihrem Büro sein. Die
Statue Nathaniel Taggarts war lebendige Wirklichkeit für sie, als sie in der Halle des Taggart Terminals vor ihr
stand. Ihr war, als wären sie beide allein in dem hohen, hallenden Tempel, nur umgeben von den Nebelschwaden
gestaltloser Geister. Sie blieb einige Sekunden lang am Fuß der Statue stehen und sah wie in kurzer stiller
Andacht zu ihr auf. Ich bin zurück, waren die einzigen Worte, die sie zu sagen wußte.
»Dagny Taggart« war immer noch die Inschrift auf dem Milchglas an der Tür ihres Büros. Der Blick, mit dem
ihre Angestellten sie empfingen, als sie den Vorraum betrat, war der von Ertrinkenden beim Anblick einer
Rettungsleine. Sie sah Eddie Willers in seinem Glaskasten hinter seinem Schreibtisch einem unbekannten Mann
gegenüberstehen. Eddie machte eine Geste in ihre Richtung, hielt aber inne; er erweckte den Eindruck eines
Gefangenen. Sie begrüßte der Reihe nach jedes der ihr zugewandten Gesichter mit einem freundlichen, fast
mitleidigen Lächeln und ging dann auf Eddies Schreibtisch zu.
Eddie sah ihr entgegen, als nähme er in diesem Augenblick nichts anderes wahr, doch seine verkrampfte
Haltung verriet, daß er den Eindruck erwecken wollte, dem Mann, der vor ihm stand, aufmerksam zuzuhören.
»Lokomotiven?« sagte der Mann mit einer näselnden Stimme, die zugleich abgehackt und schleppend klang.
»Lokomotiven sind kein Problem. Sie nehmen einfach…«
»Hallo«, sagte Eddie leise mit einem schwachen Lächeln, als begrüßte er eine ferne Vision.
Der Mann wandte sich um und sah sie an. Er hatte gelbliche Haut, lockiges Haar und ein unter weichen
Muskeln verborgenes hartes Gesicht; er hatte die abstoßende Attraktivität jener Typen, die in Nachtclubs
zuhause sind; seine trüben braunen Augen waren flach und leer wie Glas.
»Miss Taggart«, sagte Eddie in einem fast feierlichen Ton, als wollte er den Mann darauf aufmerksam
machen, daß hier andere Höflichkeitsformen galten als dort, wo er herkam, »darf ich Ihnen Mr. Meigs
vorstellen?«
»Guten Tag«, sagte der Mann ohne Betonung, wandte sich wieder Eddie zu und sprach weiter, als wäre sie
nicht da. »Lassen Sie den Comet morgen und am Dienstag ausfallen und schicken Sie die Lokomotiven nach
Arizona für den Grapefruit-Spezialzug, zusammen mit dem Wagenmaterial des Scranton-Kohlenzuges, von dem
wir schon gesprochen haben. Geben Sie sofort die nötigen Anweisungen.«
»Sie werden nichts derartiges tun«, sagte Dagny in schwachem Protest, zu ungläubig, um zornig sein zu
können. Eddie antwortete nicht.
Meigs musterte sie mit einem Blick, der Erstaunen ausgedrückt hätte, wenn seine Augen fähig gewesen
wären, ein Gefühl widerzuspiegeln. »Geben Sie die Anweisungen«, sagte der Mann zu Eddie ohne besonderen
Nachdruck und ging hinaus.
Eddie machte Notizen auf ein Stück Papier.
»Bist du wahnsinnig?« fragte sie.
Er hob die Augen und sah sie mit dem Blick eines angeschlagenen Boxers an. »Wir werden es tun müssen,
Dagny«, sagte er mit toter Stimme.
»Wer war das?« fragte sie und deutete auf die Tür, die sich hinter Mr. Meigs geschlossen hatte.
»Der Koordinierungsleiter.«
»Wer?«
»Der Beauftragte Washingtons für die Durchführung des Eisenbahn-Koordinierungsplans.«
»Was ist das?«
»Das ist… Dagny, wie geht es dir? Warst du verletzt? Bist du mit dem Flugzeug abgestürzt?«
Sie hatte nie versucht, sich vorzustellen, wie Eddie Willers’ Gesicht aussehen mochte, wenn er alt war, doch
sie sah es jetzt. Er war mit fünfunddreißig innerhalb eines Monats ein alter Mann geworden. Es waren nicht die
Runzeln und Falten einer verwelkten Haut, was sie sah, es war das gleiche feste Gesicht mit den gleichen Zügen,
aber verwittert und gezeichnet von hoffnungsloser Resignation.
Sie lächelte ihm mit einem verstehenden, aufmunternden Lächeln zu, das alle Probleme beiseiteschob,
streckte ihm ihre Hand hin und sagte: »Hallo, Eddie.«
Er nahm ihre Hand und preßte sie gegen seine Lippen; das hatte er nie zuvor getan, und er tat es ohne Scheu
oder Anmaßung, in schlichter, ehrlicher Gebärde.
»Ich bin abgestürzt«, sagte sie, »und, Eddie, damit du es weißt, ich war nicht verletzt, nicht ernstlich; doch das
werde ich weder der Presse noch all den anderen sagen, und ich bitte dich, die Wahrheit für dich zu behalten.«
»Selbstverständlich.«
»Ich hatte keine Möglichkeit, mit irgend jemand in Verbindung zu treten; doch nicht, weil ich verletzt war.
Das ist alles, was ich dir sagen kann, Eddie. Frage mich nicht, wo ich gewesen bin und warum ich so lange
gebraucht habe, um zurückzukommen.«
»Gut.«
»Und nun sage mir, was bedeutet dieser Eisenbahn-Koordinierungsplan?«
»Er… Hast du etwas dagegen, wenn ich dich bitte, es dir von Jim sagen zu lassen? Er wird es früh genug tun
wollen. Ich habe einfach nicht den Mut dazu… Es sei denn, du bestehst darauf«, fügte er mit sichtlicher
Anstrengung, nicht unbotmäßig zu erscheinen, hinzu.
»Nein, es ist schon gut. Sage mir nur, ob ich diesen Koordinierungsleiter richtig verstanden habe; er verlangt,
daß du den Comet für zwei Tage ausfallen läßt, um eine Lok für einen Grapefruit -Spezialzug in Arizona frei zu
haben?«
»Jawohl.«
»Und er hat einen Kohlenzug gestrichen, um Wagen für einen Grapefruit-Transport zu haben?«
»Ja.«
»Grapefruit?«
»Genau.«
»Warum?«
»Dagny, ‘warum’ ist ein Wort, das niemand mehr gebraucht.«
Nach kurzem Nachdenken fragte sie: »Hast du eine Ahnung, was dahinter steckt?«
»Eine Ahnung? Die brauche ich nicht. Ich kenne den Grund.«
»Nun, dann sag ihn mir.«
»Der Grapefruit-Spezialzug ist für die Gebrüder Smather. Sie haben voriges Jahr von einem Mann in Arizona,
den das Chancenausgleichsgesetz pleite gemacht hat, eine Obstfarm gekauft. Der Mann hatte die Farm seit
dreißig Jahren. Die Brüder Smather waren im Jahr zuvor noch im Spielautomatengeschäft. Sie kauften die Farm
mit Hilfe einer Anleihe von Washington, die ihnen auf Grund eines Gesetzes zur Wiederurbarmachung verödeter
Gebiete – wie Arizona – gewährt wurde. Die Brüder Smather haben Freunde in Washington.«
»Und?«
»Dagny, jeder weiß es. Jeder weiß, wie in den letzten Wochen die Fahrpläne festgelegt wurden und warum
manche Bezirke und manche Kunden Laderaum bekamen und andere nicht. Doch man erwartet von uns, daß wir
so tun, als glaubten wir, das ‘Gemeinwohl’ sei der einzige Grund für alle Entscheidungen und das Gemeinwohl
der Stadt New York verlange die sofortige Belieferung mit einer großen Menge Grapefruit.« Er machte eine
Pause und fuhr dann fort: »Der Koordinierungsleiter ist alleiniger Richter in Sachen des Gemeinwohls und die
letzte Autorität in der Zuteilung von allem rollenden Material auf allen Eisenbahnstrecken der Vereinigten
Staaten.«
Einige Sekunden lang schwiegen beide. Dann sagte sie: »Ach so!« Und nach weiterem Schweigen fragte sie:
»Wie weit sind die Arbeiten im Winston-Tunnel?«
»Oh, die sind vor drei Wochen abgebrochen worden. Die Züge wurden nie ausgegraben. Es fehlte an den
nötigen Maschinen.«
»Was ist getan worden, um die alte Strecke wiederherzustellen?«
»Der Plan wurde aufgeschoben.«
»Dann befahren wir also keine Transkontinental-Strecke mehr?«
Er warf ihr einen scheuen Blick zu. »Doch, doch«, sagte er bitter.
»Auf dem Umweg über die Kansas-Western-Linie?«
»Nein.«
»Eddie, was ist in dem vergangenen Monat geschehen?«
Er lächelte, als wären seine Worte ein schmachvolles Geständnis, »Wir haben im letzten Monat Geld
verdient«, antwortete er.
Sie sah James Taggart, begleitet von Mr. Meigs, durch die Außentür den Vorraum betreten. »Eddie, willst du
bei dieser Besprechung anwesend sein?« fragte sie. »Oder möchtest du lieber gehen?«
»Nein. Ich möchte bleiben.«
Jims Gesicht sah aus wie ein Stück zerknülltes Papier, obwohl seine weichen, aufgedunsenen Züge keine
neuen Falten zeigten.
»Dagny, wir haben eine Menge zu besprechen, eine Menge wichtiger Veränderungen, die…«, sagte er mit
schriller, ihm vorauseilender Stimme. »Ach ja… ich bin froh, dich wiederzusehen, bin glücklich, daß du lebst«,
fügte er ungeduldig hinzu, da ihm dies im letzten Augenblick eingefallen war. »Doch jetzt sind einige
dringende…«
»Gehen wir in mein Büro«, unterbrach sie ihn.
Ihr Büro war eine getreue historische Rekonstruktion, zweifellos vorgenommen von Eddie Willers. Ihre
Karte, ihr Kalender, das Bild Nat Taggarts hingen an der Wand, und keine Spuren der Clifton Locey-Ära waren
zurückgeblieben.
»Ich nehme an, daß ich noch immer Stellvertretende Vorstandsvorsitzende dieser Eisenbahngesellschaft bin?«
fragte sie und nahm an ihrem Schreibtisch Platz.
»Selbstverständlich«, erwiderte Jim hastig, anklagend, fast herausfordernd. »Du bist es noch… und vergiß
nicht, du bist nie zurückgetreten, du bist immer noch… oder bist du?«
»Nein, ich bin nicht zurückgetreten.«
»Das Wichtigste ist jetzt, daß du es der Presse sagst. Sag ihnen, daß du wieder zurück bist, und wo du warst
und – übrigens, wo bist du gewesen?«
»Eddie«, sagte sie, »notiere, was ich jetzt sage, und schicke es an die Zeitungen. Meine Maschine hatte
Motorschaden, während ich über die Rocky Mountains zum Taggart-Tunnel flog. Ich verlor die Orientierung, als
ich nach einem Platz für eine Notlandung suchte, und stürzte in einem unbewohnten Berggebiet in Wyoming ab.
Ein alter Hirte und seine Frau fanden mich, brachten mich in ihre Hütte, die tief in der Wildnis lag, fünfzig
Meilen weit von der nächsten Siedlung entfernt. Ich war schwer verletzt und fast zwei Wochen lang meistens
bewußtlos. Die alten Leute hatten kein Telefon, kein Radio, keine Nachrichten- oder Transportverbindung mit
der übrigen Welt, bis auf einen alten Lastwagen, der versagte, als sie ihn benutzen wollten. Ich mußte bei ihnen
bleiben, bis ich wieder kräftig genug war, gehen zu können. Ich ging die fünfzig Meilen bis zum nächsten Ort zu
Fuß und ließ mich dann per Anhalter bis zu einer Taggart-Station in Nebraska mitnehmen.«
»Ich verstehe«, sagte Taggart. »Das wäre also in Ordnung. Wenn du jetzt der Presse dein Interview gibst…«
»Ich werde kein Presseinterview geben.«
»Wie? Aber sie haben den ganzen Tag lang bei mir angerufen! Sie warten darauf! Es ist wichtig!« Er steigerte
sich in panische Erregung.
»Es ist ungeheuer wichtig!«
»Wer hat den ganzen Tag lang angerufen?«
»Die Leute in Washington und… und andere… Sie warten auf deine Erklärung.«
Sie zeigte auf Eddies Notizen. »Dies ist meine Erklärung.«
»Aber das ist nicht genug! Du mußt sagen, daß du nicht zurückgetreten bist.«
»Das bedarf keiner besonderen Erklärung. Ich bin wieder hier. Das genügt.«
»Du mußt etwas darüber sagen.«
»Was zum Beispiel?«
»Etwas Persönliches.«
»Zu wem?«
»Zum ganzen Land. Die Leute haben sich Sorgen um dich gemacht. Du mußt sie beruhigen.«
»Was ich gesagt habe, wird sie beruhigen, wenn jemand sich wirklich Sorgen um mich gemacht haben sollte.«
»Das meine ich doch gar nicht!«
»Nun, was meinst du denn?«
»Ich meine…« Er unterbrach sich, bemühte sich, ihrem Blick auszuweichen. »Ich meine…« Er suchte nach
Worten, ließ seine Fingergelenke knacken.
Jim ist dem Zusammenbruch nahe, dachte sie; die hysterische Ungeduld, die schrille Stimme, die fahrigen
Bewegungen waren neu an ihm; seine Pose glattzüngiger Behutsamkeit hatte Ausbrüchen eines wirkungslos
drohenden Tones Platz gemacht.
»Ich meine…« Er suchte weiter nach Worten, das zu benennen, was er meinte, ohne es beim Namen zu
nennen; er wollte ihr verständlich machen, was er nicht verstanden haben wollte. »Ich meine, die
Öffentlichkeit…«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte sie. »Nein, Jim, ich werde die Öffentlichkeit nicht über die Lage unserer
Industrie beruhigen.«
»Jetzt bist du…«
»Die Öffentlichkeit bleibt besser so beruhigt, wie sie es verdient. Kommen wir zum Geschäft.«
»Ich…«
»Komm zum Geschäft, Jim.«
Er warf einen Blick auf Mr. Meigs. Mr. Meigs saß mit übergeschlagenen Beinen in seinem Sessel und rauchte
schweigend eine Zigarette. Er trug eine Jacke, die wie eine Uniform aussah. Sein fleischiger Nacken quoll über
den Kragenrand, und das Fett seines Körpers drohte die enge Jacke zu sprengen, die es verbergen sollte. Er trug
einen Ring mit einem gelben Diamanten, der aufblitzte, wenn er seine kurzen, dicken Finger bewegte.
»Du hast Mr. Meigs kennengelernt«, sagte Taggart. »Ich bin froh, daß ihr beide gut miteinander auskommen
werdet.« Er machte eine abwartende Pause; doch keiner der beiden Angesprochenen antwortete ihm. »Mr. Meigs
ist der Vertreter des Eisenbahn-Koordinierungsplans. Du wirst viel Gelegenheit haben, mit ihm
zusammenzuarbeiten.«
»Was ist der Eisenbahn-Koordinierungsplan?«
»Er ist ein… Verfahren auf nationaler Ebene, das seit drei Wochen angewandt wird und das du bestimmt
schätzen und billigen und äußerst praktisch finden wirst.«
Sie staunte über die Primitivität seiner Taktik; er tat so, als ob er dadurch, daß er ihre Meinung nach seinem
Wunsch vorformulierte, sie daran hindern könnte, sie zu ändern. »Es ist eine Notmaßnahme, die den
Eisenbahnverkehr des Landes vor dem Zusammenbruch gerettet hat.«
»Worin besteht diese Maßnahme?«
»Du begreifst sicherlich die unüberwindlichen Schwierigkeiten, die jeder Art von Neubau in dieser Notzeit
entgegenstehen. Man kann, natürlich nur vorübergehend, unmöglich neue Strecken bauen. Deshalb besteht die
Hauptaufgabe des Landes darin, das Eisenbahntransportsystem als Ganzes zu erhalten und sich auf die
bestmögliche Ausnutzung aller vorhandenen intakten Anlagen und des gesamten Bestandes an noch
brauchbarem rollendem Material zu beschränken.«
»Wie soll das geschehen?«
»Angesichts des nationalen Notstands sind sämtliche Eisenbahnlinien des Landes zu einem einzigen System
vereinigt worden, das zentral verwaltet wird. Die gesamten Bruttoeinnahmen aller Gesellschaften werden an den
Eisenbahn-Koordinierungsausschuß in Washington abgeführt, der als Treuhänder für das Eisenbahnwesen als
Ganzes fungiert und das Totaleinkommen an die einzelnen Unternehmungen verteilt, und zwar nach einem…
einem modernen, zeitgemäßeren Prinzip.«
»Wie sieht dieses Prinzip aus?«
»Oh, habe keine Angst, die Eigentumsrechte bleiben erhalten und werden garantiert; man hat ihnen nur eine
neue Form gegeben. Jede Gesellschaft bleibt unabhängig und voll verantwortlich für ihren eigenen Betrieb, für
ihre Fahrpläne und für die Instandhaltung ihrer Strecken und ihres Wagen- und Maschinenparks. Als ihren
Beitrag zum nationalen Eisenbahnsystem erlaubt jede Gesellschaft allen anderen, wenn die Lage es erfordert,
ihre Strecken und ihr rollendes Material ohne Bezahlung zu benutzen. Am Ende des Jahres verteilt der
Koordinierungsausschuß die Gesamteinnahmen, und jede Gesellschaft wird nicht nach dem altmodischen, dem
Zufall unterworfenen Maßstab der gefahrenen Meilen oder der beförderten Frachten entschädigt, sondern nach
Maßgabe ihres dringendsten Bedarfs, das heißt, da die Erhaltung ihrer Strecken ihre wichtigste Aufgabe ist, wird
jede Gesellschaft entsprechend der Länge der Strecken berücksichtigt, die sie besitzt und unterhält.«
Sie hörte die Worte, verstand ihren Sinn, war jedoch unfähig, auf sie zu reagieren, unfähig, Besorgnis, Scham
oder Zorn über ein Wahnsinnsprodukt zu empfinden, das nur hatte zustande kommen können, weil die Menschen
so tun wollten, als hielten sie es für vernünftig. Sie empfand nur eine dumpfe Leere in sich und das Gefühl, weit
außerhalb des Bereiches moralischer Entrüstung geschleudert worden zu sein.
»Wessen Strecken benutzen wir für unseren transkontinentalen Verkehr von Küste zu Küste?« fragte sie mit
müder, fast tonloser Stimme.
»Unsere eigenen natürlich«, erwiderte Taggart eifrig, »das heißt, von New York bis Bedford, Illinois. Von
Bedford an fahren unsere Züge weiter auf der Strecke von Atlantic Southern.«
»Nach San Francisco?«
»Ja. Die Strecke ist kürzer als die Umleitung, die du geplant hattest.«
»Wir befahren diese Strecke, ohne für ihre Benutzung zu zahlen?«
»Nebenbei, deine Umleitung wäre nicht von langer Dauer gewesen; die Kansas-Western-Linie ist stillgelegt
worden, und außerdem…«
»Ohne Atlantic Southern für die Benutzung ihrer Strecke zu entschädigen?«
»Ja. Sie zahlen auch nichts für die Benutzung unserer Mississippi-Brücke.«
Nach kurzem Nachdenken fragte sie: »Hast du dir einmal eine Karte angeschaut?«
»Gewiß«, mischte sich Meigs unerwartet ein. »Sie besitzen das größte Streckennetz aller Gesellschaften des
Landes. Sie brauchen sich in dieser Beziehung keine Sorgen zu machen.«
Eddie Willers lachte laut auf.
Meigs sah ihn verwundert an. »Was ist mit Ihnen los?« fragte er.
»Nichts«, erwiderte Eddie müde. »Nichts.«
»Mr. Meigs«, sagte sie, »wenn Sie sich eine Karte ansehen, werden Sie feststellen, daß uns zwei Drittel der
Kosten für die Instandhaltung unserer Transkontinental-Strecken erstattet und von unserer Konkurrenz bezahlt
werden.«
»Ja, so ist es«, antwortete er, doch seine Augen wurden schmal, und er sah sie argwöhnisch an, als fragte er
sich, was sie dazu veranlaßt haben könnte, eine so unverblümte Feststellung zu treffen.
»Wir werden also dafür bezahlt, daß wir Hunderte von Meilen an nutzloser Strecke besitzen, auf denen kein
Zug verkehrt«, sagte sie. Meigs verstand und lehnte sich zurück, als hätte er alles weitere Interesse an der
Unterhaltung verloren.
»Das stimmt nicht!« rief Taggart aus. »Wir lassen eine große Anzahl von Lokalzügen verkehren, um das
Hinterland unserer früheren Transkontinentalstrecke zu bedienen. In Iowa, Nebraska und Colorado – und auf der
anderen Seite des Tunnels in Kalifornien, Nevada und Utah.«
»Wir lassen täglich zwei Lokalzüge fahren«, bemerkte Eddie Willers im trockenen, sachlichen Ton eines
Geschäftsberichtes, »auf einigen Strecken noch weniger.«
»Wer bestimmt die Anzahl der Züge, die jede Gesellschaft verkehren lassen muß?« fragte sie.
»Das Gemeinwohl«, sagte Taggart.
»Der Koordinierungsausschuß«, sagte Eddie.
»Wieviel Verbindungen wurden in den vergangenen drei Wochen gestrichen?«
»Im großen gesehen«, sagte Taggart mit Eifer, »hat der Plan dazu beigetragen, den gesamten Verkehr zu
harmonisieren und den halsabschneiderischen Wettbewerb lahmzulegen.«
»Er hat dreißig Prozent des Eisenbahnverkehrs im Land lahmgelegt«, sagte Eddie. »Der ganze Wettbewerb
konzentriert sich jetzt in den Anträgen an den Ausschuß, Züge ausfallen lassen zu dürfen. Die Gesellschaft, die
überleben wird, wird diejenige sein, die es fertig bekommt, überhaupt keine Züge mehr verkehren zu lassen.«
»Hat jemand ausgerechnet, wie lange Atlantic Southern noch in der Lage sein wird, den Betrieb
aufrechtzuerhalten?«
»Das geht Sie einen…« platzte Meigs heraus.
»Bitte, Cuffy!« unterbrach ihn Taggart, halb schroff, halb flehend.
»Der Vorstandsvorsitzende von Atlantic Southern«, bemerkte Eddie ungerührt, »hat Selbstmord begangen.«
»Das gehört nicht hierher!« schrie Taggart. »Er tat es aus privaten Gründen.« Dagny schwieg, saß
unbeweglich und betrachtete nachdenklich die Gesichter Jims und Mr. Meigs’. Es war immer noch eine
schwache Spur von Verwunderung in ihrer dumpfen Gleichgültigkeit; Jim hatte es immer fertiggebracht, die
Folgen seines eigenen Versagens auf die Tüchtigeren abzuwälzen, und zu überleben, indem er sie zugrunde
richtete und für seine Fehler bezahlen ließ, so wie er es mit Dan Conway getan hatte und mit den Industrien von
Colorado. Doch was er jetzt tat, hatte nicht einmal mehr etwas mit der Denkungsart eines Plünderers zu tun –
dieses blindwütige Einprügeln auf die geschundenen Überreste eines schwächeren, konkursreifen Konkurrenten,
nur um seinen eigenen Untergang einen Moment hinauszuschieben, mit nichts als brechenden Knochen zwischen
sich und dem Abgrund.
Ihr Glaube an die Vernunft drängte sie zu sprechen, zu widersprechen, das Selbstverständliche zu beweisen.
Doch ein Blick in ihre Gesichter genügte, sie erkennen zu lassen, daß sie es wußten. In einer von ihrer
verschiedenen, ihr unbegreiflichen Weise wußten sie alles, was sie ihnen hätte sagen können. Es war zwecklos,
Meigs und Taggart die Widersinnigkeit ihres Handelns beweisen zu wollen; sie waren sich ihres Irrtums bewußt
und glaubten, seinen Folgen entgehen zu können, indem sie ihr Wissen vor sich selbst und vor einander
verleugneten.
»Ich verstehe«, sagte sie ruhig.
»Nun, was hätte ich sonst tun sollen?« schrie Taggart. »Den transkontinentalen Verkehr aufgeben? Konkurs
anmelden? Unsere Gesellschaft zu einer erbärmlichen Bimmelbahn in den Oststaaten machen?« Ihre beiden
Worte schienen ihn schlimmer getroffen zu haben als ein empörter Protest. Er schien von Entsetzen geschüttelt
zu sein bei dem Gedanken an das, was das ruhige »Ich verstehe« ihm zu verstehen geben wollte. »Ich konnte
nicht anders! Wir mußten eine Strecke v on Küste zu Küste haben! Es gab keinen anderen Weg, um den Tunnel
herumzukommen! Wir hatten kein Geld für Reparaturen oder Neubauten! Irgend etwas mußte geschehen! Wir
brauchten eine Strecke! Was hätte ich da anderes tun können?« Meigs betrachtete ihn mit einem Blick, in dem
sich Verwunderung mit Ekel mischte.
»Ich widerspreche dir ja nicht, Jim«, sagt Dagny gelassen. »Wir konnten doch nicht zulassen, daß eine
Eisenbahngesellschaft wie Taggart Transcontinental zusammenbricht! Das hätte eine nationale Katastrophe
bedeutet! Wir mußten an die Städte und Industrien und Fahrgäste und Angestellten und Aktionäre denken, deren
Leben von uns abhängt! Es ging nicht nur um uns selbst, es ging um das öffentliche Wohl! Jedermann gibt zu,
daß der Eisenbahn-Koordinierungsplan ein Segen ist! Die bestinformierten…«
»Jim«, unterbrach sie ihn, »wenn du noch etwas Geschäftliches mit mir zu besprechen hast, dann tu es, bitte.«
»Du hast nie etwas unter dem sozialen Gesichtswinkel betrachtet«, sagte er vorwurfsvoll und mürrisch.
Sie bemerkte, daß diese Art von Komödie Mr. Meigs ebenso zuwider war wie ihr, wenn auch aus
gegensätzlichen Gründen. Er beobachtete Jim mit gelangweilter Verachtung. Jim erschien Dagny plötzlich als
ein Mensch, der versucht hatte, zwischen zwei Lagern – Meigs und ihr – zu vermitteln und der nun erkannte, daß
er zwischen zwei Wänden zerrieben wurde.
»Mr. Meigs«, fragte sie in einer Anwandlung halb bitterer, halb belustigter Neugier, »was planen Sie für die
weitere Zukunft?«
Sie sah in seine glasigen braunen Augen, die sie mit ausdruckslosem Blick musterte.
»Sie denken nicht lebensnah. Sie denken zu weit.«
»Es ist völlig zwecklos, jetzt an die Zukunft zu denken«, ereiferte sich Taggart, »zunächst müssen wir die Not
des Augenblicks meistern. Am Ende…«
»Am Ende werden wir alle tot sein«, sagte Meigs. Dann sprang er unvermittelt auf. »Ich muß gehen, Jim«,
sagte er. »Ich habe keine Zeit zum Plaudern. Sprich mit ihr darüber, daß etwas geschehen muß, damit endlich mit
den vielen Zugunglücken Schluß ist. Es wird ihr schon etwas einfallen, wenn sie wirklich das kleine Mädchen
ist, das soviel von Eisenbahnen versteht.«
Es klang nicht beleidigend; er war ein Mensch, der nie wissen würde, ob er jemand beleidigte oder selbst
beleidigt wurde.
»Ich sehe Sie später, Cuffy«, sagte Taggart, als Meigs hinausging, ohne sich auch nur mit einem Blick von
jemand zu verabschieden.
Taggart sah sie fragend an, erwartungsvoll und ängstlich, als fürchte er zwar ihr Urteil über Meigs, hoffe aber
doch verzweifelt, etwas von ihr zu hören, irgend etwas.
»Nun?« fragte sie.
»Was meinst du?«
»Hast du noch etwas zu besprechen?«
»Ja, ich…« Er schien enttäuscht. »Ja!« schrie er plötzlich in einem Verzweiflungsausbruch, »ich habe noch
etwas mit dir zu besprechen, das Wichtigste von allem, die …«
»Die wachsende Zahl der Eisenbahnunglücke?«
»Nein, nicht das.«
»Was also?«
»Deine… daß du heute abend in Bertram Scudders Sendung sprechen wirst.«
Sie lehnte sich zurück: »Ach, wirklich?«
»Dagny, es muß sein. Es ist ungeheuer wichtig. Es läßt sich nichts mehr daran ändern. Eine Absage kommt
nicht in Frage. In Zeiten wie diesen hat man keine Wahl, und…«
Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Ich gebe dir drei Minuten, dich zu erklären, wenn du willst, daß ich dir
überhaupt zuhöre.«
»Gut!« erwiderte er verzweifelt. »Man hält es für äußerst wichtig… die höchsten Stellen, ich meine Chick
Morrison und Wesley Mouch; und sogar Mr. Thompson will, daß du zur Nation sprichst, daß du etwas
Beruhigendes sagst, daß du sagst, daß du nicht zurückgetreten bist.«
»Warum?«
»Weil alle das glauben. Du weißt nicht, was in der letzten Zeit vor sich gegangen ist. Es ist unheimlich. Das
Land ist voll von Gerüchten, von allen möglichen Gerüchten, über alles, und alle sind höchst gefährlich, ich will
sagen, zersetzend. Die Menschen scheinen bloß noch zu flüstern. Sie glauben den Zeitungen nicht mehr, sie
glauben den besten Rundfunksprechern nicht mehr, doch sie glauben jedem destruktiven Gerücht, das umgeht.
Es gibt kein Vertrauen mehr, keinen Glauben, keine Ordnung, keine… keine Achtung mehr vor der Autorität.
Die Menschen… die Menschen scheinen am Rande der Panik zu sein.«
»Und?«
»Ja, da ist vor allem diese verdammte Geschichte der Großindustriellen und Unternehmer, die verschwunden
sind, die sich in Luft aufgelöst zu haben scheinen! Niemand hat bis jetzt eine einleuchtende Erklärung dafür
geben können, und die Leute bekommen es mit der Angst zu tun. Sie flüstern einander die unsinnigsten Dinge
zu, doch meistens sagen sie, kein anständiger Mensch wolle für diese Leute arbeiten. Sie meinen damit die Leute
in Washington. Verstehst du jetzt? Du hast sicher nicht gewußt, daß du so berühmt bist, doch seit deinem
Flugzeugunglück bist du es geworden. Niemand glaubte an einen Unfall. Sie dachten alle, du hättest das Gesetz
übertreten, die Verordnung 10-289, und wärest desertiert. Es herrscht große Unsicherheit wegen der Verordnung
10-289, große Unruhe. Und deshalb ist es so wichtig, daß du im Radio sprichst und den Leuten sagst, daß es
nicht wahr ist, daß die Verordnung 10-289 die Industrie zerstört, sondern daß sie ein weises Gesetz ist, erlassen
zu jedermanns Wohl, und daß die Leute nur noch ein bißchen Geduld haben sollten, denn bald wird alles wieder
gut werden und der Wohlstand zurückkehren. Sie glauben keinem Vertreter der Behörden mehr. Du… du bist
Unternehmerin, eine der wenigen von der alten Schule, die noch übrig sind, und die einzige, die
zurückgekommen ist, nachdem man geglaubt hat, du seist verschwunden wie die anderen. Du bist doch hinter
ihm hergeflogen?«
»Ja«, antwortete sie. »Er ist für immer weggegangen.«
»Zum Zerstörer?«
Das Wort traf sie wie ein körperlicher Schlag. Es war der erste Griff der äußeren Welt nach dem, was sie den
ganzen Tag über als eine stumme, unveränderliche Vision in sich bewahrt hatte, als ein Geheimnis, das von
niemand und von nichts berührt werden sollte, an das sie selbst nicht zu denken wagte, das sie nur fühlte und als
die Quelle ihrer Kraft empfand. Der Zerstörer, begriff sie, war der Name dieser Vision in der Welt der anderen,
in der Welt draußen.
»Ja«, sagte sie mühsam, »zum Zerstörer.«
Dann umklammerte sie mit beiden Händen schmerzhaft die Kante des Schreibtisches, um sich an die
Gegenwart und ihren Vorsatz zu erinnern, und sagte mit bitterem Lächeln: »Nun, Eddie, dann wollen wir mal
sehen, was zwei lebensferne Menschen wie wir beide tun können, um die Zugunfälle einzuschränken.«
Als sie zwei Stunden später allein an ihrem Schreibtisch saß, über Blätter gebeugt, auf denen nur Zahlen
standen, jedoch Zahlen, die ihr wie ein Film die ganze Geschichte der Eisenbahnen des Landes während der
letzten vier Wochen erzählten, summte ihr Telefon, und die Stimme ihrer Sekretärin sagte: »Mrs. Rearden
wünscht Sie zu sprechen, Miss Taggart.«
»Mr. Rearden?« fragte sie ungläubig.
»Nein. Mrs. Rearden.«
Sie ließ einige Sekunden vergehen und sagte dann: »Ich lasse bitten.«
Es lag eine betont herausfordernde Note in der Erscheinung und Haltung Lillian Reardens, als sie eintrat und
auf den Schreibtisch zukam. Sie trug ein Schneiderkostüm mit einer schreiend hellen, lose herunterhängenden
Blusenschleife, die offensichtlich durch diese Nachlässigkeit elegant wirken sollte, und einen kleinen Hut, den
sie so schief aufgesetzt hatte, daß man annehmen mußte, sie hielt es für schick, besonders munter zu wirken. Ihr
Gesicht war um ein geringes zu glatt. Ihre Schritte waren um ein geringes zu langsam, als bemühte sie sich, die
Hüften zu schwingen.
»Guten Tag, Miss Taggart«, sagte sie mit einer lässig gezierten Stimme, einer Salonstimme, die ebensowenig
in den Büroraum paßte wie ihre Bluse zu ihrem Kostüm.
Dagny neigte den Kopf in stummem Ernst.
Lillian sah sich in dem Raum um. Ihr Blick wirkte genauso munter wie ihr Hut, eine Munterkeit, die
anscheinend dazu dienen sollte, geistvoll zu wirken, indem sie die Überzeugung ausdrückte, daß das Leben nur
lächerlich sein konnte.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Dagny.
Lillian setzte sich und nahm eine vertrauliche, nachlässige Haltung an. Als sie Dagny ihr Gesicht zuwandte,
trug es immer noch den gleichen Ausdruck der Munterkeit, doch er war jetzt ausdrucksvoller und schien sagen
zu wollen, daß sie beide ein Geheimnis teilten, das ihre Anwesenheit hier in Dagnys Büro in den Augen der Welt
ungewöhnlich erscheinen lassen würde, für sie beide jedoch selbstverständlich und harmlos war. Sie unterstrich
diesen Charakter der Situation dadurch, daß sie schwieg.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich kam, um Ihnen zu sagen«, erwiderte Lillian liebenswürdig lächelnd, »daß Sie heute abend in Bertram
Scudders Radiostunde sprechen werden.«
Sie sah kein Erstaunen in Dagnys Gesicht, keine Bestürzung, nur den Blick eines Technikers, der dem
Geräusch eines klopfenden Motors lauscht.
»Ich nehme an«, sagte Dagny, »Sie sind sich im klaren darüber, daß Ihr Satz eine Behauptung darstellt.«
»O ja!« erwiderte Lillian.
»Dann beweisen Sie sie.«
»Wie bitte?«
»Überzeugen Sie mich.«
Lillian gab ein kurzes, schwaches Lachen von sich, dessen Gezwungenheit verriet, daß dies nicht ganz die
Haltung war, die sie erwartet hatte. »Ich bin sicher, daß keine langen Erklärungen nötig sein werden«, sagte sie.
»Sie wissen, daß Ihre Mitwirkung in dieser Sendung den Leuten, die an der Macht sind, sehr am Herzen liegt.
Ich weiß, warum Sie sich weigern. Ich kenne Ihre Anschauungen in diesen Dingen; Sie mögen bisher den
meinen keine große Bedeutung beigemessen haben, aber Sie wissen, daß ich immer auf der Seite des Systems
war, das jetzt an der Macht ist. Deshalb werden Sie auch mein Interesse an dieser Angelegenheit verstehen und
auch die Rolle, die ich in ihr zu spielen wünsche. Als Ihr Bruder mir sagte, daß Sie sich weigern, beschloß ich,
mich einzuschalten, denn ich bin eine der sehr wenigen Personen, die wissen, daß Sie es sich nicht leisten
können, nein zu sagen.«
»Bis jetzt gehöre ich noch nicht zu diesen sehr wenigen«, sagte Dagny.
Lillian lächelte. »Nun, dann muß ich mich wohl doch ein wenig näher erklären. Sie begreifen sicherlich, daß
Ihr Auftritt im Radio für die augenblicklichen Machthaber den gleichen Wert haben wird wie… wie der Schritt
meines Mannes, als er die Schenkungsurkunde unterschrieb, die ihnen Rearden Metal übereignete. Sie wissen,
wie oft und wie wirkungsvoll sie es in ihrer Propaganda erwähnt haben.«
»Das wußte ich nicht«, sagte Dagny scharf.
»Ach ja, Sie waren während der letzten Wochen abwesend und haben vielleicht die vielen Verlautbarungen in
der Presse, im Radio und in Reden verpaßt, die besagten, daß sogar Hank Rearden die Verordnung 10-289 billigt
und unterstützt, da er ja sein Metall freiwillig der Nation überschrieben hat. Sogar Hank Rearden! Das entmutigt
viele der widerspenstigen Köpfe und hilft, sie im Zaum zu halten.« Sie lehnte sich zurück und fragte wie
nebenbei: »Haben Sie ihn je gefragt, warum er unterschrieben hat?«
Dagny antwortete nicht; sie schien nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß Lillian ihr eine Frage gestellt hatte. Sie
saß bewegungslos, und ihr Gesicht war ohne Ausdruck, doch ihre Augen, die auf Lillian gerichtet waren,
schienen sich zu weiten, als wollte sie jetzt nichts anderes, als Lillian zu Ende anhören.
»Nein, ich habe nicht geglaubt, daß Sie es wissen. Ich konnte mir auch nicht denken, daß er es Ihnen sagen
würde«, fuhr Lillian mit weicherer Stimme fort, als wäre sie jetzt sicher, daß sie erreichen würde, was sie sich
vorgenommen hatte. »Doch Sie müssen den Grund kennen, der ihn veranlaßte zu unterschreiben, denn es ist der
gleiche Grund, der Sie veranlassen wird, heute abend in Bertram Scudders Sendung zu sprechen.«
Sie machte eine Pause, sichtlich begierig, zum Weitersprechen aufgefordert zu werden. Dagny wartete.
»Es ist ein Grund«, sagte Lillian, »der Ihnen gefallen wird – was den Schritt meines Mannes betrifft.
Bedenken Sie, was diese Unterschrift für ihn bedeuten mußte. Rearden Metal war seine größte Leistung, die
Summe seines Lebens, der höchste Triumph seines Stolzes. Und mein Mann ist, wie Sie wissen dürften, ein
ungewöhnlich leidenschaftlicher Mann, und sein Stolz auf sich selbst ist seine größte Leidenschaft. Rearden
Metal war mehr als eine Einzelleistung, es war für ihn die Krone seiner Lebensarbeit, Symbol seiner
Unabhängigkeit, seines Kampfwillens, seines Aufstiegs. Es war sein Eigentum von Rechts wegen, und Sie
wissen, was Recht und Eigentum für einen Mann wie ihn bedeuteten. Er wäre lieber freudig gestorben, um sein
Rearden Metal zu verteidigen, als es den Männern auszuliefern, die er verachtete. Das hat es für ihn bedeutet,
und das hat er mit ihm aufgegeben, als er die Schenkungsurkunde unterschrieb.
Sie werden gewiß erfreut sein zu hören, daß er es um Ihretwillen aufgegeben hat, Miss Taggart, um Ihres
Rufes und um Ihrer Ehre willen. Er unterzeichnete die Schenkungsurkunde, durch die er Rearden Metal preisgab,
unter der Drohung, daß der Ehebruch, den er mit Ihnen trieb, vor den Augen der Welt gebrandmarkt werden
würde. Oh, wir hatten alle Beweise, bis in die intimsten Details. Ich glaube, Sie bekennen sich zu einer
Philosophie, die das Opfer ablehnt, aber in diesem Falle werden Sie als Frau empfinden, und ich bin sicher, Sie
werden angesichts der Großartigkeit des Opfers, das ein Mann für das Recht gebracht hat, Ihren Körper zu
gebrauchen, Genugtuung empfinden. Sie haben zweifellos großes Vergnügen gefunden an den Nächten, die er in
Ihrem Bett verbrachte. Sie können jetzt erneut Vergnügen finden in dem Gedanken daran, was ihn diese Nächte
gekostet haben. Und da Sie – Sie lieben doch die Offenheit, Miss Taggart? – da Sie nun einmal
eingestandenermaßen eine Hure sind, so nehme ich den Hut vor Ihnen ab in Anerkennung des Preises, den Sie
erzielt haben und den keine Ihrer Kolleginnen je bekommen hat oder in Zukunft bekommen dürfte.«
Lillians Stimme war immer schriller geworden wie ein Bohrer, der sich in einen Stein hineinfrißt. Dagny sah
sie immer noch unbeweglich an, doch die Starrheit ihres Blickes und ihrer Haltung war verschwunden. Lillian
wunderte sich, warum sie den Eindruck hatte, Dagnys Gesicht sei von einem Scheinwerfer beleuchtet. Sie konnte
in diesem Gesicht keinen besonderen Gefühlsausdruck entdecken. Es war ein Gesicht in natürlicher
Entspannung, und seine Klarheit schien ihren Grund in seiner Form, in der Harmonie seiner Linien und
scharfumrissenen Flächen, der Festigkeit des Mundes und der Stetigkeit der Augen zu haben. Sie konnte den
Ausdruck dieser Augen nicht enträtseln, denn er paßte nicht in dieses Gesicht; es war ein Ausdruck ruhiger
Sicherheit nicht einer Frau, sondern eher eines Gelehrten, und sein inneres Leuchten verriet die Furchtlosigkeit
eines freien Geistes.
»Ich selbst«, sagte Lillian mit sanfter Stimme, »habe die Behörden über den Ehebruch meines Mannes
informiert.«
Dagny bemerkte das erste Flackern eines Gefühls in Lillians leblosen Augen; es konnte Freude sein, was sie
empfand, doch deren Leuchten war so schwach wie Sonnenlicht, das von der toten Oberfläche des Mondes in
das stehende Wasser eines Sumpfes reflektiert wird; das Flackern währte nur eine Sekunde lang und erlosch
wieder.
»Ich selbst«, sagte Lillian, »habe ihm sein Rearden Metal genommen.«
Es klang fast wie eine Bitte. Es lag nicht im Bereich von Dagnys Vorstellungskraft, diese Bitte zu verstehen
oder zu erkennen, welche Antwort Lillian zu erhalten gehofft hatte. Sie wußte nur, daß sie sie nicht erhalten
hatte, als sie Lillian mit schriller Stimme schreien hörte: »Haben Sie mich verstanden?«
»Ja.«
»Dann wissen Sie auch, was ich von Ihnen verlange, und warum Sie mir gehorchen werden. Sie dachten, Sie
seien unbesiegbar, Sie und er, nicht wahr?« Die Stimme versuchte, ruhig zu klingen, doch sie zitterte. »Sie haben
immer nur nach Ihrem eigenen Willen gehandelt – ein Luxus, den ich mir nie leisten konnte. Für dieses eine Mal
und zum Ausgleich werde ich Sie nach meinem Willen handeln sehen. Sie können sich nicht gegen mich
wehren. Sie können sich nicht loskaufen mit den Dollars, die Sie verdient haben. Durch keine noch so hohe
Summe können Sie mich von meinem Willen abbringen. Ich bin frei von jeder Habgier. Ich bekomme von den
Leuten in Washington nichts für das, was ich tue. Ich tue es umsonst. Umsonst! Verstehen Sie mich?«
»Ja.«
»Dann sind weitere Erklärungen wohl nicht mehr nötig; nur eines muß ich Ihnen noch sagen: Alle Beweise
wie Hoteleintragungen, Juwelierrechnungen und ähnliche Dinge sind immer noch in den richtigen Händen und
werden morgen über alle Sender bekanntgegeben, wenn Sie heute abend nicht in Bertram Scudders Sendung
sprechen. Ist das klar?«
»Ja.«
»Und was ist jetzt Ihre Antwort?« Sie sah die leuchtenden Gelehrtenaugen auf sich gerichtet, und plötzlich
hatte sie das Gefühl, als schauten sie durch sie hindurch.
»Ich bin froh, daß Sie mich aufgeklärt haben«, sagte Dagny. »Ich werde heute abend in Bertram Scudders
Sendung sprechen.«
Ein Strahl gleitenden Lichts traf das funkelnde Metall des Mikrophons in der Mitte des Glaskäfigs, der Dagny
und Bertram Scudder einschloß. Das Funkeln war grünlich-blau; das Mikrophon war aus Rearden Metal.
Über sich konnten sie hinter einer Glaswand eine Loge erkennen, aus der zwei Reihen von Gesichtern auf sie
herabblickten: das schlaffe, ängstliche Gesicht von James Taggart, neben ihm Lillian Rearden, die ihre Hand
beruhigend auf seinen Arm gelegt hatte, ein Mann, der mit dem Flugzeug aus Washington eingetroffen und ihr
als Chick Morrison vorgestellt worden war, und eine Gruppe junger Leute seines Stabes, die über Prozentanteile
geistigen Einflusses sprachen und sich wie Motorradpolizisten benahmen. Bertram Scudder schien sich vor ihr
zu fürchten. Er klammerte sich an das Stativ des Mikrophons und spie seine Worte förmlich in das feine
Drahtnetz und in die Ohren des Landes, während er eine Einführung in das Thema seiner Sendung gab. Er
bemühte sich, gleichzeitig zynisch, skeptisch, überlegen und naiv zu erscheinen, wie ein Mann, der über die
Eitelkeit allen menschlichen Glaubens hohnlachte und hierdurch seine Zuhörer veranlassen wollte, nur ihm zu
glauben. Auf seinem Nacken schimmerten Schweißtropfen. In dramatis ch ausgemalten Einzelheiten schilderte er
die Wochen von Dagnys Genesung in der einsamen Hütte des Schäferpaares, dann ihren heroischen Marsch über
fünfzig Meilen unwegsamen Berggeländes, um in dieser ernsten Stunde nationaler Gefahr ihre Pflichten
gegenüber dem Volk wiederaufzunehmen, »… und wenn einer unter Ihnen sich hat täuschen lassen durch
häßliche Gerüchte, die darauf abzielten, sein Vertrauen in das große soziale Programm unserer Führer zu
untergraben, dann möge er sich die Worte von Miss Taggart…«
Sie folgte mit ihrem Blick dem weißen Lichtstrahl, in dem Staubpartikel durcheinanderwirbelten, und sie
entdeckte, daß einer dieser flimmernden Punkte lebendig war. Es war eine winzige Mücke, deren schwirrende
Flügel nur als zwei Funken zu erkennen waren. Und während sie das Insekt beobachtete, das sich aus einem nur
ihm bekannten Grunde verzweifelt abquälte, in dem dünnen Lichtstrahl zu bleiben, fühlte sie sich von dem Sinn
dieses kleinen Lebens ebenso weit entfernt wie vom Sinn der Welt.
»… iss Taggart is t eine unparteiische Beobachterin, eine hervorragende Geschäftsfrau, die oft gegenüber der
Regierung sehr kritisch war und von der man sagen kann, daß sie den extremsten Flügel des konservativen
Lagers vertritt, dem Giganten der Industrie angehören wie Hank Rearden. Jedoch auch sie…«
Sie wunderte sich, wie einfach es war, wenn man nichts zu fühlen brauchte; sie kam sich vor, als stünde sie
nackt vor der Öffentlichkeit, und ein Lichtstrahl genügte ihr, sich daran festzuhalten, denn sie fühlte nicht das
Gewicht des Schmerzes in ihr, keine Hoffnung, kein Bedauern, keine Sorge, keine Zukunft.
»… nd jetzt, meine Damen und Herren, werde ich Ihnen die Heldin dieses Abends vorstellen, unsern höchst
ungewöhnlichen Gast, die…«
Schmerz befiel sie plötzlich wieder, stechender Schmerz, wie der Stich eines langen Glassplitters einer
ehemals schützenden Glaswand, die nun durch die Erkenntnis zerschmettert worden war, daß sie die nächsten
Worte sprechen mußte, und dieser Schmerz kam mit der Erinnerung an den Namen eines Mannes, den sie den
Zerstörer genannt hatte. Sie wollte nicht, daß er hörte, was sie jetzt zu sagen haben würde. Wenn du es hörst –
der Schmerz war wie eine Stimme in ihr –, wirst du all das nicht mehr glauben, was ich zu dir gesagt habe. Nein,
schlimmer noch, all das, was ich dir nicht gesagt habe, was du aber wußtest und glaubtest und annahmst, du
wirst glauben, daß ich nicht das Recht hatte, dir all das anzubieten, und daß meine Tage mit dir eine Lüge waren.
Dies wird meinen Monat zerstören und deine zehn Jahre. So wollte ich es dich nicht wissen lassen, so nicht,
nicht heute abend, doch du, der du mich beobachtet hast und jede meiner Bewegungen kanntest und mich auch
jetzt beobachtest, wo immer du bist. Du wirst es hören – aber es muß gesagt werden.
»… rägerin eines großen Namens der Geschichte unserer Industrie, die leitende Unternehmerin, wie sie nur in
Amerika möglich ist, die Stellvertretende Vorstandsvorsitzende und Betriebsleiterin einer großen
Eisenbahngesellschaft: Miss Dagny Taggart!«
Dann fühlte sie die Berührung von Rearden Metal, als sich ihre Hand um das Stativ des Mikrophons schloß,
und jetzt war auf einmal alles so leicht, nicht leicht in der Betäubung der Gleichgültigkeit, sondern in der klaren
Bewußtheit des Handelns.
»Ich bin hierher gekommen, um zu Ihnen über das soziale Programm zu sprechen, das politische System und
die Moralphilosophie des Systems, unter dem Sie leben.«
Ihre Stimme klang so ruhig, so natürlich, so sicher, daß dieser Klang allein schon überzeugungskräftig schien.
»Sie haben gehört, ich sei der Meinung, daß Korruption der Geist dieses Systems ist, Ausbeutung sein Ziel,
Lüge, Betrug und Gewalt seine Methode und Zerstörung sein einzig mögliches Ergebnis. Sie haben auch gehört,
ich sei, wie Hank Rearden, ein treuer Anhänger dieses Systems und unterstütze freiwillig seine augenblickliche
Politik, wie zum Beispiel die Verordnung 10-289. Ich bin hierher gekommen, um Ihnen die Wahrheit über diese
Dinge zu sagen. Es ist wahr, daß ich den Standpunkt Hank Reardens teile. Seine Überzeugungen sind die
meinen. Sie haben gehört, daß er in der Vergangenheit beschuldigt wurde, ein Reaktionär zu sein, der sich jedem
Schritt, jeder Maßnahme, jeder Anschauung dieses Systems widersetzte. Jetzt hören Sie, daß man ihn als unseren
größten Industriellen preist, auf dessen Urteil über den Wert der Wirtschaftspolitik man sich mit Sicherheit
verlassen kann. Das ist wahr; Sie können seinem Urteil vertrauen. Wenn Sie jetzt beginnen zu glauben, daß Sie
in der Gewalt unverantwortlicher Bösewichter sind, daß das Land dem Zusammenbruch nahe ist und daß Sie
bald Hungers sterben müssen, dann denken Sie an die Anschauungen unseres fähigsten Industriellen, der weiß,
welche Vorbedingungen erfüllt sein müssen, um die Produktion möglich und erfolgreich zu machen und das
Land zu retten. Überlegen Sie alles, was Sie von seinen Anschauungen wissen. Zu einer Zeit, da er noch frei
sprechen konnte, haben Sie ihn sagen hören, daß die Politik dieser Regierung Sie zu Sklaven macht und das
Land zerstört. Doch den Höhepunkt dieser Politik, die Verordnung 10-289, hat er nicht angeprangert. Sie haben
gehört, daß er für seine Rechte kämpfte – für seine und Ihre –, für seine Unabhängigkeit, für sein Eigentum.
Doch er kämpfte nicht gegen die Verordnung 10-289. Er unterzeichnete freiwillig, so hat man Ihnen gesagt, die
Schenkungsurkunde, durch die er Rearden Metal seinen Feinden übereignete. Er unterzeichnete dieses
Schriftstück, das er, nach dem zu schließen, was Sie von ihm gehört hatten, selbst um den Preis seines Lebens
nicht hätte unterschreiben dürfen. Was hat dies anderes zu bedeuten, wurde Ihnen dauernd gesagt, als daß auch
er die Notwendigkeit der Verordnung 10-289 erkannt und seine eigenen Interessen für das Wohl des Landes
geopfert hat? Beurteilen Sie seine Anschauungen auf Grund des Motivs dieser seiner Tat, wurde Ihnen immer
wieder gesagt. Hiermit stimme ich uneingeschränkt überein: Beurteilen Sie seine Anschauungen auf Grund des
Motivs dieser Tat, und beurteilen Sie auch meine Anschauungen auf Grund des Motivs dieser Tat, denn seine
Überzeugungen sind die meinen.
Zwei Jahre lang bin ich Hank Reardens Geliebte gewesen. Verstehen Sie mich nicht falsch; ich spreche dies
nicht aus als ein schamvolles Geständnis, sondern mit dem Gefühl höchsten Stolzes. Ich bin seine Geliebte
gewesen, ich habe mit ihm geschlafen, in seinem Bett, in seinen Armen. Es wird in Zukunft niemand etwas über
mich sagen können, was ich nicht zuvor selbst gesagt habe. Es wird zwecklos sein, mich diffamieren zu wollen,
denn ich kenne die Anklagen und werde mich jetzt hier schuldig bekennen. Habe ich körperliches Verlangen
nach ihm empfunden? Ja. Wurde ich getrieben von einer Leidenschaft meines Körpers? Ja. Habe ich die stärkste
Form sinnlicher Lust bei ihm empfunden? Ja. Wenn mich dies nun in Ihren Augen zu einer entehrten Frau
macht, dann steht es Ihnen frei, mich zu verurteilen. Ich aber stehe zu dem, was ich getan habe.«
Bertram Scudder betrachtete sie mit wachsender Unruhe. Dies war nicht die Rede, die er erwartet hatte, und er
fühlte in dumpfer Panik, daß es nicht richtig war, sie weitersprechen zu lassen, doch sie war ein besonderer Gast,
den er gemäß den Anweisungen der Washingtoner Machthaber mit besonderer Vorsicht behandeln mußte. Er
war nicht sicher, ob er sie unterbrechen sollte oder nicht, und außerdem fand er ein heimliches Vergnügen an
dem, was sie sagte. James Taggart und Lillian Rearden saßen erstarrt in der Publikumsloge, wie Tiere, die vom
Frontscheinwerfer eines auf sie zurasenden Zuges hypnotisiert werden. Sie waren die einzigen der Anwesenden,
die den Zusammenhang zwischen den Worten, die sie hörten, und dem Thema der Sendung kannten. Sie konnten
nicht mehr eingreifen. Sie wagten es nicht, die Verantwortung für eine eigenmächtige Handlung in dieser
Situation zu übernehmen. In dem Kontrollraum hielt sich ein junger Mann vorn Stabe Chick Morrisons bereit,
die Sendung im Falle einer Panne zu unterbrechen, doch er sah keine politische Gefahr in der Rede, die er hörte,
nichts, was ihn hätte veranlassen können, sie zu unterbrechen. Er war es gewohnt, Reden zu hören, die man
durch ihm unbekannte Druckmittel von willenlosen Opfern erpreßte, und er schloß, daß dies ein Fall war, in dem
ein Reaktionär gezwungen wurde, sich zu einem Skandal zu bekennen, und daß diese Rede deshalb vielleicht
sogar einen verborgenen politischen Wert hatte; außerdem war er begierig, sie zu Ende zu hören.
»Ich bin stolz darauf, daß er mich ausgewählt hat, ihm Freude zu schenken, und daß ich gerade ihn wählte.
Unsere Leidenschaft war nicht, wie bei den meisten von Ihnen, ein Akt gelegentlicher Befriedigung und
gegenseitiger Verachtung. Sie war die höchste Form unserer Bewunderung füreinander im vollen Bewußtsein
der Werte, nach denen wir unsere Wahl getroffen hatten. Wir gehören zu den Menschen, die ihre geistigen
Wertvorstellungen nicht von den Handlungen ihrer Körper trennen, die ihre Ideale nicht leeren Träumen
überlassen, sondern sie verwirklichen, die ihren Gedanken materielle Form geben und ihren Wertbegriffen
Leben, die Stahl machen, Eisenbahnen bauen und Glück schaffen. Und denjenigen unter Ihnen, denen der
Gedanke an menschliche Lebensfreude verhaßt ist, die das menschliche Leben als ein ständiges Leiden und
Versagen betrachtet wissen wollen, die verlangen, daß der Mensch sich für sein Glück, seine Erfolge, seine
Tüchtigkeit, seine Leistungen und seinen Reichtum entschuldigt, denjenigen unter Ihnen sage ich jetzt: Ich habe
ihn begehrt, ich habe ihn besessen, ich war glücklich, ich habe Freude erfahren, reine, volle, schuldlose Freude,
die Freude, deren Eingeständnis aus dem Munde eines Menschen Ihnen ein Greuel ist, die Freude, die Sie nur
kennen in Ihrem Haß gegen diejenigen, die wert sind, sie zu genießen. Nun denn, so hassen Sie mich, denn ich
habe sie genossen!«
»Miss Taggart«, unterbrach sie Bertram Scudder nervös, »entfernen wir uns nicht allzu sehr von unserem
Thema? Ich denke, Ihre persönlichen Beziehungen zu Mr. Rearden haben keine politische Bedeutung, die…«
»Das dachte ich auch nicht, aber ich bin hierher gekommen, um über das politische und moralische System zu
sprechen, unter dem Sie leben. Nun, ich dachte, ich wüßte alles über Hank Rearden. Doch es gibt etwas, was ich
erst heute erfahren habe. Seit einigen Stunden weiß ich, daß Hank Rearden zur Unterzeichnung der
Geschenkurkunde und Preisgabe von Rearden Metal durch eine erpresserische Drohung gezwungen wurde,
durch die Drohung, daß unser Verhältnis bekannt gemacht würde, wenn er sich weigerte. Es war Erpressung
durch Ihre Regierung, durch Ihre Machthaber, durch Ihre…«
Im gleichen Augenblick, in dem Scudders Hand das Mikrophon von ihrem Mund wegfegte und noch bevor es
auf den Boden prallte, ertönte ein leises Klicken und zeigte an, daß der Gedankenpolizist die Sendung
unterbrochen hatte.
Sie lachte, doch es war niemand da, der wissen wollte, warum sie lachte. Die Personen, die in den Glaskäfig
hereinstürzten, schrien einander an, ohne sie zu beachten. Chick Morrison schleuderte Bertram Scudder nicht
druckfähige Beschimpfungen ins Gesicht. Bertram Scudder beteuerte verzweifelt, daß er von Anfang an gegen
dieses Interview gewesen war, doch habe man ihm befohlen, es durchzuführen. James Taggart sah aus wie ein
zähnefletschendes Tier, während er zwei von Morrisons Assistenten anbrüllte und von einem dritten angebrüllt
wurde. Das Gesicht Lillian Reardens war seltsam schlaff, wie der Körper eines Tieres, das unverletzt, aber tot
am Wegrand liegt. Die Vertreter des Amtes für öffentliche Meinung ergingen sich in ebenso wilden wie lauten
Vermutungen, was Mr. Mouch zu diesem Skandal sagen würde. »Was soll ich ihnen sagen?« jammerte der
Ansager, verzweifelt auf das Mikrophon deutend. »Mr. Morrison, Millionen von Hörern warten! Was soll ich
ihnen sagen?« Niemand gab ihm eine Antwort. Sie stritten nicht darüber, was zu tun war, sondern wem sie die
Schuld für das Geschehene geben sollten.
Niemand sagte ein Wort zu Dagny oder warf auch nur einen Blick auf sie. Niemand hielt sie auf, als sie
hinausging.
Sie nahm das erste Taxi, das sie fand, nannte dem Fahrer die Adresse ihrer Wohnung. Als der Wagen anfuhr,
bemerkte sie, daß der Sender am Armaturenbrett erleuchtet war, der Lautsprecher jedoch schwieg. Nur ein leises
Knistern kam aus dem Apparat; er war auf Bertram Scudders Sendung eingestellt.
Sie saß weit zurückgelehnt und empfand nichts als die Trauer über die Erkenntnis, daß sie durch ihre Tat
vielleicht den Mann für immer verloren hatte, der für sie zum einzigen Inhalt ihres Lebens geworden war und der
sie jetzt vielleicht nicht mehr wiedersehen wollte. Sie war sich zum ersten Mal bewußt, wie aussichtslos es war,
ihn zu finden, es sei denn, er wollte gefunden werden; wie hoffnungslos, ihn in den Straßen dieser Stadt, in den
Städten eines Kontinents oder in den Schluchten der Rocky Mountains zu suchen, wo der Weg zu ihm durch
einen Strahlenschirm versperrt war. Nur eines war ihr von ihm geblieben, woran sie sich noch halten konnte wie
ein Schiffbrüchiger an einen Rettungsring, den Rettungsring, an den sie sich während der ganzen Sendung
geklammert hatte, und sie wußte, daß dieses eine das einzige war, das sie nicht aufgeben konnte, selbst wenn sie
alles andere verlieren sollte; es war der Klang seiner Stimme, die zu ihr sagte: »Keiner bleibt hier, der die
Wirklichkeit auf irgendeine Weise verfälscht.«
»Meine Damen und Herren«, ertönte plötzlich die Stimme von Bertram Scudders Ansager aus dem Knistern
des Lautsprechers, »wegen technischer Störung stellt dieser Sender seinen Betrieb für die Dauer der
erforderlichen Reparaturen vorübergehend ein.«
Der Taxifahrer gab ein kurzes verächtliches Lachen von sich und schaltete den Apparat ab.
Als sie ausstieg und ihm einen Geldschein reichte und er ihr dann das Wechselgeld in die Hand zählte, beugte
er sich plötzlich vor und sah ihr ins Gesicht. Sie fühlte, daß er sie erkannt hatte, und hielt seinem Blick stand.
Sein verbittertes Gesicht und sein mit Flicken bedecktes Hemd zeugten von dem hoffnungslosen
Verzweiflungskampf seines Lebens. Als sie ihm ein Trinkgeld gab, sagte er mit ruhiger Stimme, die zu ernst und
zu feierlich klang, um nur den Münzen gelten zu können: »Ich danke Ihnen.«
Sie wandte sich hastig um und lief in das Gebäude, um ihn nicht die Erschütterung sehen zu lassen, die sie
überwältigte.
Ihr Kopf hing tief herab, als sie die Tür ihrer Wohnung aufschloß, und das Licht traf ihre Augen von unten,
vom Teppich her, bevor ihr Kopf vor Erstaunen hochschnellte, die Wohnung erleuchtet vorzufinden. Sie ging
einen Schritt weiter und sah Hank Rearden auf der anderen Seite des Raumes ihr gegenüberstehen.
Zwei Dinge machten sie unfähig, sich zu bewegen: die Überraschung seines Anblicks, denn sie hatte ihn nicht
so früh erwartet; und der Anblick seines Gesichts. Dieses Gesicht strahlte in seinem fernen Lächeln und in der
Klarheit seiner Augen ein so tiefes Selbstvertrauen, ein so offenes Vertrauen und eine so starke Ruhe aus, daß er
ihr in diesem einen Monat um Jahrzehnte gealtert zu sein schien, doch gealtert im Sinne menschlicher Reife,
reicher geworden an Einsicht, innerer Größe und Kraft. Sie fühlte, daß er, der wie sie einen Monat schmerzlichen
Kampfes hinter sich hatte, er, dem sie so bitter weh getan hatte und noch bitterer würde weh tun müssen, daß er
nun helfen und Trost spenden, sie beide gegen die Welt schützen mußte. Und während sie ihm einige Sekunden
lang regungslos gegenüberstand, sah sie sein Lächeln beredter werden, als läse er ihre Gedanken und erwidere
sie mit der Versicherung, daß sie nichts zu fürchten hatte. Sie vernahm ein schwaches Knacken und sah auf
einem Tisch neben ihm die erleuchtete Skala eines stummen Radios. Ihre Augen suchten die seinen in einer
Frage, und er antwortete ihr mit einem kaum wahrnehmbaren Senken der Augenlider; er hatte die Sendung
gehört. Im gleichen Augenblick begannen sie, aufeinander zuzugehen. Als sie vor ihm stand, umfaßte er mit
beiden Händen ihre Schultern, um sie zu stützen; denn sie schien zu schwanken. Ihr Gesicht war zu dem seinen
erhoben, doch er beugte sich nicht vor, ihre Lippen zu küssen; er nahm ihre Hand und küßte ihren Puls, ihr
Handinneres und ihre Finger als einzige Begrüßung nach so langer Zeit qualvollen Wartens. Und plötzlich,
zerbrochen von der Last dieses Tages und dieses Monats, lag sie schluchzend in seinen Armen, hing an ihm und
weinte, wie sie nie zuvor in ihrem Leben geweint hatte, wie nur eine Frau weinen konnte, die sich ihrem
Schmerz in einem hoffnungslosen Widerstand gegen ihre Schwäche hingab.
Er stützte sie, führte sie zur Couch und versuchte, sie so niederzulassen, daß sie neben ihm saß, doch sie glitt
zu Boden, saß zu seinen Füßen, preßte ihr Gesicht gegen seine Knie und weinte wehrlos und ohne Scham. Er
hob sie nicht auf, er ließ sie weinen, hielt sie mit einem Arm umschlungen. Sie fühlte seine Hand auf ihrem
Nacken, auf ihren Schultern, und sie fühlte den Schutz seiner Stärke, die ihr zu sagen schien, daß so wie ihre
Tränen auch sein Wissen ihnen beiden gehörte, daß er ihren Schmerz kannte und fühlte und verstand und ihn
dennoch ruhig ertragen konnte. Und seine Ruhe schien ihre Last zu erleichtern, indem er ihr das Recht
zugestand, hier zu seinen Füßen zusammenzubrechen, indem er ihr sagte, daß er stark genug war zu tragen, was
sie selbst nicht länger tragen konnte. Sie wußte irgendwie, daß dies der wirkliche Hank Rearden war, und
gleichgültig, wie brutal und grausam er sich in ihren ersten gemeinsamen Nächten gezeigt hatte, dies war immer
in ihm gewesen und hatte sie an ihn gefesselt – seine Stärke, die sie beschützen würde, wenn ihre erlahmt war.
Als sie den Kopf hob, lächelte er zu ihr herab.
»Hank…«, flüsterte sie schuldbewußt in verzweifeltem Staunen über ihre Schwäche.
»Still, Liebling.«
Sie ließ ihr Gesicht wieder auf seine Knie sinken, saß reglos zu seinen Füßen, kämpfte um innere Ruhe,
kämpfte gegen den Terror eines wortlosen Gedankens. Er hatte das, was sie ins Mikrophon gesprochen hatte, nur
ertragen können, weil er es als ein Geständnis ihrer Liebe hinnahm, und das machte die Wahrheit, die sie ihm
jetzt sagen mußte, zu einem um so unmenschlicheren Schlag, sowohl für sie, die ihn geben, als auch für ihn, der
ihn empfangen sollte. Entsetzen packte sie, daß sie nicht stark genug sein könnte, diesen Schlag zu tun, und
Entsetzen, daß sie ihn tun würde.
Als sie wieder zu ihm aufsah, glitt seine Hand über ihre Stirn und schob die Haare aus ihrem Gesicht.
»Es ist vorüber, Liebling«, sagte er, »Das Schlimmste ist für uns beide vorüber.«
»Nein. Hank, es ist nicht vorüber.«
Er lächelte.
Er zog sie hoch, so daß sie neben ihm zu sitzen kam, den Kopf an seine Schulter gelehnt. »Sprich jetzt nicht«,
sagte er. »Du weißt, daß wir beide begriffen haben, was zu sagen ist, und wir werden auch darüber sprechen,
doch erst dann, wenn es aufgehört hat, allzu schmerzlich für dich zu sein.«
Seine Hand bewegte sich entlang einer Naht ihres Ärmels, dann entlang einer Falte ihres Rockes mit so
leichtem Druck, als wollte er von ihrem Körper wieder Besitz ergreifen, ohne ihn zu berühren.
»Du hast zuviel erduldet«, sagte er. »Auch ich. Sollen sie uns quälen. Nicht nötig, daß auch wir es tun. Was
uns auch an weiterem Schmerz erwartet, es soll nicht von uns kommen. Laß ihre Welt es uns antun. Habe keine
Angst, wir werden uns nicht mehr weh tun. Nicht jetzt.«
Sie hob den Kopf, schüttelte ihn mit einem bitteren Lächeln. Es lag Verzweiflung in ihrer Bewegung, doch
das Lächeln war ein Zeichen, daß sie sich gefaßt hatte, daß sie entschlossen war, der Verzweiflung zu trotzen.
»Hank, die Hölle, durch die ich dich während des letzten Monats habe gehen lassen…« ihre Stimme zitterte.
»Sie war nichts im Vergleich zu der Hölle, durch die ich dich in der letzten Stunde habe gehen lassen.« Seine
Stimme war fest.
Sie stand auf, ging im Zimmer auf und ab, um ihre Kraft zu beweisen. Ihre Schritte waren Worte, die ihm
sagen sollten, daß sie nicht länger geschont werden wollte. Als sie halt machte und sich umwandte, um ihn
anzusehen, erhob er sich, als ob er sie verstanden hätte.
»Ich weiß, daß ich es für dich schlimmer gemacht habe«, sagte Dagny und deutete auf das Radio.
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Hank, ich muß dir noch etwas sagen.«
»Auch ich habe dir noch etwas zu sagen. Laß mich zuerst sprechen. Es ist etwas, das ich längst hätte sagen
sollen. Willst du mich reden lassen und mir nicht antworten, ehe ich zu Ende bin?«
Sie nickte.
Hank sah sie eine Weile an, während sie stumm und unbewegt vor ihm stand, als wollte er ihr Bild und diesen
Augenblick und alles, was zu ihm geführt hatte, festhalten.
»Ich liebe dich, Dagny«, sagte er ruhig, mit der Schlichtheit eines Glücks ohne Wolken, aber auch ohne
Lächeln.
Sie wollte sprechen, doch sie spürte, daß sie es nicht konnte, selbst wenn er es ihr erlaubt hätte. Sie hielt ihre
unausgesprochenen Worte zurück, und die Bewegungen ihrer Lippen waren ihre einzige Antwort. Dann neigte
sie den Kopf zum Zeichen, daß sie bereit war, ihn weiter anzuhören.
»Ich liebe dich. Ich liebe dich in dem gleichen Maße und auf die gleiche Weise, mit dem gleichen Stolz und
aus dem gleichen Grund wie ich meine Arbeit liebe, meine Hütten, mein Metall, meine Stunden an einem
Hochofen, in einem Laboratorium, in einer Erzgrube, wie ich meine Befähigung und Lust zur Arbeit liebe, wie
ich die Tätigkeit meines Verstandes liebe, wenn er eine chemische Gleichung löst oder einen Sonnenaufgang
bestaunt, wie ich alles liebe, was ich geschaffen und empfunden habe als mein Werk, als meine Wahl, als ein
Bild meiner Welt, als mein klarster Spiegel, als die Ehefrau, die ich nie hatte, als das, was alles übrige möglich
macht… als meine Lebenskraft.«
Sie neigte ihren Kopf nicht, hielt ihr Gesicht ihm in gleicher Höhe zugewandt, um zu hören und nicht zu
widersprechen, wie er es verlangt hatte und verdiente.
»Ich habe dich von dem Tag an geliebt, an dem ich dich zum ersten Mal sah – auf einem Güterwagen im
Bahnhof von Milford. Und dann der Führerstand der Lokomotive, mit der wir als erste die John-Galt-Linie
befuhren; der Balkon von Ellis Wyatts Haus; der Morgen, der dieser Nacht folgte. Ich liebte dich. Du wußtest es.
Doch es wäre an mir gewesen, es dir damals zu sagen, so wie ich es dir jetzt sage, um alle jene Tage
wiederzugewinnen, zu erhalten und für immer ganz das sein zu lassen, was sie für uns beide waren. Ich liebte
dich. Du wußtest es. Ich wußte es nicht. Und weil ich es nicht wußte, mußte ich es erfahren, als ich an meinem
Schreibtisch saß und die Schenkungsurkunde für Rearden Metal vor Augen hatte.«
Dagny schloß die Augen. Doch es war kein Schmerz in ihrem Gesicht, nur die unendliche Ruhe eines Glücks
ohne Falsch.
»‘Wir gehören zu den Menschen, die ihre geistigen Wertvorstellungen nicht von den Handlungen ihrer Körper
trennen’, hast du heute abend in deiner Ansprache gesagt. Doch du wußtest es schon damals, an jenem Morgen
in Ellis Wyatts Haus. Du wußtest, daß alle jene Beleidigungen, die ich dir ins Gesicht sagte, nichts anderes
waren als die tiefste Liebeserklärung, die ein Mann machen kann. Du wußtest, daß unsere sinnliche Begierde, die
ich damals als gegenseitige Erniedrigung verdammte, nicht nur physisch, nicht Ausdruck körperlichen
Verlangens ist, sondern Ausdruck und Verwirklichung der höchsten geistigen Werte, ob wir den Mut haben, es
zu erkennen oder nicht. Dies war doch der Grund, weshalb du mich damals so ausgelacht hast?«
»Ja«, erwiderte sie leise.
»Du sagtest: ‘Ich will deinen Verstand, deinen Willen, dein Wesen oder deine Seele nicht, solange du um
dieses niedersten deiner Gefühle willen zu mir kommst.’ Du wußtest, als du dies sagtest, daß ich dir in diesem
Gefühl meinen Verstand, meinen Willen, mein Wesen und meine Seele gab. Und jetzt weiß auch ich, was jener
Morgen bedeutete und für immer bedeuten wird… daß mein Denken, mein Wollen, mein Sein und mein Fühlen
dir gehören, solange ich lebe.«
Er sah ihr in die Augen, und sie sah in seinen ein Aufleuchten, das jedoch kein Lächeln war, sondern ein
erschrecktes Aufmerken, als hätte er den Schrei gehört, den sie nicht ausgestoßen hatte.
»Laß mich zu Ende sprechen, Liebste. Ich will dir beweisen, daß ich mir dessen voll bewußt bin, was ich
sage. Ich, der ich glaubte, sie zu bekämpfen, ich hatte den schlimmsten Glauben unserer Feinde angenommen –
und dafür habe ich seither bezahlt, wie ich jetzt bezahle und weiter bezahlen muß. Ich hatte mir jenen Grundsatz
zu eigen gemacht, durch den sie einen Menschen zerstören, ohne daß er es spürt, den mörderischen Grundsatz
vom Bruch zwischen Geist und Körper. Ich nahm ihn an, wie die meisten ihrer Opfer, ohne es zu wissen, ja,
ohne zu wissen, daß es diesen Grundsatz gab. Ich lehnte mich gegen ihren Glauben von der Ohnmacht des
menschlichen Verstandes auf, und ich war stolz auf meine Fähigkeit, für die Befriedigung meiner Wünsche zu
denken, zu handeln, zu wirken. Doch ich wußte nicht, daß ich eine hohe Tugend übte, ich erkannte es nie als die
Verwirklichung eines moralischen Wertes, der höher zu schätzen war als das Leben, weil er das Leben erst
möglich machte. Und ich nahm Strafe an für das, was ich für Laster hielt, Strafe für meine Tugend; ich nahm sie
aus den Händen einer bösen Macht, die meine Unwissenheit und meine Unterwerfung übermütig gemacht hatten.
Ich nahm ihre Beleidigungen, ihre Lügen, ihre Erpressungen als unabwendbar hin. Ich glaubte, sie mit
stummer Verachtung und kühler Nichtbeachtung abtun zu können, die Gespensterwelt jener Mystiker, die über
die Abgründe ihrer Seelen redeten, doch unfähig waren, ein Dach über ihren Köpfen zu bauen. Ich glaubte, daß
meine Welt die einzig wirkliche war, daß diese geifernden Eiferer gegen die Vernunft keine Gefahr für meine
Stärke bedeuteten. Ich konnte nicht verstehen, warum ich immer wieder jede Schlacht gegen sie verlor. Ich
erkannte nicht, daß die Macht, die mich besiegte, ihre Kraft aus meinen Wurzeln saugte. Während ich materielle
Werte schuf, hatte ich ihnen den Bereich des Verstandes, des Denkens, der Logik, des Rechts, der Werte und der
Moral überlassen. Ich hatte unwissentlich und leichtfertig den Grundsatz befolgt, daß Ideen ohne Wirkung auf
das eigene Dasein und die eigenen Taten, auf die Wirklichkeit und den Gang der Welt sind, hatte gehandelt, als
ob Gedanken nicht Sache der Vernunft, sondern jenes mystischen Glaubens wären, den ich verachtete. Dies war
alles, was sie von mir wollten. Es genügte ihnen für ihre Pläne. Ich hatte ihnen das ausgeliefert, auf dessen
Verderben und Zerstörung ihr ganzes Sinnen und Trachten ausgerichtet waren: die menschliche Vernunft. Nein,
sie waren nicht imstande, die Materie fruchtbar zu machen, Werte zu schaffen, die Erde aus eigener Kraft zu
beherrschen. Sie hatten es nicht nötig. Sie beherrschten mich.
Ich, der ich wußte, daß Reichtum nur Mittel zum Zweck ist, schuf die Mittel und überließ es ihnen, mir den
Zweck vorzuschreiben. Ich, der ich stolz war auf meine Fähigkeit, mir Befriedigung meiner Wünsche zu
verschaffen, ließ mir von ihnen den Maßstab vorschreiben, nach dem ich meine Wünsche beurteilte. Ich, der ich
Materie gestaltet hatte, meinen eigenen Absichten zu dienen, besaß einen Haufen Stahl und Gold, doch waren
alle meine Absichten vereitelt, ich war um alle meine Wünsche betrogen, enttäuscht in meinem Streben nach
Glück.
Ich hatte mich in zwei Teile gespalten, wie die Mystiker es predigten, und betrieb mein Geschäft nach einem
Gesetz und lebte mein Leben nach einem anderen. Ich wehrte mich gegen den Versuch der Plünderer, den Wert
und den Preis meines Stahls festzusetzen, doch ich ließ sie die moralischen Wertmaßstäbe für mein Leben
festlegen. Ich wehrte mich gegen Forderungen nach unverdientem Besitz, doch ich glaubte, es sei meine Pflicht,
unverdiente Liebe einer Frau zu gewähren, die ich verachtete, unverdiente Achtung einer Mutter, die mich haßte,
unverdiente Hilfe einem Bruder, der sich verschworen hatte, mich zu vernichten. Ich wehrte mich gegen
unverdiente finanzielle Lasten, doch ich fand mich mit einem Leben unverdienter Seelenpein ab. Ich wehrte
mich gegen die These, daß meine produktive Schaffenskraft schuldhaft war, doch ich empfand meine Fähigkeit
zum Glück als Schuld. Ich empörte mich gegen den Glauben, daß Tugend etwas Übersinnliches, nur im Geist zu
Verwirklichendes war, doch ich verdammte dich, die mir das Liebste war, weil unsere Körper einander
begehrten. Aber wenn der Körper böse ist, dann sind es auch jene, die das erzeugen, was ihn am Leben erhält,
dann ist auch materieller Reichtum böse und die, die ihn schaffen… Und wenn moralische Werte im
Widerspruch zu unserem physischen Dasein stehen, dann ist es richtig, daß Belohnungen unverdient sein sollen,
daß Tugend Unterlassung bedeutet, daß es keine Beziehung gibt zwischen Leistung und Gewinn, daß die
tiefstehenden Tiere, die Werte schaffen können, jenen hochstehenden Wesen dienen sollen, deren Überlegenheit
im Geist auf ihrer Unfähigkeit im Fleisch beruht.
Wenn ein Mann wie Hugh Akston mir damals gesagt hätte, als ich meinen Weg begann, daß ich durch die
Anerkennung der Moraltheorie der Mystiker auch die Wirtschaftstheorie der Plünderer anerkenne, hätte ich ihm
ins Gesicht gelacht. Jetzt würde ich nicht mehr über ihn lachen. Denn jetzt sehe ich Rearden-Steel von
menschlichem Abschaum beherrscht, ich sehe die höchste Leistung meines Lebens die schlimmsten meiner
Feinde bereichern. Und von den beiden Menschen, die ich am meisten liebte, habe ich den einen tödlich beleidigt
und den anderen in öffentliche Schande gebracht. Ich habe dem Manne ins Gesicht geschlagen, der mein bester
Freund war, mein Beschützer, mein Lehrer, dem Mann, der mich frei machte, indem er mir half zu lernen, was
ich gelernt habe. Ich habe ihn geliebt, Dagny, er war der Bruder, der Sohn, der Kamerad, den ich nie hatte. Doch
ich stieß ihn aus meinem Leben, weil er mir nicht helfen wollte, für die Plünderer zu arbeiten. Ich würde alles
darum geben, ihn wiederzuhaben, doch ich habe ihm nichts als Wiedergutmachung anzubieten, und ich werde
ihn nie wiedersehen, denn ich weiß, daß es keinen Weg gibt, sich auch nur das Recht auf das Bitten um
Verzeihung zu verdienen.
Doch was ich dir angetan habe, Liebste, ist noch viel schlimmer. Die Schande deiner Worte vor dem
Mikrophon und die Schmach, daß du sie sprechen mußtest, das habe ich über die einzige Frau gebracht, die ich
liebte, als Dank für das einzige Glück, das ich erlebt habe. Sage mir nicht, daß es von Anfang an dein Wille und
deine Wahl war und daß du alle Folgen – auch die des heutigen Abends – mit übernommen hattest, denn es
schafft nicht die Tatsache aus der Welt, daß ich dir keine andere Wahl ließ. Und daß die Plünderer dich
gezwungen haben zu sprechen. Daß du sprachst, um mich zu rächen und frei zu machen, schafft nicht die
Tatsache aus der Welt, daß ich ihr Manöver möglich machte. Sie benutzten nicht ihre eigene Auffassung von
Sünde und Unehre, dich zu entehren, sondern meine. Sie führten nur aus, was ich glaubte und in Ellis Wyatts
Haus gesagt hatte. Ich hatte unsere Liebe als ein sündiges Geheimnis gewahrt. Sie behandelten sie nur als das,
was ich aus ihr gemacht hatte. Ich hatte versucht, die Wirklichkeit zu manipulieren, um bei ihnen einen falschen
Eindruck von mir zu erwecken. Sie lösten nur den Scheck ein, den ich ihnen ausgestellt hatte.
Die Menschen glauben, ein Lügner erringe einen Sieg über sein Opfer. Doch ich habe erfahren, daß eine Lüge
ein Akt der Selbstaufgabe ist, denn man liefert die Realität seiner Person dem aus, den man belügt, macht diesen
Menschen zu seinem Herrn, indem man sich dazu verdammt, weiter jene Realität vorzutäuschen, die der genarrte
Blick des Belogenen zu sehen verlangt. Und wenn man den durch die Lüge erstrebten Vorteil gewinnt – der
Preis dafür wird die Zerstörung dessen sein, dem der Gewinn dienen sollte. Der Mensch, der die Welt belügt, ist
vom gleichen Augenblick an ihr Sklave. Indem ich meine Liebe zu dir verbarg, in der Öffentlichkeit verleugnete
und sie als eine Lüge lebte, machte ich sie zum Eigentum der Öffentlichkeit. Und die Öffentlichkeit hat sie in der
ihr gemäßen Weise eingefordert. Ich hatte keine Möglichkeit, es zu verhüten, und keine Macht, dich zu retten.
Als ich der Erpressung der Plünderer nachgab und ihre Schenkungsurkunde unterschrieb, um dich zu schützen,
fälschte ich wiederum die Wirklichkeit, weil mir keine andere Möglichkeit offenstand, denn, Dagny, ich hätte
lieber uns beide tot gesehen, als sie tun lassen, was sie dir anzutun drohten. Es gibt keine fromme Lüge, es gibt
nur die Lüge der Zerstörung, und die fromme ist die zerstörerischste von allen. Ich verfälschte von neuem die
Wirklichkeit, und meine Lüge gebar ihre neue unerbittliche Folge: Anstatt dich zu schützen, brachte sie eine
noch schrecklichere Prüfung über dich, anstatt dich zu retten, zwang sie dich, freiwillig eine öffentliche
Steinigung über dich ergehen zu lassen, ja die Steine mit deiner eigenen Hand gegen dich zu schleudern. Ich
weiß, daß du stolz auf deine Worte warst, und ich war stolz, es zu hören. Doch es war der Stolz, den wir uns
zwei Jahre früher hätten leisten sollen.
Nein, du hast es für mich nicht schlimme r gemacht, du hast mich frei gemacht, du hast uns beide gerettet, hast
unsere Vergangenheit überwunden. Ich kann dich nicht bitten, mir zu vergeben, wir sind beide weit über diesen
Begriff hinausgewachsen, und ich kann dir nur den einzigen Trost bieten, daß ich glücklich bin. Daß ich
glücklich bin, Liebste, nicht daß ich leide. Ich bin glücklich, daß ich die Wahrheit gesehen habe. Auch wenn die
Fähigkeit, sie zu sehen, alles ist, was mir blieb. Wenn ich mich dem Schmerz ausliefern wollte, um in eitlem
Selbstbedauern, daß mein eigener Irrtum meine Vergangenheit zerstört hat, die Waffen zu strecken, dann wäre
das ein Akt letzten Verrats, das letzte Versagen vor der Wahrheit, die verraten zu haben ich bedaure. Doch wenn
meine Liebe zur Wahrheit mir als einziger Besitz geblieben ist, dann ist der Verlust, den ich erlitten habe, um so
größer, und um so größer ist mein Stolz auf den Preis, den ich für diese Liebe bezahlt habe. Dann werden die
Trümmer meiner Vergangenheit nicht ein Grabhügel über mir sein, sondern mir als Höhe dienen, die ich
erklommen habe, um mein Blickfeld zu erweitern. Mein Stolz und meine Fähigkeit, die Wahrheit zu sehen,
waren mein einziger Besitz, als ich begann; und was immer ich vollbracht habe, wurde durch sie vollbracht.
Beide sind jetzt größer. Jetzt besitze ich das Wissen um den höchsten Wert, den ich bisher nicht kannte, das
Wissen um mein Recht, stolz auf meine Gabe zu sein. Den Rest zu erlangen, liegt in meinem Willen.
Und, Dagny, als ersten Schritt in meine neue Zukunft wünsche ich mir, dir zu sagen, daß ich dich liebe – so
wie ich es jetzt tue. Ich liebe dich, Liebste, mit jener blindesten aller Leidenschaften meines Körpers, die aus der
klarsten Erkenntnis meines Verstandes kommt, und meine Liebe ist das einzige, was mir aus meiner
Vergangenheit blieb und mir unverändert bleiben wird. Ich wollte es dir sagen, solange ich das Recht habe, es zu
sagen. Und weil ich es nicht zu Beginn unserer Liebe gesagt habe, muß ich es dir jetzt sagen, an ihrem Ende.
Und jetzt will ich dir sagen, was du mir sagen wolltest, denn ich weiß es und nehme es hin: Irgendwo und
irgendwann während des letzten Monats hast du den Mann getroffen, den du liebst, und wenn Liebe letzte und
unwiderrufliche Wahl bedeutet, dann ist er der einzige Mann, den du je geliebt hast.«
»Ja!« Ihre Stimme war Aufatmen und Aufschrei zugleich, wie unter einem körperlichen Schlag, den sie
herbeigesehnt hatte, um ihn überstanden zu haben. »Hank! Woher wußtest du es?«
Er lächelte und deutete auf das Radio. »Liebling, du hast nur die Vergangenheitsform benutzt.«
»Oh…!« Ihre Stimme war jetzt Staunen und Stöhnen zugleich. Sie schloß die Augen.
»Du hast nie das eine Wort ausgesprochen, das du ihnen ins Gesicht geschleudert hättest, wenn es anders
wäre. Du sagtest: ‘Ich begehrte ihn’, nicht ‘Ich liebe ihn.’ Du sagtest mir heute nachmittag am Telefon, daß du
früher hättest zurückkommen können. Kein anderer Grund hätte dich dazu bewegen können, mich so im
Ungewissen zu lassen, wie du es getan hast. Nur dieser eine Grund war es wert.«
»Es ist wahr. Ich habe den Mann getroffen, den ich liebe und immer lieben werde. Ich habe ihn gesehen, ich
habe mit ihm gesprochen, doch er ist der Mann, den ich nicht haben kann, den ich nie werde haben dürfen und
vielleicht nie wiedersehen werde.«
»Ich glaube, ich habe es immer gewußt, daß du ihn finden wirst. Ich wußte, was du für mich fühltest. Ich
wußte, was ich dir bedeutete, doch ich wußte auch, daß ich nicht deine endgültige Wahl war. Was du ihm geben
wirst, wird nichts sein, was du mir genommen hast; es wird das sein, was ich nie besaß. Ich kann mich nicht
dagegen wehren. Was ich hatte, bedeutet mir so viel – und daß ich es hatte, das bleibt bestehen.«
»Willst du, daß ich es dir sage, Hank? Wirst du es verstehen, wenn ich sage, daß ich dich immer lieben
werde?«
»Ich glaube, ich habe es vor dir verstanden.«
»Ich habe dich immer so gesehen, wie du jetzt bist. Deine Größe, die du jetzt erst selbst erkennst, die habe ich
immer gekannt und deinen Kampf beobachtet, sie zu entdecken. Sprich nicht von Sühne oder Trost, denn du hast
mir nicht weh getan; deine Irrtümer entstammten deiner großartigen Lauterkeit, die unter der Folter eines
unerfüllbaren Gesetzes erpreßt wurde. Und dein Kampf gegen dieses Gesetz brachte mir kein Leid, er schenkte
mir das Gefühl, das ich so selten empfand – Bewunderung. Wenn du sie annimmst, wird sie immer dir gehören.
Was du mir bedeutet hast, kann sich niemals ändern. Doch der Mann, den ich traf – er ist die Liebe, nach der ich
mich schon immer sehnte, lange bevor ich wußte, daß er lebt, und ich glaube, ich werde ihn nicht erreichen, doch
daß ich ihn liebe, wird mir genügen, mich am Leben zu erhalten.«
Er nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen. »Dann weißt du, was ich fühle«, sagte er, »und warum ich
immer noch glücklich bin.«
Sie sah ihn an und erkannte, daß er zum ersten Mal das war, was er, wie sie glaubte, immer hatte sein wollen:
ein Mann mit einer unendlichen Fähigkeit zur Freude am Leben. Der angespannte Blick des stummen Erduldens
und stolz verbissenen Schmerzes war verschwunden, und jetzt, in der Stunde seiner härtesten Prüfung, strahlte
sein Gesicht die Heiterkeit selbstbewußter Stärke aus; es sah aus wie die Gesichter der Männer im Tal.
»Hank«, sagte sie leise, »ich weiß nicht, ob ich es dir erklären kann, doch ich fühle, daß ich keinen Verrat
begangen habe, weder an dir noch an ihm.«
»Das hast du nicht.«
Ihre Augen leuchteten unnatürlich lebendig in ihrem blassen Gesicht, als wäre ihr Bewußtsein in einem von
Erschöpfung gezeichneten Körper unberührt geblieben. Er führte sie zu dem Sofa. Sie setzten sich, und er legte
seinen Arm, ohne sie zu berühren, in einer beschützenden Geste hinter ihr auf die Rückenlehne.
»Und jetzt sage mir: Wo bist du gewesen?« fragte er.
»Ich kann es dir nicht sagen. Ich habe mein Wort gegeben, nie darüber zu sprechen. Ich kann dir nur sagen,
daß es ein Ort war, den ich zufällig fand, als ich abstürzte, und den ich mit verbundenen Augen verließ, so daß
ich nicht fähig wäre, ihn wiederzufinden.«
»Könntest du den Weg dorthin zurückverfolgen?«
»Ich würde es nicht versuchen.«
»Und der Mann?«
»Ich würde nicht nach ihm suchen.«
»Ist er dort geblieben?«
»Ich weiß es nicht.«
»Warum hast du ihn verlassen?«
»Ich kann es dir nicht sagen.«
»Wer ist er?«
Ihr Lachen einer verzweifelten Belustigung war unfreiwillig. »Wer ist John Galt?«
Er sah sie verwundert an – und begriff, daß sie nicht gescherzt hatte.
»Es gibt also einen John Galt?« fragte er zögernd.
»Ja.«
»Und diese seltsame Redensart bezieht sich auf ihn?«
»Ja.«
»Hat er eine besondere Bedeutung?«
»O ja! Etwas von ihm kann ich dir sagen, denn ich entdeckte es, bevor ich mich zum Schweigen verpflichtete:
Er ist der Mann, der den Motor konstruiert hat, den wir fanden.«
»Oh!« Er lächelte, als ob er es hätte wissen sollen. Dann sagte er mit weicher Stimme und mit einem Blick,
der fast Mitgefühl war: »Er ist der Zerstörer?« Er sah ihren erschreckten Blick und fügte hinzu: »Nein, antworte
mir nicht, wenn du nicht kannst. Ich glaube, ich weiß, wo du warst. Du wolltest Quentin Daniels vor dem
Zerstörer retten, und du folgtest Daniels, als du abstürztest.«
»Ja.«
»Mein Gott, Dagny! Gibt es wirklich einen solchen Ort? Leben sie alle? ist dort auch…? Verzeih! Antworte
mir nicht.«
Sie lächelte. »Es gibt ihn.«
Er schwieg lange.
»Hank, könntest du Rearden Steel aufgeben?«
»Nein!« Die Antwort war fast schroff, doch er fügte mit einem ersten Ton von Hoffnungslosigkeit in der
Stimme hinzu: »Noch nicht.«
Dann sah er sie an, als hätte er, während er diese drei Worte sprach, ihren Kampf des vergangenen Monats
erlebt.
»Ich verstehe«, sagte er. Er fuhr ihr in einer Geste des Wissens, des Mitgefühls und ungläubigen Staunens mit
der Hand über die Stirn. »Du hast noch eine Hölle vor dir.«
Dagny nickte.
Sie ließ sich zur Seite sinken, legte sich ausgestreckt auf die Couch, den Kopf auf seinen Knien. Er streichelte
ihr Haar, sagte: »Wir werden gegen die Plünderer kämpfen, solange wir können. Ich weiß nicht, was die Zukunft
uns bringt, doch wir werden siegen, oder wir werden erfahren, daß es hoffnungslos ist. Bis wir dort angelangt
sind, werden wir für unsere Welt weiterkämpfen. Wir sind alles, was von ihr übriggeblieben ist.«
Sie ergriff seine Hand und schlief ein. Das letzte, was sie wahrnahm, bevor sie die Verantwortung für ihr
Bewußtsein aufgab, war das Gefühl einer ungeheuren Leere, der Leere einer Stadt und eines Kontinents, wo sie
nie den Mann finden würde, den zu suchen sie kein Recht hatte.

IV. Die Lebensfeinde

James Taggart griff in die Tasche seiner Smokingjacke, zog den ersten gefalteten Geldschein, der ihm in die
Finger geriet – eine Hundertdollarnote – heraus und ließ ihn in die Hand des Bettlers fallen.
Er sah, daß der Bettler das Geld mit der gleichen Achtlosigkeit einsteckte, mit der er es ihm gegeben hatte.
»Danke, Kumpel«, sagte der Bettler gleichgültig und ging weiter.
James Taggart blieb erschrocken mitten auf dem Bürgersteig stehen und fragte sich, was ihm dieses plötzliche
Gefühl unbestimmter Angst eingejagt hatte. Es war nicht die Unverschämtheit des Mannes gewesen; er hatte
keine Dankbarkeit gesucht, hatte nicht aus Mitleid gehandelt, sondern in automatischem Reflex. Es war das
Gefühl, daß der Bettler ebenso gleichgültig reagiert haben würde, wenn er statt eines Hundertdollarscheins bloß
fünf Cent oder nichts erhalten hätte und noch in dieser Nacht hätte verhungern müssen. Taggart erschauerte und
ging schnell weiter, als wollte er der Erkenntnis entfliehen, daß seine eigene Stimmung beinahe der des Bettlers
glich. Die Mauern der Straße leuchteten in der unnatürlichen Schärfe des sommerlichen Abendzwielichts,
während ein orangefarbener Dunst die Luft über den Kreuzungen füllte und die Umrisse der Dächer
verschleierte, so daß James das Gefühl hatte, auf einem immer weiter zusammenschrumpfenden Grund zu gehen.
Nur der Kalender auf dem Hochhaus ragte hartnäckig aus dem Dunst wie ein Riesenblatt vergilbten Pergaments
und zeigte den 5. August an.
Nein, dachte James in Abwehr eines Gefühls, das er nicht zugeben wollte, er war nicht schlecht gelaunt, ihm
war sehr wohl zumute, und deshalb wollte er auch heute abend etwas unternehmen. Er konnte sich nicht
eingestehen, daß seine ungewöhnliche Unruhe dem Wunsch nach Freude entsprang, dem Wunsch, etwas zu
feiern; er konnte sich diesen Wunsch schon deshalb nicht eingestehen, weil er sich gar nicht eingestehen konnte,
was er eigentlich fe iern wollte.
Der Tag war von intensiver Tätigkeit erfüllt gewesen, die sich in unbestimmten, ungreifbaren Worten
geäußert hatte. Aber die Summe dieser Worte hatte ihren Zweck mit der Genauigkeit einer Rechenmaschine
erfüllt und ihn völlig befriedigt. Diesen Zweck und den Grund seiner Zufriedenheit mußte er jedoch vor sich
ebenso sorgfältig geheimhalten wie vor anderen, und dieses plötzliche Verlangen nach ungestörter Freude war
eine gefährliche Bresche.
Der Tag hatte mit einem kleinen Mittagessen in der Hotelsuite eines argentinischen Regierungsdelegierten
begonnen, bei dem sich die wenigen Gäste – fast alle verschiedener Nationalität – in müßigen Gesprächen
ausführlich über das Klima Argentiniens unterhalten hatten, seine Wirtschaft, seine Bodenschätze, den
Lebensstandard seiner Bewohner und den Wert einer dynamischen, fortschrittlichen Einstellung zur Zukunft.
Ganz nebenbei war erwähnt worden, daß Argentinien innerhalb von zwei Wochen zum Volksstaat erklärt
werden würde.
Im Anschluß an das Essen hatte es einige Cocktails in der Wohnung Orren Boyles gegeben, wo der einzige
ausländische Gast, ein zurückhaltender Argentinier, still in einer Ecke gesessen hatte, während zwei
Regierungsbeamte aus Washington und einige Freunde in nicht näher bezeichneten Stellungen über nationale
Erzvorkommen, Metallurgie, Mineralogie, nachbarliche Pflichten und internationale Zusammenarbeit
gesprochen und am Rande auch erwähnt hatten, daß in drei Wochen den Volksstaaten von Argentinien und Chile
eine Anleihe von vier Milliarden Dollar gewährt werden würde.
Dem war eine kleine, zwanglose Cocktailparty gefolgt, die er selbst in einem Séparée der als Keller
gestalteten Bar auf dem Dach eines Wolkenkratzers für den Vorstand einer kürzlich gegründeten Vereinigung
gegeben hatte, der Gesellschaft zur Förderung nachbarlicher Freundschaft und Zusammenarbeit, deren
Vorsitzender Orren Boyle und deren Schatzmeister ein schlanker, geschmeidiger Chilene war, ein gewisser
Señor Mario Martinez, den James Taggart jedoch auf Grund geistiger Verwandtschaft am liebsten Señor Cuffy
Meigs genannt hätte. Hier hatte man über Golf, Pferderennen, Segelregatten, Autos und Frauen gesprochen. Da
sie es alle wußten, hatten sie nicht erwähnen müssen, daß die Gesellschaft zur Förderung nachbarlicher
Freundschaft und Zusammenarbeit einen Exklusivvertrag über die zwanzigjährige Nutzung sämtlicher
Industriebetriebe der Volksstaaten Südamerikas besaß.
Die letzte Veranstaltung des Tages war ein großes Abendessen bei Señor Rodrigo Gonzales, einem
chilenischen Diplomaten, gewesen. Vor einem Jahr hatte niemand Señor Gonzales gekannt. Er war berühmt
geworden durch die Einladungen, die er während der letzten sechs Monate seit seiner Ankunft in New York
gegeben hatte. Seine Gäste bezeichneten ihn als fortschrittlichen Geschäftsmann. Er hatte sein Vermögen
verloren, erzählte man sich, als Chile ein Volksstaat wurde und mit Ausnahme der Besitztümer von Bürgern
rückständiger, also nicht volksstaatlicher Länder, wie zum Beispiel Argentiniens, alles Eigentum verstaatlichte.
Doch Gonzales hatte eine aufgeklärte Haltung angenommen, sich dem neuen System angeschlossen und war in
den Dienst der Regierung getreten. Er bewohnte in New York ein ganzes Stockwerk eines exklusiven Hotels. Er
hatte ein fettes, glattes Gesicht und Mörderaugen. Als James ihn bei dem heutigen Empfang beobachtete, hatte er
den Eindruck gewonnen, daß dieser Mann für jedes Gefühl unzugänglich war. Er sah aus, als ob ein Messer die
schwabbeligen Massen seines Fleisches durchdringen könnte, ohne daß er es spürte. Er schien nur einen
geradezu unzüchtigen Genuß zu empfinden, wenn er über seine dicken Perserteppiche schlurfte, die polierten
Armlehnen seines Sessels tätschelte oder eine Zigarre mit seinen Lippen umschloß. Seine Frau, Señora
Gonzales, war eine kleine, hübsche Person, nicht schön, wie sie selbst zu glauben schien, doch reizvoll, fast
aufreizend durch ihr nervöses Temperament und ihre zynische Freimütigkeit, die alles zu versprechen und nichts
zu fordern schien. Es war bekannt, daß ihre gelegentlichen ‘Gefälligke iten’ der Hauptaktivposten in den
Geschäften ihres Mannes war. Während James sie inmitten ihrer Gäste beobachtete, machte er sich einen Spaß
daraus zu überlegen, welche Geschäfte abgeschlossen, welche Gesetze befürwortet und welche Firmen ruiniert
worden waren als Preis für ein paar Nächte, die den meisten dieser Männer nur einen fragwürdigen Genuß und
einen bitteren Nachgeschmack eingebracht hatten. Die Gesellschaft hatte ihn gelangweilt, denn es war nur ein
halbes Dutzend Personen da gewesen, die zu treffen sich lohnte. Es war nicht einmal nötig gewesen, mit diesen
Leuten zu sprechen. Sich zu sehen und ein paar Blicke zu tauschen, hatte genügt, den Zweck des Abends zu
erfüllen. Als das Essen aufgetragen werden sollte, hatte James gehört, was zu hören er gekommen war. Señor
Gonzales hatte erwähnt, während der Rauch seiner Zigarre das halbe Dutzend Männer einhüllte, die seinen
Lehnsessel umstanden, daß auf Grund eines Abkommens mit dem künftigen Volksstaat Argentinien der gesamte
Besitz von d’Anconia Copper in weniger als einem Monat, am 2. September, durch den Volksstaat Chile
nationalisiert würden.
Alles war gekommen, wie er es erwartet hatte; unerwartet war nur gewesen, daß er beim Anhören dieser
Mitteilung einen unwiderstehlichen Drang empfunden hatte zu fliehen. Er hatte die Langeweile des Essens kaum
ertragen, als hätte er den Wunsch gehabt, den Erfolg dieses Tages in anderer, würdigerer Form zu feiern. Er war
in das Zwielicht des Sommerabends hinausgegangen und durch die Straßen geschlendert und war sich dabei wie
ein Suchender und zugleich Verfolgter vorgekommen – ein Mann auf der Suche nach einer Gelegenheit, ein
Gefühl feierlich auszudrücken, das er nicht zu nennen wagte, ein Mann, verfolgt von der Furcht zu entdecken,
welches Motiv ihn bei der Durchführung der Pläne geleitet hatte, die zu dem Erfolg des heutigen Abends geführt
hatten, und warum dieser Erfolg ihn in diesen Zustand rauschhafter Befriedigung versetzte.
Ihm fiel ein, daß er seine d’Anconia-Aktien, die sich seit dem Sturz im letzten Jahr nie wieder richtig erholt
hatten, verkaufen und, wie mit seinen Freunden verabredet, Anteile der »Gesellschaft zur Förderung
nachbarlicher Freundschaft und Zusammenarbeit« erwerben wollte, die ihm ein Vermögen einbringen würden.
Doch der Gedanke daran langwe ilte ihn nur. Dies war nicht, was er feiern wollte.
Er versuchte, sich zu zwingen, Freude darüber zu empfinden; Geld, dachte er, war sein Motiv gewesen, Geld
und nichts Schlimmeres. War das nicht ein normales Motiv? Ein gültiges? Waren nicht alle dahinter her, die
Wyatt, die Rearden, die d’Anconia? Er warf den Kopf zurück, wollte diesen Gedanken abwürgen; er hatte das
Gefühl, als treibe er damit in eine gefährliche Sackgasse hinein, deren Ende er nicht sehen durfte.
Nein, dachte er in finsterer, widerwilliger Einsicht, Geld bedeutete ihm nichts mehr. Er hatte Hunderte von
Dollar bei seiner Cocktailparty in der Wolkenkratzer-Bar für nicht geleerte Gläser, nicht verzehrte Delikatessen,
übertrieben hohe Trinkgelder und Schnapsideen ausgegeben, für ein Blitzgespräch mit Argentinien, damit einer
seiner Gäste sich einen schlüpfrigen Witz durchsagen lassen konnte, den er erzählen wollte, aber vergessen hatte.
Er hatte all das in einer Eingebung des Augenblicks getan, in dem fröstelnden Bewußtsein, daß Bezahlen
bequemer war als Denken.
»Sie brauchen sich jetzt, da wir den Eisenbahn-Koordinierungsplan haben, keinerlei Sorgen mehr zu
machen«, hatte Orren Boyle ihm versichert und dabei betrunken gemeckert. Unter dem Eisenbahn-
Koordinierungsplan war eine Eisenbahngesellschaft in North Dakota in Konkurs gegangen. Ein ganzer
Landesteil war dadurch von allem Verkehr abgeschnitten worden, und der Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft
hatte Selbstmord begangen, nachdem er zuvor seine Frau und seine Kinder getötet hatte. Ein Güterzug war vom
Fahrplan für Tennessee gestrichen und eine große Fabrik von einem Tag zum anderen ihrer
Transportmöglichkeiten beraubt worden. Der Sohn des Fabrikbesitzers hatte die Universität verlassen; er saß nun
im Gefängnis und erwartete seine Aburteilung wegen eines Mordes, den er als Mitglied einer
Eisenbahnräuberbande begangen hatte. Ein Provinzbahnhof in Kansas war geschlossen worden, und der dortige
Fahrdienstleiter, ein Student der Medizin, hatte sein Studium aufgegeben und war Tellerwäscher geworden. Und
all dies war geschehen, damit er, James Taggart, in einer snobistischen Luxusbar sitzen und den Alkohol
bezahlen konnte, den sich Orren Boyle in die Kehle goß; den Kellner, der Boyles Anzug von verschüttetem
Whisky säubern mußte; und den Teppich, den ein ehemaliger Zuhälter aus Chile mit seiner Zigarette verbrannt
hatte, weil es ihm zu mühselig gewesen war, den einen halben Meter weit von ihm entfernt stehenden
Aschenbecher zu benutzen.
Es war nicht das Wissen um seine Gleichgültigkeit dem Geld gegenüber, das ihn jetzt vor Angst erschauern
ließ. Es war die Erkenntnis, daß er genauso empfinden würde, wenn er in der gleichen Lage wäre wie der Bettler.
Es hatte eine Zeit gegeben, da er sich, wenn auch nur sehr unklar, der Sünde der Habgier, die er verdammte,
schuldig gefühlt hatte. Jetzt traf ihn, wie ein ernüchternder Schock die Einsicht, daß er nur ein scheinheiliger
Selbstbetrüger gewesen war; er hatte in Wirklichkeit nie nach Geld gefragt. Und er sah sich vor einem neuen
gähnenden Loch, das in eine neue Sackgasse führte, die zu Ende zu gehen er nicht wagen durfte.
Ich will irgend etwas tun! schrie er innerlich in eine echolose Leere. Er begehrte gegen den Sog verbotener
Gedanken auf und gegen eine unbekannte böswillige Macht, die ihn kein Freude finden ließ ohne den Zwang zu
fragen, was er suchte und warum.
Was willst du? fragte ihn eine verhaßte Stimme im Takt seiner Schritte, und er ging schneller, ihr zu
entfliehen. Sein Gehirn schien ihm ein Labyrinth, in dem sich an jeder Ecke eine Sackgasse öffnete; und jede
führte in einen Nebel, der einen Abgrund verbarg. Ihm war, als liefe er um sein Leben, während der sichere
Grund unter ihm zusehends weiter schrumpfte und bald nichts mehr übrig lassen würde als diese Sackgassen.
Und die Helligkeit der Straße schwand, während Dunst aus den Querstraßen sich immer näher heranwälzte.
Warum mußte der Bereich seiner Sicht immer enger werden? dachte James in panischer Angst. Er wußte es nur
allzu gut. So hatte er immer gelebt, die Augen stur immer nur auf das sichere Pflaster vor seinen Füßen gerichtet,
jeden Blick auf seinen weiteren Weg, auf Abzweigungen, Steigungen und Gefälle verstohlen vermeidend. Er
hatte nie bewußt und mit Vorbedacht irgendwohin gehen wollen; er hatte frei sein wollen von dem Bedürfnis,
vorwärts zu kommen, frei von dem hypnotischen Zwang einer geraden Linie; er hatte nie den Wunsch gehabt,
seine Jahre zusammenzuzählen. Aber welche Macht hatte sie dennoch zusammengezählt? Warum hatte er ein
nichtgewähltes Ziel erreicht, an dem er weder stillstehen konnte noch zurückweichen?
»Paß doch auf, du Dussel!« knurrte ihn eine Stimme an, während ein Ellenbogen ihn zur Seite stieß, und er
entdeckte, daß er mit einer großen, übelriechenden Gestalt zusammengestoßen – und daß er gerannt war.
Er verlangsamte seine Schritte und gestattete zögernd seinem Verstand festzustellen, daß seine Flucht nicht so
ziellos gewesen war, wie er geglaubt hatte, daß er unbewußt bestimmte Straßen gewählt hatte. Er hatte es nicht
wahrhaben wollen, daß er nach Hause ging zu seiner Frau. Auch dies war eine nebelblinde Sackgasse; doch es
gab keinen anderen Weg mehr. Er wußte im gleichen Augenblick, in dem Cherryl bei seinem Eintritt in ihr
Zimmer stumm und gelassen aufstand, daß dieser letzte Ausweg noch gefährlicher war, als er sich selbst hatte
eingestehen wollen, und daß er hier nicht finden würde, was er suchte. Doch Gefahr war für ihn ein Signal, die
Augen zu schließen, sein Urteil auszuschalten und seinen Kurs unverändert weiterzusteuern. Unbewußt nahm er
an, die Gefahr würde unwirklich bleiben, wenn er sich entschloß, sie nicht zu sehen. Es war, als wäre in ihm ein
Nebelhorn, das ertönte, nicht um zu warnen, sondern um den Nebel herbeizurufen.
»Ich hätte eigentlich an einem geschäftlich wichtigen Bankett teilnehmen müssen, doch ich wollte heute lieber
mit dir zu Abend essen«, sagte er im Ton eines Kompliments, aber als Antwort hörte er nur ein ausdrucksloses
»Ach so«.
Er fühlte sich gereizt durch ihre Kühle und ihr bleiches, leeres Gesicht. Noch mehr reizte ihn die gelassene
Sicherheit, mit der sie dem Personal ihre Anweisungen gab und ihm dann im Kerzenlicht des Speisezimmers an
einem mit erlesenem Geschmack gedeckten Tisch gegenübersaß.
Ihr verändertes Wesen aber reizte ihn am meisten. Cherryl war nicht mehr das kleine naive Mädchen, das sich
durch den Luxus einer von einem berühmten Künstler eingerichteten Wohnung einschüchtern ließ; sie war dieser
Umgebung gewachsen. Sie saß am Tisch, vor sich eine kristallene Obstschale in einer Silberschüssel mit Eis, als
wäre sie die Hausherrin, die dieser Rahmen verlangte. Sie trug ein langes, glattes Hauskleid aus rostrotem, auf
die Bronzefarbe ihres Haares abgestimmtem Brokat, dessen strenge Schlichtheit ihrer Schönheit als einziger
Schmuck diente. Er hätte lieber die klingenden Armreifen und die glitzernden Straßbroschen ihrer Vergangenheit
an ihr gesehen. Ihre Augen aber verwirrten ihn, wie sie ihn seit Monaten verwirrten; sie waren weder freundlich
noch feindlich, sondern wachsam und fragend.
»Ich habe heute ein großes Geschäft abgeschlossen«, sagte James halb prahlend, halb bettelnd. »Ein Geschäft,
an dem unser ganzes Land und ein halbes Dutzend anderer Regierungen beteiligt sind.«
Er erkannte, daß die von ihm erwartete ehrfürchtige Scheu, die Bewunderung und die brennende Neugier, zu
dem Gesicht einer kleinen Verkäuferin gehört hatten, die es nicht mehr gab; er sah nichts von alledem in dem
Gesicht seiner Frau; selbst Zorn oder Haß hätte er ihrem steten, aufmerksamen Blick vorgezogen. Dieser Blick
war schlimmer als eine Anklage. Er war ein Verhör.
»Was für ein Geschäft, Jim?«
»Was meinst du damit: was für ein Geschäft? Warum bist du so mißtrauisch? Warum fängst du auf einmal an,
mich auszufragen?«
»Entschuldige. Ich wußte nicht, daß die Sache vertraulich ist. Du brauchst mir nicht zu antworten.«
»Sie ist nicht vertraulich.« Er wartete, doch sie schwieg. »Nun? Hast du nichts dazu zu sagen?«
»Nein.« Sie sagte es schlicht, als wollte sie ihm einen Gefallen tun.
»Es interessiert dich als o überhaupt nicht?«
»Aber ich dachte, du wolltest nicht darüber sprechen.«
»Ach, sei nicht so spitzfindig!« rief er ärgerlich aus. »Es ist ein großes Geschäft. Das bewunderst du doch,
diese großen Geschäfte. Nun, dieses ist größer als alles, was gewisse Leute sich je haben träumen lassen. Sie
verbringen ihr Leben damit, Cent um Cent zusammenzukratzen, um zu einem Vermögen zu kommen, während
ich es einfach so« – er schnipste mit den Fingern – »verdiene, einfach so. Es ist das größte Ding, das je gelandet
wurde.«
»Das größte Ding, Jim?«
»Geschäft!«
»Und du hast es gemacht? Du selbst?«
»Worauf du dich verlassen kannst! Dieser fette Idiot von Orren Boyle hätte das in Millionen Jahren nicht
hingekriegt. Dazu gehörte eine gute Portion Fachkenntnis, Erfahrung und Geistesgegenwart« – er sah einen
Funken von Interesse in ihren Augen – »und Psychologie.« Der Funke erlosch, doch er wollte es nicht sehen und
ereiferte sich weiter. »Man mußte wissen, wie man an Wesley herankommt und wie man die falschen Leute von
ihm fernhält und wie man Mr. Thompson interessiert, ohne ihn zuviel wissen zu lassen, und wie man Chick
Morrison mit hineinnimmt, Tinky Holloway aber draußen läßt, und wie man die richtigen Leute
zusammenbekommt und im richtigen Augenblick ein paar richtige Parties gibt für Wesley, und… Sag, Cherryl,
haben wir Champagner im Haus?«
»Champagner?«
»Könnten wir heute abend nicht etwas Besonderes tun? Könnten wir nicht so eine Art Feier steigen lassen,
wir beide?«
»Wir können Champagner trinken, Jim, selbstverständlich.«
Sie klingelte und gab die notwendigen Anweisungen in ihrer seltsam leblosen, unkritischen Art, die peinlich
genau darauf achtete, daß seine Wünsche erfüllt wurden, und die ihre eigenen nicht berücksichtigte.
»Du scheinst nicht sehr beeindruckt zu sein«, sagte er. »Doch was verstehst du schon von Geschäften? Du
wärest nicht fähig, die Tragweite dieser Sache zu begreifen. Warte nur ab bis zum zweiten September. Warte, bis
sie davon hören.«
»Sie? Wer?«
Er sah sie an, als hätte er sich ein gefährliches Wort entschlüpfen lassen. »Wir haben eine Sache organisiert,
durch die wir – ich, Orren und einige wenige Freunde – sämtliche Industrieunternehmen südlich der Grenze in
die Hände bekommen.«
»Wessen Unternehmen?«
»Nun, die des Volkes. Es handelt sich nicht um eine Sache, bei der es um Privatprofit geht. Es ist eine Sache
mit ideellem Hintergrund, eine Mission im Geiste moderner Aufgeschlossenheit für das Wohl des Ganzen im
weitesten Sinne. Es geht darum, die verstaatlichten Unternehmen der verschiedenen Volksstaaten Südamerikas
fachgemäß zu verwalten, ihre Arbeiter unsere neuen Produktionsmethoden zu lehren, den Benachteiligten zu
helfen, die nie eine Chance hatten…« Er unterbrach sich plötzlich, obwohl sie nur bewegungslos zugehört und
ihn angesehen hatte, ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern. »Wenn du schon so ängstlich verbirgst, daß du
aus den Slums kommst, solltest du zumindest gegenüber der Philosophie des Gemeinwohls weniger gleichgültig
sein. Immer lassen die Armen es an humanitärem Instinkt fehlen. Man muß reich geboren sein, um die
differenzierten Gefühle des Altruismus empfinden zu können.«
»Ich habe nie versucht zu verbergen, daß ich aus den Slums komme«, sagte sie im schlichten, unpersönlichen
Ton einer Tatsachenberichtigung. »Und ich kann keinerlei Sympathie für diese Philosophie des Gemeinwohls
aufbringen. Ich habe genug davon gesehen, um zu wissen, wie man Arme züchtet, die alles umsonst wollen.« Er
antwortete nicht, und sie fügte erstaunt, doch fest wie in der endlichen Bestätigung eines langgehegten Zweifels
hinzu: »Jim, du glaubst doch auch nicht an diese Philosophie, an dieses Gewäsch vom Gemeinwohl.«
»Nun, wenn Geld alles ist, was dich interessiert«, höhnte er, »dann laß dir von mir sagen, daß dieses Geschäft
mir ein Vermögen einbringen wird. Das bewunderst du doch immer, Reichtum?«
»Das kommt darauf an.«
»Ich glaube, ich werde einer der reichsten Männer der Erde werden«, sagte James; er fragte Cherryl nicht,
worauf es bei ihrer Bewunderung ankäme. »Es gibt nichts, was ich mir nicht leisten könnte. Nichts. Nenn es mir
nur. Ich kann dir alles geben, was du wünschst. Los, nenn es.«
»Ich wünsche mir nichts, Jim.«
»Aber ich möchte dir ein Geschenk machen! Um die Stunde zu feiern! Irgend etwas, was dir in den Kopf
kommt. Was du willst. Ich kann es kaufen. Ich will dir zeigen, daß ich es kann. Irgendeine Laune, die du
befriedigt haben willst.«
»Ich habe keine Launen, Jim.«
»Ach was! Willst du eine Jacht?«
»Nein.«
»Willst du, daß ich das ganze Viertel von Brooklyn kaufe, in dem du aufgewachsen bist?«
»Nein.«
»Willst du die Kronjuwelen des englischen Volksstaates? Sie sind nämlich zu haben. Die Regierung von
England versucht seit langem, sie auf dem schwarzen Markt abzusetzen. Doch es gibt keine altmodischen
Krösusse mehr, die sich so etwas leisten können. Ich kann es – oder werde es können, nach dem zweiten
September. Willst du sie haben?«
»Nein.«
»Was willst du denn überhaupt?«
»Ich will nichts, Jim.«
»Du mußt aber etwas wollen! Du mußt dir etwas wünschen, zum Teufel noch mal!«
Sie sah ihn nur leicht erstaunt an.
»Na schön. Entschuldige«, sagte er; er schien erstaunt über seinen Ausbruch. »Ich wollte dir nur einen
Gefallen tun«, fügte er mürrisch, fast schmollend hinzu, »aber ich glaube, du begreifst überhaupt nicht, wie groß
die Sache ist. Du weißt nicht, mit was für einem Mann du verheiratet bist.«
»Ich versuche, es herauszufinden«, sagte sie langsam.
»Glaubst du immer noch wie früher, daß Hank Rearden ein großer Mann ist?«
»Ja, Jim, das tue ich.«
»Nun denn, ich habe ihn geschlagen. Ich bin größer als sie alle, größer als Rearden und als der andere
Liebhaber meiner Schwester, der…« Er hielt inne, als wäre er zu weit gegangen.
»Jim«, fragte sie mit ruhiger Stimme, »was wird am zweiten September geschehen?«
Er sah unter der gesenkten Stirn hervor kalt zu ihr auf, und seine Gesichtsmuskeln verzogen sich zu einem
zynischen Lächeln, als gäbe er eine letzte Zurückhaltung auf. »d’Anconia Copper wird verstaatlicht«, sagte er.
James hörte das lange an- und abschwellende Motorengeräusch eines Flugzeugs, das in der Dunkelheit über den
Dächern dahinflog, und dann das dünne Klingeln eines Eisstückchens, das sich schmelzend in der Silberschüssel
seiner Fruchtschale bewegte.
Nach einer Weile sagte Cherryl: »War er nicht dein Freund?«
»Oh, halt den Mund!«
Er schwieg eine Zeitlang, ohne sie anzusehen. Als er den Blick wieder hob, beobachtete Cherryl ihn noch
immer. Sie brach das Schweigen und sagt ernst, fast feierlich: »Was deine Schwester in ihrer Radiosendung
getan hat, war großartig.«
»Ja, ich weiß. Ich weiß. Das erzählst du mir seit einem Monat.«
»Du hast mir nie darauf geantwortet.«
»Was ist darauf zu ant…«
»Ebenso wie deine Freunde in Washington ihr nie geantwortet haben.«
Er schwieg.
»Jim, ich gebe das Thema nicht auf.«
Er antwortete nicht.
»Deine Freunde in Washington haben nicht ein einziges Wort über die Angelegenheit verlauten lassen. Sie
haben nicht bestritten, was sie gesagt hat, haben keine Erklärung abgegeben, haben nicht versucht, sich zu
rechtfertigen. Sie handelten, als hätte sie nie gesprochen. Ich glaube, sie hoffen, daß die Menschen es vergessen.
Einige werden es vielleicht vergessen. Doch die meisten von uns wissen, was sie gesagt hat, und daß deine
Freunde Angst hatten, sich dagegen zu wehren.«
»Das ist nicht wahr! Die erforderliche Maßnahme ist getroffen worden, der Zwischenfall ist erledigt, und ich
weiß nicht, warum du wieder davon anfängst.«
»Was für eine Maßnahme?«
»Bertram Scudders Sendereihe wurde abgebrochen, weil sie in der heutigen Zeit nicht mehr dem öffentlichen
Interesse dient.«
»Ist das eine Antwort auf das, was sie gesagt hat?«
»Es schließt den Fall ab, und es ist nichts mehr darüber zu sagen.«
»Über eine Regierung, die mit Zwang und Erpressung arbeitet?«
»Du kannst nicht sagen, daß nichts geschehen ist. Es ist öffentlich bekanntgegeben worden, daß Scudders
Sendung zersetzend, destruktiv und gemeingefährlich war.«
»Jim, ich möchte dich darauf aufmerksam machen, daß Scudder nicht auf ihrer Seite war; er war auf eurer
Seite. Er hat das Interview nicht einmal selbst angeregt. Er hat auf Befehl Washingtons gehandelt.«
»Ich dachte, du konntest Bertram Scudder nicht ausstehen.«
»Ich konnte es nicht und kann es nicht, doch…«
»Warum trittst du dann für ihn ein?«
»Weil er in diesem Fall unschuldig war.«
»Ich wünschte, du würdest dich nicht um Politik kümmern. Du redest dummes Zeug.«
»Er war doch unschuldig, oder nicht?«
»Und wenn schon?«
Cherryl sah ihn mit großen, ungläubig erstaunten Augen an. »Dann haben sie ihn also zu ihrem Sündenbock
gemacht?«
»Oh, sitz nicht da wie Eddie Willers!«
»Tu ich das? Ich mag Eddie Willers. Er ist ehrlich.«
»Er ist ein verdammter Phantast, der keine Ahnung hat, wie man eine Sache lebensnah anpackt.«
»Aber du weißt es, Jim?«
»Worauf du dich verlassen kannst.«
»Warum konntest du dann Scudder nicht helfen?«
»Ich?« Er brach in ein hilflos ärgerliches Lachen aus.
»Mein Gott, wirst du denn nie erwachsen? Ich habe alles getan, damit Scudder den Löwen vorgeworfen wird!
Und du fragst mich, warum ich ihm nicht geholfen habe! Einer mußte es sein. Weißt du denn nicht, daß ich es
gewesen wäre, wenn man keinen anderen gefunden hätte?«
»Du? Warum nicht Dagny, wenn sie unrecht hatte? Oder hatte sie nicht unrecht?«
»Dagny is t ein vollkommen anderer Fall. Es konnte nur Scudder sein oder ich.«
»Warum?«
»Im Interesse der nationalen Politik war es besser, daß Scudder dran glauben mußte. Auf diese Weise
brauchte man nicht auf das zurückzukommen, was sie gesagt hatte. Und wenn jemand es trotzdem aufbringt,
dann antworten wir, daß es in Scudders Sendung gesagt wurde, und daß Scudder ein überführter Betrüger und
Lügner ist und so weiter und so weiter. Glaubst du, daß die Leute dann noch die Zusammenhänge durchschauen
können? Niemand hat übrigens Scudder je ernst genommen. Mein Gott, schau mich nicht so an! Wäre es dir
lieber, man hätte mir das Genick gebrochen?«
»Warum nicht Dagny? Weil man ihre Behauptungen nicht widerlegen konnte?«
»Bertram Scudder würde dir weniger leid tun, wenn du gesehen hättest, wie er versucht hat, mir das Genick
zu brechen! Das hat er seit Jahren versucht. Wie, glaubst du, ist er dorthin gelangt, wo er war, wenn er nicht über
Leichen gegangen wäre? Er hielt sich für sehr stark. Du hättest sehen sollen, wie die ach so souveränen Top-
Manager ihn fürchteten! Doch dieses Mal hat er sich verrechnet. Er hatte auf die falsche Karte gesetzt.«
Dumpf erkannte er in der angenehmen Betäubung der Entspannung, die seinem Ausbruch folgte und ihn in
seinen Sessel zurücksinken ließ, das Gefühl, das er gesucht hatte, das Gefühl, er selbst zu sein. Er selbst zu sein,
dachte er in dem Bewußtsein, die gefährlichste seiner Sackgassen zu Ende zu gehen, jener, die zu der Frage
führte, wer er und was er im Grunde war.
»Er gehörte nämlich zur Partei Tinky Holloways. Eine Zeitlang gab es ein zähes Tauziehen zwischen der
Tinky-Holloway- und der Chick-Morrison-Gruppe. Doch wir haben gesiegt. Tinky schloß einen Vergleich mit
uns und opferte seinen Freund Bertram für einige Dinge, die er von uns brauchte. Du hättest hören sollen, wie
Bertram tobte. Doch er war ein toter Mann, und er wußte es.«
Er lachte meckernd, verstummte jedoch, als der Schleier vor seinen Augen hochging und er das Gesicht seiner
Frau sah.
»Jim«, sagte sie leise, »sehen so die Siege aus, die du erringst?«
»Himmeldonnerwetter!« brüllte er und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wo hast du all diese Jahre die
Augen gehabt? In was für einer Welt, glaubst du, leben wir?«
Sein Schlag auf den Tisch hatte sein Wasserglas hochspringen lassen, und auf dem Tischtuch breitete sich
langsam ein dunkler Fleck aus.
»Ich versuche, es herauszufinden«, murmelte sie. Ihre Schultern sanken herab, und ihr Gesicht sah plötzlich
müde und verhärmt aus, als wäre sie in wenigen Sekunden um Jahre gealtert.
»Ich konnte nicht anders!« schrie er verzweifelt in die Stille. »Mir kann man keine Schuld geben! Ich muß die
Dinge nehmen, wie sie sind! Ich habe diese Welt nicht gemacht!«
Er war bestürzt, daß sie lächelte – ein Lächeln von so grimmiger und bitterer Verachtung, daß es auf ihrem
geduldig ergebenen Gesicht unglaubwürdig erschien; sie sah ihn nicht an, ihr Blick schien sich in der Ferne zu
verlieren.
»Das sagte mein Vater immer, wenn er sich in der Kneipe an der Ecke betrank, statt Arbeit zu suchen.«
»Wie kannst du es wagen, mich mit deinem…« begann er, doch er vollendete den Satz nicht, weil sie ihm
nicht zuhörte.
Die Worte, die sie sprach, als sie wieder zu ihm aufblickte, verblüfften ihn durch ihre
Zusammenhanglosigkeit.
»Das Datum der Nationalisierung, den zweiten September«, fragte sie lauernd, »hast du es ausgesucht?«
»Nein. Ich hatte nichts damit zu tun. An diesem Tag findet eine Sondersitzung ihres Parlaments statt. Warum
fragst du?«
»Es ist der erste Jahrestag unserer Hochzeit.«
»Oh! Ja, das stimmt!« Er lächelte, erleichtert durch den Übergang zu einem sicheren Thema. »Wir sind dann
seit einem Jahr verheiratet. Mein Gott, so lange scheint es mir noch nicht her zu sein, daß wir geheiratet haben!«
»Mir scheint es noch länger her zu sein«, sagte sie tonlos.
Sie schaute wieder ins Leere, und er fühlte in plötzlichem Unbehagen, daß dieses Thema keineswegs so sicher
war; er wünschte, sie würde nicht so verloren dreinschauen, als sähe sie den ganzen Verlauf dieses Jahres und
ihrer Ehe vor sich. – Nicht verzagen, sondern verstehen lernen, dachte sie. Verzage nicht, sondern lerne zu
verstehen. Diese Worte entstammten einem Spruch, den sie sich selbst so oft wiederholt hatte, daß er ihr vorkam
wie ein durch das hilflose Gewicht ihres Körpers glatt polierter Pfeiler, der sie während des letzten Jahres
gestützt hatte. Sie versuchte, den Satz zu wiederholen, doch ihr war, als glitten ihre Hände von der Glätte ihres
Halts ab, als ob das helfende Wort die Angst nicht länger bannen könnte, weil sie begonnen hatte zu verstehen.
Wenn du etwas nicht verstehst, verzage nicht, sondern lerne, es zu verstehen! In der verwirrenden Einsamkeit
der ersten Wochen ihrer Ehe hatte sie es sich zum ersten Mal gesagt. Sie konnte Jims Verhalten nicht verstehen,
seine Launenhaftigkeit, die nur Schwäche zu sein schien, seine ausweichenden, unverständlichen Antworten, die
nach Feigheit klangen; solche Charakterzüge paßten nicht zu dem James Taggart, den sie geheiratet hatte. Sie
sagte sich, daß sie ihn nicht verurteilen durfte, ohne ihn zu verstehen, daß sie nichts über seine Welt wußte, daß
ihre Unwissenheit sie seine Handlungen mißverstehen ließ. Sie nahm die Schuld auf sich, überhäufte sich mit
Selbstvorwürfen – entgegen dem unbestimmten, aber sicheren Gefühl, das ihr sagte, daß etwas in ihrer Logik
nicht stimmte und daß Furcht ihr diese Gedanken eingab.
»Ich muß alles lernen, was man von einer Mrs. Taggart erwartet«, erklärte sie ihrem Lehrer für
Umgangsformen. Sie lernte mit der Hingabe, der Disziplin und dem Eifer eines Kadetten oder einer Novizin.
Dies war der einzige Weg, dachte sie, die Höhe zu verdienen, auf die er sie vertrauensvoll geführt hatte; so zu
werden, wie er sie sah. Und ohne es sich eingestehen zu wollen, hoffte sie auch, am Ende dieses Weges das
frühere Bild von ihm wiederzugewinnen; hoffte, daß Wissen ihr den Mann wiederbringen würde, den sie in der
Nacht seines Triumphes gesehen hatte.
Sie konnte das Verhalten nicht begreifen, das Jim zeigte, wenn sie ihm von ihren Unterrichtsstunden erzählte.
Er brach in schallendes Lachen aus; sie war unfähig, an den boshaft-höhnischen Beiklang dieses Lachens zu
glauben.
»Aber, Jim? Worüber lachst du denn?«
Er gab ihr keine Erklärung, als wäre die Tatsache seiner Verachtung selbstverständlich und bedürfte keiner
Begründung.
Sie konnte ihn nicht der Bosheit verdächtigen; er war ihren Fehlern gegenüber zu großmütig. Er schien sie in
den ersten Salons der Stadt zur Schau stellen zu wollen und äußerte nie ein Wort des Vorwurfs über ihre
Unwissenheit, ihre Ungeschicklichkeit und jene schrecklichen Augenblicke, wenn ihr ein stummer Austausch
von Blicken zwischen den Gästen und das in ihre Wangen schießende Blut verrieten, daß sie wieder einmal
etwas Falsches gesagt hatte. Er zeigte keine Verlegenheit, er beobachtete sie mit einem unbestimmbaren, feinen
Lächeln. Wenn sie nach solchen Abenden nach Hause kamen, schien er besonders gut gelaunt. Er versuchte, es
ihr leichter zu machen, dachte sie. Und aus Dankbarkeit lernte sie um so eifriger. Sie erwartete ihre Belohnung
an dem Abend, als sie in einem kaum merklichen Übergang entdeckte, daß sie zum ersten Mal mit Vergnügen an
einer Gesellschaft teilnahm. Sie fühlte, daß sie sich ungezwungen und dennoch richtig benahm, ohne an die
erlernten Regeln zu denken, als wären diese zu einer natürlichen Gewohnheit geworden; sie spürte, daß sie
Aufmerksamkeit erregte, doch jetzt, zum ersten Mal, nicht weil man sie lächerlich fand, sondern weil man sie
bewunderte. Man bemühte sich um ihrer selbst willen um sie. Sie war Mrs. Taggart und nicht mehr ein
peinliches Anhängsel Jims, das man nur um seinetwillen nachsichtig duldete. Sie hörte sich froh lachen und sah
als Antwort ein freundliches Lächeln auf ehrlichen Gesichtern. Und ihre strahlenden Augen suchten immer
wieder Jim, wie ein Kind, das einem sein Zeugnis mit lauter guten Noten zeigt und bittet, stolz darauf zu sein.
Jim saß allein in einer Ecke und beobachtete sie mit einem unergründlichen Blick.
Er sprach auf dem Nachhauseweg nicht mit ihr.
»Ich weiß nicht, warum ich immer wieder zu solchen Parties gehe«, rief er wütend aus, als sie das
Wohnzimmer betraten, und löste mit einem heftigen Ruck den Knoten seiner Fliege. »Ich bin es satt, meine Zeit
mit so langweiligen und ordinären Menschen zu vergeuden wie heute abend!«
»Aber Jim!« sagte sie verdutzt. »Ich fand es wundervoll.«
»Das habe ich bemerkt. Du schienst dich wie zu Hause zu fühlen – wie auf dem Rummelplatz. Ich wünschte,
du hättest gelernt, auf deinem Platz zu bleiben und mich nicht öffentlich in Verlegenheit zu bringen.«
»Ich habe dich in Verlegenheit gebracht? Heute abend?«
»Jawohl, das hast du.«
»Aber wie denn?«
»Wenn du es nicht von selber verstehst, kann ich es dir nicht erklären«, sagte er im Tone eines Mystikers, der
andeutet, daß ein Mangel an Verständnis einem Eingeständnis hoffnungsloser Unterlegenheit gleichkommt.
»Ich verstehe es nicht«, sagte sie fest, und er verließ das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Sie empfand diesmal das Unerklärliche nicht als eine einfache Leere, es hatte den Beigeschmack des Bösen.
Von diesem Abend blieb ein kleiner, stetig wachsender Funke von Furcht in ihr zurück, ähnlich dem Punkt des
fernen Frontscheinwerfers an einem Zuge, der sich auf einer unsichtbaren Strecke auf sie zubewegte.
Wissen vermittelte ihr kein klares Bild von Jims Welt, sondern gab ihr nur noch größere Rätsel auf. Cherryl
konnte nicht glauben, daß sie Ehrfurcht vor der ermüdenden Sinnlosigkeit der Kunstausstellungen empfinden
mußte, die seine Freunde besuchten, für die Romane, die sie lasen, und für die politischen Zeitschriften, über die
sie sprachen – für diese Kunstausstellungen, wo sie Zeichnungen sah, wie sie die Kinder in den Straßen der
Slums, wo sie aufgewachsen war, auf das Pflaster malten, für die Romane, die vorgaben, die Fragwürdigkeit der
Wissenschaft, der Technik, der Zivilisation und der Liebe zu beweisen, und in einer Sprache geschrieben waren,
die ihr Vater nicht in seiner größten Trunkenheit gebraucht hatte, für diese Zeitschriften, die sich feige über
Gemeinplätze verbreiteten, unklarer und schaler als die Predigten, die sie veranlaßt hatten, die Missionare in den
Slums als doppelzüngige Betrüger zu verachten. Sie konnte nicht glauben, daß dies die Kultur war, zu der sie so
ehrfürchtig aufgeblickt und die zu entdecken sie sich so eifrig bemüht hatte. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie
einen Berg erstiegen, auf dem sie die Zinnen eines Schlosses zu sehen geglaubt und nur die Ruine eines
ausgebrannten Warenhauses gefunden hatte.
»Jim«, sagte sie nach einem Abend, den sie unter Männern verbracht hatten, die sich die geistigen Führer des
Landes nannten: »Dr. Simon Pritchett ist ein Betrüger, ein erbärmlicher, kleiner Betrüger.«
»Jetzt wirst du anmaßend«, hatte er erwidert. »Du bist viel zu ungebildet, um dir ein Urteil über einen
Philosophen erlauben zu können.«
»Ich bin gebildet genug, um einen Philosophen von einem Hochstapler unterscheiden zu können. Von diesen
habe ich genug gesehen, um einen zu erkennen, wenn ich ihn sehe.«
»Ich habe recht, wenn ich sage, daß du deine Herkunft nie überwinden wirst. Du wirst nie fähig sein, die
Philosophie Dr. Pritchetts zu verstehen.«
»Was ist das für eine Philosophie?«
»Wenn du sie nicht selber verstehst, kann ich sie dir nicht erklären.«
Sie ließ ihn das Gespräch nicht mit seiner Patentformel beenden. »Jim«, sagte sie, »er ist ein Hochstapler, er
und Balph Eubank und die ganze Bande – und ich glaube, du läßt dir von ihnen etwas vormachen.«
Anstelle der Wut, die sie erwartete, sah sie einen Schimmer verstohlener Belustigung in seinen leicht
flackernden Augen. »Glaube, was du willst«, erwiderte er nur.
Sie erschrak kurz, als sie zum ersten Mal an eine Erklärung dachte, die sie bis jetzt nicht für möglich gehalten
hatte. Wenn Jim sich wirklich nichts von der Betrügerbande vormachen ließ, wenn er kein Opfer, sondern
Mitspieler war? Das Spiel Dr. Pritchetts glaubte sie durchschauen zu können. Es war ein Repertoire von Tricks,
mit denen er sich ein unverdientes Einkommen verschaffte. Sie konnte jetzt sogar der Möglichkeit ins Auge
sehen, daß Jim ein Betrüger in seinem eigenen Beruf war. Was sie sich aber nicht vorstellen konnte, das war Jim
als Mitverschworener in einem Komplott, das ihm nichts einbrachte, als ein Betrüger ohne Gewinn. Im
Vergleich damit erschien das Spiel eines Kartenzinkers oder eines Hochstaplers unschuldig und normal. Sie fand
keine Erklärung für Jims Verhalten. Sie sah nur den Frontscheinwerfer größer werden, der sich auf sie
zubewegte.
Sie konnte sich nicht erinnern, in welcher Phase ihres wachsenden Schmerzes sie angefangen hatte, sich über
Jims Einstellung zu seiner Bahn Gedanken zu machen. Zuerst war da ein vages Unbehagen gewesen, dann
peinigende Stiche, zuletzt das stetige Nagen einer namenlosen Angst. Sein wütendes »Du glaubst mir also
nicht?«, mit dem er ihr auf ihre erste unschuldige Frage geantwortet hatte, hatte ihr klar gemacht, daß sie ihm
nicht mehr glaubte. Damals hatten ihre Zweifel noch keine Gestalt angenommen, und sie hatte erwartet, daß
seine Antworten ihr wieder Gewißheit geben würden. Sie hatte in den Slums ihrer Kindheit gelernt, daß ehrliche
Menschen nie empfindlich waren, wenn man an ihrer Glaubwürdigkeit zweifelte. »Ich habe keine Lust zu
fachsimpeln«, war seine Antwort, wenn sie die Bahn erwähnte.
Einmal versuchte sie, ihn dennoch zum Sprechen zu bringen. »Jim, du weißt, wie ich über deine Arbeit denke
und wie sehr ich dich wegen deiner großen Leistungen bewundere.«
»Ach, wirklich? Was hast du eigentlich geheiratet, einen Mann oder einen Eisenbahnmanager?«
»Ich… ich habe nie daran gedacht, die beiden voneinander zu trennen.«
»Das ist ja nicht sehr schmeichelhaft für mich.«
Sie sah ihn verblüfft an; sie hatte es für ein Kompliment gehalten.
»Mir wäre es lieber, du würdest mich um meiner selbst willen lieben und nicht wegen meiner Eisenbahn.«
»Mein Gott, Jim«, rief sie erschreckt aus, »du glaubst doch nicht, daß ich…«
»Nein«, antwortete er mit einem mitleidigen, großmütigen Lächeln. »Ich habe nicht geglaubt, daß du mich
wegen meines Geldes oder wegen meiner Stellung geheiratet hast. Ich habe nie an dir gezweifelt.«
In ihrer dumpfen Verwirrung und ihrer Angst, sie könnte ihm Grund gegeben haben, ihre Gefühle
mißzuverstehen, da er ja genügend bittere Enttäuschungen erlebt haben mußte mit Frauen, die es nur auf sein
Geld abgesehen hatten, konnte sie nichts anderes tun, als kopfschüttelnd zu stöhnen: »O Jim, das habe ich nicht
gemeint!«
Er lächelte nachsichtig, wie über ein Kind, und legte den Arm um ihre Schultern. »Liebst du mich?« fragte er.
»Ja«, antwortete sie leise.
»Dann mußt du Vertrauen zu mir haben. Liebe ist Vertrauen. Siehst du denn nicht, daß ich dich brauche? Ich
traue niemand in meiner Umgebung. Ich habe nur Feinde. Ich bin sehr einsam. Ich habe nur dich.«
Der verzweifelte Wunsch, ihm zu glauben, ließ sie später in quälender Unruhe in ihrem Zimmer auf- und
abgehen, doch erschöpft stellte sie dann fest, daß sie ihm kein einziges Wort glauben konnte, obwohl sie spürte,
daß er selbst glaubte, die Wahrheit gesagt zu haben. Es stimmte, daß er sie brauchte, doch warum er sie brauchte,
blieb ihr verschlossen. Sie wußte nicht, was er bei ihr suchte oder zu finden glaubte. Es war nicht Schmeichelei
und Bewunderung, denn sie hatte ihn die kriecherischen Komplimente von Lügnern mit einem Blick
vorwurfsvoller Resignation entgegennehmen sehen, dem Blick eines Rauschgiftsüchtigen, dem man eine zu
geringe Menge seiner Droge anbietet. Und dennoch hatte er sie selbst oft so angeschaut, als erwarte er von ihr
die genügend starke Dosis, ja, als bettle er darum. Sie hatte ein Aufleuchten in seinen Augen bemerkt, wenn sie
ihm in irgendeiner Form ihre Bewunderung gezeigt hatte, doch ein Wutausbruch war seine Antwort gewesen,
wenn sie einen Grund für ihre Bewunderung nannte. Er schien zu wünschen, daß sie ihn für einen großen Mann
hielt; doch durfte sie nicht wagen, seine Größe einer besonderen Eigenschaft zuzuschreiben.
Sie verstand ihn nicht an dem Abend im April, als er von einer Reise nach Washington zurückkehrte. »Hallo,
Kleine!« hatte er ausgerufen und ihr einen Riesenstrauß Flieder auf die Arme gelegt. »Ich sah diese Blumen und
dachte an dich. Der Frühling kommt, Baby!«
Er hatte sich einen Drink eingeschenkt und begonnen, mit raschen Schritten hin- und herzugehen, dabei
pausenlos zu reden, im gejagten Ton einer fast hektischen Fröhlichkeit. Seine Augen glänzten fiebrig, und seine
Stimme klang heiser in verhaltener Erregung. Sie fragte sich, ob er wirklich so gut gelaunt war oder ob er seinen
Ärger verdeckte.
»Ich weiß, was sie vorhaben!« rief er plötzlich ohne Übergang aus, und sie blickte überrascht zu ihm auf; sie
hatte den Ton vernommen, der einen seiner Ausbrüche anzeigte. »Es gibt nicht ein Dutzend Menschen im Land,
die es wissen, aber ich weiß es! Die da oben halten es geheim, bis sie die Nation vor vollendete Tatsachen stellen
können! Eine Menge Leute werden große Augen machen! Es wird sie treffen wie ein Blitz aus heiterem
Himmel! Eine Menge Leute habe ich gesagt? Nein, alle, den letzten Mann im Land! Jeden einzelnen wird es
treffen. So wichtig ist es!«
»Wie treffen, Jim?«
»Sie werden es schon bemerken! Jetzt ahnen sie noch nicht, was ihnen bevorsteht; aber ich weiß es. Da sitzen
sie heute abend in ihren Häusern« – er zeigte mit einer überheblichen Handbewegung auf die erleuchteten
Fenster der Stadt – »und machen Pläne, zählen ihr Geld oder liegen in ihren Betten und träumen und wissen
nichts. Doch ich weiß es. Ich weiß, daß alles sich mit einem Schlag ändern wird!«
»Zum Schlechten oder zum Guten?«
»Zum Guten natürlich«, erwiderte er ungeduldig, als wäre es gleichgültig; seine Stimme schien ihr Feuer zu
verlieren und einen verlogen sachlichen Ton anzunehmen. »Es handelt sich um einen Plan, der das Land retten,
den wirtschaftlichen Niedergang aufhalten, Ungesundes ausmerzen und Stabilität und Sicherheit gewährleisten
soll.«
»Was ist das für ein Plan?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Er ist geheim. Streng geheim. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele
Menschen ihn gern kennen würden. Es gibt keinen Industriellen, der nicht ein Dutzend seiner besten Hochöfen
für einen kleinen Wink geben würde, den er aber nicht erhalten wird! Wie zum Beispiel Hank Rearden, den du ja
so bewunderst.« Er lachte vor sich hin, als sähe er in die Zukunft.
»Jim«, fragte sie, und der Ton ihrer Stimme sagte ihm, wie sein Lachen geklungen haben mußte, »warum haßt
du Hank Rearden?«
»Ich hasse ihn nicht!« schrie er sie an, und aus seinem Gesicht sprach plötzlich – sie traute ihren Augen nicht
– Angst, ja Entsetzen. »Ich habe nie gesagt, daß ich ihn hasse. Sei unbesorgt, er wird den Plan billigen.
Jedermann wird es tun. Er ist zum Besten eines jeden.« Es klang, als rechtfertige er sich vor ihr. Sie war sich
irgendwie bewußt, daß er log, daß aber sein Bemühen, sie zu überzeugen, ehrlich war – als empfände er das
verzweifelte Bedürfnis, sie zu beruhigen, doch nicht wegen der Dinge, die er sagte.
Cherryl zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, Jim, selbstverständlich«, antwortete sie und fragte sich, welches
Gefühl im Chaos ihres Innern sie veranlaßt hatte, es so auszusprechen, als wäre es ihre Rolle, ihn zu beruhigen.
Der Ausdruck, der jetzt in sein Gesicht trat, war fast ein Lächeln, fast Dankbarkeit. »Ich mußte heute abend
mit dir darüber sprechen. Ich mußte es dir sagen. Du solltest wissen, mit wie ungeheuer wichtigen Dingen ich zu
tun habe. Du sprichst immer von meiner Arbeit, aber du kannst nie ganz erfassen, was diese Arbeit bedeutet; sie
geht viel weiter, als du dir vorstellen kannst. Du glaubst, eine Eisenbahn zu leiten, das wäre nichts anderes als
Strecken zu bauen und Züge fahren zu lassen. Das ist es nicht. Das kann jeder Dummkopf. Das wirkliche Herz
einer Eisenbahn ist Washington. Meine Aufgabe ist die Politik. Ich muß den politischen Verhältnissen Rechnung
tragen, Entscheidungen von nationaler Bedeutung treffen, Entscheidungen, die tief in das Leben der Nation
eingreifen, in das Leben jedes einzelnen Bürgers – durch ein paar Worte, durch ein Gesetz, das bis in den letzten
Winkel des Landes das Leben einschneidend verändert!«
»Jawohl, Jim«, sagte sie und wünschte, daß er in dem geheimnisvollen Apparat der Washingtoner Regierung
wirklich eine wichtige Rolle spielte.
»Du wirst sehen«, fuhr er fort und lief wieder hin und her. »Du hältst sie für großartige, mächtige Männer,
diese Industriekapitäne, die sich einbilden, sie könnten das Land mit ihrer Produktion beherrschen. Man wird sie
in die Schranken weisen! Man wird sie zum Kuschen bringen! Man wird sie…« Er begegnete dem Blick, mit
dem sie ihn anstarrte. »Es geschieht nicht für uns«, sagte er hastig, »es geschieht für das Volk. Das ist der
Unterschied zwischen Geschäft und Politik. Wir verfolgen keine eigennützigen Ziele, keine privaten Interessen.
Wir jagen nicht dem Profit nach, wir verbringen unser Leben nicht damit, Geld zusammenzuraffen! Deshalb
werden wir auch von diesen habgierigen Profitmachern mißverstanden und verleumdet, die keinen Begriff haben
von geistigen Werten und moralischen Idealen und… Wir konnten nicht anders!« rief er plötzlich aus und
wandte sich mitten im Schritt hastig zu ihr. »Wir brauchen diesen Plan! Es muß irgend etwas geschehen, damit
nicht alles ins Stocken kommt und zusammenbricht! Wir konnten nicht anders!«
Seine Augen blickten verzweifelt; sie wußte nicht, ob er prahlte oder um Vergebung bettelte; sie wußte nicht,
ob er von Triumph oder von Entsetzen erfüllt war.
»Jim, fühlst du dich nicht wohl? Vielleicht hast du zuviel gearbeitet und bist überanstrengt und…«
»Ich habe mich nie in meinem Leben wohler gefühlt!« unterbrach er sie und nahm seine unruhige Wanderung
wieder auf. »O ja, ich habe fleißig gearbeitet, weiß Gott! Meine Arbeit ist wichtiger, als du dir vorstellen kannst.
Sie steht haushoch über dem, was diese technischen Handlanger wie Rearden und meine Schwester tun. Ich bin
stärker als sie alle. Was immer sie auch schaffen, ich kann es zerstören. Wenn sie gegen meinen Willen eine
Strecke bauen, kann ich kommen und sie wieder wegreißen. Einfach so… « – er schnipste mit den Fingern –,
»wie man jemand das Rückgrat bricht.«
»Du willst jemand das Rückgrat brechen?« hauchte sie zitternd.
»Das habe ich nicht gesagt!« schrie er sie an. »Was fällt dir ein? Das habe ich nicht gesagt!«
»Verzeih, Jim!« stieß sie tonlos hervor, entsetzt über ihre eigenen Worte und über die Angst in seinen Augen.
»Es ist nur, weil ich nichts von diesen Dingen verstehe, aber… aber ich weiß, ich sollte dich nicht mit meinen
dummen Fragen belästigen, wenn du müde bist« – sie kämpfte verzweifelt darum, sich selbst zu überzeugen –,
»wenn du so viele Dinge im Kopf hast… so… große Dinge… so groß, daß ich sie mir überhaupt nicht vorstellen
kann…«
Er atmete wie erlöst auf, ließ die Schultern sinken, trat zu ihr, kniete vor ihr nieder und legte die Arme um sie.
»Du armes, kleines Dummerchen«, sagte er zärtlich.
Sie wollte ihn an sich ziehen, bewegt von einem Gefühl, gemischt aus Zuneigung und Mitleid. Doch er hob
den Kopf, und als ihre Blicke einander trafen, glaubte sie in seinen Augen etwas zu sehen, das halb Dankbarkeit,
halb Verachtung war, als ob – durch einen ihr unbegreiflichen Vorgang – sie ihn freigesprochen und er sie
verdammt hätte.
Es war zwecklos, erkannte sie in den Tagen, die folgten, sich immer wieder zu sagen, daß diese Dinge über
ihr Verständnis hinausgingen, daß es ihre Pflicht war, ihm zu glauben, daß Liebe Vertrauen war. Ihr Zweifel
wuchs, der Zweifel an dem Wert seiner Arbeit, der Zweifel an seinem Verhältnis zu seiner Eisenbahn. Sie
wunderte sich, daß dieser Zweifel desto stärker wurde, je lauter sie sich einredete, daß Vertrauen allein ihre
Pflicht und Schuldigkeit war. Und in einer schlaflosen Nacht entdeckte sie dann, daß ihre Bemühung, diese
Pflicht zu erfüllen, darin bestand, sich abzuwenden, wann immer die Leute über ihn und seine Arbeit sprachen;
sich zu hüten zu lesen, was in den Zeitungen über Taggart Transcontinental stand; sich jeder dämmernden
Einsicht und jedem scheinbaren Widerspruch streng zu verschließen. Wie eine Lähmung überkam sie die
Erkenntnis, daß sie an einem Scheideweg angekommen war, daß sie zwischen blindem Vertrauen und dem
Willen zur Wahrheit wählen mußte. Sie begriff, daß ihr Eife r zu glauben genährt worden war von ihrer Furcht zu
wissen, und sie machte sich auf, die Wahrheit zu erfahren, erfüllt von dem klaren und sauberen Bewußtsein ihres
Rechts auf diese Wahrheit, frei von dem Zwang ihres unehrlichen Willens zur Pflichterfüllung. Sie brauchte
nicht lange, um die Wahrheit zu erfahren. Das Ausweichen der Angestellten in den Taggart-Büros, wenn sie
ihnen nebenbei Fragen stellte, ihre unverbindlichen Antworten, ihr gezwungenes Benehmen, wenn sie ihren Chef
erwähnte, und ihr offensichtlicher Widerwille, über ihn zu sprechen, sagten ihr nichts Konkretes, gaben ihr
jedoch ein Gefühl, das dem Wissen um Schlimmstes gleichkam. Deutlicher waren die Eisenbahnarbeiter, die
Weichensteller, die Fahrkartenverkäufer und Kontrolleure, die sie nicht kannten, und mit denen sie im Taggart
Terminal unverfängliche Gespräche anknüpfte, ohne sich zu erkennen zu geben.
»Jim Taggart? Dieser sabbernde, triefnasige Schwätzer!« – »Jimmy, der Vorstandsvorsitzende? Er ist ein
Trittbrettfahrer von der übelsten Sorte.« – »Der Boß? Mr. Taggart? Sie meinen Miss Taggart!«
Eddie Willers sagte ihr die volle Wahrheit. Sie erfuhr, daß er Jim seit seiner Kindheit kannte, und lud ihn zum
Essen ein. Als sie ihm am Tisch gegenübersaß und seinen ernsten, offenen Blick sah und seine ehrliche, gerade
Sprache hörte, sagte sie ihm rundheraus, was sie wissen wollte und warum, sagte es ihm mit sachlichen,
leidenschaftslosen Worten, die nicht an seine Hilfe oder sein Mitleid appellierten, sondern nur die Wahrheit
forderten. Er antwortete ihr auf die gleiche Weise. Er sagte ihr die Wahrheit über Jim, sprach ruhig,
unpersönlich, ohne ein Urteil zu fällen, ohne eine Meinung zu äußern, ohne ihre Gefühle anzusprechen oder zu
schonen, stellte die Tatsachen in ihrer brutalen Nacktheit dar. Er erzählte ihr, wer Taggart Transcontinental
leitete. Er erzählte ihr die Geschichte der John-Galt-Linie. Sie hörte ihm schweigend zu, und was sie empfand,
war nicht Bestürzung; es war schlimmer; es war das Fehlen jeder Bestürzung – als hätte sie es immer gewußt.
»Ich danke Ihnen, Mr. Willers«, war alles, was sie sagte, als er geendet hatte.
Sie wartete in dieser Nacht, bis Jim nach Hause kam, und was jeden Schmerz und jede Entrüstung in ihr
auslöschte, war das Gefühl eines Losgelöstseins von dem, was sie erfahren hatte, als ginge es sie nichts mehr an,
als müßte zwar noch etwas geschehen, doch als wäre es gleichgültig, was und welche Konsequenzen es haben
würde.
Sie empfand weder Wut noch Zorn, als Jim das Zimmer betrat, sondern nur ein unbestimmtes Erstaunen, fast
als fragte sie sich, wer er war, und warum sie mit ihm sprechen mußte. Sie sagte ihm, was sie erfahren hatte, mit
einer müden, fast teilnahmslosen Stimme. Es schien ihr, als verstünde er sie schon nach den ersten wenigen
Sätzen und hätte erwartet, daß es früher oder später zu dieser Auseinandersetzung kommen würde.
»Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?« fragte sie.
»Das ist also deine Dankbarkeit?« schrie er. »So denkst du über mich nach allem, was ich für dich getan
habe? Ich Idiot! Alle haben mir prophezeit, daß ich nichts anderes als Undankbarkeit ernten würde, wenn ich
dich aus Mitleid aus der Gosse holte!«
Sie sah ihn an, als stotterte er unartikulierte Laute, die in ihrem Kopf keinen Sinn ergaben. »Warum hast du
mir nicht die Wahrheit gesagt?«
»Ist das deine Liebe, du scheinheilige Heuchlerin? Vergiltst du mir so das Vertrauen, das ich dir geschenkt
habe?«
»Warum hast du mich belogen? Warum hast du mich glauben lassen, was ich glaubte?«
»Du solltest dich vor dir selber schämen, du solltest dich schämen, mich anzuschauen oder mit mir zu
sprechen!«
»Ich?« Die Worte hatten sich in ihrem Gehirn zusammengefügt, doch sie konnte nicht glauben, was sie
bedeuteten.
»Worauf willst du hinaus, Jim?« fragte sie ungläubig mit verebbender Stimme.
»Hast du an meine Gefühle gedacht? Hast du daran gedacht, was du mir hiermit antust? Du hättest zuerst an
meine Gefühle denken sollen. Das ist die erste Pflicht jeder Frau… und für eine Frau in deiner Stellung ganz
besonders! Es gibt nichts Niedrigeres und Häßlicheres als Undankbarkeit!«
Den Bruchteil einer Sekunde lang hielt sie es für möglich, daß ein bewußt Schuldiger versuchen könnte,
seinem eigenen Schuldbewußtsein zu entfliehen, indem er seinem Opfer ein Schuldgefühl einredete, das ihn
freisprach. Doch sie konnte diese Vorstellung nicht ertragen. Sie fühlte ein Aufbegehren ihres Verstandes, der
sich weigerte, einen Gedanken zu Ende zu denken, der ihn zerstören würde. Ihr wurde schwindlig, als taumelte
sie vom Rande des Wahnsinns zurück. Als sie erschöpft den Kopf sinken ließ und die Augen schloß, wußte sie
nur, daß sie Ekel empfand, einen brechreizerregenden Ekel, dessen Ursache sie nicht kannte.
Als sie den Kopf wieder hob, glaubte sie zu sehen, daß er sie mit dem unsicheren, berechnenden Blick eines
Mannes beobachtete, dessen Trick nicht gelungen war. Doch bevor sie Zeit hatte, sich darüber klar zu werden,
verdeckte diesen Blick wieder ein Ausdruck von beleidigter Unschuld und Wut.
Sie sagte, als teilte sie ihre Gedanken einem vernünftigen Wesen mit, das nicht anwesend war, dessen
Anwesenheit sie jedoch annehmen mußte, da sie sich an niemand anderen wenden konnte: »Jene Nacht, die
Schlagzeilen, der Ruhm – das warst nicht du, das war Dagny.«
»Halt den Mund, du dreckiges, kleines Luder!«
Sie sah ihn mit leerem Blick ohne das geringste Anzeichen einer Reaktion an. Sie saß da, als könnte sie nichts
mehr erreichen, als hätte sie die Verbindung mit dieser Welt verloren. Er schluchzte auf. »Cherryl, es tut mir
leid. Verzeih mir, ich habe es nicht so gemeint. Ich nehme es zurück. Ich habe es nicht so gemeint…«
Sie blieb stehen, gegen die Wand gelehnt, wie sie gestanden hatte, als er das Zimmer betrat. Er ließ sich in
hilfloser Niedergeschlagenheit auf die Kante einer Couch nieder.
»Wie hätte ich es dir erklären sollen?« sagte er hoffnungslos verzagt. »Alles ist so… so kompliziert. Wie hätte
ich dir etwas über eine transkontinentale Eisenbahn erzählen sollen, wenn du die vielen Einzelheiten und die
verwickelten Zusammenhänge nicht kennst? Wie hätte ich dir erklären können, worin meine Arbeit bestand,
meine… Ach, es ist zwecklos! Wie soll ich dir etwas erklären, wenn du mich nicht verstehst? Ich bin immer
mißverstanden worden, und ich sollte mich inzwischen daran gewöhnt haben, doch ich glaubte, daß du anders
wärst und daß ich hoffen könnte, von dir verstanden zu werden.«
»Jim, warum hast du mich geheiratet?«
Er lächelte traurig. »Das fragen sie mich alle immer wieder. Ich hätte nicht gedacht, daß du es mich je fragen
würdest. Warum? Weil ich dich liebe.«
Sie wunderte sich, wie seltsam es war, daß dieses Wort, das als das einfachste der menschlichen Sprache galt,
dieses von allen verstandene Wort, das die Menschen miteinander verbinden sollte, daß dieses Wort aus seinem
Mund für sie ohne Sinn blieb. Sie wußte nicht, was er damit meinte.
»Niemand hat mich je geliebt«, sagte er. »Es gibt überhaupt keine Liebe in der Welt. Die Menschen haben
kein Gefühl. Ich fühle die Dinge. Doch wer fragt danach? Sie fragen nur nach Fahrplänen und Frachtladungen
und Geld. Ich kann nicht unter diesen Menschen leben. Ich bin grauenvoll einsam. Ich habe mich immer nach
echtem Verständnis gesehnt. Vielleicht bin ich ein hoffnungsloser Idealist, der nur nach dem Unmöglichen
strebt. Niemand wird mich je verstehen.«
»Jim«, sagte sie mit einem seltsamen Unterton von Ernst in ihrer Stimme, »ich habe die ganze Zeit darum
gerungen, dich zu verstehen.«
Er machte eine Handbewegung, als schöbe er ihre Worte – nicht anmaßend, sondern bedauernd – beiseite.
»Ich wünschte, du könntest es. Du bist alles, was ich habe. Doch vielleicht gibt es zwischen Menschen überhaupt
kein Verständnis.«
»Warum soll es keines geben? Warum sagst du nicht, was du suchst? Warum hilfst du mir nicht, dich zu
verstehen?«
Er seufzte. »Das ist es ja eben. Das ist ja das Schlimme – dein ewiges Warum, dein ständiges Fragen nach
einem Grund für alles. Was ich sagen will, kann man nicht in Worte fassen. Es kann nicht benannt werden. Es
muß gefühlt werden. Entweder fühlst du es, oder du fühlst es nicht. Es ist keine Sache des Ve rstandes, es ist
Sache des Herzens. Fühlst du denn nie? Nur fühlen, ohne all diese Fragen zu stellen? Kannst du mich nicht als
Menschen begreifen und verstehen anstatt als Versuchskaninchen in einem Laboratorium? Dieses große
Verstehen, das über unsere erbärmlichen Worte und unseren ohnmächtigen Verstand hinausgeht? – Nein, ich
glaube, ich sollte nicht danach suchen. Doch ich werde immer suchen und hoffen. Du bist meine letzte
Hoffnung. Du bist alles, was ich habe.«
Sie stand an der Wand, ohne sich zu bewegen.
»Ich brauche dich«, fuhr er klagend fort. »Ich bin allein. Du bist nicht wie die anderen. Ich glaube an dich. Ich
vertraue dir. Was haben das Geld und der Ruhm und das Geschäft mir gegeben? Du bist alles, was ich habe…«
Sie stand starr an der Wand, und die Richtung ihres Blickes, den sie gesenkt hielt, um auf ihn hinabzusehen,
war das einzige Zeichen, daß sie seine Gegenwart zur Kenntnis nahm. Was er über seine Leiden sagte, waren
Lügen, dachte sie; doch er litt wirklich, er war ein Mensch, der unter einer ständigen Qual litt, die er ihr nicht
erklären konnte, die sie aber vielleicht verstehen lernen konnte. Soviel war sie ihm schuldig, dachte sie, bewegt
von einem dumpfen Pflichtgefühl – als Gegenleistung für die gesellschaftliche Stellung, die er ihr gegeben hatte,
die vielleicht alles war, was er ihr zu geben hatte, schuldete sie ihm den Versuch, ihn zu verstehen.
Es war seltsam für sie, in den Tagen, die folgten, zu fühlen, wie sie für sich selbst eine Fremde wurde. Von
einer Liebe, die vom Feuer einer Heldenverehrung genährt worden war, war nichts übrig geblieben als die Asche
eines düsteren Mitleids. Aus dem Mann, von dem sie geglaubt hatte, daß er für sein Ziel kämpfte und sich
weigerte zu leiden, war ein Mann geworden, dessen Leiden seine einzige Waffe war und der einzige Wert, den er
ihr für ihre Liebe zu bieten hatte. Doch es berührte sie nicht mehr. Die Frau, die sie gewesen war, hatte neugierig
um jede Ecke geschaut, an der sie vorbeigekommen war. Die passive Fremde, die ihren Platz eingenommen
hatte, war wie die müden Menschen ihrer Umgebung, die sagten, sie seien erwachsen, weil sie nicht versuchten
zu denken oder zu wünschen.
Doch die Fremde wurde verfolgt von einem Geist, der sie selber war und der eine Aufgabe zu erfüllen hatte.
Sie mußte lernen zu verstehen, was sie zerstört hatte. Sie mußte es wissen, und sie lebte in einem Gefühl
ständiger Erwartung, es zu erfahren. Sie wollte es wissen, obwohl sie fühlte, daß der Frontscheinwerfer immer
näher kam, und daß im gleichen Augenblick, in dem sie es erfuhr, die Räder sie erfassen würden.
Was willst du von mir? war die Frage, die sie sich immer von neuem wiederholte, als wäre sie der Schlüssel
zu allem. Was willst du von mir? fragte es lautlos in ihr, wenn sie unter Menschen war und wenn sie schlaflos in
ihrem Bett lag. Was will er von mir? fragte sie Balph Eubank, Dr. Pritchett und die anderen, die sein Geheimnis
zu teilen schienen. Doch sie fragte es nicht laut, denn sie wußte, daß sie keine Antwort erhalten würde. Was
willst du von mir? fragte sie, während sie auf die lange Marter ihrer Ehe zurückblickte, die nicht einmal ein
ganzes Jahr alt war.
»Was willst du von mir?« fragte sie laut – und sah, daß sie am Tisch ihres Eßzimmers saß und Jim ansah und
sein fiebriges Gesicht und einen Wasserfleck auf dem Tischtuch.
Sie wußte nicht, wie lange sie beide geschwiegen hatten; sie war bestürzt über den Klang ihrer Stimme und
die Worte, die sie nicht hatte laut aussprechen wollen. Sie erwartete nicht, daß er sie verstand; er schien diese
einfachen Fragen nie zu verstehen. Und sie schüttelte den Kopf, kämpfte darum, die Wirklichkeit der Gegenwart
wiederzuerfassen.
Sie sah erstaunt, daß er sie leicht spöttisch ansah, als lächelte er darüber, daß sie sein Verständnis
unterschätzte.
»Liebe«, antwortete er.
Sie fühlte ihre Schultern hoffnungslos niedersinken angesichts dieser Antwort, die zugleich so einfach und so
inhaltlos war.
»Du liebst mich aber nicht«, fuhr er anklagend fort. Sie antwortete nicht. »Du liebst mich nicht, sonst würdest
du eine solche Frage überhaupt nicht stellen.«
»Ich habe dich einmal geliebt«, sagte sie düster, »doch es war nicht die Liebe, die du wolltest. Ich liebte dich
um deines Mutes, deines Ehrgeizes, deiner Tüchtigkeit willen. Doch nichts von alledem war echt.«
Seine Unterlippe wölbte sich zu einem verachtungsvollen Lächeln. »Was für eine schäbige Auffassung von
Liebe!« sagte er.
»Jim, weswegen möchtest du geliebt werden?«
»Du denkst über die Liebe wie ein Krämer über eine Ware.«
Sie sprach nicht; sie sah ihn nur an, in ihren Augen die gleiche stumme, hartnäckige Frage.
»Wegen etwas geliebt werden wollen!« sagte er, Spott und Selbstgerechtigkeit in der Stimme. »Für dich ist
Liebe also eine Rechenaufgabe, ein Geschäft, etwas zum Messen und Wägen, so wie man ein Pfund Butter im
Laden abwiegt! Ich will nicht wegen etwas geliebt werden, ich will um meiner selbst willen geliebt werden,
nicht wegen etwas, das ich tue oder habe oder sage oder denke. Um meiner selbst willen, nicht um meines
Körpers, meines Verstandes, meiner Worte, meiner Arbeit, meiner Leistungen willen.«
»Aber was ist denn das: du selbst?«
»Wenn du mich liebtest, könntest du nicht so fragen.« Seine Stimme klang schrill und unsicher, als wehrte er
sich unbewußt gegen einen gefährlichen Impuls. »Dann würdest du nicht fragen. Du würdest es wissen. Du
würdest es fühlen. Warum suchst du immer alles zu klassifizieren und zu etikettieren? Kannst du dich nicht über
diese materialistischen Haarspaltereien erheben? Kannst du denn nicht fühlen – nur einfach fühlen?«
»Doch, Jim, ich kann es«, sagte sie leise, »doch ich versuche, es nicht zu tun, denn… denn was ich fühle, ist
Furcht.«
»Vor mir?« fragte er mit einem ihr rätselhaften Unterton von Hoffnung in der Stimme.
»Nein, nicht eigentlich. Nicht Furcht vor dem, was du mir antun könntest, sondern vor dem, was du bist.«
Er senkte die Augenlider so schnell, wie man eine Tür zuschlägt, doch sie konnte noch den jäh veränderten
Ausdruck seines Blicks erkennen, und dieser Blick war offenes Entsetzen.
»Du bist keiner Liebe fähig, du billige kleine Nutte!« schrie er mit einer Stimme, die jetzt nur noch verletzen
wollte. »Ja, ich habe gesagt: Nutte. Es gibt viele Arten sich zu prostituieren. Andere als für Geld und
schlimmere. Du bist eine… Seelen-Nutte. Du prostituierst dich für seelische Qualitäten wie andere für Geld. Du
hast mich nicht wegen meines Geldes geheiratet. Du hast mich wegen meiner Tüchtigkeit geheiratet, wegen
meines Mutes oder wegen was auch immer du als Preis für deine Liebe zu bekommen hofftest!«
»Verlangst du, daß Liebe keinen Grund, keine Ursache hat? Gibt es das?«
»Liebe ist ihr eigener Grund! Liebe ist erhaben über Gründe und Ursachen.
Liebe ist blind. Doch du bist einer solchen Liebe nicht fähig. Du hast die niedere, berechnende Seele eines
kleinen Krämers, der handelt und feilscht, aber nie schenkt! Liebe ist ein Geschenk – ein großes, freimütiges,
mutiges, bedingungsloses Geschenk, das alles übersteigt und vergibt. Es ist keine Großmut, einen Mann um
seiner Tugenden willen zu lieben. Was schenkst du ihm? Nichts! Das ist nicht mehr als nüchterne Gerechtigkeit.
Nicht mehr – als er verdient.«
Ihr Blick wurde dunkel vor Angst, ihrem Ziel zum Greifen nahe gekommen zu sein. »Du verlangst, daß Liebe
unverdient sein soll«, sagte sie, nicht im Ton einer Frage, sondern eines Urteils.
»Ach, du verstehst mich nicht!«
»Doch, Jim, ich verstehe dich. Das willst du, das wollt ihr alle – nicht Geld, keinen materiellen Gewinn, keine
wirtschaftliche Sicherheit, keines der Almosen, die ihr ständig fordert.« Sie sprach beherrscht, monoton, als
trüge sie ihre Gedanken sich selbst vor, peinlichst darauf bedacht, den aus dem Chaos ihrer Erschütterung
hervorgeholten Einfällen die klare Wirklichkeit von Worten zu geben. »Ihr Prediger des Gemeinwohls, ihr wollt
kein unverdientes Geld. Ihr wollt Almosen, aber von anderer Art. Ihr wollt Seelen plündern. Ich hatte es nie
gewußt, und niemand hat es uns je gesagt, daß es möglich ist und was es bedeutet – das Plündern einer Seele.
Doch das ist es, was auch du willst. Du forderst die Anerkennung unverdienter Größe. Du willst als ein Mann
wie Hank Rearden gelten, ohne zu sein, was er ist und wie er ist, ohne die Notwendigkeit, überhaupt etwas zu
sein, ohne die Notwendigkeit, überhaupt zu sein.«
»Schweig!« schrie er. Sie sahen einander in panischem Entsetzen an. Beide fühlten, daß sie am Rande eines
Abgrundes standen, den sie nicht kennen konnte und er nicht nennen wollte; beide wußten, daß ein weiterer
Schritt tödlich wäre.
»Weißt du überhaupt, was du da redest?« fragte er in einem Ton leichten Unwillens, der fast wohlwollend
klang und ihrer gefährlichen, entscheidenden Auseinandersetzung wieder den Charakter des Alltäglichen, eines
eher heilsamen Ehestreits geben sollte. »Was ist das für eine komische Philosophie, die du da vertrittst?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie müde und ließ den Kopf sinken, als ob ein Gedanke, den sie zu fassen versucht
hatte, ihr wieder entglitten wäre. »Ich weiß nicht. Ich glaube, es ist nicht möglich…«
»Ich glaube, du tust gut daran, dir nicht den Kopf über Dinge zu zerbrechen, von denen du…« Er mußte sich
unterbrechen, denn der Butler trat ein und brachte den Champagner, den er bestellt hatte, um einen Sieg zu
feiern, der inzwischen schal geworden war.
Sie schwiegen und horchten, wie der Raum sich mit den Geräuschen füllte, die durch die Jahrhunderte den
Menschen zu Symbolen festlicher Freude geworden waren, der Knall des Pfropfens, das lachende Klingen einer
hellgoldenen Flüssigkeit, die zwei hohe, im Widerschein des Kerzenlichts funkelnde Kelche füllte, das Geflüster
der Bläschen, die drängend in zwei kristallenen Brunnen hochstiegen und alles, was in ihrer Sichtweite war, zur
gleichen jubelnden Aufwärtsbewegung aufzufordern schienen.
Sie schwiegen, bis der Butler gegangen war. Taggart starrte verschlossen nachdenklich auf die leuchtenden
Bläschen und berührte den Stiel seines Glases mit zwei schlaffen Fingern. Dann schloß sich seine Hand plötzlich
zu einer ungelenk verkrampften Faust und erhob das Glas, nicht so, wie man ein Champagnerglas zum Toast
hebt, sondern wie man mit einem Messer zum Stoß ausholt.
»Auf Francisco d’Anconia!« sagte er.
Sie setzte ihr Glas nieder. »Nein!«
»Trink!« zischte er.
»Nein«, antwortete sie. Es klang wie das Fallen einer Bleikugel.
Ihre Blicke hielten einander auf die Dauer einiger Sekunden stand, während das Licht in der goldenen
Flüssigkeit lautlos weiterspielte, ohne ihre Gesichter oder ihre Augen zu erreichen.
»Geh zum Teufel!« stieß er hervor, sprang auf, schleuderte sein Glas auf den Boden und stürzte aus dem
Zimmer.
Sie saß lange, ohne sich zu bewegen, am Tisch, erhob sich dann langsam und drückte auf den Klingelknopf.
Sie ging mit unnatürlich gleichen Schritten in ihr Zimmer, öffnete die Tür eines Schrankes, entnahm ihm ein
Kostüm und ein Paar Schuhe, zog ihr Hauskleid aus und kleidete sich mit fast ängstlich abgemessenen
Bewegungen um, als hinge ihr Leben davon ab, daß nichts in ihr oder in ihrer Umgebung aus dem Lot käme. Ihr
Bewußtsein war auf einen einzigen Gedanken fixiert: daß sie dieses Haus verlassen mußte, verlassen auf eine
gewisse Zeit, wenn auch nur während der nächsten Stunde, um dann, später, fähig zu sein, sich dem zu stellen,
was unausweichlich geworden war.
Die Zeilen auf dem Papier begannen vor Dagnys Augen zu verschwimmen, und als sie den Kopf hob,
entdeckte sie, daß inzwischen die Dämmerung hereingebrochen war.
Sie schob die Papiere beiseite und gönnte sich in einer unbestimmten Scheu, das Licht anzuschalten, den
Luxus des Nichtstuns und die Wohltat der Dunkelheit, die sie von der Welt jenseits der Fenster ihres
Wohnzimmers abschnitt. Der Kalender in der Ferne zeigte den 5. August an.
Der letzte Monat war vergangen, ohne etwas anderes zu hinterlassen als die Leere einer toten Zeit. Er war
vergangen in der planlosen, undankbaren Arbeit, den Zusammenbruch einer Eisenbahngesellschaft aufzuhalten –
ein Monat ähnlich einem Schutthaufen zusammenhangloser Tage, von denen jeder nur dazu gedient hatte, das
Unglück des Augenblicks abzuwenden. Er war nicht eine Summe vollbrachter Leistungen, sondern nur eine
Zusammenzählung von Nullen, von dem, was nicht geschehen war, eine Reihe verhüteter Katastrophen, nicht ein
Dienst am Leben, sondern ein Wettlauf mit dem Tod.
Es hatte Augenblicke gegeben, in denen eine unbeschworene Vision – das Bild des Tales – vor ihr
aufzutauchen schien, nicht als eine Erscheinung aus der Vergangenheit, sondern als eine stetige, verborgene
Gegenwart, die plötzlich sichtbare Wirklichkeit wurde. Sie hatte sich dieser Prüfung, diesem Widerstreit
zwischen einer unerschütterlichen Entscheidung und einem unnachgiebigen Schmerz gestellt und den Schmerz
besiegt durch stille Hinnahme, durch ein: Nun denn, auch das.
Es hatte Morgen gegeben, an denen sie, geweckt durch die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, geglaubt hatte,
sie müßte in Hammonds Lebensmittelladen eilen, um frische Eier für das Frühstück zu kaufen; wenn sie dann,
voll erwacht, draußen vor den Fenstern ihres Schlafzimmers den Dunst von New York sah, hatte sie einen
eisigen Stich im Herzen gespürt und war erschauert wie unter einer Berührung des Todes, der Kälte einer
sterbenden Welt. Du hast es gewußt, hatte sie sich mitleidlos gesagt, du hast gewußt, was dich erwartet, als du
deine Wahl trafst. Und ihren Körper schleppend wie ein fremdes Gewicht, war sie aufgestanden und in einen
unwillkommenen Tag gegangen.
Die schlimmste Folter aber hatte sie zu bestehen, wenn sie in den Straßen plötzlich zwischen den Köpfen der
Fußgänger das Gold kastanienbrauner Haare aufleuchten sah und glaubte, die Stadt um sie sei verschwunden; es
war ihr, als verzögerte nur der Schmerz in ihrer Brust den Augenblick, da sie zu ihm hinstürzen würde, um ihn
festzuhalten für immer; doch dieser nächste Augenblick hatte ihr nichts gebracht als den Anblick eines fremden
Gesichts, und sie war stehengeblieben, gebannt von der Angst vor dem nächsten Schritt, versucht von dem
Wunsch, nicht weiterzuleben. Sie hatte sich bemüht, diese Augenblicke zu vermeiden, hatte sich verboten, um
sich zu schauen, war mit gesenktem Blick durch die Straßen gegangen. Doch es war vergeblich gewesen; ihre
Augen hatten auf eigene Faust Jagd gemacht auf jeden goldenen Schimmer.
Sie hatte sich an sein Versprechen erinnert und die Blenden vor den Fenstern ihres Büros ständig hochgerollt
gelassen, als wollte sie sagen: Wenn du mich beobachtest, wo immer du bist… Es waren keine Gebäude in der
Nähe, die bis zur Höhe ihres Büros reichten, doch sie hatte hinübergeschaut zu den fernen Türmen, hatte sich
gefragt, welches der vielen tausend Fenster sein Beobachtungsposten war, und ob er vielleicht durch ein von ihm
erfundenes Strahleninstrument jede ihrer Bewegungen von einem meilenweit entfernten Wolkenkratzer
verfolgen konnte. Sie hatte an ihrem Schreibtisch hinter den vorhanglosen Fenstern gesessen und gedacht: Nur
um zu wissen, daß du mich siehst, selbst wenn ich dich nie wiedersehen soll.
Und jetzt, in der Dunkelheit ihres Zimmers, erinnerte sie sich daran, sprang auf und schaltete das Licht ein.
Dann ließ sie den Kopf sinken und belächelte sich in wehmütiger Ironie. Sie fragte sich, ob ihre erleuchteten
Fenster in der schwarzen Unendlichkeit der Stadt ein Notsignal waren, das ihn zu Hilfe rief, oder ein
Leuchtturm, der standhaft den Rest der Welt beschützte.
Die Türglocke ertönte.
Als sie die Wohnungstür öffnete, sah sie den Umriß eines ihr irgendwie bekannten Gesichtes. Es vergingen
einige Sekunden bestürzten Erstaunens, ehe sie begriff, daß Cherryl Taggart vor ihr stand. Außer beim
Austausch von förmlichen Begrüßungen anläßlich einiger weniger Zufallsbegegnungen in den Gängen des
Taggart-Gebäudes hatten sie einander seit der Hochzeit nicht gesehen.
Cherryls Gesicht war gefaßt und ernst. »Könnte ich«, sie zögerte kurz und fuhr fort, »Sie einen Augenblick
sprechen, Miss Taggart?«
»Selbstverständlich«, antwortete Dagny. »Kommen Sie herein.«
Sie glaubte, eine verzweifelte Not in der unnatürlichen Ruhe Cherryls zu spüren, und sah ihr Gefühl bestätigt,
als sie das Gesicht der jungen Frau im Licht des Zimmers betrachtete.
»Nehmen Sie Platz«, sagte sie. Doch Cherryl blieb stehen.
»Ich komme, eine Schuld zu begleichen«, sagte Cherryl mit einer Stimme, die trotz der Anstrengung, keine
innere Bewegung zu verraten, feierlich klang. »Ich möchte mich für das entschuldigen, was ich Ihnen bei meiner
Trauung gesagt habe. Es gibt keinen Grund, warum Sie mir verzeihen sollten, doch ich muß Ihnen sagen, ich
weiß jetzt, daß ich damals alles beleidigte, was ich bewundere, und alles verteidigte, was ich verachte. Ich weiß,
daß ich es durch mein jetziges Eingeständnis nicht ungeschehen machen kann und daß es eine neue Anmaßung
ist, zu Ihnen zu kommen. Es gibt keinen Grund für Sie, mich anhören zu wollen, und ich kann nicht einmal
meine Schuld tilgen, ich kann Sie nur um einen Gefallen bitten – um den Gefallen, daß Sie mir erlauben, Ihnen
zu sagen, was ich Ihnen sagen möchte.«
Dagnys ungläubige Überraschung und schmerzliches Mitgefühl hätten, in Worte gefaßt, gelautet: Welch
langer Weg in weniger als einem Jahr! Sie antwortete ohne zu lächeln, weil sie wußte, daß ein Lächeln jetzt ein
verzweifelt behauptetes Gleichgewicht zerstören würde; und ihre ernste Stimme war wie eine stützend
ausgestreckte Hand: »Daß Sie gekommen sind, macht zwar alles schon ungeschehen, aber ich möchte trotzdem
hören, was Sie mir zu sagen haben.«
»Ich weiß, daß in Wirklichkeit Sie Taggart Transcontinental leiten. Sie haben die John-Galt-Linie gebaut. Sie
haben mit Ihrem Können und mit Ihrem Mut die Eisenbahn am Leben erhalten. Sie haben vermutlich geglaubt,
daß ich Jim seines Geldes wegen geheiratet habe… Welche Verkäuferin hätte es nicht getan? Doch ich habe Jim
geheiratet, weil ich… weil ich glaubte, er sei Sie. Ich glaubte, er sei Taggart Transcontinental. Jetzt weiß ich, daß
er«, sie zögerte und sprach dann mit fester Stimme weiter, als wollte sie sich nichts ersparen, »daß er ein
verkommener Schmarotzer ist, obwohl ich nicht verstehe, warum und zu welchem Zweck. Als ich bei meiner
Hochzeit zu Ihnen sprach, glaubte ich, ich verteidigte echte Größe und wendete mich gegen ihren Feind. Doch es
war umgekehrt – umgekehrt auf eine entsetzliche, unvorstellbare Weise! Und heute will ich Ihnen sagen, daß ich
jetzt die Wahrheit kenne. Nicht so sehr um Ihretwillen, denn ich habe kein Recht anzunehmen, daß Sie Wert
darauf legen, sondern… sondern um der Dinge willen, die ich hoch schätze und beleidigt habe.«
Dagny sagte leise: »Ich verzeihe Ihnen.«
»Ich danke Ihnen«, murmelte Cherryl und wandte sich zum Gehen.
»Setzen Sie sich.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das… das war alles, Miss Taggart.«
Dagny wagte ein erstes schwaches Lächeln, nicht mehr als ein Lächeln der Augen, als sie sagte: »Cherryl, ich
heiße Dagny.«
Cherryls Antwort war nicht mehr als ein zaghaftes, zitterndes Verziehen des Mundes, als vollzöge sie so die
zweite Phase eines gemeinsamen Lächelns.
»Ich… ich wußte nicht, ob ich…«
»Wir sind doch Schwestern?«
»Nein! Nicht durch Jim!« Es war ein unwillkürlicher Aufschrei.
»Nein, durch unsere eigene Wahl. Setz dich, Cherryl.« Die junge Frau gehorchte wie ein kleines Mädchen,
kämpfte darum, ihre freudige Bereitschaft nicht zu zeigen, nicht nach einem Halt zu greifen und nicht
zusammenzubrechen.
»Du mußt Schlimmes durchgemacht haben.«
»Ja… doch das gehört nicht hierher… das ist mein eigenes Problem… meine eigene Schuld.«
»Ich glaube nicht, daß es deine Schuld war.«
Cherryl antwortete nicht und sagte dann plötzlich, fast flehend: »Dagny…. bitte kein Mitleid!«
»Jim muß dir gesagt haben – und es ist wahr –, daß ich für dieses Gefühl nicht viel übrig habe.«
»Ja, das hat er getan… aber ich meine…«
»Ich weiß, was du meinst.«
»Aber ich will dich nicht mit meinen eigenen Gefühlen belästigen. Ich bin nicht gekommen, um zu jammern –
und eine weitere Bürde auf deine Schultern zu laden. Daß ich leide, gibt mir keinen Anspruch auf deine
Anteilnahme.«
»Nein, das tut es nicht, wohl aber, daß dir die gleichen Dinge wertvoll sind wie mir.«
»Du meinst, daß du mit mir sprechen willst, ist kein Almosen? Ist nicht nur, weil ich dir leid tue?«
»Du tust mir sehr, sehr leid, Cherryl, und ich möchte dir helfen. Doch nicht, weil du leidest, sondern weil du
es nicht verdient hast zu leiden.«
»Du meinst, du würdest mir nicht helfen wollen nur um meiner Schwäche, um meiner Hilfsbedürftigkeit
willen, sondern nur um des Guten willen, das du in mir siehst?«
»Ja, Cherryl, so ist es.«
Cherryl bewegte ihren Kopf nicht, doch es sah so aus, als höbe sie ihn und neigte ihn nach hinten, als
entspannte sich ihr Gesicht unter einem erfrischenden Luftzug zu einem Ausdruck, in dem sich Schmerz und
Würde verbanden.
»Es ist kein Almosen, Cherryl, habe keine Angst, mit mir zu sprechen.«
»Seltsam, du bist der erste Mensch, zu dem ich so frei sprechen kann. Und es fällt mir leicht. Früher hatte ich
Angst, mit dir zu sprechen. Ich will dich schon seit langem um Verzeihung bitten – seit ich die Wahrheit kenne.
Ich war schon bis zur Tür deines Büros gekommen, doch dann blieb ich im Gang stehen und hatte nicht den Mut
hineinzugehen. Ich hatte auch heute abend nicht die Absicht, hierher zu kommen. Ich ging nur von zu Hause
weg, um… um über etwas nachzudenken, und dann wußte ich auf einmal, daß ich mit dir sprechen wollte, daß
hier der einzige Ort in der ganzen Stadt war, wo ich hingehen konnte, um das zu tun, was mir als einziges zu tun
übriggeblieben war.«
»Ich bin froh, daß du es getan hast.«
»Weißt du, Dagny«, sagte Cherryl verwundert, »du bist ganz anders, als ich erwartet hatte. Jim und seine
Freunde sagten, du seist hart und kalt und gefühllos.«
»Aber das s timmt, Cherryl. Ich bin es in dem Sinne, in dem sie es meinen. Doch haben sie dir je gesagt, in
welchem Sinn sie es meinen?«
»Nein. Das tun sie nie. Sie haben immer nur spöttisch gegrinst, wenn ich sie fragte, was sie mit etwas meinen.
Was haben sie mit dem gemeint, was sie über dich gesagt haben?«
»Wenn jemand einen Menschen beschuldigt, er sei ‘gefühllos’, dann meint er, daß dieser Mensch gerecht ist.
Er meint, daß dieser Mensch keine grundlosen Gefühle hat und ihm kein Gefühl schenken will, das er nicht
verdient. Er meint, ‘Fühlen’ sei etwas, das unabhängig ist von der Vernunft, von moralischen Werten, von der
Wirklichkeit. Er meint… Was ist dir?« fragte sie, erstaunt über die ungewöhnliche Anspannung im Gesicht der
jungen Frau.
»Es ist – es ist etwas, das ich seit langem zu verstehen versuche…«
»Du wirst bemerken, daß du diese Anschuldigungen nie zur Verteidigung der Unschuld hörst, sondern immer
nur zur Verteidigung einer Schuld. Nie hörst du sie einen anständigen Menschen gegen diejenigen vorbringen,
die ihm nicht geben, was ihm zusteht. Doch du hörst sie jeden Schweinehund gegen diejenigen vorbringen, die
ihn als solchen behandeln, gegen diejenigen, die kein Mitgefühl für ihn empfinden – weder bei dem, was er
anderen antut, noch bei dem Leid, das er selbst als Folge davon erdulden muß. Und es ist wahr: Ich empfinde
kein Mitgefühl für Schweinehunde. Doch diejenigen, die es empfinden, haben kein Gefühl für irgendein
Merkmal menschlicher Größe, für einen Menschen oder eine Handlung, die Bewunderung und Achtung verdient.
Dies sind die Gefühle, die ich empfinde. Du wirst feststellen, daß einer nur so oder so empfinden kann. Wer
Mitgefühl für die Schuldigen empfindet, kann es nicht für die Unschuldigen empfinden. Frage dich selbst, wer
von den beiden verdient, gefühllos genannt zu werden. Dann wirst du erkennen, was das Gegenteil von
Barmherzigkeit ist.«
»Was ist es?« fragte sie zögernd.
»Gerechtigkeit, Cherryl!«
Cherryl erschauerte und ließ den Kopf tief herabsinken. »Mein Gott!« stöhnte sie, »wenn du wüßtest, wie Jim
mich beschimpft hat, weil ich glaubte, was du soeben gesagt hast!« Sie hob das Gesicht unter einem neuen
Schauer, als wäre das, was sie zu begreifen versucht hatte, zerbrochen; in ihren Augen stand jetzt nacktes
Entsetzen. »Dagny«, flüsterte sie, »ich fürchte mich vor ihnen – vor Jim und den anderen. Nicht vor dem, was
sie mir antun können. Wenn es das wäre, könnte ich fliehen. Aber vor dem, was sie sind, und davor, daß es sie
überhaupt gibt, daß es Menschen wie sie geben kann.«
Dagny trat mit schnellen Schritten neben Cherryls Sessel, setzte sich auf die Armlehne und umfaßte ihre
Schultern mit einem beruhigenden Griff. »Beruhige dich, Kind«, sagte sie. »Du begehst einen großen Irrtum. Du
darfst dich nie auf diese Weise vor Menschen fürchten. Du darfst nie denken, daß ihre Existenz auf deine
zurückwirkt – das denkst du doch?«
»Ja. Ich habe das Gefühl, daß es für mich keine Chance gibt, wenn es diese Leute gibt – keine Chance, keinen
Raum, keine Welt, in der ich leben kann. Ich will dieses Gefühl nicht empfinden, ich verjage es immer wieder,
doch es kommt immer näher, und ich weiß, daß ich ihm nicht entkommen werde. Ich kann dir nicht erklären,
was für ein Gefühl es ist. Ich kann es nicht fassen. Und das Entsetzliche ist, daß ich glaube, ich kann nichts mehr
fassen und halten, als ob die ganze Welt zerstört würde, nicht durch eine Explosion – eine Explosion ist etwas
Hartes, Greifbares –, sondern durch ein grauenvolles Modern; als ob nichts mehr eine feste Form hätte und
nichts mehr seine Form halten könnte; als würden Steine, die du anfaßt, nachgeben wie Gallert; als ob Berge
zerliefen und Häuser ihre Form verändern wie Wolken; als ob die Welt untergehen wollte, doch nicht in Feuer
und Schwefel, sondern in Schlamm.«
»Cherryl… Cherryl, armes Kind, seit Jahrhunderten versuchen Philosophen, die Welt genau dazu zu
machen… den Verstand der Menschen zu zerstören, indem sie ihnen einreden, daß das, was sie sehen, nichts
anderes ist. Doch du mußt ihnen das nicht abnehmen. Du mußt die Welt nicht mit ihren Augen ansehen. Du hast
deine eigenen. Verlaß dich auf dein eigenes Urteil. Du weißt, was ist, das ist. Sag es laut, wie dein heiligstes
Gebet, und laß dir von niemand etwas anderes weismachen.«
»Aber… aber nichts ist mehr wirklich – nichts. Jim und seine Freunde sind nicht, was sie vorgeben zu sein.
Ich weiß nicht, was ich sehe, wenn ich unter ihnen bin, ich weiß nicht, was ich höre, wenn sie sprechen. Es ist
nicht wirklich, es ist nicht echt. Es ist ein gespenstisches Spiel, das sie alle spielen, und ich weiß nicht, warum
und wozu… Dagny! Man sagt uns immer, daß die Menschen eine so große Wahrnehmungsgabe besitzen, größer
als die der Tiere, doch ein Tier weiß, wer seine Freunde sind und wer seine Feinde und wann es sich verteidigen
muß. Es erwartet nicht, daß ein Freund es tritt oder ihm die Kehle durchschneidet. Es erwartet nicht, daß man
ihm sagt, Liebe sei blind und Stümperei Leistung, Verbrecher seien Staatsmänner und es sei etwas Großartiges,
Hank Rearden das Rückrat zu brechen! O mein Gott, was sage ich?«
»Ich weiß, was du meinst.«
»Ich will wissen, was ich von den Menschen halten soll, wie ich sie behandeln soll, wenn nichts bleibt, wie es
ist, wenn nichts auch nur eine Stunde lang seine Form behält. Die leblosen Dinge sind wirklich und beständig.
Aber die Menschen? Dagny, sie sind nur Schemen, die zerfließen, wenn man nach ihnen greift. Doch ich muß
unter ihnen leben. Wie kann ich das? Woran soll ich mich halten?«
»Cherryl, wogegen du gekämpft hast, das ist das größte Problem der Menschheitsgeschichte, ein Problem, das
alles Leiden unter den Menschen verursacht hat. Du hast mehr von diesem Problem verstanden als die meisten
Menschen, die leiden und sterben, ohne zu wissen, was sie tötet. Ich will dir helfen, es ganz zu verstehen. Es ist
ein schwerer Kampf, er erfordert Mut, und deshalb vor allem: Fürchte dich nicht, vor nichts und vor niemand!«
Cherryls Gesicht nahm einen seltsamen, qualvoll sehnsüchtigen Ausdruck an, als würde sie Dagny aus großer
Entfernung sehen und sich vergeblich bemühen, sie zu erreichen. »Ich wünschte, ich hätte den Willen zu
kämpfen«, sagte sie leise, »doch ich habe ihn nicht. Ich will sogar nicht einmal mehr siegen. Ein Schritt ist es vor
allem, den zu tun ich nicht die Kraft aufbringe. Ich hatte nie vom Leben so etwas erwartet wie eine Heirat mit
Jim. Und als es geschah, dachte ich, das Leben sei wunderbarer, als ich zu hoffen gewagt hatte. Und mich nun an
den Gedanken gewöhnen, daß die Menschen und das Leben entsetzlicher sind, als ich mir je hätte vorstellen
können, und daß meine Ehe mit Jim kein Wunder war, sondern ein grauenvolles Übel, das ganz zu ermessen ich
mich noch immer scheue – dazu kann ich mich nicht zwingen. Ich kann es einfach nicht.« Sie sah plötzlich auf.
»Dagny, wie hast du es gekonnt? Wie hast du es fertiggebracht, es unzerstört zu überleben?«
»Indem ich eine Regel befolgte.«
»Welche?«
»Nichts – nichts über das Urteil meines Verstandes zu stellen.«
»Du hast schlimme Schläge hinnehmen müssen, schlimmere vielleicht als ich, als jeder von uns. Was hat dir
geholfen durchzuhalten?«
»Das Wissen, daß mein Leben mein wertvollstes Gut ist, zu wertvoll, es ohne Kampf aufzugeben.«
Dagny sah den Ausdruck des Erstaunens, eines ungläubigen Wiedererkennens in dem Gesicht der jungen
Frau, als kämpfte sie darum, über den Zeitraum von Jahren hinweg die Erinnerung an ein Gefühl lebendig
werden zu lassen.
»Dagny«, flüsterte Cherryl, »das fühlte ich, als ich ein Kind war. Daran kann ich mich aus jener Zeit am
besten erinnern, dieses gleiche Gefühl, und ich habe es nie verloren, es ist immer noch da, es ist immer da
gewesen; doch als ich älter wurde, glaubte ich, es sei etwas, das ich verbergen müßte. Ich hatte nie einen Namen
dafür, doch soeben, als du es beschriebst, wußte ich sofort, daß es dieses Gefühl war. Dagny, hast du dieses
Gefühl auch in dir gehabt, während deines ganzen Lebens? Ist es ein gutes Gefühl?«
»Cherryl, höre mir aufmerksam zu: Dieses Gefühl und alles, was es erfordert und einschließt, ist das Höchste,
Edelste und Wertvollste, was ein Mensch auf dieser Erde besitzen kann.«
»Ich frage, weil… weil ich nicht gewagt habe, so zu denken. Die Menschen ließen mich immer glauben, daß
sie es für eine Sünde hielten. Als ob sie mir gerade dies übelnähmen und es vernichten wollten.«
»Es ist wahr, manche Menschen wollen es vernichten. Und wenn du lernst, ihre Motive zu verstehen, wirst du
das dunkelste, häßlichste Übel auf dieser Erde erkannt haben, doch du wirst außerhalb seines Machtbereiches
sein.«
Cherryls Lächeln war einem winzigen, flackernden Flämmchen ähnlich, das sich auf wenigen Tropfen Öl zu
halten, sie ganz zu erfassen und zu entflammen sucht. »Dies ist das erste Mal seit Monaten«, sagte sie, »daß ich
glaube, ich hätte doch noch eine Chance.« Sie sah Dagny sie mit besorgter Aufmerksamkeit betrachten und fuhr
fort: »Oh, es wird mit mir alles wieder in Ordnung kommen. Laß mir Zeit, mich daran zu gewöhnen, an dich und
an das, was du gesagt hast. Ich glaube, ich werde es bald ganz verstehen und glauben… glauben, daß es wahr ist
und – wirklich, so wie Jim unwirklich ist und – unwichtig.« Sie erhob sich, als wollte sie die Gewißheit dieses
Augenblicks erhalten und mitnehmen.
In einer plötzlichen grundlosen Anwandlung von Sorge sagte Dagny fast energisch: »Cherryl, ich möchte
nicht, daß du heute abend nach Hause gehst.«
»Aber… ich habe keine Angst. Jedenfalls nicht davor, nach Hause zu gehen.«
»War nicht etwas vorgefallen – heute abend?«
»Nein, nichts Besonderes, nichts Schlimmeres als gewöhnlich… nur, daß ich begann, die Dinge ein klein
wenig klarer zu sehen. Das war alles. Ich fühle mich jetzt meiner selbst sicher. Ich muß nachdenken, schärfer
nachdenken, als ich es je getan habe. Und dann werde ich entscheiden, was ich tun muß. Darf ich…«
Sie zögerte.
»Ja?«
»Darf ich wiederkommen?«
»Selbstverständlich.«
»Ich danke dir, ich… ich bin dir sehr dankbar.«
»Willst du mir versprechen, daß du wiederkommst?«
»Ich verspreche es.«
Dagny sah ihr nach, als sie den Gang hinunter zum Fahrstuhl ging, sah ihre hängenden Schultern und ihre
Anstrengung, sie zu heben, sah die schlanke Gestalt, die zu schwanken schien, all ihre Kraft zusammennehmen,
um sich aufrecht zu halten. Cherryl glich einer Pflanze mit einem gebrochenen, noch von einer einzigen Faser
zusammengehaltenen Stengel, die darum kämpft, den Bruch zu heilen, bevor ein weiterer Windstoß sie tödlich
erfaßt.
Durch die offene Tür seines Arbeitszimmers hatte James Taggart Cherryl durch die Diele gehen und die
Wohnung verlassen sehen. Er hatte die Tür zugeschlagen und sich auf das Sofa geworfen, ohne die feuchten
Flecken des verschütteten Champagners auf seiner Hose zu beachten, als wäre sein eigenes Unbehagen eine
Rache an seiner Frau und an einer Welt, die ihm die Feier nicht gönnte, die er sich gewünscht hatte.
Nach einer Weile sprang er auf, zog seine Jacke aus und schleuderte sie durch das Zimmer. Er griff nach einer
Zigarette, brach sie aber entzwei und warf sie gegen ein Gemälde, das über dem Kamin hing.
Auf dem Kaminsims sah er eine Vase aus venezianischem Glas, ein Jahrhunderte altes Museumsstück mit
zarter, kunstvoll verschlungener Äderung aus Blau und Gold. Er packte die Vase und warf sie an die Wand; sie
zerschellte wie eine platzende Glühbirne zu einem Regen feinster Glassplitter.
Er hatte diese Vase gekauft, um Genugtuung bei dem Gedanken an die vielen Kenner zu empfinden, die sich
das wertvolle Stück nicht leisten konnten. Jetzt empfand er die Genugtuung einer Rache an den Jahrhunderten,
die der Vase ihren Wert gegeben hatten, und Genugtuung bei dem Gedanken, daß es Millionen von
verzweifelten Familien gab, von denen jede ein Jahr lang von dem Geld hätte leben können, das er für die Vase
bezahlt hatte.
Er schleuderte seine Schuhe von den Füßen und ließ sich wieder auf das Sofa fallen.
Die Türklingel ertönte. Ihr Klang faszinierte ihn; er paßte zu seiner Stimmung. Es war der gleiche heftige,
ungeduldig fordernde, schrille Ton, den auch er hervorbringen würde, wenn er jetzt einen Klingelknopf unter
dem Finger hätte.
Er lauschte den Schritten des Butlers, entschlossen, sich das Vergnügen zu gönnen, jeden Besucher, wer er
auch sein mochte, abzuweisen. Er hörte den Butler an die Tür klopfen, hörte ihn eintreten und sagen:
»Mrs. Rearden wünscht Sie zu sprechen.«
»Wer? Oh! Führen Sie sie herein.«
Er richtete sich auf und stellte seine Füße auf den Boden, zog jedoch seine Schuhe nicht an, wartete mit einem
Lächeln belustigter Neugier und stand erst auf, nachdem Lillian das Zimmer betreten hatte.
Sie trug ein weinrotes Abendkleid im Stil eines Empirereisekleids, mit langem Rock, hoher Taille und einem
kurzen, engen, zweireihigen Jäckchen, das ihre Brüste unnatürlich hochpreßte, sowie einen kleinen Hut, der auf
einem Ohr saß und mit einer geschwungenen Feder garniert war, die unter ihrem Kinn endete. Ihre Bewegungen
waren so brüsk und unrhythmisch, daß ihr Kleid um ihre Beine schlug und ihre Hutfeder gegen ihren Hals
wippte und von höchster Nervosität zeugte.
»Lillian, meine Teuerste, muß ich jetzt entzückt sein oder schockiert über Ihren nächtlichen Besuch?«
»Ach! Machen Sie kein Theater! Ich muß Sie sprechen, und zwar sofort. Deshalb bin ich hier.«
Der ungeduldige Ton ihrer Stimme und die Entschlossenheit, mit der sie sich setzte, waren ein Eingeständnis
von Schwäche; nach den ungeschriebenen Gesetzen ihrer Sprache nahm man eine fordernde Haltung nur an,
wenn man sich um einen Gefallen bemühte, für den man keinen Gegenwert und auch keine Drohung zu
präsentieren hatte. Lillian schien sich in einer solchen Situation zu befinden.
»Warum sind Sie nicht auf dem Empfang der Gonzales geblieben?« fragte sie und versuchte vergeblich, ihre
Gereiztheit hinter einem gezwungenen Lächeln zu verbergen. »Ich ging nach dem Essen kurz vorbei, um Sie zu
sprechen… doch sie sagten mir, Sie hätten sich nicht wohl gefühlt und wären nach Hause gegangen.«
Er erhob sich und durchquerte langsam das Zimmer, um sich eine Zigarette zu holen, und empfand
Genugtuung bei dem Gedanken, auf Strümpfen zu laufen, während sie in förmlicher Eleganz vor ihm saß.
»Ich langweilte mich«, antwortete er.
»Ich kann diese Menschen nicht mehr ausstehen«, sagte sie, leicht erschauernd.
Er sah sie erstaunt an; die Worte hatten impulsiv geklungen und ehrlich.
»Sie sind mir ein Greuel, dieser Señor Gonzales und diese Hure, die er zu seiner Frau gemacht hat. Es ist eine
Schande, daß sie so in Mode gekommen sind, sie und ihre Parties. Ich habe keine Lust mehr, noch irgendwohin
zu gehen. Nirgendwo findet man noch den alten Stil, den alten Geist. Seit Monaten habe ich weder Balph
Eubank, noch Dr. Pritchett, noch einen der anderen alten Freunde wiedergetroffen. Und die neuen Gesichter, die
man jetzt überall sieht… puh, richtige Schlächter-Physiognomien! Es gibt keine vornehmen Leute mehr!«
»Ja, ja«, sagte er nachdenklich, »es ist seltsam, wie sich alles verändert hat. So ist es auch bei uns in der
Firma. Mit Clem Weatherby kam ich noch leidlich aus. Er war ein gebildeter Mann; aber mit Cuffy Meigs… das
ist…« Er unterbrach sich erschreckt.
»Heller Wahnsinn ist das!« rief sie. »Sie kommen damit nicht durch!« Sie sagte nicht, wer womit nicht
durchkommen würde. Er wußte, was sie meinte. Und während sie jetzt eine Zeitlang schwiegen, schien es, als
klammerten sie sich in Gedanken aneinander, um vor einem gemeinsamen unsichtbaren Feind Schutz zu suchen.
Dann aber begann er mit Genugtuung festzustellen, daß Lillian anfing, deutliche Spuren ihres Alters zu
zeigen. Das tiefe Burgunderrot ihres Kleides gab ihrer Haut einen purpurnen Schimmer, der sich wie ein
Zwielicht über ihr Gesicht legte, es müde und schlaff erscheinen ließ und das mokante Lächeln ihrer Augen in
einen Ausdruck nackter Bosheit verwandelte.
Er sah, daß auch sie ihn beobachtete, sah sie lächeln, und dann sagte sie, als hätte sie seine Gedanken erraten
und wollte sich, Anteilnahme heuchelnd, für seine stumme Kränkung rächen: »Fühlen Sie sich nicht wohl, Jim?
Sie lassen sich in der letzten Zeit gehen wie ein Stalljunge.«
Er lachte in sich hinein. »Ich kann es mir leisten.«
»Ich weiß es, mein Lieber, Sie sind einer der mächtigsten Männer von New York. Ich bin sicher, Sie können
alles erreichen, was Sie wollen. Das ist auch der Grund, weshalb ich Sie sprechen muß.« Sie ließ ihren Worten
ein schüchternes Lachen folgen, um ihre beschämende Offenheit zu mildern.
»So, so«, sagte er lässig, fast gelangweilt.
»Ich bin hierher gekommen, weil ich es für besser halte, daß wir in diesem besonderen Falle nicht zusammen
in der Öffentlichkeit gesehen werden.«
»Das ist immer klug.«
»Ich glaube, ich bin Ihnen in der Vergangenheit oft nützlich gewesen.«
»In der Vergangenheit, ja.«
»Ich bin sicher, daß ich mich auf Sie verlassen kann.«
»Selbstverständlich. Nur… ist das nicht eine altmodische, unphilosophische Anschauung? Wie können wir
jemals einer Sache sicher sein?«
»Jim«, stieß sie in plötzlicher, nackter Angst hervor, »Sie mü ssen mir helfen.«
»Meine Liebe, ich stehe zu Ihrer Verfügung und werde alles tun, Ihnen zu helfen«, antwortete er, da ihre
Sprachregelung gebot, offene Ehrlichkeit mit glatter Lüge zu beantworten. Lillian Rearden verliert die Nerven,
dachte er und empfand Vergnügen bei dem Gedanken, es mit einem unterlegenen Gegner zu tun zu haben.
Sie vernachlässigte, bemerkte er, sogar ihr Äußeres, auf dessen Untadeligkeit sie immer besonderen Wert
gelegt hatte. Einige Strähnen ihres Haares hatten sich aus der kunstvoll gelegten Frisur gelöst… der tiefrote, auf
die Farbe ihres Kleides abgestimmte Lack ihrer Fingernägel war an den Spitzen leicht abgeblättert… und unter
dem Rand des tiefen viereckigen Ausschnitts ihres Kleides sah er auf der gelblichen, matten Haut das leichte
Glitzern einer Sicherheitsnadel, mit der das Trägerband ihres Unterkleides festgesteckt war.
»Sie müssen es verhindern!« sagte sie in dem streitbaren Ton einer Bitte, die sich hinter einem Befehl
verbirgt. »Sie müssen…«
»Gut. Aber was?«
»Meine Scheidung.«
»Oh…!« Sein Gesicht wurde plötzlich ernst.
»Sie wissen doch, daß er sich von mir scheiden lassen will?«
»Ich habe solche Gerüchte gehört.«
»Gerüchte? Ich habe es schwarz auf weiß! In einem Monat ist Termin. Oh, er hat es sich etwas kosten lassen.
Er hat den Richter gekauft, die Beisitzer, die Gerichtsschreiber, die Anwälte, die Politiker und ihre Hintermänner
und deren Hintermänner, alle, die mit dem Prozeß zu tun haben; den ganzen Instanzenweg bis zur Spitze hat er
gekauft wie eine Privatstraße, und für mich ist keine Seitenstraße offen geblieben, durch die ich zu meinem
Recht kommen könnte!«
»Ich verstehe.«
»Sie wissen doch, was ihn veranlaßt hat, die Scheidung einzureichen?«
»Ich kann es mir denken.«
»Und ich tat es nur Ihnen zu Gefallen!« Aus ihrer St imme klang schrille Angst. »Ich habe Ihnen die Sache mit
Ihrer Schwester erzählt, damit Sie für Ihre Freunde diese Schenkungsurkunde bekommen, die…«
»Ich schwöre Ihnen, ich weiß nicht, wer Sie verraten hat«, rief er bestürzt aus. »Nur sehr wenige an der Sp itze
wußten, daß die Informationen von Ihnen stammen, und ich bin sicher, niemand würde wagen zu behaupten…«
»Oh, ich bin sicher, das hat auch niemand getan. Aber er ist auch nicht so dumm, daß er sich nicht
zusammenreimen konnte, daß ich es gewesen war.«
»Ja, das nehme ich auch an. Nun, dann haben Sie gewußt, daß Sie ein Risiko eingehen.«
»Ich hatte nicht gedacht, daß er so weit gehen würde. Ich habe nicht geglaubt, daß er sich je von mir scheiden
lassen könnte. Ich habe…«
Er lachte plötzlich vor sich hin, als hätte er eine erstaunliche Entdeckung gemacht. »Sie haben nicht daran
gedacht, daß Schuld ein Krug ist, der irgendwann bricht, nicht wahr, Lillian?«
Sie sah ihn verblüfft an und antwortete mit steinernem Gesicht: »Ich glaube nicht, daß es so ist.«
»Es ist so, meine Liebe… bei Menschen, wie Ihr Mann einer ist.«
»Ich will nicht, daß er sich von mir scheiden läßt!« Es war ein verzweifelter Aufschrei. »Ich will ihn nicht
freigeben! Ich werde nicht zulassen, daß er mein Leben zerstört!« Sie hielt plötzlich inne, als hätte sie zuviel
zugegeben.
Er lächelte sanft, ohne sie anzuschauen, und nickte langsam, fast würdevoll, zum Zeichen, daß er volles
Verständnis für ihre Lage hatte.
»Ich meine… er ist schließlich mein Mann«, sagte sie kleinlaut, fast weinerlich.
»Ja, Lillian, ja. Ich weiß es.«
»Wissen Sie, was er vorhat? Er will mich für alleinschuldig erklären und ohne einen Cent sitzenlassen – ohne
Abfindung, ohne Alimente, ohne alles! Er will mich zur Bettlerin machen! Verstehen Sie? Wenn ihm das
gelingt, dann… dann war die Schenkungsurkunde ein Pyrrhussieg für mich!«
»Ich verstehe.«
»Und außerdem, es ist ungeheuerlich, daß ich daran denken muß: Wovon soll ich dann leben? Das bißchen
eigenes Geld, das ich hatte, ist heute nichts mehr wert. Es war zum größten Teil in Fabriken aus der Zeit meines
Vaters angelegt, die längst geschlossen sind. Was soll ich anfangen?«
»Aber Lillian«, sagte er sanft. »Ich dachte, Sie machten sich nichts aus Geld oder materiellen Werten?«
»Sie verstehen mich nicht! Ich spreche nicht von Geld… ich spreche von Armut! Von wirklicher, stinkender
Kleine-Leute-Armut! Das geht über die Kräfte eines kultivierten Menschen! Ich… ich soll mich um Essen und
Miete kümmern?«
Er betrachtete sie mit einem fernen Lächeln. Für dieses eine Mal schien sein alterndes Gesicht sich zu einem
Ausdruck ehrlicher Einsicht zu spannen. Er war im Begriff, das Vergnügen voller Erkenntnis zu entdecken.
Allerdings an einer Wirklichkeit, die zu erkennen er sich gefahrlos leisten konnte.
»Jim, Sie müssen mir helfen! Mein Anwalt ist machtlos! Ich habe mein letztes Geld für ihn, seine Freunde
und seine Spitzel ausgegeben, doch sie konnten bloß herausfinden, daß sie nichts für mich tun können. Mein
Anwalt hat mir heute nachmittag seinen Abschlußbericht gegeben. Er sagte mir offen, daß ich keine Chance
habe. Ich kenne niemand, der mir gegen eine solche Verschwörung helfen kann. Ich hatte mit Bertram Scudder
gerechnet, doch… nun, Sie wissen ja, was mit ihm geschehen ist. Und auch das geschah nur, weil ich Ihnen
helfen wollte. Sich selbst konnten Sie dank Ihrer Beziehungen heil aus der Affäre ziehen. Sie sind der einzige
Mensch, der mir helfen kann. Lassen Sie Ihre Beziehungen diesmal für mich spielen. Sie haben Ihre
Beziehungen bis hinauf zur Spitze nach Washington. Sie haben Freunde. Ihre Freunde haben Freunde. Ein Wort
von Wesley Mouch würde die Scheidung verhindern. Sagen Sie ihnen, sie sollen dafür sorgen, daß die Klage
abgelehnt wird.«
Er schüttelte langsam den Kopf, fast mitleidig wie ein müder Fachmann, der einen übereifrigen Laien
beruhigen will. »Unmöglich, Lillian«, sagte er. »Ich würde es gerne für Sie tun. Aus den gleichen Gründen, aus
denen Sie das andere für mich getan haben. Und ich glaube, das wissen Sie auch. Aber in diesem Falle reicht
meine Macht nicht aus.«
Sie sah ihn mit seltsam leblosen Augen an, und als sie sprach, verzerrten sich ihre Lippen in so abgrundtiefer
Verachtung, daß er nicht zu denken wagte, daß diese Verachtung mehr umfaßte als nur sie beide.
Sie sagte: »Ich weiß, daß Sie es gern tun würden.«
Er empfand nicht das Bedürfnis zu heucheln; auf wunderliche Weise erschien ihm zum ersten Mal in diesem
besonderen Falle die Wahrheit als willkommene Lösung und größeres Vergnügen. »Ich glaube, Sie wissen, daß
es unmöglich ist«, sagte er, fast im Ton des Selbstbedauerns. »Niemand tut heutzutage jemand einen Gefallen,
wenn dabei nichts zu gewinnen ist. Und die Einsätze in dem Spiel der Beziehungen nach oben werden immer
höher, und die Beziehungen selbst werden immer zahlreicher und verworrener, weil jeder gegen jeden ist und
über jeden etwas weiß, so daß niemand eine Bewegung zu machen wagt, weil er nicht weiß, ob er damit nicht die
Kreise eines noch Mächtigeren stört; er unternimmt nur etwas, wenn es um Leben oder Tod geht – und darum
spielen wir heute im Grunde alle. Was bedeutet den Männern an der Spitze Ihr Privatleben? Was liegt ihnen
daran, ob Sie Ihren Gatten behalten oder nicht? Und was mein eigenes Spielkapital betrifft, ich könnte ihnen im
Augenblick nichts Lohnendes als Gegenleistung für den Versuch bieten, einer bestochenen Clique ein gutes
Geschäft zu verderben. Im übrigen würden die Leute in Washington es gerade jetzt um keinen Preis riskieren,
etwas für Sie zu tun. Sie müssen gegenüber Ihrem Mann ungeheuer vorsichtig sein. Er ist vor ihnen sicherer als
jeder andere, seit meine Schwester im Radio gesprochen hat.«
»Aber Sie haben mich doch gebeten, sie zum Sprechen zu zwingen!«
»Ich weiß, Lillian. Wir haben damals beide verloren, und wir beide verlieren auch diesmal.«
»Ja«, sagte sie mit dem gleichen toten Blick der Verachtung, »beide.« Ihre Verachtung tat ihm wohl; sie war
für ihn die seltene, ungewohnte, unverbindliche Genugtuung zu wissen, daß diese Frau ihn sah, wie er war, und
dennoch, gefesselt durch seine Gegenwart, nicht vor ihm floh, sondern sitzen blieb, ja, sich in ihrem Sessel
zurücklehnte, als wollte sie sich für hoffnungslos gefangen erklären.
»Sie sind ein außerordentlicher Mensch, Jim«, sagte sie. Es klang wie ein Verdammungsurteil. Und doch war
es ein Ehrentribut, und sie meinte es als solchen, und er empfand es als Schmeichelei in dem Bewußtsein, daß sie
beide einer Welt angehörten, in der Verdammung Anerkennung bedeutete.
»Wissen Sie übrigens«, sagte er plötzlich, »daß Sie diesen Schlachtergesellen wie Gonzales unrecht tun? Sie
haben ihren eigenen Wert. Wie denken Sie über Francisco d’Anconia?«
»Ich kann ihn nicht ausstehen.«
»Nun, kennen Sie den wirklichen Zweck des heutigen Empfanges bei Señor Gonzales? Mit ihm wurde das
Übereinkommen gefeiert, daß d’Anconia Copper in einem Monat verstaatlicht wird.«
Sie sah ihn an, und ihre Mundwinkel zogen sich langsam zu einem Lächeln nach oben. »War er nicht Ihr
Freund?«
Ihre Stimme hatte einen Klang, den James Taggart zuvor nie verdient hatte, den Klang eines Gefühls, das er
den Menschen nur durch Betrug entlockt hatte, das ihm jedoch jetzt, zum ersten Mal, in voller Erkenntnis und
Anerkennung des wahren Charakters seiner Handlung gezollt wurde – den Klang von Bewunderung.
Und plötzlich erkannte er, daß dies das Ziel seiner Unruhe der letzten Stunden gewesen war; dies war das
Wohlgefühl, das zu finden er schon nicht mehr erhofft hatte, dies war die Feier, die er gesucht hatte.
»Lassen Sie uns etwas trinken, Lil«, sagte er aufgeräumt.
Während er die Gläser füllte, sah er zu ihr hinüber, sah sie schlaff in ihrem Sessel liegen. »Soll er seine
Scheidung haben«, sagte er. »Das letzte Wort wird er nicht bekommen. Die anderen werden es haben, die
Schlachtergesellen, Señor Gonzales und Cuffy Meigs.«
Sie antwortete nicht. Als er zu ihr trat, nahm sie ihm das Glas mit einer lässigen, fast zynischen Bewegung aus
der Hand. Sie trank ohne die Beachtung jeder gesellschaftlichen Form wie ein einsamer Trinker in der Ecke einer
Bar, der nur die Betäubung des Alkohols sucht.
Er setzte sich auf die Lehne des Sofas, zu nahe neben sie, und beobachtete ihr Gesicht, während er sein Glas
geräuschvoll leerte. Nach einer Weile fragte er: »Wie denkt er über mich?«
Die Frage schien sie nicht zu erstaunen. »Er nimmt Sie nicht ernst genug, um über Sie nachzudenken«,
antwortete sie. »Er denkt, das Leben sei zu kurz, als daß er von Ihrem Dasein Kenntnis nehmen könnte.«
»Er würde es zur Kenntnis nehmen, wenn…«, er unterbrach sich.
»…wenn Sie ihm mit einem Knüppel über den Schädel schlügen? Ich bin nicht ganz sicher. Er würde sich
vielleicht nur vorwerfen, daß er sich nicht rechtzeitig außer Reichweite des Knüppels begeben hat. Ja, ich glaube,
das wäre das Höchste, was Sie von ihm an Beachtung erwarten könnten.«
Sie stemmte ihren Körper hoch und ließ sich, den Bauch vorgestreckt, noch tiefer in den Sessel gleiten, als
müßte Entspannung zugleich häßliches Sichgehenlassen sein, als gönnte sie ihm eine besondere Vertraulichkeit,
indem sie sich vor seinen Augen der letzten Haltung und Selbstachtung begab.
»Das erste, was mir an ihm auffiel«, sagte sie, »als ich ihn kennenlernte, war, daß er sich nicht fürchtete. Er
sah aus, als wäre er sicher, daß keiner von uns ihm etwas anhaben könnte – so sicher, daß er sich dieses Gefühls
nicht einmal bewußt zu sein schien.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Vor drei Monaten. Ich habe ihn nicht mehr gesehen seit – der Schenkungsurkunde.«
»Ich sah ihn vor zwei Wochen bei einer Industriellen-Konferenz. Er sah noch immer so aus. Nur scheint er
jetzt zu wissen, warum er uns nicht zu fürchten braucht. Sie haben versagt, Lillian.«
Sie antwortete nicht. Sie schob ihren Hut mit dem Handrücken vom Kopf; er rollte über den Teppich und kam
auf der Oberseite zu liegen, so daß die geschwungene Feder wie ein Fragezeichen in der Luft stand. »Ich
erinnere mich, wie ich zum ersten Mal seine Hochöfen sah«, sagte sie. »Seine Hochöfen! Sie können sich nicht
vorstellen, was sie ihm bedeuteten. Ich habe den geistigen Hochmut nie begriffen, der ihn glauben ließ, daß alles,
was ihm gehörte, alles, was er berührte, durch seine Berührung geheiligt würde. Seine Hochöfen, sein Metall,
sein Geld, sein Bett, seine Frau!« Sie blickte schräg zu ihm hoch, und ein schwaches Flimmern regte sich in der
stumpfen Leere ihrer Augen. »Er hat Ihr Dasein nie zur Kenntnis genommen. Wohl aber meines. Ich bin immer
noch Mrs. Rearden – zumindest noch einen Monat lang.«
»Ja…«, sagte er und sah mit einem plötzlich neuerwachten Interesse auf sie hinab.
»Mrs. Rearden!« wiederholte sie kichernd. »Sie können nicht verstehen, was das für ihn bedeutete. Kein
Feudalherr hat je für die Person seiner Frau solche Verehrung empfunden oder gefordert – oder sie für ein
Symbol seiner Ehre gehalten wie er. Seiner unbeugsamen, unberührbaren, unverletzlichen, fleckenlosen Ehre!«
Mit einer schweifenden Bewegung ihrer gespreizten Hand zeichnete sie die Länge ihres ausgestreckten Körpers
nach.
»Die Frau Cäsars!« kicherte sie. »Erinnern Sie sich, was man von ihr erwartete? Nein, Sie erinnern sich nicht.
Man erwartete von ihr, daß sie über jeden Tadel erhaben war.«
Er stierte auf sie hinunter mit dem schweren, blinden Blick ohnmächtigen Hasses – eines Hasses, dessen
plötzliches Symbol, nicht Gegenstand, sie war. »Er war wohl nicht sehr froh darüber, als sein Metall der
Öffentlichkeit hingeworfen wurde, so daß jeder es nachmachen konnte?«
»Nein, bei Gott nicht.«
Seine Worte klangen verzerrt, als hinge der Alkohol, den er getrunken hatte, in Tropfen an ihnen. »Sagen Sie
mir ja nicht, daß Sie uns geholfen haben, die Schenkungsurkunde zu bekommen, um mir einen Gefallen zu tun,
und daß Sie nichts dabei gewonnen haben. Ich weiß, warum Sie es getan haben.«
»Sie wußten es sofort.«
»Ja. Und das ist auch der Grund, warum ich Sie liebe, Lillian.«
Sein Auge kehrte immer wieder zu dem tiefen Ausschnitt ihres Kleides zurück. Es war nicht die glatte Haut,
die seinen Blick anzog, nicht die entblößten Wölbungen ihrer Brüste, sondern die Sicherheitsnadel, die unter der
Kante hervorragte.
»Ich möchte sehen, wie er geschlagen wird«, sagte er. »Ich möchte ihn, nur ein Mal, vor Schmerz schreien
hören.«
»Sie werden es nie erleben, Jimmy.«
»Warum glaubt er, er sei etwas Besseres als wir alle – er und meine Schwester?«
Sie kicherte.
Er sprang auf, als hätte sie ihn ins Gesicht geschlagen. Er ging zur Bar und schenkte sich einen neuen Drink
ein, ohne sie zu fragen, ob er auch ihr Glas nachfüllen sollte.
Sie sprach und starrte an ihm vorbei ins Leere, »Er hat mein Vorhandensein zur Kenntnis genommen, obwohl
ich keine Eisenbahnstrecke und keine Brücken zum Ruhme seines Metalls bauen kann. Ich kann seine Hochöfen
nicht bauen, aber ich kann sie zerstören. Ich kann sein Metall nicht nachmachen, aber ich kann es ihm
wegnehmen. Ich kann die Menschen nicht aus Bewunderung auf die Knie zwingen, aber ich kann sie auf die
Knie zwingen.«
»Halt den Mund!« schrie er entsetzt, als wäre sie jener nebelerfüllten Sackgasse zu nahe gekommen, deren
Ende ungesehen bleiben mußte.
Sie hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. »Was für ein Feigling Sie sind, Jim.«
»Warum wirst du nicht betrunken?« zischte er und hielt ihr sein halbgeleertes Glas dicht vor den Mund.
Ihre Finger schlossen sich schlaff um das Glas, und als sie es zum Mund führen wollte, schüttete sie sich den
Inhalt über das Kinn, über die Brust und über das Kleid.
»Zum Teufel, Lillian, du bist ein Ferkel!« rief er wütend aus und, ohne sich die Mühe zu nehmen, nach
seinem Taschentuch zu greifen, begann er die Flüssigkeit mit der flachen Hand wegzuwischen. Seine Finger
glitten in den Ausschnitt ihres Kleides, schlossen sich über ihrer Brust. Er keuchte, und sein Atem fing sich
mehrere Male in einem Schluckauf. Seine Augenlider schlossen sich, doch er sah noch ihren widerstandslos nach
hinten geneigten Kopf und ihre vor Widerwillen verzerrten Lippen. Als er seinen Mund auf den ihren preßte,
schlossen sich ihre Arme gehorsam über ihm, und ihr Mund antwortete seinem Druck, doch diese Antwort war
nur ein Gegendruck, kein Kuß.
Er hob den Kopf, um ihr ins Gesicht zu schauen. Ihre Zähne waren in einem starren Lächeln entblößt, doch
ihr Blick ging an ihm vorbei, als gälte er etwas Unsichtbarem hinter ihm. Ihr Lächeln war ohne Leben, doch
nackt vor Bosheit wie das Grinsen eines fleischlosen Schädels.
Er riß sie näher an sich, um dem Anblick ihres Gesichts zu entgehen und sein Erschauern zu unterdrücken.
Seine Hände vollführten automatisch die mechanischen Bewegungen intimer Berührungen, denen Sie sich
willfährig fügte, doch in einer Weise, die ihm das Gefühl vermittelte, als wären die automatischen Zuckungen
ihrer Nerven unter seinem Griff ein höhnisches Kichern. Sie handelten, als vollzogen sie unter dem Zwang der
Gewohnheit einen vorgeschriebenen Ritus, den jemand erfunden und zum Gesetz gemacht hatte, und rächten
sich an dem Erfinder, indem sie seine Idee mit einer schmutzigen Parodie verspotteten.
Er fühlte eine blinde, grenzenlose Wut, halb Grauen, halb Lust; Grauen, weil er eine Tat beging, die er
niemals jemand zu gestehen wagen würde; Lust, weil er sie beging in höhnischer Herausforderung jener, denen
er sie nie zu gestehen wagen würde. Er war er selbst! schien der einzige bewußte Teil seiner Wut ihm
zuzuschreien. Er war endlich er selbst!
Sie sprachen nicht. Sie wußten, was sie beide dachten. Nur zwei Worte fielen. »Mrs. Rearden«, sagte er.
Sie sahen einander nicht an, während er sie in sein Schlafzimmer schob, sie auf sein Bett stieß und sich auf
ihren Körper warf wie auf einen weichen ausgestopften Gegenstand. Ihre Gesichter hatten den Ausdruck von
Komplizen einer heimlichen Missetat, den verstohlenen, schäbigen Ausdruck von Kindern, die auf den sauberen
Zaun eines Nachbarn obszöne Symbole kritzeln.
Später war er nicht enttäuscht darüber, daß das, was er besessen hatte, ein lebloser Körper ohne Widerstand
und ohne Entgegenkommen gewesen war. Es war nicht eine Frau, die er hatte besitzen wollen. Es war kein Akt
zur Feier des Lebens gewesen, den er hatte vollziehen wollen, sondern ein Akt zur Feier des Triumphes des
Unvermögens.
Cherryl öffnete die Tür leise und schlüpfte vorsichtig ins Haus, als hoffte sie, nicht gesehen zu werden und
selbst den Ort nicht zu sehen, der ihr Heim war. Der Gedanke an Dagny, an ihre Welt, hatte sie auf dem
Nachhauseweg schützend begleitet, doch als sie jetzt ihre eigene Wohnung betrat, fühlte sie sich plötzlich wieder
allein, und die Wände schienen sich um sie zu schließen wie eine erstickende Falle.
Kein Laut war in der Wohnung zu hören. Aus einer halboffenen Tür fiel ein Lichtstreifen in die Diele. Sie
schleppte sich ihrem Zimmer zu. Plötzlich blieb sie stehen.
Das Licht kam aus Jims Arbeitszimmer, und durch den Türspalt sah sie auf dem Teppich des Raumes einen
Damenhut liegen, dessen Feder sich im Luftzug schwach bewegte.
Sie trat einen Schritt näher. Das Zimmer war leer. Sie sah zwei Gläser, eins auf dem Tisch, das andere auf
dem Boden, und eine Damenhandtasche auf dem Sitz eines Lehnsessels. Wie erstarrt vor Entsetzen blieb sie
stehen, bis sie das schleppende Sprechen zweier gedämpfter Stimmen hinter der Tür von Jims Schlafzimmer
hörte. Sie konnte die Worte nicht unterscheiden, nur den Klang der Stimmen; Jims Stimme klang dumpf gereizt,
die der Frau müde verachtungsvoll.
Dann stand sie in ihrem Zimmer und bemühte sich, mit fliegenden Händen den Schlüssel im Schloß
umzudrehen. Sie war in blinder Panik hierher geflüchtet, als müßte sie sich verbergen, als graute ihr davor,
gesehen zu werden, während sie die beiden sah; sie war gejagt worden von einer Angst, die zugleich Ekel,
Mitleid, Verlegenheit war und jene geistige Keuschheit, die davor zurückschreckt, einen Menschen mit dem
unwiderlegbaren Beweis seiner Schuld zu konfrontieren.
Sie wankte zur Mitte des Raumes, blieb hilflos stehen, unfähig zu überlegen, was sie tun könnte. Dann gaben
ihre Knie nach, knickten langsam ein, und sie saß auf dem Boden und blieb sitzen, starrte auf den Teppich und
überließ sich den Schauern, die sie schüttelten.
Sie empfand weder Zorn noch Eifersucht noch Empörung, nur blankes Entsetzen vor dem grotesk Sinnlosen;
die Erkenntnis, daß weder ihre Ehe, noch seine Liebe zu ihr noch sein hartnäckiger Wille, sie zu halten, noch
eine Liebe zu der anderen Frau, noch dieser Ehebruch irgendeinen Sinn hatten und daß es sinnlos war, nach
einem Warum oder Wozu zu fragen. Sie hatte immer geglaubt, das Böse habe einen Grund, sei Mittel zu einem
Zweck; was sie jetzt sah, war böse um des Bösen willen.
Sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen hatte, als sie die Schritte und Stimmen der beiden hörte und dann
das Zufallen der Wohnungstür. Sie erhob sich ohne Ziel und Absicht, getrieben von einem Instinkt ihrer
Vergangenheit, als handelte sie in einem luftleeren Raum, in dem Selbstachtung keine Rolle mehr spielte, und
als bliebe ihr nichts anderes übrig.
Sie traf Jim in der Diele. Einige Sekunden lang starrten sie einander an, als trauten sie ihren Augen nicht.
»Wann bist du zurückgekommen«, fragte er. »Seit wann bist du zu Hause?«
»Ich weiß nicht.«
Er sah ihr forschend ins Gesicht. »Was ist los mit dir?«
»Jim, ich…« Sie kämpfte mit sich, gab auf, hob die Hand in Richtung seines Schlafzimmers. »Jim, ich
weiß…«
»Was weißt du?«
»Du warst – dort drin. Mit einer Frau.«
Seine erste Reaktion war, sie in sein Arbeitszimmer zu stoßen und die Tür zuzuschlagen, als müßte er sie
beide verbergen, ohne zu wissen vor wem. Eine uneingestandene Wut kochte in ihm, noch inhaltslos und
unentschlossen, ob sie erlöschen oder ausbrechen sollte. Dann explodierte sie in dem Gefühl, daß etwas so
Verächtliches wie seine Frau ihn seines Triumphes beraubte, daß er sich diesen neuen Genuß von ihr nicht
nehmen lassen durfte.
»Jawohl!« schrie er. »Und was ist dabei? Was willst du dagegen tun?«
Sie starrte ihn mit offenem Mund an.
»Jawohl, ich war dort drin mit einer Frau! Jawohl, das habe ich getan, und ich habe es getan, weil es mir
einfiel, es zu tun! Glaubst du, du könntest mir Angst einjagen mit deinem offenen Mund, mit deinen glotzenden
Augen, du entgeisterte Unschuld?« Er schnappte mit den Fingern. »Soviel mache ich mir aus dem, was du
darüber denkst! Einen Dreck gebe ich für deine Meinung! Einen Dreck!« Ihr blutleeres und wehrloses Gesicht
steigerte seine Wut zu einem Rausch und gab ihm ein Lustgefühl, als wären seine Worte Schläge, durch die er
ein Menschenantlitz entstellte. »Glaubst du, du könntest mich zwingen, mich vor dir zu verstecken? Ich habe es
satt, dir den braven Ehemann vorzuspielen! Wer bist du denn schon, du billiges kleines Mädchen? Ich werde tun,
was mir gefällt, und du wirst den Mund halten und vor den anderen Leuten so tun, als wäre nichts geschehen, so
wie alle anderen es tun. Und verlange von mir nicht länger, daß ich in meinem eigenen Haus den Tugendbold
spiele! Niemand tut das in seinem eigenen Haus. Das Theater ist für draußen! So, jetzt weißt du, woran du bist,
ein für allemal!« Jetzt sah er nicht mehr ihr Gesicht, sondern das Gesicht des Mannes, vor dem er sich mit
seinem Triumph so gerne brüsten wollte, aber nicht konnte. Doch sie war in seinen Augen immer die
Bewundererin und Parteigängerin dieses Mannes gewesen. Deshalb hatte er sie ja geheiratet. Und jetzt sollte sie
ihm auch bei seiner Rache als Ersatz für ihn dienen. Und er sagte: »Weißt du, wer die Frau war, die ich in
meinem Bett gehabt habe? Es war…«
»Nein!« schrie sie auf. »Jim! Ich will es nicht wissen!«
»Es war Mrs. Rearden! Mrs. Hank Rearden!«
Sie wich zurück. Er fühlte sich von jähem Entsetzen angerührt, denn sie sah aus, als sähe sie das, dessen
Bestehen er sich selbst nicht zugeben durfte. Sie fragte mit einer toten Stimme, die den in diesem Augenblick
unwirklichen Klang des gesunden Menschenverstandes hatte: »Ich nehme an, du willst jetzt, daß wir uns
scheiden lassen?«
Er brach in Lachen aus. »Du einfältiges Dummchen! Du hast immer noch nicht begriffen! Du glaubst immer
noch an die Größe und Reinheit der Ehe! Ich denke gar nicht daran, mich von dir scheiden zu lassen. Und bilde
dir ja nicht ein, daß du mit einer Klage gegen mich durchkommst! Laß dir von mir sagen: Es gibt keinen
Ehemann, der nicht mit einer anderen Frau schläft, und es gibt keine Ehefrau, die das nicht weiß, doch keiner
redet darüber! Ich werde schlafen, mit wem ich will, und du geh hin und tu das gleiche, wie alle die anderen
Huren, aber halt’s Maul!«
Er sah das plötzliche Aufleuchten einer harten, unverhüllten, gefühllosen, unmenschlichen Intelligenz in ihren
Augen. »Jim, wenn ich eine Frau wäre, die fähig ist, das zu tun, dann hättest du mich nicht geheiratet.«
»Nein, das hätte ich nicht getan.«
»Warum hast du mich geheiratet?«
Er fühlte sich wie in einem Strudel gefangen, halb erleichtert, daß der Augenblick der Gefahr vorüber war,
und gleichzeitig unwiderstehlich angezogen von der Versuchung, diese Gefahr herauszufordern. »Weil du ein
dummes, hilfloses, kleines Mädchen aus der Gosse warst, dem es nie gelingen würde, mir irgendwie
gleichzukommen! Weil ich glaubte, du liebtest mich! Ich dachte, du müßtest mich lieben!«
»So wie du bist?«
»Ohne zu fragen, was oder wie ich bin! Ohne Gründe! Ohne mich zu zwingen, immer so zu sein, wie du mich
zu sehen glaubst oder zu sehen wünschst, ohne vor dir auf meine alten Tage wie ein verliebter Geck Theater
spielen zu müssen!«
»Du hast mich geliebt… weil ich in deinen Augen wertlos war?«
»Nun, was bildest du dir denn ein, wert zu sein?«
»Du hast mich geliebt, weil du mich für charakterlos hieltest?«
»Was hattest du mir sonst zu bieten? Doch du warst nicht bescheiden genug, meine Liebe zu würdigen. Ich
wollte großmütig sein. Ich wollte dir Sicherheit geben. Welche Sicherheit bietet es, um seiner Tugenden willen
geliebt zu werden? Hierfür ist die Konkurrenz zu groß! Jederzeit kann ein sogenannter besserer Mensch
daherkommen und dich aus dem Feld schlagen! Doch ich… ich war gewillt, dich zu lieben um deiner Fehler und
deiner Schwächen, um deiner Unwissenheit und deiner Unbildung, deiner Ungeschicklichkeit willen. Und das ist
wahre Sicherheit! Du solltest nichts zu fürchten und nichts zu verbergen haben; du hättest du selbst sein können,
dein wirkliches, armseliges Selbst – wie es jeder in seinem Innern ist. Doch du hättest dir meine Liebe erhalten
können, ohne daß eine Gegenleistung von dir dafür gefordert worden wäre.«
»Du wolltest, daß ich… daß ich deine Liebe annehme… als Almosen?«
»Hast du dir eingebildet, daß du es verdienen könntest, meine Frau zu sein? Ich war es gewohnt, mir Mädchen
wie dich zum Pre is einer Mahlzeit zu kaufen! Ich wollte, daß du bei jedem Schritt, den du tust, bei jedem Löffel
Kaviar, den du ißt, daran denkst, daß du alles mir verdankst, daß du nichts hast und nichts bist und nie hoffen
kannst, etwas von dem, was ich dir gebe, zu verdienen oder zurückzuzahlen!«
»Ich… ich habe versucht, es zu verdienen.«
»Was hätte es mir genützt, wenn es dir gelungen wäre?«
»Du wolltest also nicht, daß es mir gelingt?«
»Du kleines Dummchen!«
»Du wolltest also nicht, daß ich mich änderte, daß ich mich besserte? Du hieltest mich für moralisch und
geistig minderwertig und wolltest, daß ich es blieb?«
»Was hätte es mir genützt, wenn du meine Liebe verdient hättest? Ich hätte mich bemühen müssen, dich zu
halten, und du hättest deine Vorzüge anderswo feilbieten können.«
»Du wolltest also, daß unsere Liebe, sowohl meine als auch deine, Almosen sein sollten? Du wolltest, daß wir
zwei aneinandergefesselte Bettler sein sollten?«
»Jawohl, du Tugendapostel! Jawohl, du alberne Heldenverehrerin! Jawohl, das wollte ich!«
»Du hast mich also genommen, weil ich wertlos war?«
»Ja!«
»Du lügst, Jim!«
Seine Antwort war ein bestürzter Blick stummen Erstaunens.
»Die Mädchen, die du zum Preis einer Mahlzeit zu kaufen gewohnt warst, wie du sagtest, wären froh gewesen
zu bleiben, was sie waren, ihr wirkliches, erbärmliches Selbst, wie du gesagt hast. Sie hätten deine Almosen
genommen und nie versucht, sich zu ändern, sich zu bessern, deiner würdig zu werden. Doch du hättest keine
von ihnen geheiratet. Mich hast du geheiratet, weil du wußtest, daß ich mich nicht damit abfinden würde, eine
erbärmliche Bettlerin zu bleiben, daß ich mich bemühen würde, deiner wert zu werden, deiner, so wie ich dich
sah, und nie aufhören würde, darum zu kämpfen. War es nicht so, Jim?«
»Ja! «brüllte er.
Jetzt rammte der Frontscheinwerfer, den sie auf sich hatte zurasen sehen, sein Ziel. Sie schrie auf unter dem
grellen Blitz des Stoßes, sie schrie auf in physischem Entsetzen – und zuckte vor ihm zurück.
»Was ist los mit dir?« stammelte er, zitternd vor Angst, in ihren Augen sehen zu müssen, was sie gesehen
hatte.
Sie hob die Hände in tastenden Bewegungen, als wollte sie es gleichzeitig verscheuchen und greifen. Als sie
antwortete, benannten ihre Worte das Namenlose nicht, doch es waren die einzigen Worte, die sie finden konnte:
»Du… du bist ein Mörder… um des Mordens willen…«
Es war zu nahe dem Unerkennbaren; er zitterte mehr in tödlicher Angst denn vor Wut, holte blind aus und
schlug sie ins Gesicht.
Sie fiel gegen die Lehne eines Sessels. Ihr Kopf schlug auf dem Boden auf, doch sie hob ihn wieder und sah
ihn verwundert, doch ohne Erstaunen an, als wäre jetzt lediglich verwirklicht worden, was sie erwartet hatte. Ein
einzelner, perlenförmiger Blutstropfen löste sich aus ihrem Mundwinkel und rann langsam auf ihre Kinnspitze
zu.
Er stand bewegungslos vor ihr. Einige Sekunden lang sahen sie einander starr an, als wagte keiner von ihnen,
sich zu bewegen.
Cherryl bewegte sich zuerst. Sie sprang auf – und lief. Sie lief aus dem Zimmer, aus der Wohnung. Er hörte
sie den Gang hinunterlaufen und die Eisentür der Nottreppe aufreißen. Auf den Fahrstuhl zu warten, wäre ihr
unmöglich gewesen.
Sie lief die Treppe hinunter, öffnete wahllos Türen auf den Treppenabsätzen, lief durch verwirrende Gänge,
lief wieder Treppen hinunter, bis sie in die Halle gelangte, und stürzte auf die Straße.
Nach einer Weile, als sie wieder zu Atem gekommen war, sah sie, daß sie auf dem zerbröckelten Pflaster
eines Bürgersteiges durch eine dunkle Gasse ging, sah eine nackte Glühbirne in einem Kellereingang und auf
dem Dach einer Wäscherei eine beleuchtete Reklametafel, die gesalzene Kekse anpries. Sie konnte sich nicht
erinnern, wie sie hierher gekommen war. Ihr Verstand schien in zusammenhanglosen Sprüngen zu arbeiten. Sie
wußte nur, daß sie entkommen mußte und daß ein Entkommen unmöglich war.
Sie mußte vor allem Jim entkommen, dachte sie. Wohin? fragte sie und sah um sich mit einem Blick gleich
einem Stoßgebet. Sie würde sofort jede Stellung in einem Discount-Markt annehmen oder in einer Wäscherei
oder in irgendeinem der düsteren Läden, an denen sie vorbeikam. Doch sie würde arbeiten, um sich zu betäuben,
dachte sie, und je mehr sie arbeiten würde, desto mehr würde sie die Mißgunst der Menschen ihrer Umgebung
erregen und nicht wissen, wann man die Wahrheit von ihr erwartete oder eine Lüge; doch je größer ihre
Ehrlichkeit sein würde, desto größer würde der Betrug sein, dem sie sich ausliefern mußte. Sie hatte diesen
Betrug kennengelernt und ihn ertragen, in ihrem Elternhaus, in den Läden der Slums, doch sie hatte geglaubt, es
seien nur böse Ausnahmen, zufällige Übel, die man meiden und vergessen könnte. Jetzt wußte sie, daß es keine
Ausnahmen gewesen waren, daß Falschheit eine von der Welt anerkannte Regel war, ein Glaube, nach dem alle
lebten, doch zu dem sich niemand bekannte, ein Glaube, der ihr aus den Augen der Menschen mit jenem
verschlagenen, schuldigen Blick zublinzelte, den sie nie hatte verstehen können – an dessen Wurzel, verborgen
unter Schweigen, in den Kellern der Stadt und in den Abgründen ihrer Seelen etwas auf sie lauerte, das sie, ohne
es zu kennen, mehr fürchtete als den Tod.
Warum quält ihr mich so? rief sie lautlos in die Finsternis. Weil du gut bist, schien ihr ein ungeheures
Gelächter von den Dächern und aus den Abwasserkanälen zu antworten. Dann will ich nicht länger gut sein. –
Doch. – Ich muß aber n icht. – Doch. – Ich ertrage es nicht mehr. – Doch.
Sie erschauerte und ging schneller. Vor sich, in nebliger Ferne, sah sie den Kalender über den Dächern der
Stadt. Es war lange Mitternacht vorüber, und der Kalender zeigte den 6. August an. Ihr war, als sähe sie plötzlich
über der Stadt, mit blutigen Lettern in den Himmel geschrieben: 2. September. Und sie dachte, wenn sie den
Kampf aufnähme, wenn sie sich hocharbeitete, würde sie mit jedem Schritt nach oben härtere Schläge
hinnehmen müssen, bis sie schließlich sehen müßte, daß das, was sie erreicht hatte, mochte es ein Kupferkonzern
oder eine schuldenfreie Hütte sein, an einem 2. September von Jim mit Beschlag belegt und ihr genommen
würde, um damit die Parties zu bezahlen, auf denen er mit seinen Freunden seine Geschäfte abschloß. Dann will
ich nicht! schrie sie, machte wild kehrt und rannte die Straße zurück. Vom dunklen Himmel her schien sie aus
dem Dampf der Wäscherei eine riesige Gestalt anzugrinsen, die ständig ihre Form veränderte, aber immer das
gleiche grinsende Gesicht behielt. Und dieses Gesicht war Jims Gesicht und das Gesicht des Missionars ihrer
Kindheit und der Sozialarbeiterin der Personalabteilung des Discount-Markts. Und dieses Grinsen schien ihr zu
sagen: Menschen wie du werden immer ehrlich bleiben, Menschen wie du werden immer kämpfen, um
hochzukommen, Menschen wie du werden immer arbeiten, damit wir in Sicherheit leben können, während du in
Angst weiterlebst.
Sie lief, um nicht denken zu müssen. Als sie wieder um sich sah, ging sie durch eine ruhige Straße. Hinter
Glastüren brannten Lichter in den teppichbelegten Hallen von Luxuswohnhäusern. Sie merkte, daß sie hinkte,
und entdeckte, daß der Absatz ihres Schuhes lose war; er hatte sich während des Laufens gelockert, ohne daß sie
es gespürt hatte.
Durch den Spalt einer breiten Querstraße sah sie plötzlich in der Ferne die Türme der Wolkenkratzer. Vor
einem schwach glühenden Hintergrund ragten sie friedlich in den Dunst, und ihre wenigen Lichter grüßten wie
ein Abschiedslächeln zu ihr herüber. Einst waren sie ein Versprechen gewesen, und aus dem fauligen Sumpf, in
dem Cherryl damals lebte, hatte sie zu ihnen aufgeschaut wie zu den Wahrzeichen einer anderen Welt, in der
andere Menschen lebten. Jetzt wußte sie, daß sie Grabsteine waren, Trauerobeliske zum Andenken der
Menschen, die vernichtet worden waren, weil sie sie errichtet hatten; sie waren die gefrorenen Schatten des
stummen Schreis, daß der Lohn für Leistung Märtyrertum war.
Irgendwo in einem dieser vom Nebel umwallten Türme, dachte sie, war Dagny. Doch Dagny war ein
einsames Opfer, das eine verlorene Schlacht kämpfte.
Es gibt keinen Ort, wo du hingehen kannst, dachte Cherryl und stolperte weiter. Ich kann nicht mehr
stehenbleiben und nicht mehr weitergehen; kann weder ruhen noch arbeiten; kann weder aufgeben noch
kämpfen. Doch das, eben das wollten sie von mir, dorthin wollten sie mich bringen, weder zu leben noch tot zu
sein, weder zu denken noch dem Wahnsinn zu verfallen, nichts zu sein als breiige Masse, die in schreiender
Angst danach verlangt, von denen nach Willkür geformt zu werden, die selbst ohne eigene Form sind.
Sie stürzte weiter in die Dunkelheit, verbarg sich hinter einer Ecke, kauerte sich zusammen vor Angst, in das
Gesicht eines Menschen schauen zu müssen. Nein, dachte sie, sie sind nicht böse, nicht alle… Sie sind nur ihre
eigenen ersten Opfer. Doch sie alle leben nach Jims Glauben, und weil ich das weiß, kann ich nicht unter ihnen
leben. Und wenn ich sie anspräche, würden sie versuchen, mich ihres guten Willens zu versichern. Doch ich
weiß, was sie für das Gute halten, und würde Tod aus ihren Augen mir entgegen starren sehen.
Der Bürgersteig war zu einem schmalen, unebenen Streifen geworden, auf dem aus Mülltonnen
herausgefallene Abfälle ihr den Weg versperrten. An einem der verwahrlosten Häuser sah sie neben dem
funzeligen Licht einer Kneipe über einer verschlossenen Tür ein hell erleuchtetes Schild: »Haus der jungen Frau
in Not«.
Sie kannte diese Art von Einrichtungen und die Frauen, die sie leiteten, jene Frauen, die sagten, es sei ihre
Aufgabe, den Leidenden zu helfen. Wenn sie hinginge, dachte sie und humpelte weiter, wenn sie vor diese
Frauen träte und sie um Hilfe bäte, dann würden sie ihr mit der Frage antworten: »Was ist Ihre Schuld? Alkohol?
Rauschgift? Schwangerschaft? Ladendiebstahl?«
Sie würde erwidern: »Ich habe keine Schuld. Ich bin unschuldig, aber ich…«
»Tut mir leid. Für die Leiden der Unschuldigen sind wir nicht zuständig.«
Sie rannte blind davon. Dann sah sie wieder und blieb an der Ecke einer langen, breiten Straße stehen. Die
Gebäude und die Fahrbahn verschmolzen mit dem Himmel. Zwei Reihen grüner Lichter hingen im leeren Raum
und setzten sich fort in eine endlose Ferne, als erstreckten sie sich in andere Städte und über Ozeane in andere
Länder, die Erde zu umspannen. Der grüne Schein leuchtete heiter wie eine vertrauenswürdige Einladung zu
einer sicheren Reise in unbegrenzte Weiten. Dann schalteten die Ampeln auf rotes Licht um, das schwer nach
unten zu fallen schien, sich aus hellen runden Scheiben in schmutzige Flecke verwandelte und grimmig vor
unbekannten Gefahren warnte. Ein riesenhafter Lastwagen fuhr vor ihr vorbei, und sie sah seine großen Räder
eine neue Spur von Glanz auf die ausgefahrenen Steine des Pflasters zeichnen.
Die Lichter sprangen wieder zurück in das Grün der Sicherheit. Doch sie blieb zitternd stehen, unfähig, sich
von der Stelle zu bewegen. So wird der Verkehr für unsere Körper geregelt, dachte sie, doch was hat man für den
Verkehr unserer Seelen getan? Man hat die Signale vertauscht, und der Weg ist sicher, wenn die Lichter rot sind
und das Böse anzeigen. Doch wenn sie grün leuchten wie die Hoffnung und dir versichern, daß du getrost
weitergehen kannst, dann rennst du in dein Unglück und wirst von den Rädern zermalmt. Um die ganze Welt,
durch alle Länder zieht sich dieses Doppelband vertauschter Lichter und hält die Menschheit gefangen. Und die
Erde ist übersät mit unzähligen Krüppeln, die nicht wissen, was sie überfahren hat und warum, die, so gut sie
können, auf ihren zermalmten Gliedern durch ihre achtlosen Tage weiterkriechen, ohne je eine andere Antwort
auf ihre Frage nach dem Sinn ihres Schicksals zu erhalten, als daß Leiden der Zweck des Lebens ist. Und die
Verkehrspolizisten der Moral grinsen verstohlen und versichern ihnen, der Mensch sei von Natur aus unfähig zu
gehen. Sie dachte diese Worte nicht, die sie ausgesprochen hätte, wenn sie aus ihrem Verstand gekommen
wären, sie empfand ihren dumpfen Sinn nur als eine blinde Wut, die sie plötzlich in panischem Schrecken mit
den Fäusten gegen den eisernen Pfosten der Verkehrsampel neben sich schlagen ließ, gegen die hohle Röhre, in
der die heisere, rostige Stimme eines unbarmherzigen Mechanismus endlos weiterkicherte.
Sie konnte das höhnische Kichern mit ihren Fäusten nicht zum Verstummen bringen, konnte die Pfosten, die
sich entlang der Straßen aneinanderreihten, so weit ihr Auge reichte, nicht zerschmettern – so wie sie jenen
Glauben nicht aus den Seelen der Menschen prügeln konnte, die ihr begegnen würden. Sie konnte nicht länger
mit den Menschen leben, sie konnte die Wege, die sie gingen, nicht weitergehen. Denn was sollte sie ihnen
sagen, sie, die sie keine Worte hatte, zu sagen, was sie wußte, und keine Stimme, sich ihnen verständlich zu
machen? Was konnte sie ihnen ohne Worte sagen? Wie konnte sie alle ohne Stimme erreichen? Gab es
Menschen, und wo waren sie, die so empfanden wie sie und sie ohne Worte verstehen würden?
Und ihre ungedachten Worte blieben Schläge ihrer Fäuste gegen Metall, bis sie plötzlich selbst sah, wie sie
ihre Knöchel an einem unbeweglichen Eisenpfahl blutig schlug, und der eigene Anblick ließ sie erschauern. Sie
stolperte weiter, blind mit offenen Augen, gefangen in einem Labyrinth ohne Ausgang.
»Kein Ausweg« hämmerte der Fieberpuls ihres Bewußtseins im klappernden Takt ihrer Schritte, die auf dem
Pflaster widerhallten. Kein Ausweg. Keine Zuflucht. Keine Wegweiser. Kein Merkmal, mit dem man Tod von
Sicherheit unterscheiden konnte oder Feind von Freund. Wie der Hund, von dem sie gelesen hatte, dachte sie,
der Hund in dem Versuchslaboratorium, in dem man seine Nervenbahnen durch Operationen umgeschaltet hatte,
und der Befriedigung nicht mehr von Schmerz unterscheiden konnte, der Futter sich in Schläge und Schläge sich
in Futter verwandeln sah, den seine Augen und Ohren betrogen und dessen Urteil sich im Handeln ins Gegenteil
verkehrte und sein Bewußtsein in eine widersinnige, formlos verwirrte Welt stürzte und der dann aufgab, sich
weigerte, um diesen Preis zu fressen oder in einer Welt wie dieser zu leben. Nein! war das einzige bewußte Wort
in ihrem Hirn. Nein! Nein! Nein! Nicht euer Leben, nicht eure Welt, selbst wenn dieses »Nein« alles ist, was mir
bleibt!
Es war die dunkelste Stunde der Nacht, als eine Sozialarbeiterin sie im Hafen auf einer Straße zwischen den
Lagerhäusern entdeckte. Die Sozialarbeiterin war eine Frau, deren graues Gesicht und grauer Mantel mit dem
Grau der nächtlichen Mauern verschwammen. Sie sah eine junge Frau in einem für diese Gegend zu eleganten
und zu teuren Kostüm, ohne Hut, ohne Handtasche, mit einem abgebrochenen Absatz, zerzaustem Haar und
einer Wunde am Mundwinkel. Sie sah, daß die junge Frau sich blind taumelnd vorwärtsbewegte, immer wieder
vom Bürgersteig auf die Fahrbahn und von der Fahrbahn auf den Bürgersteig stolperte. Die Straße war nur eine
schmale Schlucht, die sich durch die kahlen, hohen Mauern der Speicher bahnte. Aber ein Lichtstrahl fiel durch
die nach fauligem Wasser riechenden Nebelschwaden. Die Straße endete vor einer Steinbrüstung, hinter der Fluß
und Himmel sich zu einem einzigen großen schwarzen Loch vereinten.
Die Sozialarbeiterin ging zu ihr und fragte sie streng: »Haben Sie Probleme?« Sie sah in ein mißtrauisch
blickendes Auge. Das zweite war durch eine herunterhängende Haarsträhne verdeckt. Sie sah in das Gesicht
eines verwilderten Geschöpfes, das den Klang menschlicher Stimmen vergessen hat, ihnen wie einem fernen
Echo lauscht, argwöhnisch, aber fast hoffnungsvoll.
Die Sozialarbeiterin packte sie am Arm. »Wie kann man in so einen Zustand geraten? Wenn ihr Mädchen der
feinen Gesellschaft auch mal an was anderes denken würdet, als euch zu amüsieren und von Party zu Party zu
hetzen, dann würdet ihr nicht zu dieser Zeit betrunken wie Stadtstreicher herumirren… Wenn ihr aufhören
würdet, nur für euer Vergnügen zu leben, aufhören würdet, nur an euch selbst zu denken und versuchen würdet,
ein höheres…«
Da begann das Mädchen zu kreischen. Das Kreischen hallte zwischen den Mauern der engen Straße wider wie
in einer Folterkammer, ein Kreischen animalischer Angst. Cherryl riß sich los, sprang zurück, und das Kreischen
artikulierte sich:
»Nein! Nein! Nicht in eurer Welt!«
Dann lief sie, lief in einem plötzlichen Ausbruch letzter Kraft weg. Mit der verzweifelten Kraft einer Kreatur,
die um ihr Leben läuft, lief Cherryl die Straße hinunter, die am Fluß endete… und mit gleichbleibender
Geschwindigkeit, ohne Stocken und ohne einen Augenblick des Zweifels, im vollen Bewußtsein, ihrem
Selbsterhaltungstrieb zu folgen, rannte sie weiter, bis die Steinbrüstung ihr den Weg versperrte, und sprang, ohne
anzuhalten, über das Hindernis hinweg ins Leere.

V. Deines Bruders Hüter

Am Morgen des 2. September riß in Kalifornien zwischen zwei Telefonleitungsmasten an der Pazifik-
Nebenstrecke von Taggart Transcontinental ein Kupferdraht.
Ein träger, dünner Regen war seit Mitternacht gefallen. Die aufgehende Sonne war unsichtbar geblieben, nur
trübes Licht war aus einem feuchten Himmel gesickert, und die an den Telefondrähten perlenden Regentropfen
waren die einzigen hellen Punkte vor dem Hintergrund der kalkweißen Wolken, des bleigrauen Meeres und der
schwarzen Bohrtürme, die wie einzelne Borsten einen verlassenen Hang hinabliefen. Die Drähte hatten mehr
Regen und Jahre überdauert, als sie hätten ertragen sollen; einer von ihnen war während der frühen
Morgenstunden unter der zarten Last der Regentropfen immer tiefer durchgesackt. Dann war ein letzter Tropfen
an der tiefsten Stelle der Kurve des Drahts gewachsen und hatte wie eine Kristallperle gehangen und das
Gewicht von vielen weiteren Tropfen in sich gesammelt. Die Perle und der Draht hatten gleichzeitig
nachgegeben, und der Draht war gerissen und zugleich mit dem Tropfen lautlos zu Boden gefallen.
Die Männer der Bezirksleitung von Taggart Transcontinental vermieden es, einander anzusehen, als die
Unterbrechung der Telefonleitung entdeckt und gemeldet wurde. Sie gaben sorgfältig formulierte Erklärungen
ab, die sich auf die entstandene Situation zu beziehen schienen, nichts aussagten und niemand täuschten. Sie
wußten, daß Kupferdraht Mangelware war, kostbarer als Gold und Ehre; sie wußten, daß der Lagerverwalter des
Bezirks ihren Vorrat an Kupferdraht vor Wochen an Unbekannte verkauft hatte, die ihre Geschäfte bei Nacht
abwickelten und bei Tage keine Geschäftsleute waren, sondern nur Männer, die Freunde in Sacramento und
Washington hatten. So wie der Lagerverwalter, der dem Bezirk erst kürzlich zugeteilt worden war, einen Freund
in New York hatte, der Cuffy Meigs hieß und von dem niemand zu sprechen wagte. Sie wußten, daß der Mann,
der jetzt die Verantwortung für die Reparaturanweisung übernahm und damit zwangsläufig zeigte, daß die
Reparatur nicht durchgeführt werden konnte, sich der Rache unbekannter Feinde aussetzen würde; daß seine
Mitarbeiter plötzlich geheimnisvoll verstummen würden, wenn es darum ging, ihm beizustehen; daß er nichts
würde beweisen können; und wenn er versuchte zu tun, was seine Stellung ihm vorschrieb, würde er sie nicht
mehr lange bekleiden. Sie wußten nicht, was in diesen Tagen sicher oder gefährlich war, da nicht die Schuldigen
bestraft wurden, sondern die Ankläger; und wie Tiere wußten sie, daß Bewegungslosigkeit im Falle der Gefahr
und des Zweifels der einzige Schutz war. Sie blieben bewegungslos; sie erörterten, wie, wann, was und wem
man am zweckmäßigsten über den Vorfall berichten sollte. Ein junger Streckenmeister verließ das Büro und das
Gebäude der Bezirksleitung, begab sich in die sichere Telefonzelle eines Drugstores und rief auf seine Kosten,
ohne Rücksicht auf die große Entfernung und unter Überspringung aller Zwischeninstanzen, Dagny Taggart in
New York an.
Der Anruf erreichte Dagny im Büro ihres Bruders und unterbrach eine wichtige Konferenz. Der junge
Streckenmeister berichtete ihr nur, daß die Telefonleitung unterbrochen und daß kein Draht vorhanden war, sie
zu reparieren; mehr sagte er nicht und erklärte auch nicht, warum er es für nötig befunden hatte, sie persönlich
anzurufen. Sie fragte ihn auch nicht danach; sie verstand ihn ohne Erklärung. »Ich danke Ihnen«, war alles, was
sie ihm antwortete. Eine Notkartei in ihrem Büro enthielt eine Aufstellung der noch vorhandenen Lagerbestände
aller lebenswichtigen Materialien bei sämtlichen Bezirksleitungen von Taggart Transcontinental. Wie im
Hauptbuch eines konkursreifen Unternehmens häuften sich in dieser Kartei die Abgänge, während die immer
seltener werdenden Zugänge sich wie das dünne, höhnende Lächeln eines Peinigers ausnahmen, der einem
verhungernden Kontinent Brotkrumen vorwirft. Sie ging die Kartei durch, schloß sie, seufzte und sagte:
»Montana, Eddie. Ruf die Leute in Montana an und sage ihnen, sie sollen die Hälfte ihres Drahtvorrats nach
Kalifornien schicken. Montana kann den Draht vielleicht entbehren – für eine Woche.« Und als Eddie Willers
protestieren wollte, fügte sie hinzu: »Öl, Eddie. Kalifornien ist einer unserer letzten Ölproduzenten im Land. Wir
können es uns nicht leisten, die Pazifikstrecke aufzugeben.« Dann ging sie zu der unterbrochenen Besprechung
ins Büro ihres Bruders zurück.
»Kupferdraht?« fragte James Taggart mit einem seltsamen Blick, der von ihrem Gesicht auf die Stadt jenseits
der Fenster wanderte. »Binnen sehr kurzer Frist werden wir keine Schwierigkeiten mehr mit Kupfer haben.«
»Warum?« fragte sie, doch er antwortete nicht. Es war draußen vor dem Fenster nichts Besonderes zu sehen,
nur der klare Himmel eines sonnigen Tages, das ruhige Licht des frühen Nachmittags auf den Dächern der Stadt
und darüber das große Kalenderblatt, das den 2. September anzeigte.
Sie wußte nicht, warum er darauf bestanden hatte, diese Besprechung in seinem Büro abzuhalten, warum er
darauf bestanden hatte, mit ihr allein zu sprechen, was er sonst immer zu vermeiden suchte, und warum er immer
wieder auf seine Armbanduhr schaute.
»Mir scheint, irgend etwas im Land ist nicht in Ordnung«, sagte er. »Irgend etwas muß geschehen, um dem
abzuhelfen. Es scheint Auflösung und Verwirrung zu geben, die zu einer unkoordinierten, unausgeglichenen
Politik führen. Ich will sagen, es besteht ein ungeheurer Bedarf an Transportmitteln im ganzen Lande, doch wir
verlieren Geld. Mir scheint…«
Sie saß da und blickte auf die uralte Karte vom Taggart Transcontinental auf der Wand seines Büros, auf die
roten Schlagadern auf einem vergilbten Kontinent. Einst hatte man die Eisenbahn den Blutkreislauf der Nation
genannt, und der Strom der Züge war wie ein lebendiger Blutstrom gewesen, der Reichtum und Wachstum in
jedes Fleckchen Wildnis brachte, die er berührte. Jetzt war die Bahn immer noch wie ein Blutstrom, aber wie der
Einbahnstrom, der aus einer Wunde fließt und einem Körper den Rest seiner Lebenskraft und seines Lebens
nimmt. Einbahnverkehr, dachte sie gleichgültig, ein Verbraucherverkehr. Da war der Zug Nummer 193 gewesen,
dachte sie. Vor sechs Wochen hatte man den Zug Nummer 193 nicht nach Faulkton in Nebraska geschickt, wo
die Spencer Machine Tool Company, die beste noch bestehende Werkzeugmaschinenfabrik, seit zwei Wochen
stillag, weil sie auf diese Lieferung wartete, sondern nach Sand Creek in Illinois, wo Confederated Machines seit
mehr als einem Jahr bis über die Ohren verschuldet war und ohne absehbare Liefermine Maschinen herstellte,
auf die man sich nicht verlassen konnte. Den Stahl hatte die Firma auf Grund einer Verordnung erhalten, die
besagte, Spencer Machine Tool sei eine reiche Gesellschaft, die warten könne, während Confederated Machines
vor dem Konkurs stand, aber nicht zusammenbrechen durfte, weil die ganze Gemeinde von Sand Creek in
Illinois ausschließlich von dieser einen Firma lebte. Spencer Machine Tool hatte vor einem Monat den Betrieb
eingestellt. Confederated Machines zwei Wochen später. Die Leute von Sand Creek in Illinois waren zu
Staatsunterstützungsempfängern ernannt worden, aber trotz ihrer verzweifelten Rufe nach sofortiger Hilfe fand
man in den leeren Kornspeichern des Staates keine Lebensmittel für sie. Also hatte man auf Befehl des
Koordinierungsausschusses das Saatgetreide der Farmer von Nebraska beschlagnahmt. Und Zug Nummer 194
hatte die ungesäte Ernte und die Zukunft der Menschen von Nebraska davongefahren, damit die Menschen in
Illinois sie aufaßen. »In unserem aufgeklärten Zeitalter«, hatte Eugene Lawson im Rundfunk gesagt, »haben wir
endlich begriffen, daß jeder von uns der Hüter seines Bruders ist.«
»In einer so ungewissen Notzeit wie der unseren«, sagte James Taggart, während Dagny die Karte betrachtete,
»ist es gefährlich, wenn wir unsere Zahltage nicht einhalten können und sich in einigen unserer Bezirke
Lohnrückstände bilden, was natürlich nur vorübergehend ist, aber…«
Sie fragte spöttisch: »Der Eisenbahn-Koordinierungsplan funktioniert wohl nicht, Jim?«
»Wie bitte?«
»Du solltest doch am Ende des Jahres einen großen Happen aus den Bruttoeinnahmen von Atlantic Southern –
aus der gemeinsamen Kasse – erhalten? Aber mir scheint, diese gemeinsame Kasse ist leer geblieben.«
»Das ist nicht wahr! Die Bankiers sabotieren bloß den Plan. Diese Schweinehunde, die uns früher ohne jede
andere Sicherheit als unsere eigene Bahn Anleihen gegeben haben, weigern sich jetzt, mir ein paar schäbige
Hunderttausend für Lohnzahlungen kurzfristig zu leihen, wo ich sämtliche Eisenbahnen des Landes als
Sicherheit für die Anleihe bieten kann.«
Sie lachte leise.
»Wir konnten nichts dafür! « rief er aus. »Es ist nicht die Schuld des Plans, daß manche Leute sich weigern,
ihren gerechten Anteil an unseren Lasten zu tragen!«
»Ist das alles, was du mir sagen wolltest, Jim? Wenn ja, möchte ich gehen. Ich muß arbeiten.«
Er blickte hastig auf seine Armbanduhr. »Nein, nein, das ist nicht alles! Es ist äußerst wichtig, daß wir die
Lage besprechen und zu einer Entscheidung kommen, die…«
Ohne eine Miene zu verziehen, lauschte sie dem neuerlichen Strom von Gemeinplätzen und dachte über sein
Motiv nach. Er trat auf der Stelle, aber es war mehr als das. Sie war sicher, daß er sie zu einem bestimmten
Zweck festhielt, aber auch nur um ihrer Gegenwart willen.
Seit Cherryls Tod hatte Dagny einen neuen Charakterzug bei ihm entdeckt. Am Abend des Tages, an dem
man Cherryls Leiche gefunden hatte, war er unangemeldet angerannt gekommen und in ihre Wohnung geplatzt.
Der Bericht einer Sozialarbeiterin, die Augenzeugin des Selbstmords gewesen war, hatte in allen Zeitungen
gestanden. Da es den Zeitungen nicht gelungen war, ein Motiv zu entdecken, hatten sie von einem
»unerklärlichen Selbstmord« gesprochen. »Es war nicht meine Schuld!« hatte er – von Entsetzen geschüttelt –
seine Schwester angeschrien, als wäre sie der einzige Richter, den er sich günstig stimmen müßte. »Man kann
mir deswegen keinen Vorwurf machen!« Aber Dagny hatte ein paar heimliche Blicke von ihm aufgefangen, die,
was ihr unbegreiflich erschienen, eine Spur von Triumph zeigten. Sie hatte ihm bloß gesagt: »Mach, daß du
rauskommst, Jim!«
Er hatte nie wieder mit ihr über Cherryl gesprochen, aber er war von da an öfter als zuvor in ihr Büro
gekommen, hatte sie in den Korridoren angehalten, um kurze, sinnlose Gespräche mit ihr zu führen und – diese
Augenblicke waren zu einer Summe angewachsen, die ihr ein unbegreifliches Gefühl gab: während er sich an sie
klammerte, um gestützt und gegen ein namenloses Grauen beschützt zu werden, schienen die Arme, mit denen er
an ihr hing, ihr ein Messer in den Rücken stoßen zu wollen.
»Ich möchte gern deine Meinung hören«, sagte er eindringlich, während sie ihren Blick abwandte. »Wir
müssen ganz dringend die Situation besprechen, und du hast noch gar nichts gesagt.« Sie sah ihn nicht an. »Man
kann schon noch Geld aus dem Eisenbahngeschäft herausholen, aber…« Sie sah ihn scharf an; er wich ihrem
Blick aus.
»Ich meine, man müßte eine konstruktive Politik ausarbeiten«, leierte er hastig weiter. »Es muß etwas getan
werden. Jemand muß etwas tun. In Notzeiten…«
Sie wußte, welchen Ge danken er hastig vermieden, welche Andeutung er ihr gemacht hatte, aber weder
bewußt sehen noch besprechen wollte. Sie wußte, daß kein Fahrplan mehr eingehalten, kein Versprechen erfüllt,
kein Vertrag ausgeführt werden konnte, daß planmäßige Züge ohne Vorankündigung gestrichen und in
Hilfssonderzüge verwandelt wurden, die durch nichtssagende Befehle nach unerwarteten Bestimmungsorten
gesandt wurden – und daß diese Befehle von Cuffy Meigs kamen, der allein über Notfälle und das Gemeinwohl
entschied. Sie wußte, daß Fabriken geschlossen wurden, die einen, weil ihre Maschinen wegen nichtgelieferter
Ersatzteile nicht arbeiten konnten, andere, weil ihre Lagerhäuser von Waren überquollen, die wegen Mangels an
Transportmitteln den Bestellern nicht geliefert werden konnten. Sie wußte, daß die alten Industriefirmen, die
Riesen, die ihre Macht durch eine Planung auf lange Zeit aufgebaut hatten, gezwungen waren, auf kürzeste
Fristen zu disponieren und von behördlichen Entscheidungen immer abhängiger wurden, die sie weder
voraussehen noch beeinflussen konnten. Sie wußte, daß die Besten unter ihnen, die auf Grund ihrer Tatkraft und
Umsicht am leistungsfähigsten gewesen waren, ihre Produktion längst eingestellt hatten und daß diejenigen, die
sich noch verzweifelt bemühten, weiterzuproduzieren und den Ehrenkodex, einer Zeit aufrechtzuerhalten, in der
freie Produktion noch möglich gewesen war, jetzt in ihren Lieferverträgen eine für einen Nachkommen Nat
Taggarts beschämende Klausel einfügten, die lautete: »… falls die Transportmittel es erlauben.«
Und doch gab es Leute – und Dagny wußte das –, die Transportmittel erhielten, wann immer sie wollten, wie
durch ein mystisches Geheimnis, wie durch die Gnade einer Macht, die man weder in Frage stellen noch deuten
durfte. Es waren die Leute, deren Geschäfte mit Cuffy Meigs den meisten wie die Geheimnisse eines mystischen
Glaubens erschienen, die jeden vernichten, der ihrer angesichtig wird – weshalb die Menschen ihre Augen
geschlossen hielten und nicht die Unwissenheit fürchteten, sondern das Wissen. Sie wußte, daß Geschäfte
abgeschlossen wurden, bei denen diese Leute eine Ware verkauften, die »Transportbeziehungen« genannt wurde
– ein Ausdruck, den alle verstanden, aber niemand zu definieren wagte. Sie wußte, daß diese Leute
fahrplanmäßige Züge beschlagnahmten und als dringende Sonderzüge nach einem beliebigen Ort des Kontinents
schickten, den sie mit ihrem Zauberstempel für notleidend erklärt hatten, mit einem Stempel, der Verträge,
Eigentum, Gerechtigkeit, Vernunft und Lebensrecht aufhob und erklärte, daß das »Gemeinwohl« die
unverzügliche Rettung dieses Ortes forderte. Diese Leute stellten Sonderzüge bereit, um die Brüder Smather und
ihre Grapefruitpflanzungen in Arizona zu retten oder eine Fabrik in Florida, die Spielautomaten herstellte, oder
eine Pferdezucht in Kentucky oder Orren Boyles Associated Steel.
Diese Leute machten Geschäfte mit verzweifelten Industriellen, die Transportmöglichkeiten für ihre fertigen
Erzeugnisse suchten; aber wenn sie die verlangte Provision nicht erhielten, warteten sie, bis die Fabriken
schließen mußten, worauf sie die Waren vom Konkursverwalter zum zehnten Teil ihres Wertes aufkauften, um
sie auf plötzlich verfügbaren Güterwagen dorthin zu bringen, wo Leute ihres Schlages auf die willkommene
Beute warteten. Diese Leute lauerten darauf, daß Fabriken in Konkurs gingen; dann stürzten sie sich auf die
Einrichtung, erwarben sie billig und verkauften sie teuer weiter; oder sie stöberten auf Nebengleisen abgestellte
Güterwagen auf, die mit bestellten Waren beladen waren, aber wegen Mangels an Lokomotiven nicht auf den
Weg gebracht werden konnten; sie kauften diese Waren auf und ließen sie in den gleichen Wagen mit plötzlich
aufgetauchten Lokomotiven wegfahren. Diese Leute stellten eine neue Gattung dar: Nomaden der Wirtschaft.
Sie blieben nur auf die Dauer eines Geschäfts in einer Branche. Sie brauchten keine Löhne zu zahlen, hatten
keine Verwaltungskosten, benötigten weder Räumlichkeiten noch Maschinen. Ihr einziges Kapital und ihre
einzigen Kosten waren ihre »Beziehungen«. Diese Leute wurden in offiziellen Erklärungen als »die
fortschrittlichen Unternehmer unseres dynamischen Zeitalters« gepriesen, gewöhnlich jedoch
»Beziehungskrämer« genannt. Die neue Gattung umfaßte viele Arten, die der »Transportbeziehungen«, der
»Stahlbeziehungen«, der »Ölbeziehungen«, der »Lohnerhöhungsbeziehungen« und der »Beziehungen für die
Aufhebung von Gerichtsurteilen« – Leute, die tatsächlich dynamisch waren, ständig durch das ganze Land
sausten, während sonst niemand reisen konnte; Leute, die aktiv und unbekümmert waren, aber nicht aktiv wie
Tiere, sondern wie Gewürm, das in der Totenstarre eines Leichnams zeugt, frißt und kriecht.
Dagny wußte, daß am Eisenbahngeschäft noch Geld zu verdienen war, und sie wußte, wo es jetzt hinfloß.
Cuffy Meigs verkaufte Züge genauso wie die letzten Vorräte an Materialien, wenn er es gefahrlos tun konnte,
verkaufte Schienen an Eisenbahnen in Guatemala oder an Straßenbahngesellschaften in Kanada, verkaufte Draht
an die Hersteller von Musikautomaten, verkaufte Schwellen als Heizmaterial an Hotels in Ferienorten. War es
unwichtig, dachte sie, während sie die Karte betrachtete, welcher Teil des Kadavers von welcher Made
zerfressen wurde, von denen, die nur sich selbst mästeten, oder von denen, die zum Fraß für andere Maden
wurden? Solange lebendiges Fleisch eine Beute war, die man fressen durfte, war es da nicht gleichgültig, wessen
Magen es füllte? Man konnte nicht unterscheiden, welche Verwüstungen die ‘Philanthropen’ angerichtet hatten
und welche die nicht maskierten Gangster. Man konnte nicht unterscheiden, welche Plünderungen durch den
Barmherzigkeitseifer der Lawsons und welche durch die Freßlust Cuffys Meigs’ veranlaßt worden waren,
welche Gemeinden geopfert worden waren, um eine andere zu retten, die dem Hungertod um eine Woche näher
war, und welche, um Jachten für die Beziehungskrämer zu beschaffen. Kam es etwa darauf an? Beide waren
gleich, sowohl in ihren Taten wie in ihrem Geist. Beide hatten Bedürfnisse, und das Bedürfnis war der einzig
anerkannte Rechtsanspruch auf Eigentum. Beide handelten in strenger Befolgung der gleichen Moralgesetze.
Beide hielten die Opferung von Menschen für erlaubt, und beide führten sie aus. Man konnte nicht einmal
unterscheiden, wer die Kannibalen waren und wer die Opfer; die Gemeinden, welche die in einer Stadt östlich
von ihnen beschlagnahmte Kleidung und Brennstoffe als ihnen zustehend annahmen, sahen eine Woche später,
wie ihre Kornvorräte beschlagnahmt wurden, um eine Stadt westlich von ihnen zu nähren. Die Menschen hatten
das Ideal von Jahrhunderten verwirklicht, sie dienten dem Bedürfnis als ihrem höchsten Herrscher, betrachteten
das Bedürfnis als ersten Anspruch, als Wertmaßstab, als Währung ihres Reiches, als heiliger denn Recht und
Leben. Die Menschen waren in eine Grube gestoßen worden, in der jeder mit dem Ruf, der Mensch sei der Hüter
seines Bruders, seinen Nachbarn verschlang und vom Bruder seines Nachbarn verschlungen wurde; in der jeder
die Rechtmäßigkeit des unverdienten Besitzes proklamierte und nicht begriff, warum man ihm das Fell über die
Ohren zog; in der jeder sich selbst verschlang, während alle entsetzt kreischten, daß ein unbegreifliches Übel die
Welt zerstörte.
»Worüber haben sie sich jetzt noch zu beklagen?« hörte Dagny Hugh Akstons Stimme in der Er innerung.
»Darüber, daß das Universum ohne Vernunft ist? Ist es das wirklich?«
Leidenschaftslos feierlich blickte sie auf die Karte, als wäre bei der Betrachtung der unheimlichen Macht der
Logik kein Gefühl außer Ehrerbietung erlaubt. Sie sah in dem Chaos eines untergehenden Kontinents die
mathematisch exakte Durchführung aller Ideen, an welche die Menschen geglaubt hatten. Sie hatten nicht
erkennen wollen, daß sie eben dies gewollt hatten; sie hatten nicht sehen wollen, daß sie die Macht hatten zu
wünschen, aber nicht die Macht zu fälschen… und sie hatten ihre Wünsche buchstabengetreu bis zum letzten
blutbeschmierten Komma erreicht.
Was dachten sie jetzt, die Verteidiger der Bedürfnisse, die Lüstlinge des Mitleids? dachte sie. Worauf
rechneten sie jetzt? Die, die einst gewimmert hatten: »Ich will die Reichen nicht vernichten, ich will ihnen nur
ein wenig von ihrem Überfluß wegnehmen, um den Armen zu helfen, nur ganz wenig, sie werden es nie
vermissen!« – die später gebellt hatten: »Die Krösusse können es vertragen, daß man sie ein bißchen
ausquetscht, sie haben genug für die nächsten drei Generationen!« – die dann gegrölt hatten: »Warum soll das
Volk leiden, wenn die Unternehmer noch Reserven für ein Jahr haben?« – und die jetzt schrien: »Warum sollen
wir hungern, wenn manche Leute noch für eine Woche zu essen haben?« Worauf rechneten sie jetzt? fragte sich
Dagny.
»Du mußt etwas tun!« hörte sie Jim ausrufen.
Sie fuhr herum. »Ich?«
»Es ist deine Aufgabe, dein Bereich, deine Pflicht!«
»Was denn?«
»Zu handeln! Etwas zu tun!«
»Was zu tun?«
»Wie soll ich das wissen? Das ist deine besondere Begabung. Du bist der Tatmensch.«
Sie sah ihn an. Seine Behauptung war so seltsam deutlich und so unpassend bedeutungslos. Sie erhob sich.
»Ist das alles, Jim?«
»Nein! Nein! Ich will mit dir sprechen!«
»Fang an.«
»Aber du hast nichts gesagt!«
»Du auch nicht.«
»Aber… Ich meine, es gibt praktische Probleme zu lösen, die… Zum Beispiel, was war da mit unserer letzten
Zuteilung von neuen Schienen los, die aus unserem Lagerhaus in Pittsburgh verschwunden ist?«
»Cuffy Meigs hat sie gestohlen und verkauft.«
»Kannst du es beweisen?« bellte er in Verteidigungsstellung.
»Haben deine Freunde Mittel, Methoden, Regeln oder Organisationen übriggelassen, mit denen man etwas
beweisen könnte?«
»Dann rede nicht darüber. Sei nicht theoretisch! Wir haben es mit Tatsachen zu tun! Wir haben es mit
Tatsachen zu tun, wie sie heute sind. Ich will damit sagen, wir müssen realistisch sein und eine praktische
Methode finden, unser Gerät unter den gegebenen Bedingungen zu schützen, nicht unter unbeweisbaren
Vermutungen, die…«
Sie lachte. Dies war die Gestalt des Gestaltlosen, dachte sie, dies war die Methode seines Bewußtseins. Er
wollte, daß sie ihn vor Cuffy Meigs beschützte, ohne Meigs’ Vorhandensein zur Kenntnis zu nehmen; daß sie
Meigs’ Dasein bekämpfte, ohne dessen Wirklichkeit zuzugeben; daß sie es besiegte, ohne sein Spiel zu stören.
»Was findest du daran so lächerlich?« fragte er empört.
»Du weißt es.«
»Ich weiß nicht, was mit dir los ist! Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist. In den letzten zwei Monaten, seit
du zurück bist… Du warst nie so wenig bereit zur Zusammenarbeit!«
»Aber, Jim, ich habe dir in den letzten beiden Monaten nicht widersprochen.«
»Das meine ich ja eben!« Er verbesserte sich schnell, doch nicht so schnell, daß ihr Lächeln ihm entgangen
wäre. »Ich meine… Ich möchte mit dir sprechen. Ich möchte deine Ansicht über die Lage hören…«
»Du kennst sie.«
»Aber du hast noch kein Wort gesagt!«
»Ich habe alles, was ich zu sagen hatte, vor drei Jahren gesagt. Ich habe dir gesagt, wohin dein Weg dich
führen würde. Es ist so gekommen.«
»Jetzt fängst du schon wieder an. Was hat es für einen Sinn zu theoretisieren? Wir sind hier und nicht dort, wo
wir vor drei Jahren waren. Wir haben es mit der Gegenwart zu tun, nicht mit der Vergangenheit. Vielleicht wäre
alles anders gekommen, wenn wir auf dich gehört hätten – vielleicht. Aber die Tatsache ist, daß wir es nicht
getan haben, und wir haben es mit Tatsachen zu tun. Wir müssen die Wirklichkeit hinnehmen, so wie sie jetzt ist,
heute!«
»Nun, dann nimm sie.«
»Wie bitte?«
»Nimm deine Wirklichkeit hin. Ich nehme nur deine Befehle an.«
»Das ist unfair! Ich habe dich nach deiner Meinung gefragt…«
»Du willst nur beruhigt werden, Jim. Du wirst keine Beruhigung erhalten.«
»Wie bitte?«
»Ich werde nicht mit dir streiten, denn dadurch würde ich dir helfen vorzugeben, daß deine Wirklichkeit
anders ist als sie ist und daß es noch einen Weg gibt, sie – und damit deinen Kopf – zu retten. Es gibt keinen
Weg.«
»Nun…« Es gab keinen Ausbruch, keinen Wutanfall – es war nur die schwache, unsichere Stimme eines
Mannes, der nahe daran ist abzudanken. »Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?«
»Gib auf!« Er sah sie verständnislos an. »Gib auf! Gebt alle auf, du und deine Freunde in Washington und
eure räuberischen Planer und eure Kannibalenphilosophie! Gebt auf, geht aus dem Weg und laßt die unter uns,
die es können, auf den Trümmern von vorn anfangen.«
»Nein!« Seltsamerweise kam der Ausbruch jetzt. Es war der Schrei eines Menschen, der lieber sterben wollte
als seine Ideen verraten, und er kam aus dem Munde eines Mannes, der sein ganzes Leben damit verbracht hatte,
dem Dasein von Ideen aus dem Wege zu gehen und mit der Unbekümmertheit eines Verbrechers zu arbeiten. Sie
fragte sich, ob sie das Wesen von Verbrechern je verstanden hatte. Sie war erstaunt über die Treue zur Idee, die
Ideen zu leugnen.
»Nein!« wiederholte er, heiser und weniger laut, in normalerem Ton, vom Ton eines Eiferers in den einer
anmaßenden Führungskraft verfallend. »Das ist unmöglich! Das kommt nicht in Frage!«
»Wer sagt das?«
»Das ist gleichgültig! Es ist so! Warum denkst du immer zuerst an das Unmögliche? Warum nimmst du die
Wirklichkeit nicht so, wie sie ist, und handelst danach? Du bist der Realist, der Macher, der Beweger, der
Kreative, der Nat Taggart! Du kannst alles erreichen, was du dir vornimmst. Du könntest uns retten, du könntest
einen Ausweg finden – wenn du wolltest!«
Sie brach in Lachen aus. Dies, dachte sie, war das Endziel all des sinnlosen akademischen Gefasels, das die
Unternehmer jahrelang nicht beachtet hatten, das Ziel all der schludrigen Definitionen, der schlampigen
Gemeinplätze, der verwaschenen Abstraktionen, die behaupteten, Gehorsam gegenüber der objektiven Realität
sei das gleiche wie Gehorsam gegenüber dem Staat, es gebe keinen Unterschied zwischen einem Naturgesetz
und der Verordnung eines Bürokraten, ein hungriger Mensch sei nicht frei, der Mensch müsse aus der Tyrannei
von Nahrung, Wohnung und Kleidung befreit werden. Dies war das Ziel: der Tag, an dem Nat Taggart, dem
Realisten, der Wille Cuffy Meigs’ als eine naturgegebene Tatsache präsentiert würde, unwiderruflich und
absolut wie Stahl, Schienen und Schwerkraft, Meigs’ Welt als objektive, unveränderliche Realität – um dann
weiter Überfluß in dieser Welt zu produzieren. Dies war das Ziel der Schwindler in den Bibliotheken und
Hörsälen, die ihre Eingebungen als Vernunft, ihre »Instinkte« als Wissenschaft, ihre Sehnsüchte als Wissen
verkauften; das Ziel der Wilden des Nicht-Objektiven, des Nicht-Absoluten, des Relativen, des Geahnten, des
Wahrscheinlichen – der Wilden, die es für ein mystisches Phänomen halten, wenn sie einen Bauern seine Ernte
einbringen sehen, ein von den Gesetzen der Kausalität unabhängiges, einfach durch den allmächtigen Willen des
Bauern ermöglichtes Phänomen, um den Bauern dann zu ergreifen, zu fesseln, ihm Werkzeug, Saatgut, Wasser
und Boden wegzunehmen, ihn auf einen öden Felsen zu schleppen und ihm zu befehlen: »Jetzt bring eine Ernte
hervor und ernähre uns!« Nein, dachte sie in der Erwartung, daß Jim sie dazu auffordern würde, es war
zwecklos, ihm zu erklären, warum sie lachte. Er würde es nicht verstehen.
Doch er forderte sie nicht dazu auf. Statt dessen sah sie ihn zusammensacken und hörte ihn sprechen. Und sie
hörte seine Worte mit Entsetzen, denn sie waren so bedeutungslos, wenn er sie nicht verstand, und so
ungeheuerlich, wenn er sie verstand. »Dagny, ich bin dein Bruder…«
Sie erhob sich langsam, ihre Muskeln wurden starr, als hätte ein Mörder seine Pistole auf sie gerichtet.
»Dagny« – seine Stimme klang wie das leise, näselnde, eintönige Wimmern eines Bettlers –, »ich will
Vorstandsvorsitzender einer Eisenbahngesellschaft bleiben. Ich will es. Warum kann ich meinen Willen nicht
haben wie du? Warum sollen meine Wünsche nicht erfüllt werden, so wie du dir deine immer erfüllst? Warum
sollst du glücklich sein, während ich leide? Ja, die Welt gehört dir, und du hast den Verstand, sie nach deinen
Vorstellungen zu gestalten. Warum läßt du dann Leid in deiner Welt zu? Du verkündest das Streben nach Glück,
doch mich verurteilst du zur Enttäuschung. Habe ich nicht das Recht auf die Form des Glücks, die ich gewählt
habe? Schuldest du mir nicht dieses Glück? Bin ich nicht dein Bruder?«
Sein Blick glitt wie der Taschenlampenstrahl eines Einbrechers über ihr Gesicht, um nach einer Spur von
Mitleid zu suchen. Er fand nur einen Blick angewiderter Abneigung.
»Es ist deine Sünde, wenn ich leide! Es ist dein moralisches Versagen! Ich bin dein Bruder, und deshalb bist
du für mich verantwortlich. Du aber hast meine Wünsche nicht erfüllt, und deshalb bist du schuldig! Das sagen
alle moralischen Führer der Menschheit seit Jahrhunderten. Wer bist du, daß du etwas anderes sagen kannst? Du
bist stolz auf dich, du hältst dich für rein und gut. Aber du kannst nicht gut sein, solange ich elendig leide. Mein
Elend ist das Maß deiner Sünde. Meine Zufriedenheit ist das Maß deiner Tugend. Ich will diese Welt, die Welt
von heute. Sie gibt mir meinen Teil an Macht. Sie erlaubt mir, mich wichtig zu fühlen. Mach, daß diese Welt für
mich weiterbesteht! Tu etwas! Wie soll ich wissen, was? Das ist dein Problem und deine Pflicht! Du hast das
Vorrecht der Stärke, doch ich, ich habe das Recht der Schwäche! Das ist ein moralisches Absolutum! Weißt du
das nicht? Nein? Nein?«
Sein Blick glich jetzt den Händen eines Mannes, der über einem Abgrund hängt und verzweifelt nach dem
kleinsten Spalt des Zweifels tastet, doch er glitt von dem klaren, glatten Fels ihres Gesichtes ab.
»Du Schweinehund«, sagte sie ruhig, ohne jede Erregung, da die Worte keinem menschlichen Wesen galten.
Ihr war, als sähe sie ihn in den Abgrund fallen – obwohl in seinem Gesicht nur der Ausdruck eines
Schwindlers zu erkennen war, dessen Trick nicht gewirkt hat.
Es gab keinen Grund, mehr Ekel vor ihm zu empfinden als sonst, dachte sie. Er hatte nur gesagt, was überall
gepredigt, gehört und anerkannt wurde. Doch dieser Glaube wurde sonst in der dritten Person erklärt, und Jim
hatte die Stirn besessen, sich in der ersten Person zu ihm zu bekennen. Sie fragte sich, ob die Bereitschaft sich
aufzuopfern, voraussetzte, daß die, für die man sich aufopferte, ihre Ansprüche und ihr Tun verheimlichten.
Sie wandte sich zum Gehen.
»Nein! Nein! Warte noch!« schrie er, sprang auf und blickte auf seine Armbanduhr. »Jetzt ist es soweit! Jetzt
kommt eine Sondermeldung im Rundfunk, die du hören mußt!«
Sie blieb stehen, von Neugier zurückgehalten.
Er schaltete das Radio ein und beobachtete dabei ihr Gesicht offen, gespannt, fast unverschämt. In seinen
Augen lag ein Ausdruck von Angst und seltsam lüsterner Vorfreude.
»Meine Damen und Herren!« erklang plötzlich die bestürzte Stimme des Sprechers; sie hatte einen Unterton
von Panik. »Nachrichten über empörende Ereignisse erreichen uns soeben aus Santiago in Chile!«
Jim warf verstört den Kopf herum, und sein Gesicht verzerrte sich, als wären die Worte nicht die gewesen, die
er erwartet hatte.
»Für heute morgen zehn Uhr war eine Sondersitzung der gesetzgebenden Versammlung des Volksstaates
Chile einberufen worden, um ein Gesetz zu erlassen, das von höchster Bedeutung für die Völker Chiles,
Argentiniens und anderer südamerikanischer Volksstaaten sein sollte. In Verfolgung der aufgeklärten Politik von
Señor Raminez, des neuen Oberhauptes des chilenischen Staates, der zur Macht gekommen war unter dem
Motto, daß der Mensch seines Bruders Hüter ist, sollte das Parlament die Verstaatlichung der chilenischen
Besitztümer von d’Anconia Copper beschließen und so dem Volksstaat Argentinien den Weg zur
Verstaatlichung alles übrigen d’Anconia-Eigentums auf der ganzen Welt freimachen. Dies war jedoch nur
wenigen der obersten Führer der beiden Nationen bekannt. Die Maßnahme war geheimgehalten worden, um
überflüssige Debatten und reaktionären Widerstand zu vermeiden. Die Enteignung des Milliarden-Unternehmens
d’Anconia Copper sollte eine großzügige Überraschung für das Land werden.
Um Punkt zehn Uhr, im gleichen Augenblick, in dem der Hammer des Parlamentspräsidenten auf dem
Rednerpult aufschlug, um die Sitzung zu eröffnen, erschütterte, gleichsam als hätte der Schlag des Hammers sie
ausgelöst, eine gewaltige Explosion das Gebäude, und die Fensterscheiben zersprangen. Der Knall kam aus der
Richtung des wenige Straßen weit entfernten Hafens, und als die Abgeordneten an die Fenster stürzten, sahen sie
eine riesige Flammensäule an der Stelle, wo vorher die vertraute Silhouette des Erzhafens von d’Anconia Copper
gewesen war. Die Hafenanlagen waren in die Luft gesprengt worden.
Der Parlamentspräsident verhütete eine Panik und rief die Versammlung zur Ordnung. Das Gesetz über die
Verstaatlichung wurde verlesen, während draußen Feuersirenen und ferne Schreie ertönten. Es war ein trüber
Morgen, der Himmel hing voll Regenwolken, und da die Explosion den Strom unterbrochen hatte, stimmte das
Parlament bei Kerzenlicht ab, während der rote Schein des Feuers an der gewölbten Decke über den Köpfen der
Abgeordneten spielte.
Doch ein noch fürchterlicherer Schock traf die Abgeordneten, als sie den Beschluß fassen wollten, der Nation
die frohe Botschaft zu verkünden, daß d’Anconia Copper nun dem Volke gehörte. Während sie abstimmten,
trafen aus allen Richtungen, von den nächsten und fernsten Punkten des Globus Nachrichten ein, daß von
d’Anconia Copper auf der ganzen Erde nichts mehr übrig war. Meine Damen und Herren, nirgendwo. Im
gleichen Augenblick, Schlag zehn Uhr, waren wie durch ein teuflisches Wunder der Synchronisierung alle
Anlagen von d’Anconia Copper auf der Erdoberfläche, von Chile bis Thailand, bis Spanien, bis Pottsville in
Montana, in die Luft geflogen.
Den Arbeitern aller d’Anconia-Werke war um neun Uhr vormittags der Rest ihres Lohnes in bar ausgezahlt
worden, und man hatte sie veranlaßt, bis halb zehn ihre Arbeitsplätze zu räumen. Die Erzlager, die Schmelzöfen,
die Laboratorien, die Verwaltungsgebäude, alles wurde zerstört. Nichts blieb von den Erzschiffen übrig, die in
Häfen lagen – nur die Rettungsboote mit den Besatzungen der Schiffe, die auf hoher See waren. Von den
d’Anconia-Gruben wurden die meisten unter ungeheuren Mengen gesprengten Gesteins begraben. Andere
wurden nicht gesprengt, weil sie sich als unergiebig oder ausgebeutet erwiesen hatten. Eine erstaunliche Zahl
dieser Gruben waren, wie eingehende Meldungen anzuzeigen scheinen, seit Jahren weiterbetrieben worden,
obwohl sie erschöpft waren.
Unter den Tausenden von d’Anconia-Angestellten hat die Polizei keinen ausfindig machen können, der weiß,
wie dieses ungeheuerliche Komplott organisiert und durchgeführt wurde. Die leitenden Köpfe von d’Anconia
Copper aber, alle Fachleute wie Mineralogen, Ingenieure und Werksleiter, mit denen der Volksstaat gerechnet
hatte, um die Arbeit fortzusetzen, sind verschwunden.
Auch die fähigsten – ich verbessere mich – die eigennützigsten Arbeiter sind verschwunden. Berichte
verschiedener Banken ergeben, daß nirgendwo mehr d’Anconia-Konten bestehen. Das Geld von d’Anconia
Copper ist bis zum letzten Pfennig abgehoben worden.
Meine Damen und Herren, das d’Anconia-Vermögen, das größte Vermögen der Welt, das sagenhafteste
Vermögen der letzten Jahrhunderte, gibt es nicht mehr. Anstatt an der Schwelle eines goldenen Zeitalters stehen
die Volksstaaten von Chile und Argentinien vor einem Haufen Trümmer und Scharen von Arbeitslosen.
Es gibt keine Hinweise auf den Verbleib von Señor Francisco d’Anconia. Er ist verschwunden und hat nichts
hinterlassen, nicht einmal einen Abschiedsbrief.«
Ich danke dir. Ich danke dir im Namen der Letzten von uns, auch wenn du es nicht hörst und nicht hören
willst… Es war kein Satz, sondern das Gefühl, das ein wortloses Gebet begleitete, gerichtet an das lachende
Gesicht eines Knaben, den sie gekannt hatte, als sie sechzehn war.
Dann bemerkte sie, daß sie sich an das Radio klammerte, als hielte der schwache elektrische Impuls darin
immer noch eine Verbindung mit der einzigen lebendigen Kraft in der Welt aufrecht, der Kraft, die er für kurze
Zeit übertragen hatte und die nun den Raum füllte, in dem alles andere tot war. Wie ferne Reste der Zerstörung,
der Explosion hörte sie einen Laut, der von Jim kam, teils Stöhnen, teils Schreien, teils Knurren, und dann sah
sie Jims bebende Schultern über dem Telefon und hörte seine verzerrte Stimme schreien: »Aber Rodrigo, Sie
haben mir doch gesagt, die Sache sei sicher! Mein Gott, Rodrigo… wissen Sie, wie tief ich in der Sache
drinhänge?« Ein anderes Telefon auf seinem Schreibtisch schrillte, und seine Stimme bellte in eine zweite
Sprechmuschel, während seine Faust den ersten Hörer noch umklammert hielt: »Halt die Klappe, Orren! Was du
tun sollst? Was geht mich das an, verdammt noch mal!«
Menschen stürzten in das Büro, die Telefone schrillten, und Jim, der zwischen Flehen und Flüchen schwankte,
schrie weiter in eine Sprechmuschel: »Geben Sie mir Santiago. Veranlassen Sie Was hington, daß man mir
Santiago gibt!«
Fern, an der Grenze ihres Bewußtseins, konnte Dagny erkennen, welches Spiel die Männer an den
schrillenden Telefonen gespielt und verloren hatten. Sie schienen ihr weit weg zu sein. Klein wie wimmelnde
Kommabazillen unter einem Mikroskop. Sie fragte sich, wie diese Leute je ernst genommen werden wollten,
solange auf der Welt ein Francisco d’Anconia möglich war.
Sie sah den Feuerschein der Explosion auf jedem Gesicht, das ihr im Verlauf dieses Tages noch begegnete –
und auf jedem Gesicht, das in der Dunkelheit der Nacht auf der Straße an ihr vorüberging. Wenn Francisco sich
ein würdiges Begräbnisfeuer für d’Anconia Copper gewünscht hatte, dachte sie, dann hatte er es erhalten. Hier
war es, in den Straßen von New York, der einzigen Stadt auf der Welt, die es noch verstehen konnte – in den
Gesichtern der Menschen, in ihrem Flüstern, ähnlich dem Zischen kleiner Feuerzungen, im Glühen ihrer Augen,
das zugleich feierlich und irrsinnig war, im Schattenspiel ihrer Züge, das, wie hervorgerufen von fernen
Flammen, bei einigen offenes Entsetzen zeigte, bei anderen grelle Wut, bei den meisten Unbehagen,
Unsicherheit, Erwartung, doch bei allen die Erkenntnis, daß sich mehr ereignet hatte als eine industrielle
Katastrophe; das Wissen um das, was sie bedeutete, obwohl keiner von ihnen es auszusprechen wagte; und alle
zeigten den versteckten Anflug eines Lächelns, eines Lächelns der Schadenfreude und der Herausforderung, das
bittere Lächeln untergehender Opfer, die fühlen, daß sie gerächt sind.
Sie sah den Widerschein der Explosion auch auf dem Gesicht Hank Reardens, als sie ihn an diesem Abend
zum Essen traf. Als seine hohe, selbstsichere Gestalt auf sie zukam – die einzige Gestalt, die in dem teuren
Rahmen des vornehmen Restaurants zu Hause schien –, sah sie die unterdrückte Erregung in seinen ernsten
Zügen, in seinem Blick die unverhohlene Freude eines jung gebliebenen Menschen am Unerwarteten. Er sprach
nicht mit ihr über das Ereignis des Tages, doch sie wußte, daß es das einzige war, woran er dachte.
Sie trafen einander immer, wenn er in die Stadt kam, um einen kurzen, seltenen Abend miteinander zu
verbringen; schweigend stand dann zwischen ihnen die Erinnerung an ihre Vergangenheit, hoffnungslos lag vor
ihnen die Zukunft ihrer Arbeit und ihres gemeinsamen Kampfes, doch sie wußten, daß sie Verbündete waren und
aus dem Dasein des andere Kraft schöpften.
Er wollte nicht über das Ereignis des Tages sprechen und auch nicht von Francisco, doch als Dagny ihm am
Tisch gegenübersaß, bemerkte sie, daß ein unterdrücktes Lächeln an seinen hageren Wangen zerrte. Sie wußte,
wen er meinte, als er plötzlich mit weicher, von verhaltener Bewunderung erfüllter Stimme sagte: »Er hat seinen
Eid gehalten, nicht wahr?«
»Seinen Eid?« fragte sie verblüfft und dachte an die Inschrift des Tempels von Atlantis.
»Er sagte zu mir: ‘Ich schwöre bei der Frau, die ich liebe, daß ich Ihr Freund bin.’ Er war es.«
»Er ist es.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe kein Recht, an ihn zu denken. Ich habe kein Recht, in dem, was er getan hat,
eine Tat zu meiner Verteidigung zu sehen. Und doch…« Er unterbrach sich.
»Aber das war es, Hank. Es geschah für uns alle… und besonders für dich.«
Er blickte zur Seite, auf die Stadt hinunter. Sie saßen am Fenster, und nur eine Glasscheibe trennte sie als
unsichtbarer Schutz von der Leere des Raumes und den Straßen sechzig Stockwerke tiefer unten. Die Stadt
erschien unnatürlich fern; sie lag unter ihnen wie auf das Niveau der niedrigsten Häuser niedergewalzt. Einige
Häuserblocks weit von ihnen entfernt hing in ihrer Augenhöhe der Kalender, dessen Turm mit dem Dunkel
verschmolz, nicht als ein kleines störendes Rechteck, sondern als ein riesiger, unheimlich naher Schirm, bestrahlt
von dem toten weißen Licht eines leeren Films, leer bis auf die Lettern: 2. September.
»Rearden Steel arbeitet jetzt mit voller Kapazität«, sagte er gleichgültig. »Sie haben alle
Produktionsbeschränkungen für mein Werk aufgehoben – für die nächsten fünf Minuten, nehme ich an. Ich weiß
nicht, wie viele ihrer eigenen Bestimmungen sie übertreten haben, und ich glaube, sie wissen es auch nicht; sie
bemühen sich nicht einmal mehr, den Schein der Legalität zu wahren. Ich bin sicher, ich habe mich in fünf oder
sechs Fällen strafbar gemacht, die niemand beweisen oder widerlegen kann. Ich weiß bloß, daß der derzeitige
Gangster mir gesagt hat, ich solle mit voller Kraft arbeiten.« Er zuckte die Achseln. »Wenn ein anderer Gangster
ihn morgen hinauswirft, wird der wahrscheinlich als Strafe für illegale Produktion meine Fabrik schließen. Doch
nach dem Plan des jetzigen Sekundenbruchteils hat man mich gebeten, mein Metall weiter zu produzieren, so
viel wie möglich und mit allen Mitteln, die mir recht sind.«
Sie bemerkte die gelegentlichen verstohlenen Blicke, mit denen die Leute sie betrachteten. Sie hatte sie schon
früher bemerkt, seit ihrer Rundfunkansprache und seit sie begonnen hatten, sich gemeinsam in der Öffentlichkeit
zu zeigen. Statt der befürchteten Verachtung hatten die Menschen scheue Unsicherheit ihnen gegenüber gezeigt
– Unsicherheit über ihre eigenen Moralbegriffe, Scheu in der Gegenwart zweier Menschen, die es wagten, sicher
zu sein, daß sie im Recht waren. Die Menschen betrachteten sie mit ängstlicher Neugier, mit Neid, mit
Hochachtung, mit der Furcht, den Stolz unbekannter, strenger Maßstäbe zu verletzten, manche mit einem
Ausdruck der Entschuldigung, als wollten sie sagen: »Bitte, verzeiht uns, daß wir verheiratet sind.« Aus
manchen Blicken sprach unverhohlene Bosheit und aus einigen wenigen offene Bewunderung.
»Dagny«, fragte er plötzlich, »glaubst du, daß er in New York ist?«
»Nein. Ich habe im Wayne-Falkland-Hotel angerufen. Man sagte mir, der Mietvertrag für seine Suite sei vor
einem Monat abgelaufen und er habe ihn nicht erneuert.«
»Sie suchen ihn in der ganzen Welt«, sagte er lächelnd. »Sie werden ihn nicht finden.« Seine Stimme nahm
wieder den grauen, müden Ton des Geschäfts an. »Mein Werk arbeitet, ich jedoch nicht. Ich reise im Land
umher wie ein Aasgeier, immer auf der Suche nach illegalen Methoden, Rohstoffe zu kaufen. Ich verstecke
mich, schleiche mich ein, lüge, um einige Tonnen Erz oder Kohle oder Kupfer zu bekommen. Die
Beschränkungen meiner Rohstoffzuteilungen haben sie nicht aufgehoben. Sie wissen, daß ich mehr produziere,
als es mit den Rohstoff-Mengen, die sie mir bewilligt haben, möglich ist. Sie kümmern sich nicht darum.« Er
fügte hinzu: »Sie glauben, daß ich mich darum kümmere.«
»Müde, Hank?«
»Zu Tode gelangweilt.«
Es hatte eine Zeit gegeben, dachte sie, da er seinen Verstand, seine Energie, seine unerschöpfliche
Erfindungsgabe der Aufgabe gewidmet hatte, neue Wege zu entdecken, die Kräfte der Natur nutzbar zu machen;
jetzt verwendete er sie darauf, wie ein Verbrecher Menschen zu überlisten. Sie fragte sich, wie lange ein Mensch
einen solchen Wechsel ertragen konnte.
»Es wird fast unmöglich, Eisenerz zu bekommen«, sagte er gleichgültig, doch seine Stimme wurde plötzlich
lebendig, als er fortfuhr: »Jetzt aber wird es vollkommen unmöglich, Kupfer zu bekommen.« Er grinste.
Sie fragte sich, wie lange ein Mensch gegen sich selbst arbeiten konnte, weiter arbeiten, obwohl es sein
sehnlichster Wunsch war, keinen Erfolg zu haben, sondern zu scheitern.
Sie begriff den Zusammenhang seiner Gedanken, als er sagte: »Ich habe es dir nie erzählt, ich habe Ragnar
Danneskjöld getroffen.«
»Er hat es mir gesagt.«
»Wie? Wo hast du…« Er unterbrach sich. »Natürlich«, sagte er mit leiser, bewegter Stimme. »Er mußte einer
von ihnen sein. Du mußtest ihm begegnen… Dagny, was sind das für Menschen, die… Nein, antworte mir
nicht.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich habe also mit einem ihrer Abgesandten gesprochen.«
»Du hast mit zwei von ihnen gesprochen.«
Seine Antwort war längeres Schweigen. »Natürlich«, sagte er dann dumpf. »Ich wußte es. Ich wollte es mir
nur nicht eingestehen, daß ich es wußte. Er war also einer ihrer Werber?«
»Einer der ersten und besten.«
Er lachte leise. Es war ein Ton von Verbitterung und Sehnsucht. »In der Nacht, als sie Ken Danagger holten,
dachte ich, daß sie niemand zu mir geschickt hatten…«
Die Anstrengung, mit der er sein Gesicht jetzt wieder hart werden ließ, war ähnlich dem langsamen,
widerstrebenden Drehen eines Schlüssels, der einen von Sonnenlicht erfüllten Raum verschloß, in den
hineinzuschauen er sich nicht gestatten konnte. Nach einer Weile sagte er teilnahmslos: »Ich glaube nicht, daß
ich die neuen Schienen, von denen wir letzten Monat sprachen, liefern kann. Sie haben die
Absatzbeschränkungen noch nicht aufgehoben. Sie kontrollieren immer noch meinen Verkauf und verfügen nach
Belieben über mein Metall. Doch die Buchhaltung dieser Leute ist in einem solchen Durcheinander, daß ich jede
Woche ein paar tausend Tonnen auf den schwarzen Markt schmuggeln kann. Ich glaube, sie wissen es. Sie tun
aber so, als bemerkten sie es nicht. Sie wollen es jetzt nicht mit mir verderben. Doch du mußt verstehen, ich
schicke jede Tonne, die ich erübrigen kann, an die Kunden, die wirklich in Not sind. Ich war letzten Monat in
Minnesota. Ich habe gesehen, was dort vor sich geht. Das Land wird hungern, nicht nächstes Jahr, sondern
diesen Winter. Da Nebraska erledigt ist, Oklahoma zerstört, North-Dakota verlassen und Kansas kaum leben
kann, wird diesen Winter ke in Brot da sein, weder für New York noch für irgendeine andere Großstadt des
Ostens. Minnesota ist unser letzter Getreidespeicher. Sie hatten zwei schlechte Jahre hintereinander, doch diesen
Herbst werden sie eine Rekordernte haben. Und sie müssen in die Lage versetzt werden, sie einzubringen.
Hattest du Gelegenheit, dir ein Bild von der Situation bei den Herstellern landwirtschaftlicher Maschinen zu
machen? Die Fabriken sind nicht groß genug, um die Gangster in Washington zu kaufen, und so erhalten sie nur
geringe Zuwendungen an Rohstoffen. Zwei Drittel von ihnen haben ihre Betriebe geschlossen, und die übrigen
werden bald folgen. Und im ganzen Land verkommen die Farmen aus Mangel an Arbeitsgeräten. Du hättest
diese Farmer in Minnesota sehen müssen. Sie haben mehr Zeit damit verbracht, ihre alten Traktoren zu
reparieren, als mit dem Pflügen ihrer Äcker. Ich weiß nicht, wie sie es fertiggebracht haben, den letzten Frühling
zu überstehen. Doch sie haben es geschafft.« Ein gespannter Ausdruck war in sein Gesicht getreten, als sähe er
im Geiste etwas Seltenes, längst Vergessenes vor sich – das Bild von Menschen. Und sie wußte, was ihn auf
seinem Posten hielt. »Sie mußten ihre Maschinen für die Ernte bekommen. Ich habe alles Metall, das ich von
meiner Produktion unterschlagen konnte, an die Hersteller landwirtschaftlicher Maschinen verkauft. Auf Kredit.
Sie haben die fertigen Maschinen sofort nach Minnesota geschickt – illegal und auf Kredit.
Doch sie werden ihr Geld bekommen, im Herbst, und sie werden dann auch mich bezahlen. Barmherzigkeit?
Zum Teufel, nein! Wir helfen Produzenten – und was für Produzenten! – und nicht erbärmlichen, winselnden
‘Verbrauchern’! Wir geben Darlehen, keine Almosen. Wir unterstützen die Tüchtigkeit, nicht die Bedürftigkeit.
Ich will verdammt sein, wenn ich tatenlos zusehe, wie sie vernichtet werden, während die Beziehungskrämer
sich bereichern!«
Er sah im Geist das Bild vor sich, das er in Minnesota als grausige Wirklichkeit gesehen hatte: die Silhouette
einer verlassenen Fabrik, durch deren zerbrochene Scheiben und Dachsparren ungehindert das Licht der
untergehenden Sonne drang und Reste eines Schildes aufleuchten ließ: Ward Harvester Company.
»Oh, ich weiß«, fuhr er fort, »Wir werden sie diesen Winter retten, doch die Plünderer werden sie im nächsten
verschlingen. Und dennoch werden wir sie noch einmal davor bewahren. Darum werde ich keine Schienen für
dich erübrigen können. Nicht in nächster Zukunft. Und wir haben nur die unmittelbare Zukunft. Ich weiß nicht,
wozu es gut sein soll, ein Land mit Lebensmitteln zu versorgen, das keine Eisenbahnen hat. Doch wozu sollen
Eisenbahnen gut sein, wenn es keine Lebensmittel gibt? Wozu ist überhaupt noch etwas gut?«
»Schon gut, Hank. Wir werden mit den Schienen auskommen, die wir haben, auf…« Sie unterbrach sich.
»Auf einen Monat?«
»Diesen Winter… hoffe ich.«
Durch ihr Schweigen drang von einem fernen Tisch eine schrille Stimme zu ihnen herüber, und sie wandten
sich um. Sie sahen einen Mann, der aussah wie ein in die Enge getriebener Gangster, der gerade seine Pistole
ziehen will. »Ein Akt unsozialer Zerstörung«, knurrte er seinen brummigen Begleiter an, »und das in einem
Augenblick, in dem größter Mangel an Kupfer herrscht! Wir können es nicht zulassen! Wir können nicht
zulassen, daß es wahr ist!«
Rearden wandte sich schroff ab, sah zum Fenster hinaus auf die Stadt. »Ich würde alles darum geben zu
wissen, wo er ist«, sagte er leise. »Nur zu wissen, wo er jetzt, in diesem Augenblick, ist.«
»Was würdest du tun, wenn du es wüßtest?«
Er ließ seine Hand in einer Geste der Hoffnungslosigkeit sinken. »Ich würde nicht zu ihm gehen. Die einzige
Ehre, die ich ihm noch erweisen kann, ist, nicht um Vergebung zu bitten, wo Vergebung nicht möglich ist.« Sie
schwiegen. Sie horchten auf die Stimmen in ihrer Umgebung, auf die Anzeichen von Panik, die in dem
luxuriösen Raum knisterten.
Sie hatten nicht bemerkt, daß derselbe unsichtbare Gast an jedem Tisch zu sitzen schien, daß dasselbe Thema
sich in jeden Versuch einschlich, ein anderes Thema anzuschneiden. Die Leute saßen nicht eigentlich geduckt
da, aber doch so, als fänden sie den Raum zu groß und zu ungeschützt – einen Raum aus Glas, blauem Samt,
Aluminium und sanfter Beleuchtung. Sie sahen aus, als wären sie um den Preis zahlloser Ausweichmanöver in
diesen Raum gekommen, der ihnen helfen sollte, so zu tun, als wäre ihr Dasein noch zivilisiert – aber als hätte
eine Handlung von urweltlicher Gewalttätigkeit ihre Welt aller Hüllen beraubt und ihnen die Möglichkeit
genommen, sie weiter nicht zu sehen.
»Wie konnte er nur? Wie konnte er nur?« fragte eine Frau mit zänkischer Stimme. »Er hatte kein Recht, es zu
tun!«
»Es war ein Unglücksfall«, sagte ein junger Mann mit abgehackter Stimme und dem Aussehen eines
Regierungsbeamten. »Es war eine Kette von Zufällen, was durch die Kurve der statistischen Wahrscheinlichkeit
leicht bewiesen werden kann. Es ist unpatriotisch, Gerüchte auszustreuen, die die Macht der Feinde des Volkes
übertreiben.«
»Recht oder Unrecht mögen in akademischen Gesprächen angebracht sein«, sagte eine Frau mit der Stimme
einer Schullehrerin und dem Mund einer Bardame, »doch wie kann einer seine Ideen so ernst nehmen, daß er
sein Vermögen zerstört, wenn das Volk es braucht?«
»Ich kann es nicht verstehen«, sagte ein alter Mann mit zitternder Verbitterung. »Nach Jahrhunderten der
Bemühung, die angeborene Brutalität des Menschen zu zähmen, nach Jahrhunderten der Belehrung und
Unterweisung in Sanftmut und Menschlichkeit!«
Die verstörte Stimme einer Frau klang auf und verebbte unsicher: »Ich glaubte, wir lebten in einem Zeitalter
der Brüderlichkeit…«
»Ich habe Angst«, sagte ein junges Mädchen immer wieder. »Ich habe Angst… Ach, ich weiß doch nicht! Ich
habe einfach Angst.«
»Er kann es nicht getan haben!« – »Er hat es getan!« – »Aber warum?« – »Ich will es nicht glauben!« – »Es
ist unmenschlich!« – »Aber warum?« – »Einfach ein nichtsnutziger Playboy!«
Der Aufschrei einer Frau und eine plötzliche Bewegung am Rande ihres Blickfeldes ließen Dagny
herumfahren und auf die Stadt hinausschauen.
Der Mechanismus des Kalenders befand sich in einem verschlossenen Raum hinter der Anzeige und ließ Jahr
um Jahr und Tag um Tag denselben Film abrollen, der in immer gleichem Ablauf, in unverändertem Rhythmus
das Datum auf die weiße Fläche projizierte und sich nur genau Schlag Mitternacht bewegte. Die Schnelligkeit,
mit der Dagny sich umgedreht hatte, ließ sie eine Erscheinung sehen, so unerwartet, als würde ein Planet sich
gegen den Sinn seiner Umlaufbahn rückwärts bewegen: Sie sah das Datum »2. September« nach oben aus der
Anzeige verschwinden.
Dann stand die Zeit still. Sie sah, quer über das riesige Kalenderblatt geschrieben, als letzte Botschaft an die
Welt und an New York, den Motor dieser Welt, die Zeilen einer strengen, unversöhnlichen Handschrift:
Ihr wolltet es so haben! Francisco Domingo Carlos Andres Sebastián d’Anconia.
Sie wußte nicht, was sie heftiger traf, der Anblick der Botschaft oder der Klang von Reardens Lachen.
Rearden stand aufrecht, sichtbar und hörbar für die Menschen im Raum, und übertönte mit seinem Lachen ihr
panisches Stöhnen, lachte grüßend, huldigend zum Zeichen, daß er das Geschenk, das er hatte ablehnen wollen,
als Befreiung aus einer Spannung triumphierend und zugleich ergeben annahm.
Am Abend des 7. September riß in Montana ein Kupferdraht und setzte den Motor eines Verladekrans außer
Betrieb, der neben einem Industriegleis von Taggart Transcontinental am Rand der Stanford-Kupfergrube stand.
Das Bergwerk hatte in drei Schichten gearbeitet und Tag und Nacht in einem verbissenen, pausenlosen Kampf
einem Berg das Erz abgerungen, das den Hunger des Landes nach Kupfer stillen sollte. Der Kran hatte versagt,
während er einen Zug belud; er war plötzlich stehengeblieben und hing nun bewegungslos vor dem
Abendhimmel zwischen einer Schlange leerer Wagen.
Die Arbeiter der Bahn und des Bergwerks hörten verstört mit der Arbeit auf: Sie stellten fest, daß in all der
Vielfalt ihres Geräts, unter den Bohrern, den Motoren, den Fördertürmen, den zarten Sonden, den schwerfälligen
Scheinwerfern, die in die Schächte und Klüfte eines Berges eindrangen, kein Stück Draht war, um den Kran zu
flicken. Sie hielten ein wie Männer auf einem Überseeschiff, das von Zehntausend-PS-Maschinen angetrieben
wird, aber sinkt, weil eine Sicherheitsnadel fehlt.
Der Bahnhofsvorsteher, ein junger Mann mit flinkem Körper und rauher Stimme, riß ein Stück der
Lichtleitung aus den Wänden des Bahngebäudes und setzte den Kran wieder in Betrieb, und während das Erz
weiter in die Wagen polterte, sah man in der Dämmerung durch die Fenster des Bahnhofs das flackernde Licht
von Kerzen.
»Minnesota, Eddie«, sagte Dagny und schob den Kasten ihrer Spezialkartei in sein Fach. »Weise die
Betriebsleitung von Minnesota an, die Hälfte ihres Vorrats an Kupferdraht nach Montana zu schicken.«
»Aber Dagny, jetzt, wo sich die Ernte dem Höhepunkt nähert…«
»Sie werden durchhalten, denke ich. Wir können es uns nicht leisten, auch nur einen einzigen
Kupferlieferanten zu verlieren.«
»Aber ich habe doch alles für dich getan«, schrie James Taggart, als sie ihm den Ernst der Lage darstellte.
»Ich habe für dich die höchste Priorität für Kupferdraht besorgt, die höchste Dringlichkeit und die größte
Zuteilung, die möglich war. Ich habe dir alle Bezugskarten und Dringlichkeitsscheine und Requisitionsbefehle
gegeben, die du brauchst. Was willst du sonst noch von mir?«
»Kupferdraht.«
»Ich habe alles getan, was ich konnte! Niemand kann mir einen Vorwurf machen! Was willst du?«
Sie ließ sich nicht in eine Diskussion mit ihm ein. Die Abendzeitung lag auf seinem Schreibtisch, und sie
starrte auf eine Nachricht in der Wirtschaftsspalte der letzten Seite: In Kalifornien war für die Privatunternehmen
eine Staatsnotsteuer zur Unterstützung der Arbeitslosen eingeführt worden in Höhe von fünfzig Prozent des
Bruttogewinns vor anderen Steuern. Die kalifornischen Ölgesellschaften waren in Konkurs gegangen.
»Seien Sie unbesorgt, Mr. Rearden«, sagte eine ölige Stimme in Washington über eine Fernleitung. »Ich kann
Ihnen versichern, daß Sie sich keine Gedanken zu machen brauchen.«
»Worüber?«
»Über diese vorübergehende Krisenerscheinung in Kalifornien. Wir werden die Angelegenheit rechtzeitig in
Ordnung bringen. Es war ein Akt illegaler Eigenmächtigkeit. Die Regierung des Staates Kalifornien hatte kein
Recht, Steuern zu verordnen, die Vorrang vor Bundessteuern haben sollen. Wir werden sofort die notwendigen
Maßnahmen in die Wege leiten. Doch für den Fall, daß Sie inzwischen durch unpatriotische Gerüchte über die
kalifornischen Ölgesellschaften beunruhigt worden sind, möchte ich Ihnen sagen, daß Rearden Steel in die
Spitzenkategorie höchster Dringlichkeit eingereiht wurde, mit erstem Anspruch auf jedes im ganzen Land
irgendwie verfügbare Öl. Es ist wirklich die allerhöchste Klassifizierung, Mr. Rearden, und ich wollte nur, daß
Sie wissen, daß Sie sich über das Brennstoffproblem im kommenden Winter keine Sorgen zu machen brauchen.«
Rearden legte den Hörer auf und runzelte besorgt die Stirn, nicht über das Brennstoffproblem oder das
Schicksal der kalifornischen Ölgesellschaften – Katastrophen dieser Art waren alltäglich geworden –, sondern
über die Tatsache, daß die Planer in Washington es für notwendig erachteten, ihn zu beruhigen. Dies war neu; er
fragte sich, was es zu bedeuten hatte. In den Jahren seines Kampfes hatte er erfahren, daß mit scheinbar
grundloser Feindschaft leicht fertig zu werden war, scheinbar grundlose Freundlichkeit jedoch eine
heimtückische Gefahr darstellte. Der gleiche Gedanke kam ihm, als er auf dem Weg durch eine Gasse zwischen
hohen Werksgebäuden eine Gestalt erblickte, deren kriecherische Haltung zugleich Frechheit ausdrückte und die
Erwartung, geprügelt zu werden. Es war sein Bruder Philip.
Seit Rearden nach Philadelphia gezogen war, hatte er sein früheres Heim nicht mehr aufgesucht und von
seiner Familie, deren Rechnungen er weiter bezahlte, nichts mehr gehört. Dann hatte er innerhalb der letzten
Wochen Philip zweimal scheinbar grundlos im Werk umherschleichen sehen. Er hatte nicht erkennen können, ob
Philip versuchte, ihm auszuweichen, oder ob er darauf wartete, von ihm angesprochen zu werden. Sein
Benehmen konnte auf beides schließen lassen. Er hatte keinen Anhaltspunkt für Philips Absichten finden können
außer einer ihm unbegreiflichen Besorgtheit, wie sie Philip bisher nie gezeigt hatte. Beim ersten Mal hatte Philip
auf seine erstaunte Frage: »Was tust du hier?« ausweichend geantwortet: »Nun, ich weiß, daß du es nicht magst,
wenn ich in dein Büro komme.«
»Was willst du?«
»Oh, nichts. Nur… Mutter macht sich Sorgen um dich.«
»Mutter kann mich jederzeit anrufen, wenn sie will.«
Philip hatte nicht geantwortet, sondern begonnen, ihn unsicher und zögernd über seine Arbeit, seine
Gesundheit und seine Geschäfte auszufragen. Seine Fragen waren seltsam zerfahren und unsachlich gewesen,
hatten sich weniger auf die Geschäfte selbst als auf Reardens Meinung über die Geschäfte im allgemeinen
bezogen. Rearden hatte ihm das Wort abgeschnitten und ihn kurz verabschiedet; doch eine leise nagende
Beunruhigung war in ihm zurückgeblieben. Beim zweiten Mal hatte Philip als einzige Erklärung für sein
unvermutetes Auftauchen vorgebracht: »Wir wollten nur wissen, wie es dir geht.«
»Wer ist wir?«
»Mutter und ich. Die Zeiten sind schwierig und… Mutter möchte wissen, was du über die Lage denkst,
welche Gefühle dich bewegen angesichts…«
»Sage ihr, überhaupt keine.«
Die Worte schienen Philip auf eine besondere Weise zu treffen, als wären sie die einzige Antwort, die er
gefürchtet hatte.
»Verlaß jetzt das Werksgelände«, hatte Rearden im Befehlston zu ihm gesagt, »und das nächste Mal, wenn du
mich zu sprechen wünschst, melde dich vorher an und komm in mein Büro. Komm aber nur, wenn du mir
wirklich etwas zu sagen hast. Dies ist kein Ort, um über Gefühle zu sprechen, weder über meine noch über die
anderer. Hierher kann nur kommen, wer arbeitet.«
Philip hatte sich nicht angemeldet, doch jetzt stand er wieder im Schatten der riesigen Hochöfen und lauerte
ihm mit einem Gesicht auf, aus dem zugleich Schuldbewußtsein und Herausforderung sprachen.
»Aber ich habe dir doch etwas zu sagen! Etwas Wichtiges!« rief er schnell, als er Reardens drohend
gerunzelte Stirn sah.
»Warum bist du nicht in mein Büro gekommen?«
»Du willst doch nicht, daß ich in dein Büro komme.«
»Ich will auch nicht, daß du hierher kommst.«
»Aber ich… ich versuche doch nur, rücksichtsvoll zu sein und dir deine Zeit nicht wegzunehmen, wenn du so
sehr beschäftigt bist. Du bist doch sehr beschäftigt?«
»Und?«
»Und… ich wollte dich nur in einer freien Minute erwischen, um mit dir zu sprechen.«
»Worüber?«
»Ich… ich brauche eine Stellung.«
Er sagte es herausfordernd und trat einen Schritt zurück. Rearden sah ihn verblüfft an.
»Henry, ich will eine Stellung. Ich meine, hier im Werk. Ich will, daß du mir etwas zu tun gibst. Ich brauche
eine Stellung. Ich muß meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich habe es satt, von Almosen zu leben.« Er rang nach
Worten, und seine Stimme war zugleich anklagend und bittend, als ob er die Notwendigkeit, seine Bitte erklären
zu müssen, als Beleidigung empfand. »Ich will meinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Ich bitte dich nicht um
eine milde Gabe. Ich bitte dich, daß du mir eine Chance gibst.«
»Dies ist ein Stahlwerk, Philip, und keine Spielhalle.«
»Was?«
»Wir suchen keine Chancen und wir geben auch keine.«
»Ich bitte dich, mir einen Job zu geben.«
»Warum?«
»Weil ich ihn brauche!«
Rearden deutete auf die rote Flamme hoch über ihnen, die aus der schwarzen Gestalt eines Hochofens
herausschoß, sicher in den Raum schoß, hundertdreißig Meter eines in Stahlstaub und Dampf verwandelten
Gedankens. »Ich brauchte diesen Hochofen, Philip. Aber er stand nicht auf einmal da, weil ich ihn brauchte.«
Philips Gesicht sah aus, als hätte er die Worte nicht gehört. »Offiziell bist du nicht berechtigt, jemand
einzustellen, aber das ist nur eine Formsache, wenn du mir einen Job geben willst. Meine Freunde werden es
ohne Schwierigkeiten genehmigen und…« Etwas in Reardens Augen ließ ihn plötzlich verstummen, und dann
fragte er wütend und ungeduldig: »Was ist denn? Was ist denn verkehrt an dem, was ich gesagt habe?«
»Das, was du nicht gesagt hast!«
»Wie bitte?«
»Das, wovor du dich drückst.«
»Was denn?«
»Daß du ohne jeden Nutzen für mich wärst.«
»Daran also…« begann Philip mit impulsiver Selbstgerechtigkeit, unterbrach sich jedoch und vollendete den
Satz nicht.
»Jawohl«, sagte Rearden lächelnd, »daran denke ich zuerst.«
Philips Blick verschwamm unsicher, und als er sprach, klang seine Stimme, als irrte sie auf gut Glück umher
und sammelte verlaufene Sätze auf. »Jeder hat ein Recht auf einen Lebensunterhalt… Wie soll ich zu meinem
kommen, wenn niemand mir eine Chance gibt?«
»Wie bin ich zu meinem gekommen?«
»Ich bin nicht als Besitzer eines Stahlwerkes geboren worden.«
»Ich vielleicht?«
»Was du kannst, kann ich auch… wenn du es mir beibringst.«
»Wer hat es mir beigebracht?«
»Warum sagst du das? Ich rede nicht von dir.«
»Aber ich.«
Philip senkte den Kopf und murmelte: »Was hast du zu befürchten? Dein Lebensunterhalt steht nicht in
Frage.«
Rearden zeigte auf die Gestalten der Männer, die sich wie Schatten im Rauch des Hochofens bewegten.
»Könntest du tun, was sie tun?«
»Ich weiß nicht, was du damit sagen…«
»Was wird geschehen, wenn ich dich dorthin stelle und du mir einen ganzen Stich Stahl verdirbst?«
»Was ist wichtiger… daß dein Stahl gegossen wird, oder daß ich zu essen habe?«
»Wie willst du essen, wenn kein Stahl gegossen wird?«
Philips Gesicht nahm einen gekränkten Ausdruck an. »Ich bin jetzt natürlich nicht in der Lage, mit dir zu
streiten, wo du alle Trümpfe in der Hand hast.«
»Dann laß es.«
»Wie meinst du das?«
»Halt den Mund und scher dich raus!«
»Aber ich wollte…« Er unterbrach sich und schwieg.
Rearden lachte. »Du meinst, ich soll den Mund halten, weil ich alle Trümpfe in der Hand habe, und vor dir
kapitulieren, weil du überhaupt nichts in der Hand hast?«
»Das ist eine besonders brutale Art, ein Moralprinzip zu interpretieren.«
»Aber darauf läuft euer Moralprinzip doch hinaus?«
»Du kannst über Moral nicht in materialistischen Begriffen sprechen.«
»Wir sprechen über einen Job in einem Stahlwerk und ein Stahlwerk ist, weiß Gott, ein materialistischer Ort.«
Philips Körper zog sich noch mehr in sich zusammen, als fürchtete er sich vor seiner Umgebung, als versuchte
er sich ihrer Realität zu entziehen. Er sagte im weichen, winselnden Ton einer mystischen Beschwörung: »Es ist
eine in unserem Zeitalter allgemein anerkannte Forderung, daß jeder Mensch ein Recht auf einen Job hat, der ihn
ernährt.« Seine Stimme hob sich. »Auch ich habe ein Recht darauf!«
»Hast du? Nun, dann geh hin und hol ihn dir!«
»Wie…?«
»Hol dir deinen Job. Pflück ihn dir vom Busch, wo er deiner Meinung nach wächst.«
»Ich meine…«
»Du meinst, er wächst nicht von selbst? Du meinst, du brauchst ihn, kannst ihn aber nicht schaffen? Du
meinst, du hast ein Recht auf einen Job, den ich für dich schaffen muß?«
»Jawohl!«
»Und wenn ich es nicht tue?«
Philip antwortete nicht sofort, wandte den Kopf verwirrt hin und her, und als er dann murmelte: »Ich verstehe
dich nicht«, klang seine Stimme wie die eines Menschen, der die Sätze einer wohleinstudierten Rolle hersagt,
aber immer wieder verkehrte Antworten erhält. »Ich verstehe nicht, wie es kommt, daß man mit dir nicht mehr
reden kann. Ich verstehe nicht, was für eine Theorie du da vertreten willst und…«
»O doch, du verstehst mich sehr wohl.«
Als ob er sich weigerte zu glauben, daß seine Argumente versagen konnten, brauste Philip jetzt auf. »Seit
wann beschäftigst du dich mit abstrakter Philosophie? Du bist nur ein Geschäftsmann. Du bist nicht qualifiziert,
in Fragen der Moral mitzureden. Du solltest das den Fachleuten überlassen, die seit Jahrhunderten darin
übereinstimmen, daß…«
»Geschenkt, Philip! Was ist der Gag?«
»Gag?«
»Woher dieser plötzliche Ehrgeiz?«
»In Zeiten wie diesen…«
»In was für Zeiten?«
»Jeder Mensch hat das Recht auf Existenzmittel und… und darf nicht einfach beiseite gestoßen werden…
Wenn die Lage so unsicher ist, muß ein Mensch eine gewisse Sicherheit haben, einen sicheren Rückhalt… Ich
meine, wenn dir in dieser Zeit etwas zustieße, hätte ich keine…«
»Rechnest du damit, daß mi r etwas zustößt?«
»O nein! Ich nicht! Ich nicht!« Der Aufschrei klang seltsam, unverständlich echt. »Ich erwarte nicht, daß dir
etwas zustößt! Du etwa?«
»Was sollte mir zustoßen?«
»Wie soll ich das wissen? – Aber ich habe nichts als das wenige, das du mir gibst, und du kannst es mir doch
jederzeit verweigern.«
»Das kann ich.«
»Und ich hätte keinen Rechtsanspruch an dich.«
»Warum hast du so viele Jahre gebraucht, das zu begreifen? Warum fängst du gerade jetzt an dir Sorgen zu
machen?«
»Weil… weil du dich verändert hast. Du… du hattest früher ein gewisses Gefühl für deine Pflichten und deine
moralische Verantwortung, aber… das hast du verloren. Du hast es doch verloren, nicht wahr?«
Rearden sah ihn forschend an. In Philips Fragen war ein seltsamer Unterton, als wären sie nur ein Vorwand
für eine versteckte Absicht.
»Wenn ich eine Last für dich bin, will ich dir diese Last gern von den Schultern nehmen. Gib mir einen Job,
und dein Gewissen braucht dich meinetwegen nicht länger zu beunruhigen.«
»Es beunruhigt mich auch jetzt nicht.«
»Das meine ich ja! Es ist dir gleich! Du fragst nicht danach, was aus uns allen wird!«
»Aus wem?«
»Aus Mutter und aus mir und… und aus der Menschheit im allgemeinen. Aber ich werde nicht an dein
besseres Selbst appellieren. Ich weiß, daß du bereit bist, mich jeden Augenblick fallen zu lassen und…«
»Du lügst, Philip. Das beunruhigt dich nicht. Wenn es das wäre, dann würdest du Geld verlangen und nicht
einen Job, nicht…«
»Nein! Ich will einen Job!« Der Aufschrei war von spontaner Wildheit. »Versuche nicht, mich mit Geld
abzufinden! Ich will einen Job!«
»Reiß dich zusammen, du erbärmliche Laus. Du weißt nicht, was du redest.«
Philip zischte seine Antwort in ohnmächtigem Haß: »Du kannst nicht so mit mir reden!«
»Kannst du es?«
»Ich wollte nur…«
»Dich mit Geld abfinden? Warum sollte ich dich mit Geld abfinden, anstatt dich mit einem Fußtritt
hinauszubefördern, was ich schon vor Jahren hätte tun sollen?«
»Nun, schließlich bin ich dein Bruder!«
»Und was bedeutet das?«
»Man sollte bestimmte Gefühle für seinen Bruder haben.«
»Hast du sie?«
Philip verzog verdrießlich den Mund. Er antwortete nicht, er wartete. Rearden ließ ihn warten. Philip
murmelte: »Du solltest wenigstens Rücksicht auf meine Gefühle nehmen. Aber das tust du nicht.«
»Nimmst du Rücksicht auf meine?«
»Auf deine? Auf deine Gefühle?« Es war keine Bosheit in Philips Stimme, es war etwas Schlimmeres, es war
echtes, empörtes Erstaunen. »Du hast überhaupt keine Gefühle. Du hast nie welche gehabt. Du hast nie gelitten!«
Rearden war, als träfe ihn die Summe von Jahren ins Gesicht, mittels einer Empfindung und eines Bildes:
genau der Empfindung, die er in dem Führerstand der Lokomotive des ersten Zuges auf der John-Galt-Linie
gehabt hatte, und des Bildes von Philips fahlen Augen, wäßrigen Augen, aus denen das Niederste an
menschlicher Erniedrigung sprach, widerstandslos hingenommener Schmerz und das mit der obszönen
Schamlosigkeit eines Skeletts an ein lebendes Wesen gestellte Verlangen, diesen Schmerz als den höchsten aller
Werte anzusehen. Du hast nie gelitten, klagten ihn die Augen an, während er im Geist die Nacht vor sich sah, da
ihm seine Erzgruben weggenommen wurden, und den Augenblick, in dem er die Schenkungsurkunde
unterschrieb und sein Rearden Metal preisgab, und die Tage des Monats, die er in einem Flugzeug auf der Suche
nach Dagnys Leiche verbracht hatte. Du hast nie gelitten, sagten diese Augen in selbstgerechter Verachtung,
während er sich des Gefühls stolzer Selbstzucht erinnerte, mit dem er jene Minuten, Stunden und Tage ertragen
hatte, eines Gefühls, geboren aus seiner Liebe, seiner Treue, seinem Glauben, daß Freude das Ziel des Daseins
w
ar und daß man Freude nicht zufällig am Wege findet, sondern daß man sie erkämpfen muß und sie verrät,
wenn man ihr Bild in der Qual eines Augenblicks vergißt. Du hast nie gelitten, sagte der tote Blick dieser Augen,
du hast nie gefühlt, weil Fühlen nur ein Leiden ist, und weil es nichts gibt, das Freude heißt, sondern nur
Schmerz und Abwesenheit des Schmerzes, nur Schmerz und das Gefühl des Nichts – Ich leide, ich bin erfüllt
von Leiden, ich bin nur Leiden, und das ist meine Reinheit, meine Einheit, meine Tugend… Und deine Pflicht,
die Pflicht und Tugend des Nichtleidenden, des Nichtklagenden ist es, mich von meinem Leiden zu befreien,
deinen nichtleidenden Körper zu verstümmeln, den meinen zu heilen, deine nichtfühlende Seele zu öffnen,
meine Gefühle mit mir zu teilen, damit wir das letzte Ziel, das höchste Ideal, den Triumph über das Leben, das
Nichts erreichen! Er sah und erkannte in diesem Blick das Wesen all derer, die seit Jahrhunderten den Predigern
der Vernichtung gefolgt waren, er sah die Feinde, die er während seines ganzen Lebens bekämpft hatte.
»Philip«, sagte er, »mach, daß du hier rauskommst.« Seine Stimme war wie ein Sonnenstrahl in einer
Leichenhalle; es war die klare, sachliche, alltägliche Stimme eines Geschäftsmannes, die Stimme der
Gesundheit, die zu einem Feind sprach, dem man nicht die Ehre erweisen konnte, ihm zu zürnen oder ihn zu
fürchten. »Und versuche nie wieder, das Werk zu betreten, denn an jedem Tor wird man Anweisung haben, dich
hinauszuwerfen, wenn du es dennoch versuchen solltest.«
»Nun«, erwiderte Philip, im Ton wütender, aber vorsichtiger Drohung, »ich könnte schließlich meine Freunde
veranlassen, mir einen Posten hier im Werk anzuweisen und dich zum Einverständnis damit zu zwingen.«
Rearden hatte sich schon einige Schritte weit entfernt, blieb aber jetzt stehen, wandte sich um und sah seinen
Bruder an.
Philips plötzliche Erkenntnis war keine Folge logischer Gedanken, sondern einer dunklen Ahnung, seiner
einzigen Form des Bewußtwerdens… er empfand ein Gefühl des Entsetzens, das ihm die Kehle zuschnürte, ihm
den Magen umdrehte… er sah die Weite des Werkes, die wehenden Bänder der Flammen, die Kübel mit
geschmolzenem Metall, die an dünnen Kabeln durch den Raum segelten, die Farbe glühender Kohlen in offenen
Gruben, die Laufkatzen, die an ihm vorbeidröhnten, und Tonnen von Stahl, durch die unsichtbare Kraft von
Magneten gehalten… und er erkannte, daß er sich vor diesem Ort fürchtete, sich zu Tode fürchtete und nie
wagen würde, sich hier ohne den Schutz und die Führung des Mannes zu bewegen, der vor ihm stand – dann
blickte er auf die große, aufrechte Gestalt, die lässig still stand, die Gestalt mit dem festen Blick, der Felsen und
Feuer durchdrungen und dieses Werk geschaffen hatte… und er wußte, wie leicht dieser Mann, dem er sich
aufzwingen wollte, einen Eimer flüssigen Metalls eine Sekunde vor der Zeit umkippen oder einen Kran seine
Last um eine Handbreit kürzer fallen lassen konnte, so daß nichts mehr übrig blieb von ihm, von Philip, dem
Fordernden –, und daß sein einziger Schutz in der Tatsache bestand, daß er diesen Gedanken denken konnte,
Hank Rearden aber nie.
»Doch ich glaube, es ist besser für uns beide, wenn wir versuchen, im Guten miteinander auszukommen«,
sagte Philip.
»Für dich bestimmt«, sagte Rearden, wandte sich wieder um und ging weiter.
Menschen, die den Schmerz anbeten, dachte Rearden, das Bild seiner Feinde vor Augen, die er nie hatte
verstehen können. Sie sind Menschen, die den Schmerz anbeten. Es erschien ihm ungeheuerlich, doch fast
erschreckend sinnlos. Er empfand nichts ihnen gegenüber. Es war, als wollte er versuchen, Gefühle gegenüber
der Schlacke aufzubringen, die den Hang einer Halde herabglitt und ihn zu erdrücken drohte. Man konnte vor
der Gefahr fliehen oder einen Damm bauen, sie aufzuhalten, oder sich erdrücken lassen… aber man konnte
keinen Groll, keinen Haß, keine moralische Entrüstung gegenüber dem Leblosen empfinden… oder noch ärger,
dachte er… gegenüber dem Lebensfeindlichen.
Das gleiche Gefühl der Losgelöstheit und Gleichgültigkeit empfand er auch, während er im Gerichtssaal in
Philadelphia saß und Menschen die Handlungen vollziehen sah, die zu seiner Scheidung führen sollten. Er sah
und hörte sie inhaltlose Gemeinplätze breittreten, in gewundenen Sätzen gefälschte Beweise vorbringen und
nach den Regeln eines verwickelten Spiels die Worte vergewaltigen, bis sie weder Sinn noch Tatsachen
ausdrückten. Dazu hatte er sie bezahlt, er, dem das Gesetz keinen anderen Weg ließ, seine Freiheit zu gewinnen,
ihm nicht erlaubte, sein Recht mit Wahrheit zu verteidigen, ein Gesetz, das über sein Schicksal nicht nach
objektiv festgelegten Begriffen bestimmte, sondern nach der willkürlichen Entscheidung eines Richters mit
einem runzligen Gesicht und einem Blick von leerer Schläue. Lillian war nicht zur Verhandlung erschienen. Ihr
Anwalt vollführte von Zeit zu Zeit Gesten mit einer Energie, als ließe er Wasser durch die Finger rinnen. Sie alle
kannten das Urteil im voraus und kannten seinen Grund; seit Jahren hatte es keinen anderen Grund gegeben, da
es außer Launen keine Normen gegeben hatte. Sie schienen das als ihr Vorrecht zu betrachten. Sie handelten, als
sollte die Verhandlung nicht einen Streitfall entscheiden, sondern ihnen Gelegenheit geben, Geld zu verdienen,
als wäre es ihr Beruf, Paragraphen zu zitieren ohne die Verpflichtung, zu wissen, was diese Paragraphen
anrichten würden, als wäre das Gericht der einzige Ort, wo es nicht auf Recht oder Unrecht ankam, als wären sie,
die Sachwalter der Gerechtigkeit, insgeheim überzeugt, daß es keine Gerechtigkeit gab. Sie handelten wie Wilde,
die einen Ritus vollzogen, der sie davon entbinden sollte, die Wirklichkeit zu sehen.
Doch die zehn Jahre seiner Ehe waren Wirklichkeit gewesen, dachte er. Und dies waren die Männer, die sich
die Macht anmaßten, diese Wirklichkeit zu beurteilen, zu entscheiden, ob er von ihr befreit oder verdammt
werden sollte, ihre Qual für den Rest seines Lebens zu erdulden. Er dachte an die kompromißlose Achtung, die
er vor der Heiligkeit seines Ehevertrages wie aller seiner Verträge und gesetzlichen Verpflichtungen empfunden
hatte. Und er sah, welch ungeheuerlicher Rechtlosigkeit er sein Rechtsempfinden unterordnen mußte, um sein
Recht zu erlangen.
Er bemerkte, daß die Marionetten dieser Justizkomödie ihm anfangs Blicke in der listigen, verstohlenen Art
von Mitverschworenen zugeworfen hatten, die sich in geteilter Schuld frei wissen von gegenseitiger moralischer
Verurteilung. Dann, als sie entdeckten, daß er der einzige Mensch im Saal war, der jedermann offen ins Gesicht
schaute, sah er, daß Unwille ihre Blicke verdüsterte. Ungläubig begriff er, was sie von ihm erwartet hatten; von
ihm, dem geketteten, gefesselten, geknebelten Opfer, dem keine Zuflucht übriggeblieben war als Bestechung,
hatte man erwartet, er halte die Farce, die er bezahlt hatte, für einen ehrlichen Prozeß, er glaube daran, daß die
Paragraphen, die ihn fesselten, moralische Gültigkeit hatten, daß er schuldig war, die Wächter der Gerechtigkeit
korrumpiert zu haben, und daß aller Tadel ihm gebührte, nicht ihnen. Es war, als würfe man dem Opfer eines
Überfalls vor, es hätte den Räuber korrumpiert. Und dennoch, dachte er, während aller Epochen politischer
Erpressung hatte man nicht die plündernden Bürokraten verurteilt, sondern die geschröpften Unternehmer; nicht
die Männer, die Beziehungen verkauften, sondern diejenigen, die gezwungen waren, sie zu kaufen; und die
Kreuzzüge gegen die Korruption hatten nicht damit geendet, daß man die Opfer befreite, sondern daß man den
Erpressern noch größere Macht zur Erpressung gab. Die einzige Schuld der Opfer, dachte er, war die
Anerkennung ihrer Schuld gewesen. Als er aus dem Gerichtsgebäude in den kühlen, regnerischen Nachmittag
hinaustrat, hatte er das Gefühl, nicht nur von Lillian geschieden worden zu sein, sondern von der ganzen
menschlichen Gesellschaft, die das Verfahren unterstützte, dem er eben beigewohnt hatte.
Das Gesicht seines Anwalts, eines älteren Mannes der altmodischen Sorte, machte den Eindruck, als sehne er
sich danach, ein Bad zu nehmen.
»Sagen Sie, Hank«, fragte er, »wollen die Plünderer im Augenblick etwas Besonderes von Ihnen?«
»Nein, nicht daß ich wüßte. Warum?«
»Die Sache ging mir zu glatt. Es gab da einige Situationen, in denen ich mehr Druck und einen Wink für
Sonderforderungen erwartet hätte, aber die Gangster nützten die Gelegenheit nicht. Sieht so aus, als hätten sie
Befehl von oben erhalten, Sie besonders freundlich zu behandeln und Ihnen keine Schwierigkeiten zu machen.
Plant man irgend etwas Neues gegen Ihre Fabrik?«
»Nichts, was ich wüßte«, erwiderte Rearden – und war erstaunt, eine Stimme in seinem Inneren sagen zu
hören: »Nichts, was mich noch interessieren könnte.«
Am gleichen Nachmittag, auf seinem Weg durch das Werk, sah er den College-Absolventen auf sich zueilen,
eine schlaksige, jungenhafte Gestalt mit einer seltsamen Mischung von Schroffheit, Verlegenheit und
Entschlossenheit.
»Mr. Rearden, ich möchte Sie sprechen.« Seine Stimme klang schüchtern, aber seltsam fest.
»Bitte.«
»Ich möchte Sie um etwas bitten, Mr. Rearden.« Das Gesicht des jungen Mannes war feierlich und gespannt.
»Ich weiß, daß Sie es mir abschlagen müssen, aber ich möchte Sie trotzdem fragen – und… und wenn es
anmaßend ist, dann schicken Sie mich zum Teufel.«
»Nun, versuchen Sie es.«
»Mr. Rearden, würden Sie mir einen Job in Ihrem Werk geben?« Die Anstrengung, seine Stimme normal
klingen zu lassen, verriet, daß er Tage gebraucht hatte, sich zu dieser Frage durchzuringen. »Ich möchte meine
jetzige Tätigkeit aufgeben und anfangen zu arbeiten. Ich meine, wirklich zu arbeiten – in der Stahlproduktion,
wie ich es einst zu tun hoffte. Ich möchte mein Brot verdienen und nicht als Wanze weiterleben.«
Rearden konnte sich nicht enthalten zu lächeln und ihm im Ton eines Zitats seine eigenen Worte in
Erinnerung zu bringen. »Aber warum solche Worte gebrauchen? Wenn wir keine häßlichen Worte gebrauchen,
gibt es auch keine Häßlichkeit mehr, und…« Er sah den verzweifelten Ernst im Blick des jungen Mannes,
unterbrach sich und hörte auf zu lächeln.
»Ich meine das wirklich, Mr. Rearden. Und ich weiß, was das Wort bedeutet, und daß es das richtige Wort ist.
Ich habe es satt, mit Ihrem Geld bloß dafür bezahlt zu werden, daß ich Sie daran hindere, Geld zu machen. Ich
weiß, daß jeder, der heute wirklich arbeitet, nur der Trottel von Schweinehunden ist, wie ich einer bin, aber…
zum Teufel, ich will lieber ein Trottel sein, wenn das alles ist, was mir übrigbleibt!« Seine Stimme drohte sich zu
überschlagen. »Entschuldigen Sie, Mr. Rearden«, sagte er leise und blickte weg. Dann fuhr er in einem
beherrschten, sachlichen Ton fort: »Ich will nicht länger Bevollmächtigter dieser Gangsterbande des
Verteilungsausschusses sein. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen von Nutzen sein kann. Ich habe ein Abschlußdiplom
als Metallurg, aber dieses Diplom ist das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist. Doch ich glaube, ich habe in
den zwei Jahren, die ich hier bin, etwas gelernt. Und wenn Sie mich irgendwie brauchen können, auch wenn es
nur als Laufbursche oder Schlackenfahrer ist, dann werfe ich denen in Washington den Kram vor die Füße und
fange morgen bei Ihnen an oder nächste Woche oder wann immer Sie wollen.« Er vermied es, Rearden
anzuschauen, nicht um ihm auszuweichen, sondern als ob er kein Recht dazu hätte.
»Warum hatten Sie Angst, mich zu fragen?« sagte Rearden freundlich.
Der junge Mann sah ihn erstaunt an, als sei die Antwort selbstverständlich. »Weil Sie mir nach der Art, wie
ich hierher gekommen bin und wie ich mich hier benommen habe, und angesichts dessen, was ich hier vertrete,
ins Gesicht schlagen müßten, wenn ich Sie um einen Gefallen bitte!«
»Sie haben in den zwei Jahren, die Sie hier sind, eine Menge gelernt.«
»Nein, ich…« Er sah Rearden an, verstand, sah zur Seite und sagte hölzern: »Ja… wenn Sie es so meinen.«
»Hören Sie, mein Junge, ich würde Ihnen auf der Stelle einen Job im Werk geben und würde Ihnen mehr
anvertrauen als die Arbeit eines Laufburschen, wenn es auf mich ankäme. Aber haben Sie denn den
Koordinierungsausschuß vergessen? Ich bin nicht berechtigt, jemand einzustellen, und Sie können nicht
kündigen. Gewiß, es gehen ständig Leute weg, und wir stellen andere unter falschem Namen ein und mit
falschen Papieren, die beweisen, daß sie seit Jahren hier arbeiten. Sie wissen das, und ich danke Ihnen dafür, daß
Sie darüber schweigen. Aber glauben Sie, daß Ihre Freunde in Washington es nicht merken würden, wenn ich
Sie so einstellte?«
Der junge Mann schüttelte langsam den Kopf.
»Glauben Sie, sie würden Ihre Motive nicht verstehen, wenn Sie Ihren Dienst verließen und Laufbursche bei
mir würden?«
Der junge Mann nickte.
»Würde man Sie gehen lassen?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf. Dann sagte er in verlorener Verwunderung: »Daran hatte ich gar nicht
gedacht, Mr. Rearden. Das hatte ich vergessen. Ich dachte immer nur daran, ob Sie mich nehmen würden oder
nicht, und das einzige, was für mich zählte, war Ihre Entscheidung.«
»Das weiß ich.«
»Und… es ist auch in Wirklichkeit das einzige, was zählt.«
»Ja, Sie haben recht.«
Der Mund des jungen Mannes verzog sich plötzlich zu einem kurzen, unfrohen Lächeln. »Ich glaube, ich bin
ärger gefesselt als der letzte Gimpel…«
»Ja. Sie können nur beim Koordinierungssausschuß eine Genehmigung beantragen, Ihre Stellung zu
wechseln. Ich werde Ihren Antrag unterstützen, wenn Sie es versuchen wollen. Nur glaube ich kaum, daß man
ihn genehmigen wird. Ich glaube nicht, daß man Ihnen erlauben wird, für mich zu arbeiten.«
»Nein, das wird man nicht tun.«
»Wenn Sie es schlau genug anstellen und genug lügen, erlaubt man Ihnen vielleicht, einen Job in einem
anderen Stahlwerk anzunehmen.«
»Nein, ich will nicht anderswohin gehen! Ich will nicht hier weg!« Er sah hinauf zu dem Regendampf über
den Flammen der Hochöfen. Dann sagte er ruhig: »Ich glaube, ich halte lieber auf meinem Posten aus. Ich bleibe
lieber ein Vertreter der Plünderer. Denn wenn ich hier weggehe, weiß Gott allein, was für einen Schweinehund
man Ihnen statt meiner aufhalst.« Er wandte sich um. »Man hat etwas gegen Sie vor, Mr. Rearden. Ich weiß
nicht, was es ist, aber sie bereiten etwas gegen Sie vor.«
»Was?«
»Ich weiß es nicht. Seit einigen Wochen paßt man hier auf jede freie Stelle auf, auf jede Desertion, und
schmuggelt eigene Leute ein. Und es ist eine merkwürdige Bande. Viele sind richtige Trottel, die, darauf möchte
ich schwören, noch nie zuvor ein Stahlwerk betreten haben. Ich habe Befehl, soviel von ‘unseren Jungs’ wie
möglich hier unterzubringen. Man wollte mir nicht sagen, warum. Ich weiß nicht, was sie planen. Ich habe
versucht, sie auszufragen, doch sie haben ausweichend geantwortet. Ich glaube, sie trauen mir nicht mehr. Ich
habe wohl nicht mehr die richtige Art. Ich weiß bloß, daß man einen neuen Schlag gegen Sie vorbereitet.«
»Ich danke Ihnen, daß Sie mich gewarnt haben.«
»Ich will versuchen, Näheres zu erfahren. Ich werde alles daransetzen, es rechtzeitig zu erfahren.« Er wandte
sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal langsam um. »Mr. Rearden… wenn es an Ihnen läge, hätten Sie
mich genommen?«
»Mit Vergnügen und auf der Stelle.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Rearden«, sagte er feierlich und leise und ging weg.
Rearden sah ihm mit einem mitleidigen Lächeln nach; er wußte, welchen Trost der Ex-Pragmatiker, der Ex-
Amoralist und Ex-Relativist mit sich nahm.
Am Nachmittag des 11. September riß ein Kupferdraht in Minnesota und brachte das Förderband eines
Getreidehebers auf einer kleinen, ländlichen Station von Taggart Transcontinental zum Stillstand.
Eine Flut von Weizen bewegte sich über alle Straßen der Landschaft und brachte den Ertrag von Tausenden
von Morgen fruchtbaren Ackers zu den Eisenbahnstationen; sie bewegte sich Tag und Nacht, floß aus kleinen
Rinnsalen zu Bächen und dann zu Strömen zusammen. Transportiert von Lastautos mit spuckenden Motoren,
von Wagen, die von den Gerippen hungernder Pferde gezogen wurden, und von Ochsenkarren, gelenkt von
Menschen, die zwei Katastrophenjahre durchgestanden hatten, um den Triumph dieser Rekordernte zu erleben,
von Menschen, die in schlaflosen Nächten ihre Lastwagen und Karren mit Draht, Decken und Stricken
zusammengeflickt hatten, damit sie noch diese eine Fahrt aushielten, um das Getreide an seinen Bestimmungsort
zu bringen und dort vielleicht zusammenzubrechen, aber ihren Besitzern eine Chance zum Überleben zu sichern.
In früheren Jahren war um diese Zeit eine andere Bewegung durch das Land gegangen und hatte Tausende von
Taggart-Güterwagen nach Minnesota geleitet, um nach einem im voraus ausgearbeiteten Plan der Flut des
Getreides zu begegnen und sie aufzunehmen. Während des ganzen Jahres schlief die Minnesota-Nebenstrecke
von Taggart Transcontinental, aber während der Erntewochen erwachte sie zu fieberhafter Tätigkeit;
vierzehntausend Güterwagen hatten sich in jedem Jahr auf den Verladebahnhöfen gestaut, fünfzehntausend
wurden in diesem Jahr erwartet. Die ersten Getreidezüge hatten begonnen, die Flut in die hungrigen Mühlen zu
leiten, von da in die Bäckereien und dann in die Mägen der Nation. Jeder Zug, jeder Wagen und jeder
Verladekran zählte, und keine Minute und kein Kubikmeter Frachtraum durften verlorengehen. Eddie Willers
beobachtete Dagnys Gesicht, während sie das Verzeichnis ihrer Notreserven durchging; er konnte von ihren
Augen ablesen, was dort stand.
»Der Terminal, Eddie«, sagte sie ruhig und klappte das Verzeichnis zu. »Rufe unten an und sage ihnen, sie
sollen die Hälfte ihres Vorrats an Draht nach Minnesota schicken.« Eddie sagte nichts und führte ihre
Anweisung durch.
Er sagte nichts, als er am nächsten Morgen ein Telegramm des Taggart-Büros Washington auf ihren
Schreibtisch legte, in dem mitgeteilt wurde, daß die Regierung wegen der bestehenden Kupferknappheit alle
Kupferbergwerke beschlagnahmen und unter staatliche Leitung stellen würde. »Nun«, sagte sie und warf das
Telegramm in den Papierkorb, »das ist das Ende von Montana.«
Sie sagte nichts, als James Taggart ihr eröffnete, daß er angeordnet hatte, alle Taggart-Züge ohne
Speisewagen verkehren zu lassen. »Wir haben schon immer mit diesen verdammten Speisewagen Geld verloren,
und wenn nirgendwo Lebensmittel zu haben sind, wenn die Restaurants schließen, weil sie nicht mal ein Pfund
Pferdefleisch auftreiben können, wie kann man dann von den Eisenbahngesellschaften mehr erwarten? Warum,
zum Teufel, sollen wir die Fahrgäste auch noch füttern? Sie sind glücklich, daß wir sie überhaupt befördern. Sie
würden in Viehwagen reisen, wenn es sein müßte. Sollen sie ihr Essen mitbringen; was kümmert uns das? Es
gibt keine anderen Züge als unsere.«
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch war zu einer Alarmsirene geworden, die immer neue Katastrophen
ankündigte. »Miss Taggart, wir haben keinen Kupferdraht!« – »Wir brauchen dringend Nägel, Miss Taggart,
können Sie nicht irgend jemand veranlassen, daß er uns eine Kiste Nägel schickt?« – »Miss Taggart, können Sie
nicht irgendwo Farbe auftreiben – wasserfeste Farbe?«
Aber dreißig Millionen Dollar an Hilfsgeldern waren von Washington in das Vorhaben Sojabohne gesteckt
worden – in eine riesige Pflanzung in Louisiana, wo eine Ernte von Sojabohnen heranreifte. Das Vorhaben war
von Emma Chalmers angeregt und organisiert worden, die sich vorgenommen hatte, die
Ernährungsgewohnheiten der Nation umzugestalten. Emma Chalmers, besser bekannt als Kip’s Ma, war eine alte
Soziologin, die jahrelang in den Vorzimmern von Washington herumgesessen hatte wie andere Frauen ihres
Alters in den Bars. Aus einem Grunde, den niemand erklären konnte, hatte ihr der Tod ihres Sohnes bei der
Tunnelkatastrophe in Washington die Aura einer Märtyrerin gegeben, deren Wirkung verstärkt wurde durch
ihren kürzlichen Übertritt zum Buddhismus. »Die Sojabohne ist eine viel kräftigere, nahrhaftere und
wirtschaftlichere Pflanze als alle die verschwenderischen Lebensmittel unserer verweichlichten
Ernährungsweise«, hatte Kip’s Ma über das Radio verkündet. Ihre Stimme klang wie das Fallen von Tropfen,
doch nicht von Wassertropfen, sondern von Mayonnaisetropfen. »Sojabohnen bilden einen ausgezeichneten
Ersatz für Brot, Fleisch, Getreideflocken und Kaffee, und wenn wir alle gezwungen würden, die Sojabohne als
Grundlage einer nationalen Ernährung anzunehmen, so würde dies gleichzeitig die nationale Ernährungskrise
beheben und es möglich machen, mehr Menschen zu ernähren. In einer Zeit verzweifelter öffentlicher Not ist es
unsere Pflicht, unsere Sucht nach Luxusspeisen zu unterdrücken und zum Wohlstand zurückzugelangen, indem
wir uns zu der einfachen, gesunden Nahrung bekehren, die den Völkern Asiens seit Jahrhunderten so üppig den
Tisch deckt. Auf diesem Gebiet können wir viel von den Völkern Asiens lernen.«
»Wir brauchen Kupferrohre, Miss Taggart! Können Sie uns nicht ein paar Meter Kupferrohr besorgen?«
bettelten die Stimmen am Telefon. »Gleisnägel, Miss Taggart!«
»Schraubenzieher, Miss Taggart!«
»Glühbirnen, Miss Taggart. Es ist keine Glühbirne in einem Umkreis von zweihundert Meilen zu finden!«
Doch fünf Millionen Dollar waren vom Amt für öffentliche Meinung für die Volksoper aufgewendet worden,
die über Land reiste und unentgeltlich für die Menschen spielte, die infolge Unterernährung zu schwach waren,
den Weg zum Theater zurückzulegen. Sieben Millionen Dollar waren einem Psychologen bewilligt worden, der
zur Lösung der Weltkrise das Wesen der Bruderliebe erforschen wollte. Zehn Millionen Dollar hatte ein
Fabrikant zur Herstellung von elektronischen Zigarettenanzündern erhalten. Es gab jedoch keine Zigaretten zu
kaufen. In großen Mengen wurden Taschenlampen auf den Markt gebracht, doch es gab keine Batterien. Es gab
Radios, aber keine Röhren. Es gab Kameras, aber keine Filme. Die Produktion von Flugzeugen war
»vorübergehend eingestellt« worden. Luftreisen waren für private Zwecke verboten und nur für »dringende
amtliche« Missionen erlaubt. Ein Industrieller, der eine dringende Reise unternehmen wollte, um seine Fabrik zu
retten, durfte kein Flugzeug benutzen, wohl aber ein Beamter, der Steuern einzutreiben hatte.
»Die Menschen stehlen nachts die Schrauben und Bolzen von den Gleisen, Miss Taggart, und wir haben keine
Reserven mehr! Was sollen wir tun, Miss Taggart?«
Doch ein überdimensionaler Farbfernseher war im Volkspark von Washington für die Touristen aufgestellt
worden, und im State Science Institute hatte man mit dem Bau eines Super-Zyklotrons für das Studium
kosmischer Strahlen begonnen, das in zehn Jahren fertig sein sollte.
»Das Übel unserer modernen Welt«, sagte Dr. Robert Stadler im Rundfunk bei der Grundsteinlegung für das
Zyklotron, »besteht darin, daß die Menschen zuviel denken. Dies ist die Ursache all unserer Ängste und Zweifel.
Eine aufgeklärte Bevölkerung sollte den Aberglauben der Logik und der Vernunft aufgeben. So wie Laien die
Medizin den Ärzten überlassen und die Elektronik den Ingenieuren, so sollten Menschen, die zum Denken nicht
qualifiziert sind, alles Denken den Fachleuten überlassen und Vertrauen in ihre höhere Autorität haben. Nur
Fachleute können die Entdeckungen der modernen Wissenschaften verstehen, die bewiesen haben, daß der
Gedanke eine Illusion und der Verstand ein Mythos ist.«
»Dieses Zeitalter des Elends ist Gottes Strafgericht über die Menschen, die durch Anbetung der Vernunft
gesündigt haben«, schnarrten die triumphierenden Stimmen der Mystiker aller Sekten und aller Arten an
Straßenecken, in regendurchweichten Zelten und zerfallenen Tempeln. »Dieses Weltgericht ist die Folge des
Versuchs des Menschen, durch seine Vernunft zu leben! So weit haben euch Denken, Logik und Wissenschaft
gebracht! Und es gibt keine Rettung aus diesem Jammer, solange die Menschen nicht begreifen, daß ihr
sterblicher Verstand unfähig ist, ihre Probleme zu lösen, und zurückkehren zum Glauben, zum Glauben an Gott,
an eine höchste Autorität!«
Und täglich sah sie sich konfrontiert mit dem Vertreter und Erben dieser Welt, mit Cuffy Meigs, dem Mann,
der für jegliches Nachdenken unzugänglich war. Cuffy Meigs durchstreifte ständig die Büros von Taggart
Transcontinental, trug eine halbmilitärische Jacke und klatschte eine glänzende Leder-Aktenmappe gegen seine
glänzenden Ledergamaschen. In einer Tasche trug er eine Pistole, in der anderen eine Kaninchenpfote.
Cuffy Meigs bemühte sich, Dagny aus dem Wege zu gehen. Er behandelte sie teils mit Verachtung, als
betrachtete er sie als eine lebensferne Idealistin, teils mit einer abergläubischen Scheu, als besäße sie eine
unbegreifliche Macht, mit der er sich nicht einlassen wollte. Er benahm sich, als gehörte sie nicht zu seiner
Vorstellung von einer Eisenbahn, aber auch als wäre sie die einzige Person, die er nicht herauszufordern wagte.
In seinem Benehmen Jim gegenüber war ein Zug ungeduldigen Grolls, als wäre es Jims Aufgabe, mit ihr zu
verhandeln und ihn vor ihr zu schützen; ebenso wie er von ihm erwartete, daß er die Eisenbahn in Betrieb hielt
und ihm Zeit für lebensnähere Betätigungen ließ, so erwartete er von ihm, daß er auch sie als einen Teil des
Betriebes in Schach hielt. Vor dem Fenster ihres Büros hing in der Ferne wie ein an den Himmel geklebtes Stück
Wundpflaster das leere Kalenderblatt. Der Kalender war seit der Nacht von Franciscos Abschiedsbotschaft nicht
repariert worden. Die Beamten, die in den Turm geeilt waren, hatten den Motor sofort angehalten und den Film
herausgerissen. Sie stellten fest, daß Franciscos Botschaft auf den Film aufgeklebt worden war; doch wer es
getan hatte, wann und wie der Täter in den verschlossenen Raum gelangt war, das hatten die drei Kommissionen,
die den Fall immer noch untersuchten, nicht herausgefunden. Inzwischen hing das Kalenderblatt leer und
unbeweglich über der Stadt.
Es war auch leer am Nachmittag des 14. September, als das Telefon in Dagnys Büro läutete. »Ein Mann aus
Minnesota«, sagte die Stimme ihrer Sekretärin.
Sie hatte ihre Sekretärin instruiert, daß sie alle Anrufe dieser Art annehmen würde. Es waren Hilferufe und
zugleich ihre einzige Informationsquelle. In einer Zeit, da die Angestellten der Gesellschaft nur Laute von sich
gaben, die dazu bestimmt waren, nichts auszusagen, bildeten die Stimmen der namenlosen Männer ihr letztes
Verbindungsglied zu ihrer Eisenbahn, waren sie die letzten Funken der Vernunft und der Ehrlichkeit, die sie von
den Strecken der Taggart-Linie erreichten.
»Miss Taggart, es ist nicht meine Sache, Sie anzurufen, doch kein anderer will es tun«, sagte die Stimme, die
über den Draht kam; die Stimme klang jung und zu ruhig. »In ein oder zwei Tagen wird eine Katastrophe
eintreten, wie wir sie bis jetzt noch nicht erlebt haben, und man wird sie nicht länger verheiml ichen können, nur
wird es dann zu spät sein; vielleicht ist es jetzt schon zu spät.«
»Was ist los? Wer sind Sie?«
»Einer Ihrer Angestellten der Minnesota-Betriebsleitung, Miss Taggart. In ein oder zwei Tagen wird kein Zug
mehr von hier abfahren. Und Sie wissen, was das auf dem Höhepunkt der Ernte bedeutet, auf dem Höhepunkt
der größten Ernte, die wir je gehabt haben. Die Züge werden nicht mehr fahren, weil wir keine Wagen mehr
haben. Die Güterwagen für die Ernte sind dieses Jahr nicht geschickt worden.«
»Was sagen Sie da?« Ihr war, als vergingen Minuten zwischen den einzelnen Worten dieser unnatürlichen
Stimme, die nicht wie ihre eigene klang.
»Die Wagen sind nicht geschickt worden. Fünfzehntausend sollten bis jetzt hier sein. Soweit ich erfahren
konnte, sind nur etwa achttausend eingetroffen. Seit einer Woche rufe ich die Zentrale an. Man antwortete mir
immer nur, ich solle mir keine Sorgen machen. Das letzte Mal schnauzte man mich an, ich solle mich um meine
eigenen Angelegenheiten kümmern. Jeder Schuppen, jeder Silo, jeder Getreideheber, jedes Lagerhaus, jede
Garage, jeder Tanzsaal längs der Strecke ist voll von Weizen. Bei den Sherman-Hebern wartet eine zwei Meilen
lange Schlange von Lastautos und Pferdefuhrwerken darauf, entladen zu werden. In Lakewood hat man das
Getreide auf dem Bahnhofsvorplatz aufgeschüttet, und dort liegt es seit drei Tagen. Man sagt uns, die
Verzögerung sei nur vorübergehend, die Güterwagen würden bald kommen und dann würden wir aufholen. Wir
werden nicht mehr aufholen können. Es werden keine Wagen mehr kommen. Ich habe alle angerufen, die
Bescheid wissen müßten, und ich habe es an der Art gespürt, wie sie antworteten. Sie wissen, wie es steht, aber
niemand will es zugeben. Sie haben Angst zu sprechen, zu fragen, zu antworten oder etwas zu unternehmen. Sie
denken alle nur daran, wer dafür verantwortlich gemacht werden wird, wenn das Getreide auf den Bahnhöfen
verfault. Aber keiner denkt daran, wie man es abtransportieren könnte. Vielleicht kann es jetzt niemand mehr.
Vielleicht können auch Sie jetzt nichts mehr tun. Doch ich dachte mir, daß Sie der einzige Mensch sind, der die
Wahrheit hören will, und daß jemand sie Ihnen mitteilen muß.«
»Ich…« Sie mußte nach Atem ringen. »Ich verstehe… Wer sind Sie?«
»Mein Name ist unwichtig. Wenn ich jetzt aufhänge, werde ich zum Deserteur geworden sein. Ich will nicht
hier sein, wenn es geschieht. Ich will nichts mehr damit zu tun haben. Viel Glück, Miss Taggart.«
Sie hörte das Klicken. »Danke«, antwortete sie über den toten Draht. Als sie sich wieder ihrer Umgebung
bewußt wurde und sich erlaubte, wieder an sich selber zu denken, war es Mittag des folgenden Tages geworden.
Sie stand mitten in ihrem Büro, fuhr sich mit steifen, gespreizten Fingern durch eine Haarsträhne, schob sie aus
dem Gesicht und fragte sich einen Augenblick lang, wo sie war und was das Ungeheuerliche gewesen sein
konnte, das sie in den letzten zwanzig Stunden erlebt hatte und an das sie noch immer nicht glauben konnte. Sie
empfand nur ein namenloses Grauen, und sie wußte, daß sie es schon bei den ersten Worten des Unbekannten am
Telefon empfunden, aber nicht die Zeit gehabt hatte, es zu erkennen.
Es war von diesen zwanzig Stunden nicht viel in ihrem Bewußtsein zurückgeblieben, nur zusammenhanglose
Stücke, zusammengehalten durch das eine, das sie möglich gemacht hatte. Durch die Reihe leerer Gesichter von
Männern, die sich bemühten, vor sich selber zu verheimlichen, daß sie die Antworten auf die Fragen, die sie
ihnen stellte, wußten.
Im selben Augenblick, in dem ihr gesagt wurde, daß der Direktor des Güterwagenparks vor einer Woche die
Stadt verlassen und keine Adresse angegeben hatte, wo man ihn erreichen konnte, wußte sie, daß der Bericht des
Mannes in Minnesota der Wahrheit entsprach. Dann zogen die Gesichter der Assistenten des Güterwagenparks
an ihr vorbei, die den Bericht weder bestätigen noch bestreiten wollten, sondern nur ihre Papiere, Anweisungen,
Formulare und Karteiblätter vorzeigten, deren Inhalt in verständlicher Sprache, aber ohne verständlichen Bezug
zu Tatsachen abgefaßt war. »Sind die Güterwagen nach Minnesota geschickt worden?« – »Formular 357W ist in
allen Einzelheiten genauestens ausgefüllt worden, wie das Büro des Koordinators in Übereinstimmung mit den
Anweisungen der Kontrollbehörde und der Verordnung 11-493 es angeordnet hat.« – »Sind die Güterwagen
nach Minnesota geschickt worden?« – »Die Eintragungen für die Monate August und September sind
ordnungsgemäß gemacht worden von…« – »Sind die Güterwagen nach Minnesota geschickt worden?« – »Meine
Kartei gibt nur Auskunft über die Stationierung der Güterwagen, geordnet nach Staaten, Daten, Klassen und…«
– »Wissen Sie, ob die Güterwagen nach Minnesota geschickt worden sind?« – »Was die Bewegung von
Güterwagen von Staat zu Staat betrifft, kann ich Sie nur an die Kartei von Mr. Benson verweisen und…«
Aus den Karteien war nichts zu entnehmen. Sie enthielten Eintragungen, die alle je vier verschiedene
Auslegungen zuließen und auf andere Karteien verwiesen, in denen wieder auf die erste zurückverwiesen wurde.
Sie brauchte nicht lange, um festzustellen, daß die Güterwagen nicht nach Minnesota geschickt worden waren
und daß der Befehl von Cuffy Meigs stammte. Doch wer ihn ausgeführt, wer die Spuren verwischt hatte, was
von gefälligen Mitwissern getan worden war, um den Anschein einer normalen Operation vorzutäuschen, ohne
daß der Verdacht eines gewissenhaften Beobachters erregt wurde, wer die Berichte gefälscht hatte und wohin die
Wagen geschickt worden waren, das herauszufinden schien zunächst unmöglich zu sein.
Während der Nacht hatte eine kleine verzweifelte Gruppe unter der Leitung von Eddie Willers alle
Bezirksverwaltungen, Bahnhöfe, Depots und Verschiebebahnhöfe aller Haupt- und Nebenstrecken von Taggart
Transcontinental angerufen und Anweisung gegeben, jeden Güterwagen in Reich- oder Sichtweite wenn nötig zu
entladen und sofort nach Minnesota zu schicken. Sie hatten die Bahnhöfe, Depots und Betriebsleiter aller auf der
Netzkarte verzeichneten anderen Eisenbahnen angerufen, sofern es sie überhaupt noch gab, und um Wagen für
Minnesota gebettelt. Unterdessen hatte Dagny sich der Aufgabe unterzogen, in den Gesichtern von Feiglingen
die Spur der verschwundenen Güterwagen zu verfolgen.
Die Spur führte von Taggart-Managern über finanzstarke Spediteure zu Regierungsbeamten in Washington
und zurück zur Eisenbahn. Dagny verfolgte die Spur im Taxi, über das Telefon und durch Telegramme, tastete
sich von Andeutung zu Andeutung. Die Fährte näherte sich ihrem Ende, als sie die spitze Stimme der
Pressesprecherin in einem Büro in Washington vorwurfsvoll sagen hörte: »Nun, schließlich ist es
Anschauungssache, ob Weizen wirklich so wichtig ist für die Wohlfahrt der Nation. Es gibt fortschrittliche
Menschen, die der Ansicht sind, daß die Sojabohne vielleicht wichtiger ist…«, und mittags stand sie nun, wie
aus einem Alptraum erwacht, mitten in ihrem Büro und wußte, daß die für die Weizenernte Minnesotas
bestimmten Güterwagen nach Louisiana geschickt worden waren, um die Sojabohnenernte von Kip’s Ma
aufzunehmen. Die erste Zeitungsnachricht über die Katastrophe in Minnesota erschien drei Tage später. Sie
besagte, daß die Farmer, die mit ihren Wagen sechs Tage lang in den Straßen von Lakewood hatten warten
müssen, weil kein Raum vorhanden war, ihren Weizen zu lagern, und keine Wagen, ihn abzutransportieren, das
Ortsgericht, das Haus des Bürgermeisters und die Bahnstation zerstört hatten. Die Nachricht verschwand aber
ebenso schnell wieder, und die Zeitungen hüllten sich in Schweigen, ermahnten statt dessen das Volk,
unpatriotischen Gerüchten keinen Glauben zu schenken.
Während die Mühlen und Getreidehändler des Landes telefonisch und telegraphisch um Hilfe riefen und
Gesuche nach New York, Delegationen nach Washington schickten, während Güterwagen aus allen Teilen des
Landes wie rostige Raupen auf Minnesota zukrochen, lag der Weizen und die Hoffnung des Landes, dem
Verderb preisgegeben, längs der leeren Strecken neben den grünen Signallichtern, die freie Fahrt ankündigten für
Züge, die nicht kamen.
In der Telefonzentrale von Taggart Transcontinental fuhr eine kleine Gruppe übernächtigter Angestellter fort,
Rufe nach Güterwagen ins Land hinauszuschicken, wie die Besatzung eines Schiffes, die immer wieder SOS
funkt, ohne gehört zu werden. Es wurden überall im Land Wagen, die seit Monaten fertig beladen herumstanden,
von Firmen zurückgehalten, die gute Beziehungen zu Washington hatten und die die verzweifelten Bitten, die
Wagen zu entladen und freizugeben, ignorierten. »Sagen Sie der Eisenbahn, sie kann uns…«, gefolgt von nicht
druckfähigen Worten, war die Antwort der Brüder Smather in Arizona auf das SOS aus New York.
In Minnesota sammelten sie die Wagen aller Nebenlinien ein, auch die der Erzgruben Paul Larkins, die
herumstanden und darauf warteten, das Rinnsal einer spärlichen Förderung aufzunehmen. Man verlud den
Weizen in Erzwagen, in Kohlenwagen und in Viehwagen, aus deren Ritzen er herauslief und eine goldene Spur
längs der Strecke hinterließ. Man schüttete Weizen in Personenwagen, über Sitze, die Gepäcknetze und Gänge,
um ihn nur wegzuschaffen, auch wenn er oft infolge brechender Wagenfedern und brennender Achsenlager in
den Gräben längs der Strecke landete. Man kämpfte um Bewegung, um Bewegung ohne Gedanken an das Ziel,
um Bewegung als solche, wie ein vom Schlaganfall getroffener Mensch, der sich in wilden, ohnmächtigen
Zuckungen gegen die Erkenntnis wehrt, daß er gelähmt ist. Es gab keine anderen Eisenbahnen mehr: James
Taggart hatte sie ruiniert. Es gab keine Schiffe auf den Seen: Paul Larkin hatte sie zerstört. Es gab nur eine
einzige Gleisstrecke und ein vernachlässigtes Straßennetz.
Die Lastautos und Pferdefuhrwerke der wartenden Farmer begannen sich auf den Straßen nach Süden zu
bewegen, ohne Karten, ohne Brennstoffreserve, ohne Pferdefutter. Sie strebten blind nach Süden, der Vision von
wartenden Mühlen entgegen, ohne Wissen um die Entfernungen, die vor ihnen lagen, gejagt vom Tod, der hinter
ihnen drohte. Sie krochen weiter und weiter, brachen auf der Straße zusammen, stürzten in Gräben oder blieben
vor zerfallenen Brücken liegen. Ein Farmer wurde eine halbe Meile südlich seines zusammengebrochenen
Lastwagens tot im Straßengraben aufgefunden, einen Sack Weizen auf den Schultern. Dann öffneten sich
Regenwolken über den Ebenen von Minnesota, und der Regen brachte den Weizen, der auf den Bahnhöfen
lagerte, zum Verfaulen, wusch die längs der Strecken und Straßen verstreuten Körner in den Boden.
Die Leute in Washington wurden als letzte von der Panikwelle erreicht. Aufmerksam überwachten sie nicht
die Nachrichten aus Minnesota, sondern das gefährdete Gleichgewicht ihrer Freundschaften, Beziehungen und
Verpflichtungen. Sie wägten nicht das Schicksal der Ernte ab, sondern die nicht erahnbare Wirkung
unvorhersehbarer Gefühle in nicht denkenden Menschen mit unbegrenzter Macht. Sie warteten ab, überhörten
die Beschwörungen und erklärten: »Ach, lächerlich, es gibt keinen Grund zur Aufregung! Die Taggart-Leute
haben die Ernte immer pünktlich befördert; sie werden auch dieses Mal einen Weg finden, sie zu befördern!«
Als dann der Gouverneur von Minnesota die Regierung in Washington um militärische Unterstützung gegen
die Unruhen ersuchte, deren er nicht mehr Herr wurde, ergingen innerhalb von zwei Stunden drei
Notverordnungen. Alle Züge waren sofort anzuhalten und alle Wagen nach Minnesota zu schicken. Ein dritter,
von W esley Mouch unterzeichneter Erlaß ordnete die Freigabe aller für das Vorhaben von Kip’s Ma requirierten
Güterwagen an. Doch dieser Erlaß kam zu spät. Die Sojabohnentransporte waren schon unterwegs nach
Kalifornien, wo zu ihrer Verwertung ein Konzern gebildet worden war aus Soziologen, die den Kult asiatischer
Genügsamkeit predigten, und Unternehmern, die früher Lotterien veranstaltet hatten.
In Minnesota legten die Farmer Feuer an ihre eigenen Farmen, zerstörten Getreideheber und die Wohnungen
von Kreisbeamten, lieferten einander auf den Gleisen der Eisenbahn grimmige Schlachten, die einen, um die
Gleise aufzureißen, die anderen, um sie mit ihrem Leben zu verteidigen – und, kein anderes Ziel mehr vor Augen
als blinde Gewalt, starben sie in den Ruinen ausgebrannter Städte und in den schweigenden Schluchten wegloser
Nacht. Dann blieb nur der beißende Gestank verfaulender, verglimmender Weizenhaufen zurück, einige
Rauchsäulen, die aus der Ebene aufstiegen und über geschwärzten Ruinen in der Luft hingen. Und in seinem
Büro in Pennsylvania saß Hank Rearden an seinem Schreibtisch und starrte auf eine Liste von Männern, die
Konkurs angemeldet hatten. Es waren die Fabrikanten von landwirtschaftlichen Maschinen, die um ihr Geld
gekommen waren und nun auch ihn nicht mehr bezahlen konnten. Die Sojabohnenernte kam nicht auf die
Märkte des Landes. Sie war zu früh eingebracht worden, verschimmelt und ungenießbar.
In der Nacht des 15. Oktober riß ein Kupferdraht in einer unterirdischen Blockstelle des Taggart Terminals in
New York und setzte die Signalanlage außer Betrieb. Es war nur ein einziger Draht, der schmolz und riß, doch er
verursachte einen Kurzschluß in dem gesamten ferngesteuerten Signalsystem, und sowohl die Kontrollampen auf
den Schalttafeln der Stellwerke als auch die Signallichter zwischen den Schienensträngen erloschen. Die roten
und grünen Scheiben blieben rot und grün, doch nicht belebt von lebendigem Licht, sondern tot wie der starre
Blick von Glasaugen. Am Rande der Stadt sammelten sich vor der Tunneleinfahrt Trauben von Zügen und
wurden immer dichter, wie Blut, das sich in einer verstopften Vene staut und nicht in die Herzkammern
weiterfließen kann.
Dagny saß in dieser Nacht an einem Tisch in einem Séparée des Wayne-Falkland-Hotels. Das Wachs der
Kerzen tropfte auf das Arrangement von weißen Kamelien und Lorbeerzweigen unter den silbernen Leuchtern.
Das Damasttischtuch war bekritzelt mit Berechnungen, und in einer Fingerschale schwamm ein
Zigarrenstummel. Die sechs Männer im Smoking, die mit ihr am Tisch saßen, waren Wesley Mouch, Eugene
Lawson, Dr. Floyd Ferris, Clem Weatherby, James Taggart und Cuffy Meigs.
»Warum?« hatte sie gefragt, als Jim ihr eröffnete, daß sie an diesem Essen teilnehmen sollte.
»Nun… weil unser Direktorium nächste Woche zu einer Sitzung zusammentritt.«
»Und?«
»Du bist doch daran interessiert, was über die Minnesota-Strecke beschlossen wird?«
»Wird das bei der Sitzung des Direktoriums entschieden?«
»Nein, eigentlich auch nicht, aber… ach, warum bist du immer so genau? Nichts ist je genau. Außerdem
bestanden sie darauf, daß du kommst.«
»Warum?«
»Genügt es dir nicht, daß sie es wünschen?«
Sie fragte nicht, warum diese Männer ihre wichtigsten Entscheidungen immer auf solchen Parties trafen, sie
wußte nur, daß sie es taten. Sie wußte, daß trotz der geschäftigen Ausschußsitzungen und feierlichen
Generalversammlungen alle Entscheidungen im voraus bei zwanglosen Essen oder bei einem Cocktail getroffen
wurden. Und je wichtiger das Problem war, desto lässiger war die Art, in der es gelöst wurde. Es war das erste
Mal, daß man sie, die Außenseiterin, die Gegnerin, zu einer dieser getarnten Sitzungen eingeladen hatte; es war,
dachte sie, das Eingeständnis, daß man sie brauchte, und vielleicht ein erster Schritt zur Kapitulation, eine
Chance, die sie nicht versäumen durfte. Doch als sie im Kerzenschein des Separees saß, überkam sie das Gefühl
der Gewißheit, daß sie keine Chance hatte. Diese Gewißheit beunruhigte sie, da sie ihren Grund nicht erkennen
konnte, gleichzeitig aber eine lethargische Unlust empfand, ihr nachzugehen.
»Wie auch Sie, Miss Taggart, einräumen werden, scheint keine wirtschaftliche Rechtfertigung mehr für den
Weiterbetrieb einer Eisenbahnlinie in Minnesota zu bestehen, die…« – »Und sogar Miss Taggart wird, dessen
bin ich sicher, mit mir darin übereinstimmen, daß gewisse vorübergehende Beschränkungen angezeigt
erscheinen, bis…« – »Niemand, nicht einmal Miss Taggart, wird leugnen, daß es Zeiten gibt, in denen es
notwendig wird, Teile um des Ganzen willen zu opfern…« Während so ihr Name in größeren Abständen und
wie absichtslos erwähnt wurde, ohne daß die Sprecher sie ansahen, fragte sie sich, aus welchem Grund man ihre
Anwesenheit gewünscht hatte. Es war kein Versuch, sie glauben zu machen, daß man ihren Rat hören wollte; es
war etwas Schlimmeres; es war der Versuch, sich selbst glauben zu machen, daß sie zustimmte. Von Zeit zu Zeit
stellte man ihr Fragen und unterbrach sie, bevor sie den ersten Satz ihrer Antwort beendet hatte. Man schien ihre
Zustimmung erlangen zu wollen, ohne erfahren zu müssen, ob sie zustimmte oder nicht.
Eine primitiv kindliche Form der Selbsttäuschung hatte diese Männer veranlaßt, dieser Zusammenkunft den
dekorativen Rahmen eines feierlichen Essens zu geben. Sie handelten, als hofften sie, die Gegenstände des
kultivierten Luxus, mit denen sie sich umgaben, würden ihnen jene Macht und Würde verleihen, die einst in
diesen Gegenständen ihren echten Ausdruck gefunden hatten.
Sie bedauerte, so angezogen zu sein, wie sie es war. »Es ist ein offizielles Essen«, hatte Jim zu ihr gesagt,
»aber übertreibe nicht. Ich meine, versuche, nicht zu reich auszusehen. Geschäftsleute sollten heute jeden
Anschein von Arroganz vermeiden. Nicht daß du schäbig aussehen sollst, doch wenn du den Eindruck von sagen
wir, von Bescheidenheit erwecken könntest. Das würde ihnen gefallen. Es würde ihnen erlauben, sich bedeutend
vorzukommen.«
»Wirklich?« hatte sie nur gesagt und war aus dem Zimmer gegangen. Sie trug ein schwarzes Kleid, das
aussah, als bestände es aus einer einzigen über der Brust gekreuzten und in weichen Falten wie eine griechische
Tunika auf die Füße herabfallenden Bahn glänzender Seide, die so leicht und dünn war, daß sie als Material für
ein Nachtgewand hätte dienen können. Der weiche Schimmer der Seide wurde durch die Bewegungen ihres
Körpers, in ständigem Fluß gehalten, so daß es schien, als ginge das Licht des Raumes, den sie betrat, von ihr
aus. Der einfache Schnitt des Kleides, der die Zartheit ihrer Gestalt betonte, verlieh ihr eine lässige, fast
hochmütige Eleganz, die sich ihrer Wirkung wohl bewußt war. Als einzigen Schmuck trug sie an der Spitze des
Halsausschnittes eine Diamantbrosche, die im Takt ihres unsichtbaren Atems funkelte wie ein rhythmischer
Transformator, der Glut zu Flammen verdichtete und den Schlag des lebendigen Herzens ahnen ließ, der den
Edelstein unmerklich in Bewegung hielt. In ihrer Schlichtheit wirkte die Brosche wie ein militärischer Orden,
wie ein Ehrenabzeichen unaufdringlichen Reichtums. Über dem Kleid trug sie einen schwarzen Samtumhang,
der mit seiner langen Schleppe aristokratischer wirkte als ein wappengeschmückter Brokatmantel.
Sie bereute es, dieses Kleid angezogen zu haben, als sie die Blicke sah, mit denen diese Männer sie verstohlen
betrachteten. Ein Unbehagen der Sinnlosigkeit befiel sie, als hätte sie versucht, Wachsfiguren zu reizen. Sie sah
einen dumpfen Groll in ihren Augen und die leblose, impotente, schlüpfrige Lüsternheit von Männern, die das
Werbeplakat eines Variétés anstarren.
»Es ist eine große Verantwortung«, sagte Eugene Lawson, »die Entscheidung, über das Leben von Tausenden
von Menschen zu fällen und sie zu opfern, wenn es nötig ist; doch wir müssen den Mut haben, es zu tun.« Seine
schlaffen Lippen schienen sich zu einem Lächeln zusammenzuziehen.
»Die einzigen Faktoren, die wir berücksichtigen müssen, sind Bodenfläche und Bevölkerungsziffern«, sagte
Dr. Ferris im Tonfall des Statistikers und blies Rauchringe gegen die Decke. »Da man nicht länger die
Minnesota-Strecke und den transkontinentalen Verkehr der Gesellschaft gleichzeitig aufrechterhalten kann,
müssen wir zwischen Minnesota und den Staaten westlich der Rockies wählen, die durch den Ausfall des
Taggart-Tunnels ebenso abgeschnitten wurden wie die benachbarten Staaten Montana, Idaho und Oregon, was
praktisch gesehen den ganzen Nordwesten bedeutet. Wenn man die Bodenfläche und die Bevölkerungszahlen in
beiden Gebieten vergleicht, dann ist es offensichtlich, daß wir Minnesota fallenlassen müssen, bevor wir unsere
Verbindungslinie über ein Drittel des Kontinents aufgeben.«
»Ich werde den Kontinent nicht aufgeben«, sagte Wesley Mouch mit mürrischer, fast beleidigter Stimme,
ohne von seiner Eiskrem-Schale aufzublicken.
Dagny dachte an die Mesabi Range, die letzte der größeren Eisenerzgruben; sie dachte an die Farmer
Minnesotas, die übriggeblieben waren, die besten Weizenproduzenten des Landes; sie dachte daran, daß das
Ende Minnesotas zugleich das Ende von Wisconsin und Michigan und Illinois bedeuten wurde; sie sah den roten
Atem der Fabriken über den Industriegebieten des Ostens erlöschen; sah die verödenden Äcker, verdorrenden
Weiden und verlassenen Farmen des Westens.
»Die Zahlen beweisen«, sagte Mr. Weatherby mit schmalen Lippen, »daß die weitere Verkehrsversorgung
beider Gebiete nicht länger möglich ist. Die Eisenbahnanlagen des einen Gebiets müssen demontiert werden, um
die Aufrechterhaltung des Verkehrs in dem anderen zu gewährleisten.«
Sie bemerkte, daß Clem Weatherby, ihr technischer Fachmann für Eisenbahnen, bei ihnen am wenigsten zu
sagen hatte und Cuffy Meigs am meisten. Cuffy Meigs saß breit in seinem Sessel und folgte mit gönnerhaftem
Lächeln der Unterhaltung, die er offensichtlich für bloße Zeitverschwendung hielt. Er sprach wenig, und wenn er
es tat, dann begnügte er sich mit Zwischenrufen, die er mit wegwerfenden Handbewegungen und abschätzigem
Grinsen begleitete. »Geschenkt, Jimmy!« oder »Quatsch, Wes, das interessiert niemand!« Dagny bemerkte, daß
weder Jim noch Mouch ihm seine Bevormundung übelnahmen; sie erkannten ihn als ihren Meister an.
»Wir müssen praktisch denken«, sagte Dr. Ferris immer wieder. »Wir müssen wissenschaftlich vorgehen.«
»Ich brauche die Wirtschaft des Landes als Ganzes«, wiederholte Wesley Mouch. »Ich brauche die
Produktion einer Nation.«
»Sprechen Sie von Wirtschaft? Von Produktion?« schaltete Dagny sich mit kalter Stimme in das auf müdem
Pathos dahintreibende Gespräch ein. »Dann geben Sie uns freie Hand, die Oststaaten zu retten. Das ist alles, was
dem Land – und der Welt geblieben ist. Wenn Sie uns den Osten retten lassen, dann haben wir eine Chance, auch
den Rest wieder aufbauen zu können. Wenn nicht, dann ist das Ganze erledigt. Lassen Sie Atlantic Southern sich
um den noch verbleibenden transkontinentalen Verkehr kümmern. Lassen Sie die Regional-Bahnen sich um den
Nordwesten kümmern. Lassen Sie Taggart Transcontinental alle Linien im Westen aufgeben – alle! – und sich
mit ganzer Kraft, mit dem gesamten rollenden Material und allen Gleisanlagen auf den Verkehr der Oststaaten
konzentrieren. Lassen Sie uns zurückgehen auf den Startpunkt dieses Landes, doch lassen Sie uns diesen Punkt
behaupten. Wir werden keine Züge westlich des Missouri fahren lassen. Wir werden eine Lokalbahn des
industriellen Ostens sein. Lassen Sie uns unsere Industrie retten. Im Westen ist nichts mehr zu retten.
Landwirtschaft können Sie jahrhundertelang mit Handarbeit und Ochsenkarren betreiben. Doch wenn Sie das
letzte unserer Industriegebiete zerstören, werden die Anstrengungen von Jahrhunderten nicht in der Lage sein, es
wiederaufzubauen oder die wirtschaftliche Kraft zu einem neuen Start aufzubringen. Wie wollen Sie unsere
Industrie, Eisenbahnen ohne Stahl am Leben erhalten? Wie wollen Sie Stahl erzeugen, wenn Sie die Zufuhr von
Erz abschneiden? Retten Sie, was von Minnesota übriggeblieben ist. Das Land? Es bleibt Ihnen kein Land zu
retten übrig, wenn die Industrie stirbt. Sie können ein Bein oder einen Arm opfern. Sie können aber einen Körper
nicht retten, indem Sie sein Herz und sein Hirn opfern. Retten Sie unsere Industrie. Retten Sie Minnesota. Retten
Sie die Ostküste.«
Es war zwecklos. Sie sagte es mehrere Male, erläuterte es durch Einzelheiten, Statistiken, Zahlen, soweit sie
ihrem müden Hirn angesichts ihrer teilnahmslosen Zuhörer einfielen. Es war zwecklos. Sie widersprachen ihr
nicht, noch stimmten sie ihr zu; sie sahen sie nur an, als gingen ihre Argumente an den Tatsachen vorüber. Es
war ein Unterton verborgener Gewichtigkeit in ihren Antworten, als gäben sie ihr Erklärungen, doch in einer
Verschlüsselung, die sie nicht entziffern konnte.
»Die Kalifornier machen Schwierigkeiten«, sagte Wesley Mouch düster. »Dir Staatsparlament hat sich
ziemlich aufsässig gezeigt. Man hat von einem Ausscheiden aus dem Bund gesprochen.«
»In Oregon treiben zahlreiche Gangsterbanden ihr Unwesen«, sagte Clem Weatherby warnend. »Sie haben
innerhalb der letzten drei Monate zwei Steuereinnehmer ermordet.«
»Die Bedeutung der Industrie für die Zivilisation ist stark übertrieben worden«, sagte Dr. Ferris verträumt.
»Das Gebiet, das heute als Volksstaat Indien bekannt ist, hat jahrhundertelang ohne industrielle Entwicklung
bestanden.«
»Die Menschen können mit weniger mechanischen Spielereien auskommen und sollten mehr Enthaltsamkeit
üben«, sagte Eugene Lawson eifernd. »Es wäre gut für sie.«
»Zum Teufel, wollt ihr euch von diesem Frauenzimmer rumkriegen lassen, das reichste Land der Erde aus den
Händen zu geben?« rief Cuffy Meigs aus und sprang auf. »Ausgerechnet jetzt sollen wir den Kontinent
aufgeben? Und wofür? Für einen schäbigen, kleinen Staat, aus dem ohnehin nichts mehr herauszuholen ist? Ich
sage euch, laßt Minnesota fahren, aber haltet euer transkontinentales Schleppnetz fest. Wenn die Unruhen und
die Ausschreitungen weitergehen, werdet ihr das Volk nicht in Schach halten können, wenn ihr keine
Transportmittel habt – Transportmittel für die Truppen –, wenn ihr nicht dafür sorgt, daß eure Soldaten niemals
mehr als wenige Tagesreisen von jedem Punkt des Landes entfernt sind. Jetzt ist nicht die Zeit für
Sparmaßnahmen. Verliert nicht den Mut, hört nicht auf das Gerede. Ihr habt das Land in der Tasche. Laßt es
euch nicht nehmen! Haltet die Hand darauf!«
»Auf lange Sicht…«, begann Mouch unsicher.
»Auf lange Sicht sind wir alle tot«, unterbrach ihn Cuffy Meigs. Er lief wild gestikulierend auf und ab.
»Nachgeben kommt überhaupt nicht in Frage! Es ist noch allerhand aus Kalifornien und Oregon und den
anderen Staaten herauszuholen. Uns auf den Osten zurückziehen? Ich denke eher, wir sollten uns überlegen, ob
wir nicht weiter vorstoßen sollten. So wie die Dinge jetzt liegen, kann uns keiner hindern. Wir brauchen nur die
Hand auszustrecken – vielleicht nach Mexiko oder Kanada? Das sollte kinderleicht sein.«
Dann sah Dagny die Antwort; sie sah die geheime Voraussetzung hinter ihren Argumenten. Bei all ihrer
lärmenden Begeisterung für das Zeitalter der Wissenschaft, ihrem hysterisch technologischen Geschwätz, ihren
Zyklotronen, ihren gebündelten Schallwellen bewegte diese Männer nicht das Bild einer industriellen
Weiterentwicklung, sondern die Vision jener Existenzform, welche die Industriellen weggefegt hatten – die
Vision von einem fetten, ungepflegten indischen Radscha, einem Turm aus Fleischwülsten mit leerem Blick aus
glotzenden Augen, der nichts anderes zu tun hat, als kostbare Edelsteine durch seine Finger laufen zu lassen und
gelegentlich einem verhungerten, von der Mühe abgestumpften, von Mikroben angefressenen Geschöpf ein
Messer in den Leib zu rennen – als Forderung auf ein paar Körner von dem Reis dieses Geschöpfes, und dann
diese Forderung an Hunderte, Millionen solcher Geschöpfe zu stellen und damit die Reiskörner zu
Schmuckstücken werden zu lassen. Sie hatte geglaubt, industrielle Produktion sei ein von niemand
angezweifelter Wert; sie hatte geglaubt, der Drang dieser Männer, sich die Fabriken anderer anzueignen, sei die
Anerkennung des Wertes der Fabriken. Sie, ein Kind der industriellen Revolution, hatte nie begreifen können,
hatte zugleich mit den Märchen der Astrologie und Alchimie längst vergessen, was diese Männer in ihren
dunklen Seelen als Geheimnis hüteten, ein Geheimnis, das sie nicht durch die Kraft ihrer Gedanken erworben
hatten, sondern jenen namenlosen Schleim, den sie ihre Instinkte und Gefühle nannten: daß die Menschen,
solange sie darum kämpften am Leben zu bleiben, nie so wenig erzeugen würden, daß der Mann mit der Keule
es ihnen nicht wegnehmen und ihnen noch weniger lassen könnte, vorausgesetzt, daß Millionen sich ihm
unterwarfen; daß ihr Geist desto unterwürfiger war, je schwerer die Arbeit und je geringer der Gewinn waren;
daß Menschen, die ihren Lebensunterhalt durch Bedienen einer elektrischen Schalttafel verdienten, nicht leicht
zu beherrschen waren, um so leichter aber Menschen, die, um nicht verhungern zu müssen, den Boden mit ihren
nackten Fingern bearbeiteten; daß der Feudalherr keine elektronischen Fabriken brauchte, um sich aus
juwelenbesetzten Bechern um den Verstand zu trinken; daß er das so wenig brauchte wie die Radschas des
Volksstaates Indien.
Sie sah, was sie wollten und zu welchem Ziel ihre »Instinkte«, die sie selbst für unerklärlich hielten, sie
führten. Sie sah, daß Eugene Lawson, der Philanthrop, mit dem Bild einer hungernden Menschheit liebäugelte,
und daß Dr. Ferris, der Wissenschaftler, von dem Tag träumte, an dem die Menschen zum Handpflug
zurückkehren würden.
Ungläubigkeit und Gleichgültigkeit waren Dagnys einzige Reaktion; Ungläubigkeit, weil sie sich nicht
vorstellen konnte, was menschliche Wesen in einen solchen Zustand bringen konnte. Gleichgültigkeit, weil sie
Leute, die diesen Zustand erreichten, nicht länger als Menschen betrachten konnte. Sie sprachen weiter, aber
Dagny konnte weder sprechen noch zuhören. Sie empfand plötzlich das Verlangen, nach Hause zu gehen und zu
schlafen.
»Miss Taggart«, sagte eine übertrieben höfliche, fast ängstliche Stimme neben ihr, und als sie hastig
aufschaute, sah sie die ergebene Gestalt eines Kellners, »der stellvertretende Vorsteher des Taggart Terminals ist
am Telefon und bittet um die Erlaubnis, Sie sofort sprechen zu dürfen. Er sagt, es sei dringend.«
Es war eine Erleichterung für sie, aufstehen und den Raum verlassen zu können, wenn es auch galt, einen
neuen Hilferuf anzuhören. Es war eine Erleichterung, die Stimme des stellvertretenden Vorstehers zu hören,
wenn er auch sagte: »Die ganze Schaltanlage ist ausgefallen, Miss Taggart. Die Signallampen sind erloschen.
Acht ankommende und sechs abgehende Züge sind blockiert. Wir können sie weder ein- noch ausfahren lassen.
Wir können den Oberingenieur nicht finden. Wir können die Stelle nicht finden, wo die Leitung unterbrochen ist.
Wir haben keinen Kupferdraht für die Reparatur. Wir wissen nicht, was wir…«
»Ich komme sofort«, sagte sie und legte den Hörer auf.
Sie eilte zum Fahrstuhl, rannte beinahe durch die würdevolle Halle des Wayne-Falkland-Hotels und fühlte,
wie sie angesichts der Möglichkeit zu handeln wieder zum Leben erwachte.
Taxis waren in diesen Tagen selten, und es erschien keines auf das Pfeifen des Portiers. Sie begann, die Straße
hinunterzulaufen, ohne daran zu denken, wie sie gekleidet war, wunderte sich, warum sie den Wind so kalt und
nah empfand.
In Gedanken schon im Bahnhof, sah sie sich plötzlich einem Bild gegenüber, dessen Schönheit sie
überraschte: Sie sah die schlanke Gestalt einer Frau, die ihr entgegenlief. Der Schein einer Straßenlaterne
huschte über schimmerndes Haar, nackte Arme, die flatternde Schleppe eines schwarzen Umhangs und die
Flamme eines Diamanten auf ihrer Brust. Und dahinter sah sie den langen, leeren Korridor einer Straße und die
einsamen Lichter von Wolkenkratzern. Die Erkenntnis, daß sie ihr eigenes Bild im Seitenspiegel eines
Blumenladen-Schaufensters sah, kam einen Herzschlag zu spät; sie hatte den Zauber des Zusammenhangs
empfunden, in dem dieses Bild und die Stadt zueinander standen. Dann überfiel sie verzweifelte Einsamkeit,
mehr als die Einsamkeit einer menschenleeren Straße, und Unwillen gegen sich selbst angesichts des unerhörten
Gegensatzes zwischen ihrer Erscheinung und dem Schicksal dieser Nacht und dieser Zeit.
Sie sah ein Taxi um die Ecke biegen, winkte es heran, sprang hinein und schlug die Tür hastig hinter sich zu,
als hoffte sie, hierdurch ein Gefühl auf dem leeren Pflaster vor einem Blumenladen zurücklassen zu können.
Doch sie erkannte voll Selbstironie, Bitterkeit und Sehnsucht, daß dieses Gefühl jene Erwartung war, die sie bei
ihrem ersten Ball und die seltenen Male empfunden hatte, als sie wünschte, daß die äußere Schönheit des
Daseins seinem inneren Glanz gleichkäme. Es war nicht der richtige Augenblick, um daran zu denken, sagte sie
sich wütend. Nicht jetzt! Doch eine verzweifelte Stimme fragte sie immer wieder unter dem Rattern der Räder
des Taxis: Du, die du glaubtest, daß du für dein Glück leben mußt, was ist dir davon geblieben? Wofür kämpfst
du noch? Was bringt dein Kampf dir ein? Oder bist du im Begriff, einer jener verächtlichen Altruisten zu
werden, die keine Antwort mehr auf diese Frage wissen?
Nein, nicht jetzt! befahl sie sich, als der erleuchtete Eingang des Taggart Terminals im Rechteck der
Windschutzscheibe des Taxis auftauchte.
Die Männer im Büro des Bahnhofsvorstehers glichen erloschenen Signalen, als ob auch hier ein Draht
gerissen und kein Strom da wäre, sie zu bewegen. Sie sahen sie mit Blicken hoffnungsloser Resignation an, als
wäre es gleichgültig, ob sie sie in ihrer Passivität ließ oder einen Schalter drehte, um sie wieder in Bewegung zu
setzen. Der Bahnhofsvorsteher war nicht da, den Oberingenieur konnte man nicht finden; er war vor zwei
Stunden zum letzten Mal im Bahnhof gesehen worden. Der stellvertretende Vorsteher hatte seine Fähigkeit zu
Eigeninitiative mit dem Entschluß erschöpft, sie anzurufen. Die übrigen schienen Handeln aus eigenem
Entschluß seit langem nicht mehr zu kennen. Der Signalingenieur war ein Mann in den Dreißig, der aussah wie
ein College-Student und sich vorwurfsvoll ereiferte: »Aber so etwas ist früher nie vorgekommen, Miss Taggart!
Die Schaltanlage hat nie versagt! Sie dürfte eigentlich auch nicht versagen! Wir verstehen unsere Arbeit. Wir
können sie so gut wie jeder andere erledigen. Aber nicht, wenn die Anlage versagt!« Sie wußte nicht zu sagen,
ob der Fahrdienstleiter, ein älterer Mann mit langjähriger Berufserfahrung, sein Wissen noch besaß oder ob
Monate der Unterdrückung es vollkommen ausgelöscht hatten und er sich in die Sicherheit des Stillstandes
zurückgezogen hatte.
»Wir wissen nicht, was wir tun sollen, Miss Taggart.« – »Wir wissen nicht, welche Genehmigungen wir
einholen müssen und von wem.« – »Es gibt keine Vorschriften für einen Fall wie diesen.« – »Es gibt nicht
einmal Bestimmungen, wer die Vorschriften für einen solchen Fall zu erlassen hat.«
Sie griff ohne ein Wort der Erklärung nach dem Telefonhörer und beauftragte die Zentrale, sie sofort mit dem
Stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden und Betriebsleiter von Atlantic Southern in Chicago zu verbinden, ihn,
wenn nötig, aus dem Bett holen zu lassen.
»George? Hier spricht Dagny Taggart«, sagte sie, als die Stimme ihres Konkurrenten über den Draht kam.
»Wollen Sie mir den Signalingenieur Ihres Terminals in Chicago, Charles Murray, für vierundzwanzig Stunden
leihen? Ja? Gut. Setzen Sie ihn sofort in ein Flugzeug, und lassen Sie ihn so schnell wie möglich hierherschaffen.
Sagen Sie ihm, wir zahlen ihm dreitausend Dollar. Ja, für einen Tag. – Ja, so schlimm steht’s. – Ja, ich bezahle
ihn in bar, aus meiner eigenen Tasche, wenn es sein muß, aber sorgen Sie dafür, daß er das nächste Flugzeug
nimmt, das Chicago verläßt. Ich zahle alles, was es an Bestechungsgeldern kostet. – Nein, George, nicht ein
einziger Kopf ist bei Taggart Transcontinental übriggeblieben. – Ja, ich besorge alle Papiere, Genehmigungen
und Dringlichkeitsbescheinigungen. Danke, George, danke.«
Sie legte auf und sprach pausenlos auf die Männer ein, die vor ihr standen, um nicht die Stille des Raumes
und die Stille des Bahnhofs wahrzunehmen, in der kein Räderrattern mehr zu hören war, um nicht die bitteren
Worte hören zu müssen, die die Stille hartnäckig zu wiederholen schien: Nicht ein einziger Kopf ist bei der
Taggart Transcontinental übriggeblieben.
»Machen Sie einen Bergungszug mit Besatzung bereit«, sagte sie. »Schicken Sie ihn sofort zur Hudson-
Strecke mit der Anweisung, jeden Meter Kupferdraht, alle Lampen, alle Signale, Telefonanlagen, alles, was
Eigentum der Gesellschaft ist, zu demontieren und bis zum Morgen hierher zu schaffen.«
»Aber, Miss Taggart! Unser Betrieb auf der Hudson-Strecke ist nur vorübergehend eingestellt, und der
Koordinierungsausschuß hat uns die Genehmigung verweigert, sie zu demontieren!«
»Ich übernehme die Verantwortung.«
»Aber wie kriegen wir den Bergungszug aus dem Bahnhof, wenn die Signale nicht funktionieren?«
»In einer halben Stunde werden die Signale funktionieren.«
»Wie?«
»Kommen Sie mit«, sagte sie und erhob sich.
Sie folgten ihr, während sie zu den Personenbahnsteigen hinuntereilte, vorbei an den Fahrgästen, die in
Gruppen ratlos neben den bewegungslosen Zügen warteten. Sie eilte einen schmalen Laufsteg hinunter auf die
Strecke, über ein Gewirr von Gleisen, vorbei an erblindeten Signalen und toten Weichen; in dem hohen Gewölbe
der Tunnels von Taggart Transcontinental war nichts zu hören außer dem harten Takt ihrer Seidenpumps und
dem Knarren von Planken unter dem langsameren Schritt der Männer, die ihr folgten wie ein widerstrebendes
Echo; sie kam zu dem erleuchteten Glaswürfel der Blockstelle A, die wie eine Krone ohne Körper in der
Dunkelheit hing, die Krone eines abgesetzten Herrschers über ein Reich leerer Strecken.
Der Leiter der Blockstelle war ein in seinem anspruchsvollen Beruf zu erfahrener Mann, um sein Wissen ganz
vor ihr verbergen zu können. Er verstand schon bei ihren ersten Worten, was sie von ihm wollte, und antwortete
nur mit einem schroffen »Jawohl, Miss Taggart«; doch er war tief über seine Karten gebeugt, als die anderen, die
ihr die Eisentreppe hinauf gefolgt waren, den Raum betraten, und erledigte mit unverhohlenem Grimm die
demütigendste Aufgabe seiner Laufbahn. Wie es in ihm aussah, erkannte sie an einem einzigen Blick, den er ihr
zuwarf, einem Blick der Empörung und gleichzeitiger Resignation, mit dem er eine Empfindung beantwortete,
die er in ihrem Gesicht wahrgenommen hatte. »Wir werden es zuerst tun und hinterher bittere Empfindungen
haben«, sagte sie, obwohl er nichts gesagt hatte. »Jawohl, Miss Taggart«, antwortete er mit steinernem Gesicht.
Sein Arbeitsraum im Obergeschoß der unterirdischen Blockstelle war wie eine Glasveranda, von der er den einst
schnellsten, stärksten und genauesten Schienenverkehrsstrom der Welt überschaut hatte. Von hier aus hatte er
den Lauf von über neunzig Zügen in der Stunde vorausberechnet und sie, von ihnen nur durch eine Glaswand
getrennt, mit dem leisen Druck seiner Fingerspitzen sicher durch ein Labyrinth von Gleisen und Weichen
geleitet. Jetzt blickte er zum ersten Mal hinaus in die dunkle Leere eines trockengelegten Kanals.
Durch die offene Tür des Schaltraumes sah Dagny die Weichensteller, die Männer, deren Aufgabe ihnen
keinen Augenblick der Entspannung gegönnt hatte, in verdrossener Muße vor der langen Reihe der Schalttafeln
stehen, die wie senkrechte Kupferfalten aussahen, wie Bücherregale und Wahrzeichen menschlicher Intelligenz.
Das Umlegen eines der vielen kleinen Hebel, die wie Lesezeichen aus den Regalen herausragten, schloß
Tausende von Stromkreisen, stellte Tausende von Kontakten her und unterbrach ebenso viele andere, bewegte
Dutzende von Weichen, um einen bestimmten Kurs freizumachen, und veränderte Dutzende von Signalen, ihn
zu kennzeichnen, schaltete jeden Irrtum, jede Abweichung, jeden Widerspruch aus, konzentrierte Tausende von
Überlegungen in eine einzige Bewegung einer Menschenhand, um den Lauf eines Zuges festzulegen und zu
sichern, auf daß Hunderte von Zügen gefahrlos vorbeirasen konnten, auf daß Tausende von Tonnen Metall und
Tausende von Menschenleben, nur um Atembreite voneinander entfernt, in ungeheurer Geschwindigkeit
aneinander vorbeisausen konnten, durch nichts geschützt als den Gedanken des Mannes, der die Hebel erfunden
hatte. Aber diese Leute – Dagny betrachtete das Gesicht ihres Signalingenieurs – glaubten, daß die
Muskelkontraktion einer Hand alles war, was man brauchte, um den Verkehr in Bewegung zu setzen… und jetzt
standen die Weichensteller tatenlos da, und auf den großen Signaltafeln vor dem Leiter des Stellwerks waren die
grünen und roten Lämpchen, die den Lauf eines Zuges auf Meilen anzeigten, nur noch Glasperlen, ähnlich jenen,
für die eine andere Sorte von Wilden einst die Insel Manhattan verkauft hatte.
»Rufen Sie alle Ihre ungelernten Arbeiter zusammen«, sagte sie zu dem stellvertretenden Bahnhofsvorsteher,
»die Streckenwärter, die Gleisarbeiter, die Maschinenputzer, alle, die jetzt im Bahnhof sind, und lassen Sie sie
sofort herkommen.«
»Hierher?«
»Jawohl, hierher«, sagte sie und zeigte auf die Schienen am Fuß des Blocks. »Holen Sie auch alle
Weichensteller. Rufen Sie das Lager an, und lassen Sie alles an Handlampen, was Sie auftreiben können,
hierherschaffen, Zugführerlampen, Sturmlampen, alles.«
»Laternen, Miss Taggart?«
»Beeilen Sie sich.«
»Jawohl, Miss Taggart.«
»Was werden wir dann tun, Miss Taggart?« fragte der Fahrdienstleiter.
»Wir werden die Züge weiterleiten, und zwar durch Handbetrieb.«
»Durch Handbetrieb?« fragte der Signalingenieur.
»Jawohl, mein Lieber! Aber warum sind gerade Sie darüber entsetzt?« Sie konnte der Versuchung nicht
widerstehen. »Der Mensch ist doch nur ein Muskel, nicht wahr? Wir gehen zurück, zurück auf jenen Punkt, an
dem es noch keine Schaltanlagen, keine Signale, keine Elektrizität gab, zurück in die Zeit, da Signale nicht aus
Stahl und Draht bestanden, sondern Männer waren, die Laternen schwenkten – lebendige Menschen, die als
Laternenpfähle dienten. Sie haben es lange genug gepredigt. Jetzt haben Sie, was Sie wollten. Sie glauben doch,
daß Ihre Werkzeuge Ihren Geist formen? Aber leider ist es umgekehrt. Und jetzt werden Sie erleben, welche
Werkzeuge Ihr Geist Ihnen beschert hat!«
Doch selbst in die Primitivität zurückzufallen erfordert einen Akt des Verstandes, dachte sie und empfand
bestürzt das Paradoxe ihrer eigenen Lage, als sie die Lethargie in den Gesichtern sah, die sie verständnislos
anstarrten.
»Wie werden wir die Weichen betätigen, Miss Taggart?«
»Mit der Hand.«
»Und die Signale?«
»Mit der Hand.«
»Wie?«
»Indem wir einen Mann mit einer Laterne an jeden Signalposten stellen.«
»Wie? Dafür reicht der Zwischenraum nicht aus.«
»Wir benutzen nur jedes zweite Gleis.«
»Woher wis sen die Männer, wie sie die Weichen umlegen sollen?«
»Durch schriftliche Anweisungen.«
»Wodurch?«
»Durch schriftliche Anweisungen – wie in den alten Zeiten.« Sie deutete auf den Leiter der Blockstelle. »Er
arbeitet einen Plan aus, nach dem die Züge weiterfahren und der angibt, welche Gleise sie benutzen. Er wird für
jedes Signal und für jede Weiche einen Befehl ausschreiben. Er wird einige Männer als Läufer bestimmen, und
sie werden die Befehle zu den einzelnen Posten bringen. Es wird Stunden dauern, das zu tun, was sonst in
Minuten geschah, doch wir werden die blockierten Züge in den Bahnhof und aus dem Bahnhof auf die Strecke
bringen.«
»Auf diese Weise werden wir die ganze Nacht arbeiten müssen!«
»Und morgen den ganzen Tag – bis der Ingenieur, der genug Hirn dazu besitzt, Ihnen gezeigt hat, wie man
eine Schaltanlage repariert.«
»In den Gewerkschaftsverträgen ist nicht vorgesehen, daß Männer mit Laternen auf der Strecke stehen sollen.
Es wird Schwierigkeiten geben. Die Gewerkschaft wird Einspruch erheben.«
»Schicken Sie sie zu mir.«
»Der Koordinierungsausschuß wird protestieren.«
»Ich übernehme die Verantwortung.«
»Ich… ich möchte nicht als derjenige gelten, der die Anweisungen gegeben hat…«
»Ich gebe die Anweisungen.«
Dagny trat auf den Absatz der Eisentreppe hinaus, die an der Seite des Blocks hinaufführte; sie kämpfte um
die Beherrschung ihrer Nerven. Für einen Augenblick schien es ihr, als wäre auch sie ein Präzisionsinstrument
höchster Kompliziertheit ohne elektrischen Strom und versuchte, eine transkontinentale Eisenbahn mit ihren
beiden Händen zu leiten. Sie blickte hinaus in das große schweigende Dunkel der Taggart-Untergrundstrecke
und empfand brennende Scham darüber, nun erleben zu müssen, wie dieses Wunderwerk der Technik so tief
erniedrigt wurde, daß menschliche Laternenpfähle seine letzte Rettung darstellten.
Sie konnte die Gesichter der Männer, die sich am Fuß des Turmes sammelten, kaum unterscheiden. Sie
strömten aus der Finsternis des Tunnels herbei und standen bewegungslos in dem gespenstischen Zwielicht der
blauen Lampen an den Wänden hinter ihnen und des Lichtscheins, der aus den Fenstern des Turmes auf ihre
Schultern fiel. Sie sah die ölverschmierten Arbeitsanzüge, die schlaffen Körper, die hängenden Arme von
Männern, die gezeichnet waren von der Erschöpfung einer Arbeit, die kein Denken erforderte. Sie waren der
Bodensatz der Welt der Eisenbahn, jüngere Männer, die jetzt keine Chance des Aufstiegs mehr finden konnten,
und ältere, die sie nie gesucht hatten. Sie sahen schweigend zu ihr hinauf, nicht mit der abwartenden Neugier
interessierter Arbeiter, sondern mit der dumpfen Gleichgültigkeit von Sträflingen.
»Die Anweisungen, die Sie jetzt erhalten werden, stammen von mir«, sprach sie mit klarer, fester Stimme zu
ihnen hinunter. »Die Männer, die sie ausgeben, handeln nach meinen Anweisungen. Das Signalsystem ist
gestört. Es wird nun durch Handbetrieb ersetzt. Der Zugverkehr wird sofort wiederaufgenommen.«
Sie entdeckte in der Menge einige Gesichter, die sie mit seltsamen Blicken musterten: mit einer verschleierten
Abneigung und einer unverschämten Neugier, die ihr plötzlich zum Bewußtsein brachte, daß sie eine Frau war.
Und sie erinnerte sich daran, wie sie gekleidet war, und dachte, daß ihre Kleidung unerhört aussah. Doch in
einem jähen Impuls, den sie empfand wie eine Herausforderung und zugleich eine Anerkennung der wahren
Bedeutung des Augenblicks, warf sie ihren Umhang zurück und stand im grellen Schein des weißen Lichts unter
den verrußten Säulen wie eine Gestalt bei einem feierlichen Empfang, streng aufrecht, strahlend im Glanz ihrer
nackten Arme, der schimmernden schwarzen Seide und eines Diamanten, der funkelte wie eine militärische
Tapferkeitsauszeichnung.
»Der Leiter der Blockstelle wird den Weichenstellern ihre Plätze anweisen. Er wird Leute aussuchen, die den
Zügen mit Handlaternen Signale geben, und andere, die seine Befehle übermitteln. Die Züge…« Sie zwang sich,
eine höhnische Stimme zu überhören, die ihr zuzuflüstern schien: Das ist alles, wozu diese Männer taugen, und
auch das muß sich erst noch zeigen… Nicht ein einziger Kopf ist bei Taggart Transcontinental übriggeblieben.
»So werden die wartenden Züge aus dem Bahnhof und in den Bahnhof geleitet werden. Sie werden auf Ihren
Posten bleiben, bis…«
Sie unterbrach sich. Seine Augen und sein Haar erblickte sie zuerst – die erbarmungslosen harten Augen und
die Strähnen von Gold und Kupfer, die aufgespeichertes Sonnenlicht in dem unterirdischen Dunkel
auszustrahlen schienen.
Sie sah John Galt in der Masse der Hirnlosen, John Galt in schmutzigem Overall und mit hochgekrempelten
Hemdsärmeln, sie sah ihn in seiner schwerelosen Haltung dort unten stehen, das Gesicht erhoben und auf sie
gerichtet, als hätte er diesen Augenblick schon viele Male vorweg erlebt.
»Was ist, Miss Taggart?«
Es war die besorgte Stimme des Blockstellenleiters, der neben sie getreten war, irgendein Papier in der Hand,
und sie dachte, wie seltsam es war, aus einem Zustand der Geistesabwesenheit zu erwachen, der die schärfste
Wahrnehmung war, die sie je erlebt hatte, und daß sie nicht wußte, wie lange dieser Zustand gedauert hatte, und
wo sie war, und warum sie hier war. Sie hatte Galts Gesicht gesehen, sie hatte in der Form seines Mundes, in den
Flächen seiner Wangen gesehen, daß seine stetige, unerschütterlich heitere Ruhe dahin war. Und zugleich sprach
aus dem erkennenden Flattern seiner Lider das unfreiwillige Eingeständnis, daß dieser Augenblick selbst für ihn
zuviel war.
Sie wußte, daß sie weitersprach, weil die anderen sie ansahen, als hörten sie ihr zu, obwohl sie selbst keinen
Laut vernahm, und sie sprach weiter, als führte sie einen hypnotischen Auftrag aus, den sie sich selbst vor langer
Zeit gegeben hatte, und sie wußte nur, ohne ihre eigenen Worte zu kennen oder zu hören, daß die Ausführung
dieses Befehls eine Herausforderung an ihn war. Ihr war, als stünde sie in einem leuchtenden Schweigen, in dem
Sehen ihre einzige Sinneswahrnehmung war und sein Gesicht dessen einziges Ziel, als wäre der Anblick seines
Gesichts eine Sprache, übermittelt durch einen Druck auf ihren Kehlkopf. Es schien ihr so natürlich, daß er hier
war, es schien so unerträglich einfach – sie hatte ein Gefühl, als ob nicht seine Gegenwart sie bestürzte, sondern
die der anderen auf den Schienen ihrer Eisenbahn, wohin er gehörte, jene aber nicht. Sie sah jene Augenblicke,
da sie beim Eintauchen des Zuges in einen Tunnel eine plötzliche, feierlich ernste Spannung empfunden hatte,
als zeigte dieser Ort ihr in nackter Einfachheit das Wesen ihrer Bahn und ihres Lebens, die Verbindung von
Bewußtsein und Materie, die gefrorene Gestalt des Genies eines Geistes, der dessen Zielen ein körperliches
Dasein verliehen hatte; sie empfand eine plötzliche Hoffnung, als enthielte dieser Ort die Bedeutung aller ihrer
Werte, und sie fühlte eine geheime Erregung, als ob ein namenloses Versprechen sie unter der Erde erwartete. Es
war richtig, daß sie ihm hier begegnete, denn er war die Bedeutung gewesen und das Versprechen. Sie sah nicht
mehr seine Kleidung und auch nicht, auf welche Ebene ihre Eisenbahn ihn hinabgedrückt hatte; sie sah nur die
verschwindende Qual der Monate, da er ihr unerreichbar gewesen; sie sah in seinem Gesicht das Bekenntnis
dessen, was diese Monate ihn gekostet hatten; und das einzige, was sie hörte, war gleichsam, als ob sie ihm
sagte: Dies ist die Belohnung für all meine Tage und – als antwortete er ihr: Und für all meine Tage.
Sie erkannte, daß sie aufgehört hatte, zu den Männern zu sprechen, als sie sah, daß der Blockstellenleiter
vorgetreten war und ihnen etwas sagte, wobei er auf eine Liste in seiner Hand blickte. Getrieben von einer
unwiderstehlichen Gewißheit stieg sie die Treppe hinunter, ging unauffällig von der Menge weg, doch nicht nach
den Bahnsteigen und dem Ausgang, sondern in das Dunkel der verlassenen Tunnel. Du wirst mir folgen, dachte
sie. Und sie hatte ein Gefühl, als wäre der Gedanke nicht in Worten ausgedrückt, sondern in der Spannung ihrer
Muskeln, in der Anstrengung ihres Willens, etwas zu vollbringen, wovon sie wußte, daß es außerhalb ihrer
Macht lag. Und doch wußte sie unbedingt, daß es geschehen würde, weil sie es wünschte. Nein, dachte sie, nicht
weil sie es wünschte, sondern weil es so völlig richtig war: Du wirst mir folgen. Es war weder Bitte noch Gebet
noch Forderung, sondern die gelassene Feststellung einer Tatsache, es war das Fazit ihres Wissens und die
Summe alles dessen, was sie in Jahren erworben hatte. Du wirst mir folgen, wenn wir sind, was wir sind, du und
ich, wenn wir leben, wenn die Welt besteht, wenn du den Sinn dieses Augenblicks erkannt hast und ihn nicht wie
andere entweichen läßt in die Sinnlosigkeit des Ungewollten und Nichterreichten. Du wirst mir folgen. Sie fühlte
eine jubelnde Sicherheit, weder Hoffnung noch Glaube, sondern eine Verehrung der Logik des Daseins. Sie eilte
weiter über die Trümmer einer toten Strecke, durch lange, dunkle Gänge, die sich durch Granit wanden. Die
Stimme des Blockstellenleiters verlor sich hinter ihr. Dann spürte sie das Hämmern ihres Herzens und hörte im
widerhallenden Rhythmus über sich den Pulsschlag der Stadt, doch ihr war, als füllte der Takt ihres Blutes die
Stille, die sie umgab, und das Leben der Stadt pulsierte in ihrem Körper. Dann hörte sie weit hinter sich das
Geräusch von Schritten. Sie schaute nicht zurück. Sie ging schneller.
Sie eilte vorbei an dem verschlossenen Eisentor, hinter dem noch immer die Überreste seines Motors
verborgen lagen. Ihr Schritt stockte nicht, doch erschauernd erkannte sie den zwingenden Zusammenhang der
Ereignisse der beiden letzten Jahre. Eine Schnur blauer Lichter führte weiter in die Dunkelheit, über Flächen
glitzernden Granits, über zerrissene Sandsäcke, die ihren Inhalt über Gleise schütteten, über Haufen rostender
Metallabfälle. Als sie die Schritte näherkommen hörte, blieb sie stehen und wandte sich um. Sie sah kurz den
Schein eines blauen Lichtes über die schimmernden Strähnen von Galts Haar huschen, sah die helle Kontur
seines Gesichtes und die dunklen Höhlen seiner Augen. Das Gesicht verschwand, doch der Laut seiner Schritte
schuf die Verbindung bis zum nächsten blauen Licht, das seine Augen traf, deren Blick geradeaus gerichtet war.
Und sie war sicher, daß sie in seiner Sicht geblieben war von dem Moment an, da er sie auf der Blockstelle
erblickt hatte.
Sie hörte den Pulsschlag der Stadt über ihnen. Diese Tunnel, hatte sie einst geglaubt, waren die Wurzeln der
Stadt und aller Bewegung zwischen Erde und Himmel. Doch sie, John Galt und sie, dachte sie jetzt, sie waren
die Lebenskraft in diesen Wurzeln, sie waren Ursprung, Ziel und Sinn. Und auch er, dachte sie, hörte den
Pulsschlag der Stadt als Puls seines Körpers. Sie warf ihren Umhang zurück und stand aufrecht in
herausfordernder Haltung, wie er sie auf der Treppe der Blockstelle hatte stehen sehen und wie er sie zum ersten
Mal, vor zehn Jahren, ebenfalls hier unter der Erde gesehen hatte. Und sie hörte die Worte seines Geständnisses,
nicht als Worte, sondern in dem Hämmern ihres Herzens das ihr jetzt das Atmen so schwierig machte: Sie sahen
aus wie ein Symbol des Luxus, und sie gehörten dorthin, wo er seine Quelle hatte; sie schienen mir die
Lebensfreude den wahren Eigentümern zurückzugeben; sie waren Sinnbild der Energie und ihres Lohns
zugleich; und ich bin der erste Mensch, der je erklärt hat, wieso diese beiden untrennbar sind.
Die folgenden Augenblicke waren Blitze in einer Spanne geblendeter Bewußtlosigkeit. Der Augenblick, als
sie sein Gesicht sah, als er neben ihr stehen blieb; als sie die gelassene Ruhe, die tiefe Intensität, das Lachen des
Verstehens in seinen dunkelgrünen Augen sah – der Augenblick, als sie an der harten Gespanntheit seiner
Lippen erkannte, was er in ihrem Gesicht sah, der Augenblick, als sie seinen Mund auf dem ihren spürte, als sie
die Form seines Mundes als eine Form an sich und zugleich als ein flüssiges Feuer empfand, das ihren Körper
füllte, dann die Bewegung seiner Lippen entlang der Linie ihres Halses, eine trinkende Bewegung, die eine Spur
von Wunden hinterließ, dann das Funkeln ihrer Diamantbrosche vor dem zitternden Kupfer seines Haares.
Dann war sie sich nur noch der Empfindungen ihres Körpers bewußt, denn ihr Körper erlangte plötzlich die
Macht, sie die am meisten verwickelten Werte in unmittelbarer Wahrnehmung erkennen zu lassen. So wie ihre
Augen die Macht hatten, Energiewellen in ein Bild zu verwandeln, wie ihre Ohren die Macht hatten,
Schwingungen in Töne zu verwandeln, so hatte ihr Körper jetzt die Macht, die Energie, die alle Wahlen ihres
Lebens bewegt hatte, in unmittelbare sinnliche Wahrnehmung zu verwandeln. Nicht der Druck einer Hand ließ
sie zittern, sondern die augenblickliche Summe der Bedeutungen dieses Druckes, die Erkenntnis, daß es seine
Hand war, daß sie sich bewegte, als wäre das Fleisch der Frau sein Besitztum, daß die Bewegung dieser Hand
seine anerkennende Unterschrift unter die Gesamtheit der Leistung war, die sie selbst verkörperte. Es war nur
eine Empfindung körperlicher Freude, doch sie enthielt Dagnys Glauben an ihn, an alles, was ihn und sein Leben
ausmachte. Von der Macht der Massenversammlung in einer Fabrik in Wisconsin zu dem Atlantis eines in den
Rocky Mountains verborgenen Tales, zu dem triumphierenden Spott der überragenden Intelligenz seiner grünen
Augen über der Gestalt eines Arbeiters am Fuß der Blockstelle. Sie enthielt Dagnys Stolz auf sich selbst und
darüber, daß er gerade sie als seinen Spiegel erwählt hatte, daß ihr Körper es sein sollte, der ihm jetzt die Summe
seines Daseins schenkte, wie sein Körper ihr die Summe des ihren schenkte. Diese Dinge enthielt diese
Kenntnis, aber Dagny erkannte nur die Empfindung der Bewegung seiner Hand auf ihren Brüsten.
Er riß ihren Umhang herunter, und sie empfand die Schlankheit ihres Körpers in der Umschlingung seiner
Arme, als wäre seine Person nur ein Werkzeug zur triumphierenden Wahrnehmung ihrer selbst und dieses Selbst
nur ein Werkzeug, mit dem sie ihn wahrnahm. Es war, als erreichte sie die Grenze ihrer Fähigkeit zu fühlen,
doch was sie fühlte, war wie der Schrei einer ungeduldigen Forderung, die zu erklären sie jetzt nicht fähig war,
außer daß sie den gleichen ehrgeizigen Charakter hatte wie der Lauf ihres Lebens, den gleichen unerschöpflichen
Charakter strahlenden Verlangens.
Er zog ihren Kopf kurz nach hinten, um ihr in die Augen zu schauen, um sie die seinen sehen zu lassen, sie
die volle Bedeutung ihrer Handlungen erkennen zu lassen, als wollte er den Scheinwerfer der Bewußtheit in
einem Augenblick auf sie beide lenken, da ihre Augen sich in einer Vertrautheit trafen, die tiefer war als jene, die
ihr folgen sollte. Dann spürte sie das rauhe Muster von Sackleinwand auf der Haut ihrer Schultern, erkannte, daß
sie auf den geplatzten Sandsäcken lag, sah den langen, anliegenden Glanz ihrer Strümpfe, fühlte seinen Mund
sich auf ihre Fessel pressen und dann in martervoller Bewegung der Linie ihres Beines folgen, als wollte er
durch seine Lippen von dessen Form Besitz ergreifen, dann fühlte sie seine Zähne sich in das Fleisch ihres
Armes vergraben, sie fühlte seinen Ellenbogen ihren Kopf zur Seite schieben und seinen Mund sich ihrer Lippen
bemächtigen mit einem Druck, der grimmiger und schmerzlicher war als der ihre. Dann fühlte sie, als es ihren
Hals traf, das, was sie nur als ein Aufbäumen empfand, das ihren Körper entspannte und auflöste in eine einzige
Erschütterung der Lust. Dann spürte sie nichts mehr als die Bewegung seines Körpers und das treibende
Verlangen, das immer mehr forderte, als wäre sie nicht länger ein Mensch, sondern nur noch die Empfindung
eines endlosen Strebens nach dem Unmöglichen. Dann erkannte sie, daß es möglich war, und sie keuchte, lag
still und wußte, daß es keine größere Erfüllung gab.
Er lag neben ihr auf dem Rücken, sah hinauf in die Dunkelheit der granitenen Wölbung über ihnen, sie sah ihn
ausgestreckt auf dem unebenen Haufen von Sandsäcken, als wäre sein Körper flüssig in der Entspannung, sie sah
den schwarzen Keil ihres Umhanges auf den Schienen zu ihren Füßen, sah Perlen von Feuchtigkeit an der Decke
des Gewölbes langsam weiterrinnen in unsichtbare Spalten, wie die Lichter ferner Züge. Als er sprach, klang
seine Stimme, als vollendete er einen Satz ruhig in Beantwortung ihrer stummen Fragen, als hätte er jetzt nichts
mehr vor ihr zu verbergen und als wäre das, was er ihr jetzt schuldete, nur der Akt der Entkleidung seiner Seele,
so einfach, als entkleidete er seinen Körper.
»So habe ich dich zehn Jahre lang beobachtet. Von hier, aus der Tiefe unter deinen Füßen. Ich kannte jede
Bewegung, die du oben in deinem Büro unter dem Dach des Gebäudes machtest, doch ohne dich zu sehen, je
genug zu sehen. Die Nächte von zehn Jahren, verbracht in der Erwartung deines Anblicks, hier, auf den
Bahnsteigen, wenn du in einen Zug stiegst; wann immer die Anweisung kam, deinen Wagen anzuhängen, wußte
ich es und wartete, dich die Rampe herunterkommen zu sehen, und wünschte, du gingst nicht so schnell. Dieser
Gang warst ganz du, ich hätte ihn überall wiedererkannt. Dieser Gang und deine Beine. Immer waren es deine
Beine, die ich zuerst erblickte, wenn sie den Bahnsteig hinuntereilten, an mir vorbei, während ich von einer
dunklen Seitenstrecke zu dir hinaufsah. Ich glaube, ich hätte deine Beine modellieren können, ich sah sie nicht
nur mit den Augen, sondern fühlte sie mit den Flächen meiner Hände, wenn du an mir vorbeigingst. Fühlte sie
noch, wenn ich zu meiner Arbeit zurückkehrte. Wenn ich vor Sonnenaufgang nach Hause ging auf die drei
Stunden Schlaf, die ich nicht fand…«
»Ich liebe dich«, sagte sie, und ihre Stimme war ruhig und fast tonlos bis auf einen zerbrechlichen Klang von
Jugend.
Er schloß die Augen, als wollte er diesen Klang durch die Jahre der Vergangenheit zurückreisen lassen. »Zehn
Jahre, Dagny – mit Ausnahme der wenigen Wochen, als ich dich vor mir hatte, in voller Sicht, in Reichweite,
nicht davoneilend, sondern wie auf einer privaten Bühne für mich allein. Und ich sah dich stundenlang im
erleuchteten Fenster eines Büros, das sich John-Galt-Linie nannte – und eines Nachts…«
Ihr Atem war ein schwaches Aufstöhnen. »Warst du es – in jener Nacht?«
»Hast du mich gesehen?«
»Ich sah deinen Schatten – auf dem Pflaster. Wie er sich hin- und herbewegte. Es sah aus wie ein Kampf, es
sah aus wie…« Sie unterbrach sich; sie wollte nicht sagen: eine Folter.
»Ich war es«, antwortete er ruhig. »In jener Nacht wollte ich zu dir hineingehen, dir gegenübertreten, zu dir
sprechen. Es war die Nacht, in der ich der Gefahr, meinen Eid zu brechen, am nächsten war. Als ich dich über
deinem Schreibtisch zusammengesunken sah, als ich dich zerbrochen sah unter der Bürde, die du trugst…«
»John, ich dachte in jener Nacht an dich… nur wußte ich es nicht…«
»Aber, weißt du, ich wußte es.«
»Du warst immer da, mein ganzes Leben lang, in allem, was ich tat und was ich wünschte…«
»Ich weiß es.«
»John, das Schlimmste war nicht der Tag, an dem ich dich im Tal verließ, es war…«
»Deine Rundfunkansprache am Tag deiner Rückkehr?«
»Ja! Hast du zugehört?«
»Natürlich. Ich bin froh, daß du gesprochen hast. Es war großartig. Und ich… ich wußte es ohnehin.«
»Du wußtest von Hank Rearden?«
»Bevor ich dich im Tal sah.«
»War es… Als du von ihm erfuhrst, hattest du es erwartet?«
»Nein.«
»War es…?« Sie sprach nicht weiter.
»Schwer? Ja. Doch nur in den ersten Tagen. In der nächsten Nacht… willst du, daß ich dir sage, was ich in der
Nacht tat, nachdem ich es erfahren hatte?«
»Ja.«
»Ich hatte Hank Rearden nie gesehen, nur Bilder von ihm in den Zeitungen. Ich wußte, daß er in New York
war in jener Nacht, auf einer Konferenz großer Industrieller. Ich wollte ihn nur einmal kurz sehen. Ich wartete
am Eingang des Hotels, in dem die Konferenz stattfand. Der Vorplatz des Eingangs war hell erleuchtet, doch die
Straße selbst war dunkel, so daß ich sehen konnte, ohne gesehen zu werden. Es standen einige Nichtstuer und
Neugierige herum. Es fiel ein feiner Sprühregen, und wir drückten uns an die Wände des Gebäudes. Man konnte
die Teilnehmer der Konferenz sofort erkennen, als sie begannen, das Hotel zu verlassen; man erkannte sie an
ihrer protzigen Kleidung und an ihrer übertriebenen Bescheidenheit, an der abzulesen war, daß sie schuldbewußt
versuchten sich als das darzustellen, was sie in diesem Moment zu sein schienen. Chauffeure fuhren mit ihren
Autos vor. Einige Reporter stellten ihnen Fragen. Sie waren verbrauchte Menschen, diese Industriellen, alternd,
schlaff, ängstlich besorgt, ihre Unsicherheit zu verbergen. Und dann sah ich ihn. Er trug einen teuren
Regenmantel und einen Hut mit vorn herabgebogener Krempe. Er ging schnell, mit der Sicherheit, die erworben
werden muß, wie er sie erworben hatte. Einige der anderen Industriellen bestürmten ihn mit Fragen, und diese
Industriebarone benahmen sich wie kleine Leute, die von ihm abhingen. Ich konnte ihn kurz sehen, während er,
die Hand auf der Tür seines Wagens, da stand. Er hatte den Kopf erhoben, ich sah das kurze Lächeln unter dem
schiefen Hutrand, ein selbstbewußtes Lächeln, ungeduldig und leicht belustigt zugleich. Und dann tat ich etwas,
das ich vorher nie getan hatte, etwas, womit die meisten Menschen sich ihr Leben verhunzen: Ich sah diesen
Augenblick außerhalb seines Zusammenhanges, ich sah die Welt als das, wozu er sie machte, als wäre sie ihm
ebenbürtig, als wäre er ihr Symbol; ich sah eine Welt der Leistung, der unversklavten Energie eines
unbehinderten Vorwärtsdrängens durch Jahre planvoller Arbeit bis zur Belohnung und zur Freude an ihr; ich sah,
während ich in einer Gruppe von Nichtstuern im Regen stand, was mein Leben mir gebracht hätte, wenn diese
Welt existiert hätte, und ich empfand eine verzweifelte Sehnsucht. Er war das Bild all dessen, was ich hätte sein
sollen. Doch es war nur ein Augenblick. Dann sah ich die Szene wieder in ihrem vollen Zusammenhang und in
ihrer wahren Bedeutung. Ich sah, welchen Preis er zahlte für seine glänzenden Gaben, welche Qual er in
stummer Bestürzung litt, als er kämpfte, um das zu verstehen, was ich schon verstanden hatte. Ich sah, daß die
Welt, die er symbolisierte, nicht existierte und erst geschaffen werden mußte. Ich sah ihn wieder als das, was er
war, das Symbol meines Kampfes, der unbelohnte Held, den ich rächen und befreien sollte, und dann… dann
nahm ich hin, was ich über dich und ihn gehört hatte. Ich sah, daß es nichts änderte, daß ich es hätte erwarten
müssen, daß es recht war.« Er hörte den leisen Laut ihres Stöhnens und lachte in sich hinein.
»Dagny, du darfst nicht glauben, daß ich nicht leide, doch ich kenne die Bedeutungslosigkeit des Leidens, ich
weiß, daß Schmerz bekämpft und beiseite geschoben, aber nicht als Teil der eigenen Seele und als eine ständige
Narbe im Bild des Lebens hingenommen werden soll. Bedaure mich nicht. Ich habe es gleich damals
überstanden.«
Sie wandte den Kopf, um ihn schweigend anzuschauen, und er lächelte, stützte sich auf einen Ellenbogen und
sah hinab auf ihr Gesicht, während sie hilflos dalag. Sie flüsterte: »Du warst Streckenarbeiter hier? Hier? Zwölf
Jahre lang?«
»Ja.«
»Seit…«
»Seit ich Twentieth Century verließ.«
»In der Nacht, als du mich zum ersten Mal sahst, arbeitetest du damals hier?«
»Ja. Und an dem Morgen, als du mir anbotst, als Köchin bei mir zu arbeiten, war ich nur einer deiner
Streckenarbeiter auf Urlaub. Verstehst du jetzt, warum ich so gelacht habe?«
Sie sah zu seinem Gesicht auf; ihr Lächeln war ein Lächeln des Schmerzes, das seine ein Lächeln reiner
Fröhlichkeit. »John…«
»Sag es. Aber sag alles.«
»Du warst hier – all die Jahre…«
»Ja.«
»… all die Jahre, in denen die Eisenbahn zugrunde ging, während ich nach intelligenten Männern suchte,
während ich darum kämpfte, jedes bißchen zu halten, das mir geblieben war… «
»Während du das Land durchstreiftest, um den Erfinder meines Motors zu suchen; während du James Taggart
und Wesley Mouch durchfüttertest; während du deine größte Leistung nach dem Feind nanntest, den du
vernichten wolltest.«
Sie schloß die Augen.
»Ich war all die Jahre hier«, fuhr er fort, »innerhalb deiner Reichweite, in deinem eigenen Reich, und
beobachtete deinen Kampf, deine Einsamkeit, deine Sehnsucht, sah dich in einem Kampf, den du für mich zu
kämpfen glaubtest, in einem Kampf, in dem du meine Feinde unterstütztest und Niederlage auf Niederlage
hinnehmen mußtest. Ich war hier, dir durch nichts verborgen als durch eine Störung deines Sehvermögens, so
wie Atlantis vor den Menschen nur durch eine optische Täuschung verborgen ist. Ich war hier und wartete auf
den Tag, an dem du sehen würdest, an dem du erkennen würdest, daß nach dem Gesetz der Welt, die du
unterstütztest, alles, was dir wertvoll war, in die tiefen Tiefen der Erde verwiesen war und daß du dort danach
suchen mußtest. Ich war hier. Ich wartete auf dich. Ich liebe dich, Dagny. Ich liebe dich mehr als mein Leben,
ich, der ich die Menschen gelehrt habe, wie das Leben zu lieben ist. Ich habe sie auch gelehrt, nie das Unbezahlte
anzunehmen. Und was ich heute nacht tat, tat ich mit dem vollen Wissen, daß ich dafür würde zahlen müssen,
und daß vielleicht mein Leben der Preis dafür sein würde.«
»Nein!«
Er lächelte und nickte. »O doch. Du weißt, daß du mich dieses eine Mal besiegt hast, daß ich mein eigenes,
mir von mir selbst gegebenes Gesetz gebrochen habe. Doch ich tat es wissentlich, ich wußte, was es bedeutete.
Ich tat es nicht in blinder Hingabe an den Augenblick, sondern in voller Erkenntnis der Folgen und in voller
Bereitschaft, sie zu tragen. Ich konnte diesen Augenblick nicht an uns vorübergehen lassen, er gehörte uns,
meine Geliebte, wir hatten ihn verdient. Doch du bist noch nicht bereit, aufzugeben und zu uns zu kommen. Du
brauchst es mir nicht zu sagen, ich weiß es. Und da ich mir etwas genommen habe, was noch nicht ganz mir
gehört, werde ich dafür zu zahlen haben. Ich weiß nicht, wie und wann, ich weiß nur, daß ich, wenn ich einem
Feind nachgebe, die Folgen tragen muß.« Er lächelte in Beantwortung ihres Gesichtsausdruckes. »Nein, Dagny,
du bist nicht mein Feind im Geist – und gerade das hat mich dazu gebracht –, aber du bist es in der Tat, in dem,
was du tust, obwohl du es noch nicht siehst. Doch ich sehe es. Meine wirklichen Feinde sind keine Gefahr für
mich. Du bist es. Du bist die einzige, die sie führen kann, mich zu finden. Sie allein würden nie in der Lage sein
zu wissen, wer ich bin und was ich bin, doch mit deiner Hilfe werden sie es erfahren.«
»Nein!«
»Nein, nicht durch deine Absicht. Und du kannst, wenn du willst, deinen Kurs ändern, aber solange du ihm
folgst, kannst du nicht seiner Logik entkommen. Runzele nicht die Stirn, es war mein Wille, und ich selbst
wählte die Gefahr. Ich bin ein Händler, Dagny, in allen Dingen. Ich wollte dich haben. Ich hatte nicht die Macht,
deinen Entschluß zu ändern, ich hatte nur die Möglichkeit, den Preis abzuwägen und zu entscheiden, ob ich ihn
bezahlen wollte. Ich wollte es. Mein Leben gehört mir, und ich kann es hingeben, wofür ich will. Und du, du
bist« – und als ob seine Geste seinen Satz fortsetzte, schob er seinen Arm unter ihren Rücken, hob sie hoch und
küßte ihren Mund, während ihr Körper sich ihm ganz hingab, ihr Haar und ihr Kopf nach hinten fielen, nur vom
Druck seiner Lippen gehalten – »du bist die einzige Belohnung, die ich haben mußte und mir verschaffen wollte.
Ich wollte dich haben, und wenn mein Leben der Preis dafür sein soll, dann werde ich es hingeben. Mein Leben,
aber nicht meinen Verstand.«
Plötzlich trat ein harter Glanz in seine Augen. Er setzte sich auf, lächelte und fragte: »Willst du, daß ich mit
dir komme und für dich arbeite? Möchtest du, daß ich deine Signalanlagen repariere?«
»Nein!« Der Schrei kam sofort als Antwort auf ein plötzliches Bild, das Bild der Männer im Separee des
Wayne-Falkland.
Er lachte. »Warum nicht?«
»Dich will ich nicht als ihren Sklaven sehen.«
»Und du?«
»Ich glaube, daß sie schon weich sind und daß ich siegen werde. Ich kann es noch eine kleine Weile
aushalten.«
»Das stimmt, es wird nur noch eine kleine Weile dauern, aber nicht, bis du siegst, sondern bis du siehst.«
»Ich kann nicht aufgeben!« Es war ein Aufschrei der Verzweiflung.
»Noch nicht«, sagte er ruhig.
Er stand auf, und auch sie erhob sich gehorsam, unfähig zu sprechen.
»Ich werde hier auf meinem Posten bleiben«, sagte er. »Doch versuche nicht, mich zu sehen. Du wirst
erdulden müssen, was ich erduldet habe und dir ersparen wollte. Du wirst weiterleben müssen wie bisher,
wissen, wo ich bin, mich begehren, wie ich dich begehre, aber dir niemals gestatten, in meine Nähe zu kommen.
Suche mich nicht hier. Komme nicht zu mir nach Hause. Laß sie uns nie zusammen sehen, Und wenn du am
Ende bist, wenn du bereit bist aufzugeben, dann sage es ihnen nicht, zeichne nur mit Kreide ein Dollarzeichen
auf den Sockel des Nat-Taggart-Denkmals – wohin es gehört – und gehe nach Hause und warte. Innerhalb von
vierundzwanzig Stunden hole ich dich.«
Sie neigte den Kopf in stummem Versprechen. Doch als er sich zum Gehen wandte, durchrann ein Schauer
ihren Leib, ähnlich einer ersten Regung des Erwachens oder der letzten Zuckung eines Lebens, und sie stieß
einen ungewollten Schrei aus: »Wohin gehst du?«
»Ich gehe, ein Laternenpfahl zu sein, auf einer Stelle bis zur Morgendämmerung stehen zu bleiben und eine
Lampe zu halten, weil das die einzige Arbeit ist, die deine Welt mir zuweist, und die einzige, die sie von mir
erhält.«
Sie ergriff seinen Arm, um ihn zu halten, ihm zu folgen, blind zu folgen, alles aufzugeben, nur nicht den
Anblick seines Gesichtes. »John!«
Er löste ihre Hand und stieß sie zurück. »Nein«, sagte er.
Dann nahm er ihre Hand und führte sie an seine Lippen, und der Druck seines Mundes war eine
leidenschaftlichere Aussage als alles, was er ihr gestanden hatte. Dann ging er die in der Ferne verschwindende
Strecke hinunter, und ihr war, als verließen beide, das Gleis und seine Gestalt, sie zur gleichen Zeit.
Als sie in die Halle des Bahnhofs stolperte, ging die erste Erschütterung rollender Räder durch die Wände des
Gebäudes wie der plötzliche Schlag eines Herzens, das ausgesetzt hatte. Der Tempel Nathaniel Taggarts war still
und leer, und sein unveränderliches Licht fiel herab auf eine verlassene Marmorfläche. Einige schäbige Gestalten
schlurften darüber hinweg, wie verloren auf seiner schimmernden Weite. Auf den Stufen des Sockels, unter der
Statue der feierlichen Gestalt, hockte zusammengekauert ein zerlumpter Stadtstreicher in hoffnungsloser
Resignation, wie ein zerzausten Vogel, der nicht wußte, wo er hingehörte und der sich auf dem erstbesten Sims
niedergelassen hatte. Sie ließ sich auch auf den Stufen des Denkmals nieder wie ein weiteres Strandgut der Stadt.
Ihren verstaubten Umhang eng um sich geschlagen, saß sie bewegungslos, unfähig zu weinen, zu fühlen,
weiterzugehen.
Ihr war, als sähe sie immer nur eine Gestalt, die mit erhobenem Arm ein Licht hielt. Und sie sah manchmal
aus wie die Freiheitsstatue, dann aber wie ein Mann mit sonnenglänzendem Haar, der eine Lampe gegen einen
mitternächtlichen Himmel hielt, eine rote Lampe, die den Lauf der Welt anhielt.
»Nehmen Sie es nicht zu schwer, was es auch ist«, sagte der Stadtstreicher im Ton müden Mitleids. »Sie
können nichts daran ändern. Was hat es für einen Sinn? Wer ist John Galt?«

VI. Das Konzert der Befreiung

Am 20. Oktober forderte die Stahlarbeiter-Gewerkschaft von Rearden Steel eine Lohnerhöhung.
Hank Rearden erfuhr es aus der Zeitung; ihm war keine Forderung präsentiert worden, und man hatte es auch
nicht für nötig befunden, ihn zu informieren. Die Forderung war an den Koordinationsausschuß gerichtet. Es
wurde keine Erklärung dafür abgegeben, warum keine der anderen Stahlfirmen eine ähnliche Forderung erhalten
hatte. Er konnte nicht feststellen, ob die Fordernden seine Arbeiter vertraten oder nicht, da die Bestimmungen
des Ausschusses über Gewerkschaftswahlen es unmöglich machten. Er erfuhr nur, daß die Gruppe aus jenen
Neulingen bestand, die der Ausschuß während der letzten Monate in sein Werk geschmuggelt hatte.
Am 22. Oktober verwarf der Ausschuß das Ersuchen der Gewerkschaft und lehnte die Lohnerhöhung ab.
Wenn irgendwelche Verhandlungen über die Angelegenheit stattgefunden hatten, so hatte Rearden nichts
darüber erfahren. Er war nicht informiert und nicht um Rat gefragt worden. Er hatte abgewartet, ohne Fragen zu
stellen.
Am 25. Oktober begannen die Zeitungen des Landes, die von den gleichen Männern beherrscht wurden, die
den Ausschuß beherrschten, eine Sympathie-Kampagne für die Arbeiter von Rearden Steel. Sie druckten Artikel
über die Verweigerung der Lohnerhöhung, in denen sie nicht erwähnten, wer sie verweigert hatte oder wer die
legale Macht besaß, sie zu verweigern, als ob sie damit rechneten, daß die Öffentlichkeit nicht nach den
gesetzlichen Voraussetzungen fragte, wenn sie mit Geschichten bombardiert wurde, die nahelegten, daß ein
Arbeitgeber die natürliche Ursache allen Elends der Arbeitnehmer war. Sie brachten einen Artikel, der die
Entbehrungen der Rearden-Steel-Belegschaft infolge der Steigerung der Lebenshaltungskosten schilderte. Dann
einen Artikel, der Hank Reardens Profite vor fünf Jahren anprangerte. Sie brachten einen Artikel über das Los
der Frau eines Rearden-Arbeiters, die auf hoffnungsloser Suche nach Lebensmitteln von Laden zu Laden irrte.
Daneben einen Bericht über einen ungenannten Stahlmagnaten, auf dessen Party in einem vornehmen Hotel ein
Gast auf dem Schädel eines anderen eine Champagnerflasche zertrümmert hatte; der Stahlmagnat war Orren
Boyle gewesen, doch der Bericht nannte keine Namen. »Es gibt immer noch Ungleichheit unter uns«, erklärten
die Zeitungen, »und sie betrügt uns um die Früchte unseres aufgeklärten Zeitalters.« – »Entbehrungen haben die
Nerven und die Geduld des Volkes verbraucht. Die Situation nähert sich dem Gefahrenpunkt. Wir befürchten
den Ausbruch von Gewalttätigkeiten.« – »Wir befürchten den Ausbruch von Gewalttätigkeiten«, wiederholten
sie.
Am 28. Oktober griff eine Gruppe von neuen Arbeitern im Rearden-Werk einen Vorarbeiter an und zerstörte
die Winddüse eines Hochofens. Zwei Tage später warf eine ähnliche Gruppe die Fenster im Erdgeschoß des
Verwaltungsgebäudes ein. Ein neuer Arbeiter zertrümmerte das Getriebe eines Kranes und brachte einen mit
flüssigem Metall gefällten Kübel einen Meter weit von fünf Leuten, die dort standen, zum Kippen. »Ich war
wohl einen Augenblick verrückt geworden, weil ich mir so viel Sorgen um meine hungrigen Kinder mache«,
sagte er, als man ihn verhaftete. »Jetzt ist nicht die Zeit, darüber zu theoretisieren, wer recht oder unrecht hat«,
kommentierten die Zeitungen. »Unsere einzige Sorge ist die Tatsache, daß eine bedrohliche Entwicklung die
Stahlerzeugung des Landes gefährdet.«
Rearden beobachtete, stellte keine Fragen. Er wartete, als ob er wüßte, daß alles, was jetzt geschah, sich am
Ende von selbst entwirren würde und daß er es weder beschleunigen noch aufhalten konnte. Nein, dachte er,
wenn er aus dem Fenster seines Büros in den Nebel der Herbstabende hinausblickte, nein, er war nicht
gleichgültig gegenüber dem Schicksal seines Stahlwerks; doch das Gefühl, das einst Liebe zu einem lebendigen
Etwas gewesen war, war jetzt wehmütige Zärtlichkeit, wie man sie für einen geliebten Toten empfindet. Der
besondere Charakter dessen, was man für einen Toten empfindet, dachte er, ist das Gefühl, daß man ihm durch
Taten nicht mehr helfen kann.
Am Morgen des 31. Oktober erhielt er einen Bescheid, der besagte, daß sein ganzer Besitz einschließlich
seiner Bankkonten und des Inhalts seiner Banksafes gepfändet worden war, um die Forderungen eines
Versäumnisurteils in einem Prozeß zu erfüllen, den man wegen einer drei Jahre zurückliegenden
Einkommensteuerhinterziehung gegen ihn angestrengt hatte. Es war eine förmliche Benachrichtigung, die allen
gesetzlichen Anforderungen entsprach bis auf die Tatsache, daß er sich nie einer solchen Steuerhinterziehung
schuldig gemacht und daß ein solcher Prozeß nie stattgefunden hatte.
»Nein«, sagte er zu seinem Anwalt, dem vor Empörung die Luft wegblieb, »fragen Sie nicht zurück,
antworten Sie nicht, erheben Sie keinen Einspruch.«
»Aber das ist doch ungeheuerlich!«
»Ungeheuerlicher als das übrige?«
»Hank, wollen Sie wirklich, daß ich nichts unternehme? Wollen Sie sich ducken und es über sich ergehen
lassen?«
»Nein, aufrecht stehen. Und ich meine tatsächlich stehen. Bewegen Sie sich nicht. Handeln Sie nicht.«
»Aber man hat Sie doch hilflos gemacht.«
»Ach, wirklich?« fragte er leise und lächelte.
Ihm blieben noch ein paar hundert Dollar in seiner Brieftasche, sonst nichts. Aber die seltsam leuchtende
Wärme in seinem Innern, gleich dem Gefühl eines Händeschüttelns aus der Ferne, war der Gedanke, daß in
einem Geheimfach in seinem Schlafzimmer ein Barren solides Gold lag, den ihm ein goldblonder Seeräuber
gegeben hatte. Am nächsten Tag, am 1. November, erhielt er einen Telefonanruf aus Washington von einem
Bürokraten, dessen Stimme in winselnden Entschuldigungen wie auf den Knien über den Draht zu rutschen
schien. »Ein Irrtum, Mr. Rearden! Es war nur ein unglückseliger Irrtum! Die Pfändung war nicht für Sie
bestimmt. Sie wissen doch, wie es heutzutage ist bei der Untüchtigkeit aller Büroangestellten und bei dem Wust
von Formalitäten, in dem wir stecken. Irgendein Idiot hat die Akten verwechselt und die Pfändung auf Ihren
Na men ausgestellt, obwohl es sich überhaupt nicht um Ihren Fall handelte, sondern um den eines
Seifenfabrikanten! Bitte, Mr. Rearden, nehmen Sie unsere Entschuldigung an, den Ausdruck tiefsten Bedauerns
von höchster Stelle.« Die Stimme verstummte in erwartungsvoller Pause. »Mr. Rearden?«
»Ich höre.«
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr wir es bedauern, Ihnen Verlegenheiten oder Ungelegenheiten
verursacht zu haben. Und bei diesen verdammten Formalitäten, die wir durchmachen müssen – Sie wissen ja, der
Dienstweg und so weiter –, wird es einige Tage, vielleicht eine Woche dauern, bis die Anordnung rückgängig
gemacht und die Pfändung aufgehoben wird… Mr. Rearden?«
»Ich habe Sie verstanden.«
»Es tut uns ganz außergewöhnlich leid, und wir sind zu jeder Entschädigung bereit, soweit sie in unserer
Macht liegt. Sie sind natürlich berechtigt, Schadenersatz für jede Unannehmlichkeit zu beantragen, die Ihnen
entstehen sollte, und wir sind gewillt zu zahlen. Wir werden keine Einwände erheben. Gewiß werden Sie einen
solchen Antrag stellen und…«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Wie? Nein, gesagt haben Sie das nicht… das heißt… nun, was haben Sie denn gesagt, Mr. Rearden?«
»Ich habe nichts gesagt.«
Spät am nächsten Nachmittag kam eine andere Stimme aus Washington über den Draht. Doch sie schien nicht
zu kriechen, sondern auf dem Telefondraht mit der heiteren Kunstfertigkeit eines Drahtseilkünstlers zu tanzen.
Die Stimme stellte sich als Tinky Holloway vor und bat Rearden, an einer Konferenz teilzunehmen, »an einer
kleinen zwanglosen Konferenz, nur ein paar von uns, Leute von der Spitze«, die am übernächsten Tag im
Wayne-Falkland-Hotel in New York stattfinden sollte.
»Es hat in den letzten Wochen so viele Mißverständnisse gegeben«, sagte Tinky Holloway. »So unglückselige
Mißverständnisse – und so unnötige! Wir könnten das alles im Nu glattbügeln, Mr. Rearden, wenn wir die
Gelegenheit zu einer kleinen Unterhaltung mit Ihnen hätten. Wir möchten sehr gern mit Ihnen sprechen.«
»Sie können mich jederzeit gerichtlich vorladen lassen.«
»Aber nein! Nein! Nein!« Die Stimme klang erschrocken. »Nein, Mr. Rearden, warum an so etwas denken?
Sie mißverstehen uns. Wir wollen Sie auf freundschaftlicher Basis sprechen. Wir suchen nur Ihre freiwillige
Mitarbeit.« Holloway lauschte gespannt und fragte sich, ob er wirklich das Geräusch eines fernen Lachens
gehört hatte. Er wartete, doch er vernahm nichts mehr. »Mr. Rearden?«
»Ja?«
»Sicherlich, Mr. Rearden, würde eine Konferenz mit uns in einer Zeit wie dieser für Sie von großem Nutzen
sein.«
»Eine Konferenz worüber?«
»Sie haben so viele Schwierigkeiten gehabt – und wir möchten Ihnen auf jede nur erdenkliche Weise helfen.«
»Ich habe nicht um Hilfe gebeten.«
»Wir leben in einer schwierigen Zeit, Mr. Rearden. Die öffentliche Stimmung ist so unsicher und so
entzündbar, so… so gefährlich… Und wir möchten in der Lage sein, Sie zu schützen.«
»Ich habe nicht um Schutz gebeten.«
»Aber Sie begreifen doch gewiß, daß wir Ihnen von Nutzen sein können, und wenn wir etwas für Sie tun
könnten…«
»Das können Sie nicht.«
»Aber Sie müssen doch Probleme haben, die Sie gern mit uns besprechen möchten?«
»Ich habe keine.«
»Dann… nun dann.« Holloway gab den Versuch auf, Gnaden erweisen zu wollen, und ging zur offenen Bitte
über: »Würden Sie uns nicht einmal anhören?«
»Wenn Sie mir etwas zu sagen haben.«
»Das haben wir, Mr. Rearden! Gewiß haben wir das! Mehr wollen wir gar nicht – hören Sie uns nur an.
Geben Sie uns bloß eine Chance. Kommen Sie nur zu dieser Konferenz! Sie verpflichten sich damit zu gar
nichts…« Er sagte es unwillkürlich, unterbrach sich und spürte den spöttischen Ton in Reardens Stimme, als
dieser antwortete:
»Das weiß ich.«
»Nun, ich meine… das ist… also, werden Sie kommen?«
»Schön, ich werde kommen«, erwiderte Rearden.
Er hörte nicht auf die Dankesbeteuerungen Holloways, er nahm nur zur Kenntnis, daß er dauernd wiederholte:
»Um sieben Uhr abends, am vierten November, Mr. Rearden, am vierten November…«, als hätte dieses Datum
eine besondere Bedeutung. Rearden legte den Hörer auf, lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete den
flackernden Feuerschein der Hochöfen auf der Decke seines Büros. Er wußte, daß diese Konferenz eine Falle
war; er wußte auch, daß er in diese Falle gehen würde, ohne daß die Fallensteller etwas davon haben würden.
Tinky Holloway legte in seinem Washingtoner Büro den Hörer auf und runzelte gespannt die Stirn. Claude
Slagenhop, der Präsident der Freunde des globalen Fortschritts, der in einem Lehnstuhl gesessen und nervös an
einem Streichholz gekaut hatte, sah ihn besorgt an und fragte: »Sieht nicht gut aus, wie?«
Holloway schüttelte den Kopf. »Er kommt, aber… nein, es sieht wirklich nicht gut aus.« Er fügte hinzu: »Ich
glaube nicht, daß er darauf eingeht.«
»Genau das hat mein Neger zu mir gesagt.«
»Ich weiß es.«
»Der Dummkopf meinte, wir sollten es gar nicht erst versuchen.«
»Der Teufel soll deinen Neger holen! Wir müssen es riskieren!«
Slagenhops Neger war Philip Rearden, der ihm einige Wochen zuvor berichtet hatte: »Nein, er will mich nicht
hineinlassen. Er will mir keinen Job geben. Ich habe es versucht, wie Sie es mir gesagt hatten. Ich habe mein
Bestes getan, aber es hat keinen Zweck. Er will nicht, daß ich sein Werk überhaupt noch einmal betrete. Und
seine Stimmung – hören Sie? –, die ist schlecht. Sie ist schlimmer als alles, was ich erwartet hatte. Ich kenne ihn,
und ich kann sagen, daß sie keine Chance haben. Er ist ziemlich am Ende seiner Geduld. Geht man noch einmal
auf ihn los, dann reißt sie. Sie haben gesagt, die großen Tiere wollten Bescheid wissen. Sagen Sie ihnen, sie
sollen es nicht tun. Sagen Sie ihnen, er… Claude, Gott helfe uns, wenn sie es tun, werden sie ihn verlieren!«
»Nun, eine große Hilfe sind Sie nicht«, hatte Slagenhop kalt erwidert und sich abgewandt. Philip hatte ihn
beim Ärmel gepackt und ihn angsterfüllt gefragt: »Sagen Sie, Claude, nach… nach der Verordnung 10-289…
wenn er geht, dann… dann gibt es keine Erben?«
»Stimmt.«
»Man würde das Werk und alles andere beschlagnahmen?«
»So schreibt das Gesetz es vor.«
»Aber… Claude, das würde man mir doch nicht antun?«
»Man will ja nicht, daß er geht. Das wissen Sie. Halten Sie ihn, wenn Sie es können.«
»Aber ich kann es doch nicht! Sie wissen, daß ich es nicht kann! Wegen meiner politischen Gesinnung und…
und wegen dessen, was ich für Sie getan habe! Sie wissen, wie er über mich denkt! Ich habe keinen Einfluß auf
ihn!«
»Nun, das ist Ihr Pech.«
»Claude!« hatte Philip in panischem Entsetzen geschrien. »Claude, man kann mich doch nicht einfach
fallenlassen, nicht wahr? Ich gehöre doch dazu, nicht wahr? Ihr habt doch immer gesagt, daß ich zu euch gehöre,
daß ihr Leute wie mich braucht… nicht Leute wie ihn… Leute meines Geistes… erinnern Sie sich doch! Und
nach allem, was ich für euch getan habe… Habe ich euch nicht treu gedient und…«
»Sie verdammter Idiot«, hatte Slagenhop ihn brutal unterbrochen, »was glauben Sie denn, was Sie uns ohne
ihn wert sind?«
Am Morgen des 4. November wurde Rearden durch das Klingeln des Telefons geweckt. Er öffnete die Augen
und sah im Fenster seines Schlafzimmers den klaren, hellen Himmel einer frühen Dämmerung, einen Himmel
von zartem Aquamarin, belebt von den ersten unsichtbaren Sonnenstrahlen, die den alten Dächern Philadelphias
den Schimmer rosafarbenen Porzellans verliehen. Einen Augenblick lang, während sein Bewußtsein noch klar
war wie der Himmel, den er sah, während er noch nichts wahrnahm außer sich selber, und seine Seele noch frei
war von der Last der Zeit, lag er still, gefangen von dem Augenblick und dem Zauber einer Welt, nach der er
sich sehnte, einer Welt, in der das Leben ein ewiger Morgen sein würde.
Das Telefon stieß ihn in die Verbannung zurück; es schrillte in gleichmäßigen Abständen wie ein keifender,
dauernder Hilferuf, der nicht in diese Welt gehörte. Er nahm den Hörer ab. »Hallo?«
»Guten Morgen, Henry«, sagte eine zitternde Stimme. Es war seine Mutter.
»Du, Mutter… so früh?« fragte er ungerührt.
»Oh, du bist doch immer so früh auf, und ich wollte dich erreichen, bevor du ins Büro gehst.«
»Ja. Was gibt’s?«
»Ich muß dich sehen, Henry. Ich muß dich sprechen. Heute. Irgendwann heute. Es ist wichtig.«
»Ist etwas geschehen?«
»Nein… ja… das heißt… Ich muß mit dir persönlich sprechen. Wirst du kommen?«
»Ich kann leider nicht. Ich habe heute abend eine Verabredung in New York. Wenn du willst, daß ich morgen
komme…«
»Nein! Nein, nicht morgen. Es muß unbedingt heute sein.« Es war ein Unterton von Panik in ihrer Stimme,
doch es war die abgestandene Panik ewiger Hilflosigkeit, nicht der Klang eines Notfalls, abgesehen von einem
seltsamen Echo der Furcht in ihrer mechanischen Beharrlichkeit.
»Worum handelt es sich, Mutter?«
»Ich kann es am Telefon nicht sagen. Ich muß dich sehen.«
»Wenn du in mein Büro kommen willst…«
»Nein! Nicht im Büro! Ich muß dich allein sprechen. Kannst du nicht heute zu mir kommen, nur zu Gefallen?
Deine Mutter bittet dich um einen Gefallen. Du bist überhaupt nicht mehr zu uns gekommen. Und vielleicht bist
du auch gar nicht schuld daran. Aber kannst du es nicht dieses eine Mal tun, wenn ich dich darum bitte?«
»Gut, Mutter. Ich werde heute nachmittag um vier Uhr bei dir sein.«
»Fein, Henry. Ich danke dir, Henry. Das ist sehr gut.«
Es schien an diesem Tag eine Spannung in der Luft des Werks zu liegen. Es war eine Spannung, die zu
schwach war, als daß man sie hätte definieren können; doch das Werk war für ihn wie das Gesicht einer
geliebten Frau, auf dem er die Schatten von Gefühlen wahrnahm, bevor sie sich wirklich zeigten. Er bemerkte
kleine Gruppen der neuen Arbeiter, die zu dritt oder viert die Köpfe zusammensteckten ein- oder zweimal zu oft.
Ihre Haltung fiel ihm auf, eine Haltung, die eher in die Ecke eines Billardsaales paßte als in eine Fabrik. Er
spürte, daß ihm Blicke zugeworfen wurden, wenn er vorbeiging, Blicke, die um einen Grad zu zufällig waren. Er
beachtete dies alles nicht; es war nicht genug, sich den Kopf darüber zu zerbrechen – und er hatte keine Zeit zum
Kopfzerbrechen.
Als er an diesem Nachmittag zu seinem früheren Heim hinauffuhr, brachte er seinen Wagen am Fuß des
Hügels zum Halten. Er hatte das Haus seit dem 15. Mai, seit sechs Monaten, nicht mehr gesehen, seit dem Tag,
an dem er es verlassen hatte – und der Anblick brachte ihm die Summe alles dessen in Erinnerung, was er in
zehn Jahren täglichen Nachhausekommens empfunden hatte: den Druck, die Verwirrung, das graue Gewicht
uneingestandener Glücklosigkeit, die harte Ausdauer, mit der er sich verboten hatte, sie sich einzugestehen, die
verzweifelte Unschuld der Anstrengung, seine Familie zu verstehen, die Anstrengung, gerecht zu sein.
Er ging langsam den Pfad zur Haustür hinauf. Er empfand nichts, nur das Gefühl einer großen, feierlichen
Klarheit. Er wußte, daß dieses Haus ein Denkmal der Schuld war – seiner Schuld gegenüber sich selber. Er hatte
erwartet, seine Mutter zu sehen und Philip; er hatte nicht mit der dritten Person gerechnet, die sich mit den
anderen erhob, als er das Wohnzimmer betrat; es war Lillian.
Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie blickten unbeweglich auf sein Gesicht und auf die offene Tür hinter ihm.
Aus ihren Blicken sprachen Furcht und Verschlagenheit; es waren jene Blicke, die durch Tugend erpressen
wollen, und die zu verstehen er gelernt hatte; es war, als hofften sie davonzukommen, wenn sie nur sein Mitleid
erregten, ihn halten zu können, obwohl ein einziger Schritt genügte, um aus ihrer Reichweite zu kommen.
Sie hatten mit seinem Mitleid gerechnet und seinen Zorn befürchtet; sie hatten nicht gewagt, die dritte
Alternative zu erwägen – seine Gleichgültigkeit.
»Was tut sie hier?« fragte er seine Mutter leidenschaftslos kühl.
»Lillian wohnt seit eurer Scheidung hier«, antwortete sie. »Ich konnte sie doch nicht auf die Straße setzen.«
Der Blick in den Augen seiner Mutter war halb Bitte, als flehte sie ihn an, sie nicht ins Gesicht zu schlagen,
und halb Triumph, als hätte sie ihn ins Gesicht geschlagen. Er kannte ihre Motive; es war nicht Mitleid; es hatte
nie große Zuneigung zwischen ihr und Lillian gegeben; es war ihre gemeinsame Rache an ihm, es war ihre
geheime Genugtuung, sein Geld für seine geschiedene Frau auszugeben, die zu unterhalten er sich geweigert
hatte.
Lillian hielt den Kopf leicht zum Gruß geneigt; um ihre Lippen spielte ein verhaltenes Lächeln, halb
Schüchternheit, halb Herausforderung. Er tat nicht so, als wollte er sie ignorieren; er schaute in ihre Richtung, als
sähe er sie, ohne sich jedoch ihrer Gegenwart bewußt zu werden. Er sagte nichts, schloß die Tür und trat näher.
Seine Mutter seufzte erleichtert auf, ließ sich in den nächsten Sessel sinken und beobachtete ihn, unsicher, ob er
ihrem Beispiel folgen würde.
»Was wolltest du von mir?« fragte er und setzte sich. Seine Mutter saß steif in ihrem Sessel, seltsam
gekrümmt, mit hochgezogenen Schultern und halbgesenktem Kopf.
»Mitgefühl, Henry.«
»Was willst du damit sagen?«
»Verstehst du mich nicht?«
»Nein.«
»Nun« – sie spreizte die Hände in einer flatternden Geste der Hilflosigkeit – »nun…« Ihre Augen versuchten,
seinem Blick auszuweichen. »Nun, es gibt so vieles zu sagen und… und ich weiß nicht, wie ich es sagen soll,
aber… nun, da ist eine praktische Sache, doch sie ist nicht so wichtig… ihretwegen habe ich dich nicht hierher
gebeten…«
»Was ist es?«
»Die praktische Sache? Oh, unsere Monatsschecks… für Philip und für mich. Der Monatserste ist vorüber,
doch auf Grund des Pfändungsbefehls wurden die Schecks nicht eingelöst. Du weißt es doch?«
»Ich weiß es.«
»Nun, was sollen wir tun?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich meine, was wirst du in der Angelegenheit tun?«
»Nichts.«
Seine Mutter starrte ihn an, als zählte sie die Sekunden des Schweigens. »Nichts, Henry?«
»Ich habe nicht die Macht, etwas zu tun.«
Sie beobachteten sein Gesicht mit gespannter Aufmerksamkeit; er war sicher, daß seine Mutter ihm die
Wahrheit gesagt hatte, daß unmittelbare finanzielle Sorgen nicht ihr Hauptanliegen waren, daß es ihr um etwas
viel Wichtigeres ging.
»Aber, Henry, wir sind knapp bei Kasse.«
»Ich auch.«
»Kannst du uns nicht etwas Bargeld schicken?«
»Man hat mich nicht gewarnt und mir keine Zeit gelassen, mir Bargeld zu besorgen.«
»Dann… sieh, Henry, es kam so unerwartet, es hat die Leute bestürzt, glaube ich… der Lebensmittelhändler
weigert sich, uns Kredit zu geben, wenn nicht du ihn verlangst. Ich denke, er will, daß du eine Kreditkarte
unterzeichnest oder so etwas Ähnliches. Wirst du mit den Leuten sprechen und die Sache in Ordnung bringen?«
»Nein.«
»Nein?« Sie rang nach Luft. »Warum nicht?«
»Ich werde keine Verpflichtung übernehmen, die ich nicht erfüllen kann.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will keine Schulden machen, die ich nicht bezahlen kann.«
»Was heißt das, du kannst nicht? Die Pfändung ist doch nur eine Formalität, nur vorübergehend. Das weiß
doch jeder.«
»So? Ich weiß es nicht.«
»Aber, Henry, eine Lebensmittelrechnung! Du bist nicht sicher, ob du eine Lebensmittelrechnung bezahlen
kannst, du mit all deinen Millionen?«
»Ich werde den Lebensmittelhändler nicht betrügen, indem ich so tue, als gehörten diese Millionen noch mir.«
»Worüber redest du eigentlich? Wem gehören sie denn?«
»Niemand.«
»Was soll das heißen?«
»Mutter, ich glaube, du verstehst mich sehr gut. Ich glaube, du hast es eher verstanden als ich. Es gibt kein
Eigentumsrecht mehr und kein Eigentum. Daran glaubst du doch und billigst es seit Jahren. Du wolltest mich
arm sehen. Jetzt bin ich es. Es hat keinen Zweck, länger Versteck zu spielen.«
»Willst du deine politischen Ansichten…« Sie sah den Ausdruck seines Gesichtes und schwieg.
Lillian starrte auf den Fußboden, als fürchtete sie sich, zu ihm aufzublicken. Philip ließ seine Fingergelenke
knacken.
Reardens Mutter bemühte sich, seinem Blick standzuhalten, und flüsterte: »Laß uns nicht im Stich, Henry.«
Ein schwaches Zittern in ihrer Stimme sagte ihm, daß sie im Begriff war, ihr wirkliches Anliegen preiszugeben.
»Die Zeiten sind fürchterlich, und wir haben Angst. Das ist die Wahrheit, Henry, wir haben Angst, weil du dich
von uns abwendest. Oh, ich denke nicht nur an diese Lebensmittelrechnung, doch sie ist ein Zeichen. Vor einem
Jahr hättest du so etwas nie zugelassen. Jetzt aber… fragst du überhaupt nicht mehr nach uns.« Sie schwieg
abwartend. »Nicht wahr?«
»Nein.«
»Nun… ich glaube, daran sind wir selbst schuld. Das wollte ich dir sagen… daß wir wissen, daß wir selbst
schuld daran sind. Wir haben dich all die Jahre hindurch nicht richtig behandelt. Wir waren ungerecht zu dir, wir
haben dir weh getan, wir haben dich mißbraucht und dir keinen Dank dafür gewußt. Wir sind schuldig, Henry,
wir haben an dir gesündigt, und wir beichten es jetzt. Was können wir dir jetzt noch sagen? Ist dein Herz bereit,
uns zu vergeben?«
»Was soll ich für dich tun?« fragte er im klaren, nüchternen Ton einer geschäftlichen Besprechung.
»Ich weiß es nicht! Woher soll ich es wissen? Doch davon rede ich jetzt nicht. Nicht vom Tun, nur vom
Fühlen. Ich bitte dich um dein Gefühl, Henry, nur um dein Gefühl, obwohl wir es nicht verdienen. Du bist
großmütig und stark. Willst du die Vergangenheit ausstreichen, Henry? Willst du uns verzeihen?«
Der Ausdruck des Entsetzens in ihren Augen war echt. Vor einem Jahr hätte er sich gesagt, daß dies ihre Art
war, etwas wiedergutzumachen; er hätte den Widerwillen gegen ihre Worte hinuntergeschluckt, Worte, die ihm
nichts verrieten als ihre Sinnlosigkeit; er hätte seinen Verstand vergewaltigt, ihnen einen Sinn zu geben, selbst
wenn er sie nicht verstand; er würde ihr den ehrlichen Glauben an ihre Anschauungen zugebilligt haben, selbst
wenn sie nicht die seinen gewesen wären. Doch jetzt war er nicht mehr bereit, anderen als seinen eigenen
Anschauungen Achtung zu zollen.
»Willst du uns verzeihen?«
»Mutter, es wäre am besten, nicht darüber zu sprechen. Dränge mich nicht, dir zu sagen, warum. Ich glaube,
du weißt es so gut wie ich. Wenn ich etwas tun soll, dann sage es. Etwas anderes steht hier nicht zur
Diskussion.«
»Aber ich verstehe dich nicht! Ich verstehe dich wirklich nicht! Deshalb habe ich dich doch gebeten zu
kommen… um dich um Verzeihung zu bitten. Willst du mir diese Bitte abschlagen?«
»Schön. Was würde meine Verzeihung bedeuten?«
»Wie bitte?«
»Ich frage, was würde sie bedeuten?«
Sie spreizte erstaunt die Hände, als wäre die Antwort auf diese Frage selbstverständlich. »Nun, sie… sie
würde uns erlauben, uns besser zu fühlen.«
»Würde das die Vergangenheit ändern?«
»Es würde uns beruhigen zu wissen, daß du uns verziehen hast.«
»Verlangst du von mir, daß ich so tue, als habe die Vergangenheit nicht existiert?«
»Mein Gott, Henry, verstehst du mich denn nicht? Wir wollen doch bloß wissen, daß… daß du Sorge für uns
empfindest.«
»Ich empfinde sie nicht. Willst du, daß ich sie vortäusche?«
»Aber gerade darum bitte ich dich doch… sie zu fühlen!«
»Aus welchem Grund?«
»Grund?«
»Im Austausch wofür?«
»Henry, Henry, wir reden doch nicht über Geschäfte, nicht über Stahltonnagen und Bankbilanzen, wir reden
über Gefühle… und du sprichst wie ein Händler!«
»Ich bin einer.«
Was er in ihren Augen sah, war Entsetzen… nicht das hilflose Entsetzen des vergeblichen Bemühens, zu
verstehen, Sondern das Entsetzen, sich bis an eine Grenze getrieben zu sehen, wo es nicht länger möglich sein
würde, das Verstehen zu vermeiden.
»Sieh, Henry«, sagte Philip hastig. »Mutter versteht nichts von diesen Dingen. Wir wissen nicht, wie wir uns
dir verständlich machen sollen. Wir sprechen nicht deine Sprache.«
»Und ich spreche nicht die eure.«
»Wir versuchen nur zu sagen, daß es uns leid tut, daß es uns entsetzlich leid tut, daß wir dich verletzt haben.
Du glaubst, wir würden nicht dafür bezahlen, doch wir tun es wirklich. Wir leiden unter aufrichtigen
Gewissensbissen.«
Der Schmerz in Philips Gesicht war echt. Vor einem Jahr hätte Rearden Mitleid empfunden. Jetzt wußte er,
daß sie ihn beherrschen wollten durch seine Scheu, ihnen weh zu tun, durch seine Angst vor ihrem Schmerz.
Diese Angst war ihm jetzt fremd geworden.
»Es tut uns wirklich leid, Henry. Wir wissen, daß wir dir weh getan haben. Wir möchten dafür büßen. Doch
was können wir tun? Die Vergangenheit ist vergangen. Wir können sie nicht ungeschehen machen.«
»Ich auch nicht.«
»Du kannst unsere Reue annehmen«, sagte Lillian mit einer Stimme gläserner Vorsicht. »Ich habe nichts mehr
von dir zu gewinnen. Ich möchte nur, daß du weißt… was ich auch immer getan habe, ich habe es getan, weil ich
dich liebte.«
Er wandte sich ab, ohne zu antworten.
»Henry«, schrie seine Mutter. »Was ist mit dir geschehen? Was hat dich so verändert? Du scheinst kein
Mensch mehr zu sein! Du bedrängst uns mit Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Du quälst uns mit Logik…
Was bedeutet Logik in einer Zeit wie dieser?… Was ist logisch, wenn die Menschen leiden?«
»Wir können nichts dafür!« rief Philip aus.
»Wir sind auf deine Gnade angewiesen«, sagte Lillian.
Sie sprachen zu einem Menschen, den sie nicht mehr erreichen konnten. Sie wußten nicht – und ihre Panik
war die letzte Phase ihres Kampfes, diesem Wissen auszuweichen –, daß sein unbarmherziger
Gerechtigkeitssinn, der ihre einzige Gewalt über ihn gewesen war, der ihn jede Strafe hatte annehmen und sie
aus jedem seiner Zweifel hatte Nutzen ziehen lassen, jetzt gegen sie gewandt war; daß die gleiche Kraft, die ihn
tolerant gemacht hatte, nun die Kraft war, die ihn unerbittlich machte; daß seine Gerechtigkeit, die jeden Irrtum
verzeihen würde, keine Bosheit verzieh.
»Henry, verstehst du uns denn nicht?« bettelte seine Mutter.
»Doch«, sagte er ruhig.
Sie sah weg, mied die Klarheit seiner Augen. »Machst du dir denn keine Sorgen, was aus uns wird?«
»Nein.«
»Bist du denn kein Mensch?« Ihre Stimme wurde schrill vor Zorn. »Bist du überhaupt keiner Liebe fähig? Ich
spreche zu deinem Herzen, nicht zu deinem Verstand! Liebe ist nicht etwas, mit dem man rechten, mit dem man
handeln kann! Sie ist etwas, das man schenkt! Das man fühlt! Mein Gott, Henry, kannst du denn nicht fühlen,
ohne zu denken?«
»Ich habe es nie gekonnt.«
Nach einer Weile sprach sie weiter, leise und eintönig: »Wir sind nicht so klug wie du, nicht so stark. Wenn
wir gefehlt und geirrt haben, dann geschah es, weil wir schwach sind. Wir brauchen dich. Du bist alles, was wir
haben… und wir haben Angst, dich zu verlieren. Wir erleben eine schlimme Zeit, und sie wird immer
schlimmer. Die Menschen sind zu Tode erschrocken, sie sind blind vor Entsetzen und wissen nicht, was sie tun
sollen. Wie sollen wir mit dieser Zeit fertig werden, wenn du uns verläßt? Wir sind klein und hilflos, und wir
werden wie Treibholz hinweggeschwemmt in dem Schrecken, der die Welt überflutet. Vielleicht tragen wir
einen Teil der Schuld an diesem Unglück. Vielleicht haben wir geholfen, es herbeizuführen, weil wir es nicht
besser wußten. Aber was geschehen ist, ist geschehen… und wir können es nicht mehr aufhalten. Wenn du uns
im Stich läßt, sind wir verloren. Wenn du aufgibst und verschwindest wie…«
Kein Laut unterbrach sie, nur eine Bewegung seiner Augenbrauen, ein kurzes, schnelles Zucken gebot ihr
Halt. Dann sahen sie ihn lächeln. Und der Charakter dieses Lächelns war die fürchterlichste Antwort.
»Davor also hattet ihr Angst«, sagte er langsam.
»Du kannst nicht weggehen!« schrie seine Mutter in blinder Panik. »Du kannst nicht jetzt desertieren! Vor
einem Jahr hättest du es gekonnt, doch jetzt nicht mehr! Jetzt würden sie sich an deiner Familie rächen! Sie
würden uns ohne einen Penny lassen! Sie würden alles beschlagnahmen und uns verhungern lassen! Sie
würden…«
»Schweig!« schrie Lillian, die besser als die anderen die Zeichen drohender Gefahr in Reardens Gesicht
erkannte.
Das Lächeln blieb in seinem Gesicht, und sie wußten, daß er sie nicht länger sah; doch es war nicht in ihrer
Macht zu wissen, warum sein Lächeln von Schmerz und Sehnsucht verschleiert war oder warum er zum fernsten
Fenster des Zimmers hinüberblickte. Er sah ein edel geschnittenes Gesicht, das unter der Wucht seiner
Beleidigungen um Beherrschung rang, er hörte eine Stimme, die hier, in diesem Raum, zu ihm gesagt hatte: »Um
Sie vor der Sünde des Verzeihens zu warnen, bin ich zu Ihnen gekommen.« Du, der du es schon damals gewußt
hast, dachte er… doch vollendete den Satz nicht, er ließ ihn in einem bitteren Lächeln enden, denn er wußte, was
er hatte denken wollen: Du, der du es damals gewußt hast, verzeih mir.
Dies war, dachte er, während er seine Familie betrachtete, der wahre Charakter ihrer Bitten um Verzeihung,
um Gnade, dies war die Logik jener Gefühle, die sie so selbstgerecht für nicht logisch erklärten, dies war die
nackte, brutale Natur aller Menschen, die behaupteten, fühlen zu können, ohne zu denken, und die Gnade über
die Gerechtigkeit stellten. Sie hatten gewußt, was sie zu fürchten hatten. Sie hatten eher als er seinen einzigen
Weg zur Befreiung erkannt und beim Namen genannt. Sie hatten die Hoffnungslosigkeit seiner Lage und die
Vergeblichkeit seines Kampfes begriffen und die Last gesehen, die ihn erdrücken würde. Sie hatten erkannt, daß
Vernunft, Gerechtigkeit und Selbsterhaltung ihm geboten, alles fallen zu lassen und davonzulaufen; doch sie
hatten ihn halten wollen, ihn zwingen wollen, das Letzte für sie zu opfern im Namen der Barmherzigkeit, der
Vergebung und der Liebe zu den kannibalischen Brüdern.
»Wenn du noch immer wünschst, daß ich es dir erkläre«, sagte er sehr ruhig, »wenn du immer noch hoffst,
daß ich nicht grausam genug bin, das mit Namen zu nennen, was du vorgibst, nicht zu wissen, dann will ich dir
sagen, was an deiner Vorstellung vom Verzeihen unlogisch ist: Es tut dir leid, daß du mir weh getan hast, und als
Buße dafür verlangst du von mir, daß ich dir das Letzte opfere.«
»Unlogisch!« rief sie aus. »Fängst du schon wieder an mit deiner Logik? Wir brauchen Mitleid, keine Logik!«
Er erhob sich.
»Warte! Gehe nicht weg! Henry, laß uns nicht im Stich! Verurteile uns nicht zum Untergang! Wie wir auch
sein mögen, wir sind Menschen! Wir wollen leben!«
»Nein« begann er verwundert und fuhr, als der Gedanke ihn mit voller Wucht traf, erschauernd fort, »nein, ich
glaube nicht, daß ihr das wollt, sonst hättet ihr mich anders eingeschätzt.«
Wie als zustimmende Antwort trat in Philips Gesicht ein Ausdruck, der ein belustigtes Lächeln sein sollte,
aber doch nur Angst und Bosheit verriet. »Du kannst nicht aufgeben und davonlaufen«, sagte Philip. »Du kannst
nicht davonlaufen ohne Geld.«
Seine Worte schienen ihr Ziel getroffen zu haben. Rearden hob kurz die Brauen und lächelte dann. »Danke,
Philip«, sagte er.
»Wie?« Philip sah ihn bestürzt an.
»Dies war also der Zweck des Pfändungsbefehls, davor hatten also deine Freunde Angst. Ich wußte, daß sie
für heute etwas gegen mich planten. Ich wußte nicht, daß sie mir durch die Pfändung den Fluchtweg abschneiden
wollten.« Er wandte sich ungläubig seiner Mutter zu. »Und deshalb mußtest du mich heute, vor der Konferenz in
New York, sprechen.«
»Mutter wußte nichts davon!« schrie Philip, erkannte sich ertappt und schrie noch lauter. »Ich weiß nicht,
wovon du redest! Ich habe nichts gesagt! Ich habe es nicht gesagt!« Seine Furcht war jetzt weniger allgemein,
schien jetzt einer unmittelbaren, persönlichen Gefahr zu gelten.
»Habe keine Angst, du erbärmliche Laus, ich werde ihnen nicht verraten, daß du mir etwas gesagt hast. Und
wenn du versucht hast…«
Er sprach nicht weiter; er betrachtete nacheinander die drei Gesichter vor ihm und beendete den Satz mit
einem müden Lächeln voll Mitleid, Unglauben und Ekel. Er sah den letzten Widerspruch, die groteske
Widersinnigkeit im letzten Schachzug der Irrationalisten: Die Männer in Washington hatten gehofft, ihn zu
halten, indem sie diese drei veranlaßten, die Rolle von Geiseln zu spielen.
»Du kommst dir wohl sehr groß vor, wie?« Es war ein entfesselter Aufschrei, und er kam aus dem Munde
Lillians. Sie war aufgesprungen, um ihm den Ausgang zu versperren. Ihr Gesicht war verzerrt, wie er es nur
einmal bei ihr gesehen hatte, an jenem Morgen, als sie den Namen seiner Geliebten erfuhr. »Du bist wohl sehr
stolz auf dich? Nun, ich habe dir etwas zu sagen, das dich von deinem Sockel stoßen wird!«
Sie sah aus, als hätte sie bis zu diesem Augenblick nicht geglaubt, daß ihr Spiel verloren war. Der Anblick
ihres Gesichts war für ihn das letzte Glied in einer Kette, und jetzt sah er, warum sie ihn geheiratet hatte.
Wenn der Wille, einen Menschen zum Mittelpunkt seiner Gedanken, zum Inhalt seines Lebens zu machen,
Liebe war, dachte er, dann hatte sie ihn wirklich geliebt; doch während Liebe für ihn die Verherrlichung eines
Menschen selbst und des Daseins war, war sie für diejenigen, die sich selbst und das Leben haßten, nur das
Streben nach Zerstörung. Lillian hatte ihn gewählt um der besten seiner Tugenden, um seiner Stärke, seines
Selbstvertrauens, seines Stolzes willen, sie hatte ihn gewählt, wie man etwas wählt, das man lieben will als das
Symbol männlicher Lebenskraft, doch ihr Ziel war die Zerstörung dieser Kraft gewesen. Er sah sie beide als das,
was sie bei ihrer ersten Begegnung gewesen waren: er, der Mann von unbändiger Energie und
leidenschaftlichem Ehrgeiz, der Mann der Leistung, entzündet von der Flamme des Er folgs und
hineingeschleudert in die Mitte jener Nullen, die sich eine intellektuelle Elite nannten und nichts anderes waren
als die ausgebrannten Reste einer unverdauten Kultur; die sich vom Nachglanz der Gedanken anderer nährten,
die die Leugnung des Verstandes als einzigen Anspruch auf Überlegenheit vorbrachten und die ihr Schielen nach
der Herrschaft über die Welt mit verlogenen Phrasen tarnten. Sie, die Mitläuferin dieser Elite, das gleiche
höhnische Lächeln für alles Große auf den Lippen, im Herzen Unfähigkeit als Tüchtigkeit und Leere als Tugend
verehrend. Er, blind gegenüber ihrem Haß und ihrem Betrug. Sie, die ihn als Gefahr für ihre Welt betrachtete, als
Bedrohung, als Herausforderung, als Vorwurf.
Das Verlangen, das andere antreibt, ein Reich zu versklaven, war in ihr zum Verlangen geworden, ihn zu
beherrschen. Sie hatte sich vorgenommen, ihn zu zerbrechen, als ob sie, unfähig, ihm gleichzukommen, ihn
übertreffen könnte, indem sie ihn vernichtete; als ob seine zerstörte Größe die ihre werden würde, als ob – dachte
er erschauernd – der Vandale, der eine Statue zertrümmert, größer wäre als der Künstler, der sie geschaffen hat;
als ob der Mörder, der ein Kind tötet, größer wäre als die Mutter, die es geboren hat.
Er erinnerte sich, wie sie seine Arbeit, seine Fabrik, sein Metall, seinen Erfolg lächerlich gemacht hatte, wie
sie versucht hatte, ihn betrunken zu machen und ihn zur Untreue zu verleiten, wie sie triumphiert hatte, als sie
glaubte, er hätte sich zu einem unwürdigen Abenteuer erniedrigt, und wie sie getobt hatte, als sie entdeckte, daß
dieses Abenteuer ein Sieg und nicht eine Niederlage war. Ihre Taktik, die ihn so verwirrt hatte, war immer klar
und konsequent gewesen. Sie hatte seine Selbstachtung zu zerstören versucht, weil sie gewußt hatte, daß der
Mann, der seinen Wert aufgibt, sich auf Gnade und Ungnade dem Willen anderer ausliefert. Sie hatte sich
bemüht, seine moralische Integrität zu brechen, seine Rechtschaffenheit durch das Gefühl der Schuld zu
vergiften, als ob, wenn sie ihr Ziel erreichte, seine Minderwertigkeit ihr ein Recht auf ihre geben würde.
Zum gleichen Zweck und aus dem gleichen Motiv und um der gleichen Genugtuung willen, die andere
veranlassen, ganze philosophische Systeme aufzubauen, um Generationen zu verderben oder Diktaturen zu
errichten, um ein Land zugrunde zu richten, so hatte sie, da sie keine andere Waffe besaß als ihre Weiblichkeit,
es sich zur Aufgabe ihres Lebens gemacht, seines zu zerstören.
Dein Gesetz war das Gesetz des Lebens, hörte er in der Erinnerung die Stimme seines verlorenen jungen
Lehrers sagen, welches Gesetz ist denn das ihre?
»Ich habe dir etwas zu sagen!« schrie Lillian im Ton jener ohnmächtigen Wut, die wünscht, Worte könnten
Peitschenhiebe sein. »Du bist so stolz auf dich! Du bist so stolz auf deinen Namen! Rearden Steel! Rearden
Metal! Reardens Frau! Das war ich doch… Reardens Frau? Mrs. Henry Rearden!« Die Laute, die sie jetzt von
sich gab, waren ein gackerndes, keuchendes Gelächter. »Nun, Henry Rearden, was sagst du dazu, daß deine Frau
mit einem anderen Mann geschlafen hat? Ja, ich habe dich betrogen! Hörst du, ich habe dich betrogen, aber nicht
mit einem Mann von Format, nicht mit einem stolzen Liebhaber, nein, mit dem erbärmlichsten Kerl unter der
Sonne, mit Jim Taggart! Vor drei Monaten! Vor unserer Scheidung! Als ich noch deine Frau war! Als ich noch
Mrs. Henry Rearden war!«
Er sah sie an und hörte ihr zu wie ein Wissenschaftler, der ein Studienobjekt beobachtet, zu dem er in
keinerlei persönlicher Beziehung steht. Dies, dachte er, war die letzte Entblößung des Glaubens an
zwischenmenschliche Abhängigkeit, des Glaubens an Nicht-Persönlichkeit, an Nicht-Eigentum, an Nicht-
Wirklichkeit, des Glaubens, daß der moralische Wert eines Menschen abhängig sein könnte von den Handlungen
eines anderen.
»Ich habe dich betrogen! Hörst du mich nicht, du unbefleckter Puritaner? Ich habe mit Jim Taggart
geschlafen, du unbestechlicher Held! Hörst du nicht, was ich sage, du, du…«
Er sah sie an, wie er eine fremde Frau angesehen hätte, die ihm auf der Straße ein persönliches Geständnis
machte, mit einem Blick, der etwa den Worten gleichkam: Warum erzählen Sie das gerade mir?
Ihre Stimme verebbte. Er hatte nicht gewußt, was die Zerstörung einer Persönlichkeit war; doch er wußte, daß
er die Zerstörung Lillians erlebte. Er sah sie in dem Zusammenfallen ihres Gesichtes, in dem plötzlichen
Erschlaffen ihrer Züge, als ob nichts mehr da wäre, was sie zusammenhielt, in ihren Augen, die blind nach innen
starrten, erfüllt von jenem Entsetzen, dem keine äußere Angst gleichkommt. Es war nicht der Blick eines
Menschen, der den Verstand verliert, sondern der Blick eines Verstandes, der seine totale Niederlage erkennt und
gleichzeitig zum ersten Mal seine eigene Natur sieht, der Blick eines Menschen, der sieht, daß er, nachdem er die
Nicht-Existenz jahrelang gepredigt, sie nun selbst erreicht hat.
Er wandte sich zum Gehen. Seine Mutter hielt ihn an der Tür auf, packte ihn am Arm. Mit einem letzten
Versuch, sich selbst zu betrügen, sagte sie weinerlich: »Bist du wirklich unfähig, zu verzeihen?«
»Nein, Mutter«, erwiderte er, »ich bin es nicht. Ich hätte dir die Vergangenheit verziehen, wenn du mich heute
aufgefordert hättest, aufzugeben und zu verschwinden.«
Draußen wehte ein kalter Wind, der ihm den Mantel an den Körper preßte wie in einer Umarmung. Weit
erstreckte sich am Fuße des Hügels das Land bis zum klaren Abendhimmel. Als ob ein zweifacher
Sonnenuntergang den Tag beendete, erglühte der Horizont im Westen im Schein des Abendrots und im Osten
unter dem Hauch seiner Hochöfen.
Das Steuerrad in seinen Händen und die weich unter ihm dahinfließende Straße, auf der er nach New York
fuhr, versetzten ihn in eine seltsam heitere Stimmung. Er empfand gleichzeitig ein Gefühl höchster Intensität und
gelassener Entspannung, ein Gefühl des Handelns ohne Anstrengung, das ihm befremdend jugendlich erschien,
bis er begriff, daß dies die Art war, wie er in seiner Jugend gehandelt und immer zu handeln gehofft hatte. Und
was er jetzt empfand, war, in Worte gefaßt, die einfache, erstaunte Frage: Warum sollte man je anders handeln?
Als die Silhouette von New York vor ihm auftauchte, schien sie ihm durch den Schleier der Entfernung
seltsam klar zu leuchten – mit einer Klarheit, die nicht von ihr, sondern von ihm zu kommen schien. Er sah die
große Stadt nicht als das, was andere aus ihr gemacht hatten, nicht als die Stadt der Gangster, Bettler,
menschlichen Wracks und Huren, er sah sie als die größte technische Leistung in der Geschichte des Menschen;
ihre einzige Bedeutung war das, was sie ihm bedeutete; er sah sie mit einem Blick persönlichen Besitzes und
Besitzergreifens, als sähe er sie zum ersten – oder zum letzten Mal. In dem stillen Flur des Wayne-Falkland-
Hotels zögerte er einige Sekunden lang vor der Tür des Raumes, in dem er erwartet wurde, bevor er die Hand
hob und anklopfte; es war einer der Räume, in denen Francisco d’Anconia gewohnt hatte.
Dichte Wolken von Zigarettenrauch hingen in der Luft des Salons, der jetzt, da alle persönlichen Gegenstände
fehlten, trotz seiner kostbaren Möbel den trostlos kalten Eindruck eines schäbigen Logierzimmers machte. Fünf
Gestalten erhoben sich bei seinem Eintritt aus dem Nebel: Wesley Mouch, Eugene Lawson, James Taggart, Dr.
Floyd Ferris und ein schlanker, schlaksiger Mann, der wie ein rattengesichtiger Tennisspieler aussah und ihm als
Tinky Holloway vorgestellt wurde. »Hier bin ich«, sagte Rearden, die lächelnden Begrüßungsworte, die
angebotenen Drinks und die Bemerkungen über die nationale Notlage ignorierend. »Was wollen Sie von mir?«
»Wir sind hier als Ihre Freunde versammelt, Mr. Rearden«, sagte Tinky Holloway, »nur als Ihre Freunde, und
wollen nichts anderes als eine zwanglose Unterhaltung im Sinne einer engeren Zusammenarbeit.«
»Wir sind daran interessiert, Ihre außerordentlichen Fähigkeiten zu nützen«, sagte Lawson, »und Ihren
fachmännischen Rat über die industriellen Probleme des Landes zu hören.«
»Männer wie Sie brauchen wir in Washington«, sagte Dr. Ferris. »Es gibt keinen Grund, weshalb Sie noch
länger ein Außenseiter bleiben sollten, wenn Ihre Stimme auf der obersten Ebene nationaler Führerschaft
gebraucht wird.«
Was ihre Worte so widerlich machte, dachte Rearden, war, daß es nur halbe Lügen waren; die andere Hälfte,
die sich in ihrem hysterisch drängenden Ton offenbarte, war der unausgesprochene Wunsch, daß sie wahr sein
möchten.
»Was wollen Sie von mir?«
»Nun, wir wollen Ihnen zuhören, Mr. Rearden«, sagte Wesley Mouch mit einem ängstlichen Lächeln, in dem
das Lächeln falsch, die Angst jedoch echt war. »Wir… wir möchten von Ihren Ansichten über die industrielle
Krise der Nation profitieren.«
»Ich habe nichts dazu zu sagen.«
»Aber, Mr. Rearden«, sagte Dr. Ferris, »wir wollen doch nur mit Ihnen zusammenarbeiten dürfen.«
»Ich habe Ihnen schon einmal, und zwar öffentlich, gesagt, daß ich mit niemand zusammenarbeite, der mir die
Pistole auf die Brust setzt.«
»Können wir denn das Kriegsbeil in einer Zeit wie dieser nicht begraben?« sagte Lawson mit flehender
Stimme.
»Auch die Pistole?«
»Welche Pistole?«
»Die Sie in der Hand halten. Begraben Sie die, wenn Sie es können.«
»Das… das ist doch nur eine Redensart«, erklärte Lawson blinzelnd, »ich meinte es doch nur bildlich.«
»Ich nicht.«
»Können wir denn nicht alle in dieser Stunde der Not um des Landes willen zusammenstehen?« fragte Dr.
Ferris. »Können wir unsere Meinungsverschiedenheiten nicht beiseite schieben? Wir sind bereit, Ihnen auf
halbem Wege entgegenzukommen. Wenn es irgend etwas in unserer Politik gibt, das Sie nicht billigen, dann
sagen Sie es, und wir werden ein Gesetz erlassen, um…«
»Geschenkt. Ich bin nicht hierher gekommen, um Ihnen zu helfen, um so zu tun, als wäre ich nicht in der
Lage, in der ich bin, und als wäre eine Einigung auf halbem Wege zwischen uns möglich. Kommen Sie zur
Sache. Sie haben einen neuen Anschlag gegen die Stahlindustrie ausgeheckt. Was ist es dieses Mal?«
»In der Tat«, sagte Wesley Mouch, »wir haben eine wichtige Frage bezüglich der Stahlindustrie mit Ihnen zu
besprechen, aber… nicht in dieser Sprache, Mr. Rearden.«
»Wir haben keinen Anschlag gegen Sie vor«, sagte Holloway. »Wir haben Sie hierher gebeten, um Ihnen
einen Vorschlag zu unterbreiten.«
»Sie meinen, um mir Befehle zu erteilen. Wie lauten sie?«
»Aber, Mr. Rearden, Sie mißverstehen uns vollkommen. Wir wollen Ihnen keine Befehle erteilen. Wir
wollen, daß Sie unseren Vorschlägen nach reiflicher Überlegung freiwillig zustimmen.«
Rearden lächelte. »Das weiß ich.«
»Ja?« begann Holloway eifrig, doch etwas in Reardens Lächeln machte ihn wieder unsicher. »Nun, dann…«
»Und Sie«, sagte Rearden, »Sie wissen, daß dies der Fehler in Ihrer Rechnung ist, der tödliche Fehler, der
verhindern wird, daß sie aufgeht. Wollen Sie mir jetzt sagen, was Sie gegen mich vorhaben? Oder soll ich wieder
nach Hause gehen?«
»O nein, Mr. Rearden!« rief Lawson mit einem erschrockenen Blick auf seine Armbanduhr. »Sie können jetzt
nicht gehen! Ich meine, Sie wollen doch nicht gehen, bevor Sie gehört haben, was wir Ihnen zu sagen haben.«
»Dann lassen Sie es mich hören.«
Er sah, daß sie einander anblickten. Wesley Mouch schien Angst zu haben, zu ihm zu sprechen; sein Gesicht
nahm den Ausdruck mürrischer Verstocktheit an, als wollte er den anderen befehlen, daß sie den Anfang
machten; welche Eignung auch immer sie besitzen mochten, über das Schicksal der Stahlindustrie zu
entscheiden, sie waren hierher gebracht worden, um als Mouchs Gesprächssekundanten zu fungieren. Rearden
fragte sich, warum wohl James Taggart anwesend war. Taggart saß, schweigend und finster an einem Drink
nippend, in seinem Sessel, ohne in seine Richtung zu schauen.
»Wir haben einen Plan ausgearbeitet«, sagte Dr. Ferris allzu munter, »der alle Probleme der Stahlindustrie
lösen und gewiß Ihre volle Zustimmung finden wird als eine Maßnahme, die das Gemeinwohl garantiert und
zugleich Ihre Interessen schützt, indem sie…«
»Erzählen Sie mir nicht, wie ich darüber denken werde, nennen Sie mir die Fakten.«
»Es ist ein Plan, der gerecht ist, gesund, unparteiisch und…«
»Geben Sie mir keine Bewertung. Geben Sie mir Tatsachen.«
»Es ist ein Plan, der…« Dr. Ferris gingen die Worte aus; er hatte die Fähigkeit verloren, Tatsachen beim
Namen zu nennen.
»Durch diesen Plan«, sagte Wesley Mouch, »genehmigen wir der Stahlindustrie eine Preiserhöhung von fünf
Prozent.« Er schwieg stolz. Rearden sagte nichts.
»Natürlich werden einige kleinere Anpassungen notwendig sein«, sagte Holloway leichthin und hüpfte in das
Schweigen hinein wie auf einen leeren Tennisplatz. »Eine gewisse Preiserhöhung wird auch den Produzenten
von Eisenerz gewährt werden müssen – drei Prozent höchstens – angesichts der vermehrten Schwierigkeiten, mit
denen einige von ihnen, zum Beispiel Mr. Larkin in Minnesota, zu rechnen haben, weil sie ihr Erz zu erhöhten
Kosten auf Lastwagen transportieren müssen, da Mr. James Taggart seine Minnesota-Linie dem Gemeinwohl
opfern mußte. Und natürlich muß den Eisenbahnen des Landes eine Erhöhung der Frachtraten zugestanden
werden – sagen wir, rund gerechnet, von sieben Prozent – und zwar angesichts des dringenden Bedarfs an…«
Holloway hielt inne wie ein Tennisspieler, der mitten im Schlag entdeckt, daß sein Gegner das Spielfeld
verlassen hat.
»Aber es wird keine Lohnerhöhung geben«, sagte Dr. Ferris schnell. »Es ist ein wichtiges Moment in unserem
Plan, daß wir den Stahlarbeitern trotz ihrer hartnäckigen Forderungen keine Lohnerhöhung gewähren werden.
Wir wollen Ihnen gegenüber fair sein und Ihre Interessen schützen – auch auf das Risiko öffentlichen Unwillens
hin.«
»Natürlich müssen wir zeigen, wenn wir von den Arbeitnehmern Opfer verlangen«, sagte Lawson, »daß auch
die Unternehmer zu Opfern zum Besten des Landes bereit sind. Die Stimmung unter den Arbeitern der
Stahlindustrie ist zur Zeit äußerst gespannt, Mr. Rearden, sie ist gefährlich explosiv. Und um Ihnen Schutz zu
gewähren vor… vor…« Er stockte.
»Ja?« sagte Rearden. »Wovor?«
»Vor möglicher… Gewalt, sind gewisse Maßnahmen notwendig, die… Hör mal, Jim« – er wandte sich
plötzlich an James Taggart – »warum erklärst du es nicht Mr. Rearden – als Unternehmerkollege?«
»Nun, jemand muß den Eisenbahnen helfen«, sagte Taggart mürrisch, ohne ihn anzusehen. »Das Land braucht
Eisenbahnen, und jemand muß uns helfen, die Lasten zu tragen, und wenn wir keine Erhöhung der Frachtraten
bekommen…«
»Nein, nein, nein!« unterbrach ihn Wesley Mouch ärgerlich. »Erkläre Mr. Rearden den Eisenbahn-
Koordinierungsplan.«
»Nun… dieser Plan ist ein voller Erfolg«, fuhr Taggart teilnahmslos fort, »bis auf den nicht vollständig
lenkbaren Faktor der Zeit. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis unsere koordinierte Teamarbeit die letzte Eisenbahn
im Land wieder saniert hat. Ich bin in der Lage, Ihnen zu versichern, daß der Plan in jeder Industrie mit Erfolg
angewandt werden kann.«
»Zweifellos«, sagte Rearden und wandte sich an Mouch. »Warum ersuchen Sie einen Strohmann, meine Zeit
zu verschwenden? Was hat der Eisenbahn-Koordinierungsplan mit mir zu tun?«
»Aber, Mr. Rearden«, rief Mouch mit verzweifelter Munterkeit aus, »er ist doch das Leitbild, dem wir folgen
sollen! Das zu besprechen, haben wir Sie doch hergerufen!«
»Was?«
»Den Stahl-Koordinierungsplan.«
Es herrschte kurzes Schweigen. Es war wie das Durchatmen nach einem Tauchgang. Rearden sah sie mit
einem Blick an, der Interesse zu verraten schien.
»Angesichts der kritischen Situation der Stahlindustrie«, begann Mouch überstürzt, als wollte er sich keine
Zeit lassen zu erkennen, was ihm an Reardens Blick Unbehagen verursachte, »und da Stahl der wichtigste und
entscheidendste Rohstoff und die Grundlage unserer gesamten industriellen Struktur ist, müssen drastische
Maßnahmen ergriffen werden, um die Stahlproduktionsmöglichkeiten des Landes zu erhalten.« Die Routine
öffentlicher Ansprachen trug ihn bis hierher und nicht weiter. »Mit diesem Ziel vor Augen ist unser Plan… ist
unser Plan…«
»Ist unser Plan sehr einfach«, sprang Tinky Holloway ein, bemüht, es durch die polternde Fröhlichkeit seiner
Stimme zu beweisen. »Wir werden alle Produktionsbeschränkungen für Stahl aufheben, und jede Firma wird
entsprechend ihrer Kapazität erzeugen. Aber um die Gefahren einer Vernichtungskonkurrenz zu vermeiden,
werden alle Firmen ihre Bruttoeinnahmen in einer gemeinsamen Kasse deponieren, die Stahl-Koordinierungs-
Kasse heißen und von einem besonderen Ausschuß verwaltet wird. Am Ende des Jahres wird der Ausschuß diese
Einnahmen verteilen, indem er die gesamte Stahlproduktion des Landes durch die Zahl der vorhandenen
Siemens-Martin-Öfen dividiert und so zu einem Durchschnitt gelangt, der allen gerecht wird. Und jede Firma
wird nach ihren Bedürfnissen bezahlt. Da die Erhaltung ihrer Öfen ihr Hauptbedürfnis darstellt, wird jede Firma
nach der Anzahl der Öfen berücksichtigt, die sie besitzt.«
Er hielt inne, wartete und fügte dann hinzu: »Das wäre alles, Mr. Rearden«, und da er keine Antwort erhielt,
fuhr er fort: »Gewiß, es sind noch einige Falten auszubügeln, aber… so ungefähr sieht der Plan aus.«
Welche Reaktion sie auch immer erwartet hatten, es war nicht die, die sie sahen. Rearden lehnte sich in
seinem Sessel zurück, die Augen aufmerksam in den Raum gerichtet, als betrachtete er einen nicht allzu weit
entfernten Gegenstand, und fragte dann mit einem seltsamen Ton unpersönlicher Belustigung in der Stimme:
»Wollen Sie mir eines verraten, meine Herren: Worauf wollen Sie hinaus?«
Er erkannte, daß sie ihn verstanden. Er sah in ihren Augen den hartnäckig ausweichenden Blick, von dem er
einst geglaubt hatte, es sei der Blick eines Lügners, der sein Opfer betrügt, von dem er aber jetzt wußte, daß er
etwas Schlimmeres bedeutete: Es war der Blick eines Menschen, der sich selbst betrog. Sie antworteten nicht.
Sie schwiegen, als ob sie darum kämpften, nicht ihn seine Frage vergessen zu lassen, sondern sich selbst
vergessen zu machen, daß sie sie gehört hatten.
»Es ist ein vernünftiger Plan!« rief James Taggart plötzlich mit unerwarteter Schärfe aus. »Er wird
funktionieren! Er muß funktionieren! Wir wollen, daß er funktioniert!«
Niemand antwortete ihm.
»Nun, lassen Sie mich nachrechnen«, sagte Rearden. »Orren Boyles Associated Steel hat 60 Siemens-Martin-
Öfen, von denen ein Drittel stilliegt, während der Rest durchschnittlich 300 Tonnen Stahl je Tag und Ofen
erzeugt. Ich habe 20 Siemens-Martin-Öfen, die voll arbeiten und 750 Tonnen je Ofen und Tag produzieren.
Somit besitzen wir zusammen 80 Öfen mit einer Gesamterzeugung von 27000 Tonnen am Tag, was eine
Durchschnittsproduktion von 337,5 Tonnen ergibt. Ich, der ich 15000 Tonnen herstelle, werde täglich für 6750
Tonnen bezahlt, während Boyle, der 12 000 Tonnen produziert, für 20 250 Tonnen bezahlt wird. Reden wir nicht
von den anderen Firmen, sie werden nicht viel an der Rechnung ändern, außer daß sie den Durchschnitt noch
tiefer herunterdrücken, da die meisten weniger als Boyle produzieren, keine aber soviel wie ich. Wie lange,
glauben Sie, daß ich mit Ihrem Plan existieren kann?«
Eine ganze Weile kam keine Antwort, dann schrie Lawson in blindwütiger Selbstgerechtigkeit: »In Zeiten
nationaler Gefahr ist es Ihre Pflicht zu dienen, zu leiden und für die Rettung des Landes zu arbeiten!«
»Ich sehe nicht, wie das Land gerettet werden soll, wenn meine Gewinne in Orren Boyles Tasche gepumpt
werden.«
»Sie müssen dem Wohl der Allgemeinheit ein gewisses Maß an Opfern bringen! «
»Ich sehe nicht ein, warum Orren Boyle mehr ‘Allgemeinheit’ sein soll als ich.«
»Oh, es geht nicht um Mr. Boyle! Es geht um weit mehr als um eine einzelne Person. Wir müssen die gesamte
Stahlindustrie des Landes vor dem Ruin bewahren. Wir können nicht zulassen, daß ein Unternehmen, das so
groß ist wie das von Mr. Boyle, Pleite macht. Das Land braucht es!«
»Ich glaube«, sagte Rearden ruhig, »das Land braucht mich viel nötiger, als es Orren Boyle braucht.«
»Selbstverständlich!« rief Lawson in plötzlicher Begeisterung aus. »Das Land braucht Sie, Mr. Rearden! Das
begreifen Sie doch?«
Doch Lawsons Vergnügen an der vertrauten Phrase der Aufforderung zur Selbstaufopferung schwand schnell
beim Klang von Reardens Stimme, der kalten Stimme eines Kaufmannes, die antwortete: »Ich begreife.«
»Es geht nicht um Boyle allein«, sagte Holloway beschwörend. »Die Wirtschaft des Landes würde eine
größere Erschütterung in diesem Augenblick nicht überstehen. Denken Sie an die Tausende von Boyles
Arbeitern, Lieferanten und Kunden. Was würde aus ihnen werden, wenn Associated Steel in Konkurs ginge?«
»Was wird aus den Tausenden meiner Arbeiter, Lieferanten und Kunden, wenn ich in Konkurs gehe?«
»Sie, Mr. Rearden?« sagte Holloway ungläubig. »Aber Sie sind doch heute der reichste, sicherste und stärkste
Unternehmer in diesem Land!«
»Und wie sieht es morgen damit aus?«
»Wie bitte?«
»Wie lange, erwarten Sie, daß ich mit Verlust arbeiten kann?«
»Aber, Mr. Rearden, wir haben volles Vertrauen in Sie!«
»Zum Teufel mit Ihrem Vertrauen! Wie, glauben Sie, daß ich dieses Kunststück fertigbringe?«
»Sie werden es schon schaffen!«
»Wie?«
Es kam keine Antwort.
»Wir können nicht über die Zukunft theoretisieren«, schrie Wesley Mouch, »wenn es gilt, den unmittelbaren
nationalen Zusammenbruch zu vermeiden. Wir müssen die Wirtschaft des Landes retten!« Reardens
unerschütterlich neugieriger Blick trieb ihn zur Unvorsichtigkeit. »Wenn der Plan Ihnen nicht gefällt, haben Sie
eine bessere Lösung anzubieten?«
»Gewiß«, erwiderte Rearden ruhig. »Wenn Sie wollen, daß produziert wird, dann gehen Sie mir aus dem
Weg, werfen Sie all Ihre verdammten Vorschriften in den Papierkorb, lassen Sie Orren Boyle pleite gehen,
lassen Sie mich die Anlagen von Associated Steel kaufen – und ich werde mit jedem seiner sechzig Öfen tausend
Tonnen Stahl pro Tag produzieren.«
»Oh… aber… aber, das können wir nicht«, stammelte Mouch. »Das wäre ja ein Monopol.«
Rearden lächelte. »Gut«, sagte er gleichgültig. »Dann lassen Sie meinen Betriebsdirektor die Werke kaufen.
Er wird bessere Arbeit leisten als Boyle.«
»Aber das würde bedeuten, daß wir dem Stärkeren einen Vorteil über den Schwächeren einräumen! Das
können wir nicht tun!«
»Dann reden Sie nicht von der Rettung der Wirtschaft des Landes.«
»Wir wollen bloß…«
»Sie wollen bloß eine Produktion ohne die Männer, die produzieren können, nicht wahr?«
»Das… das ist Theorie. Das ist nur ein theoretisches Extrem. Was wir wollen, ist eine vorübergehende
Anpassung.«
»Mit solchen vorübergehenden Anpassungen operieren Sie jetzt seit Jahren. Sehen Sie denn nicht, daß Sie
keine Zeit mehr dazu haben?«
»Das ist nur Theo…« Seine Stimme verebbte.
»Sehen Sie, die Sache ist so«, sagte Holloway vorsichtig, »Mr. Boyle ist nicht wirklich schwach. Mr. Boyle
ist ein außerordentlich fähiger Mann. Er hat nur einige unglückselige Rückschläge erlitten, die er nicht
verhindern konnte. Er hat große Summen in ein gemeinnütziges Unternehmen investiert, um die
unterentwickelten Völker Südamerikas zu unterstützen, und die Kupferkatastrophe in diesen Ländern hat ihm
einen schweren finanziellen Schlag versetzt. Es handelt sich nur darum, ihm eine Chance zu geben, daß er sich
wieder erholen kann, ihm eine helfende Hand zu reichen, damit er über den Abgrund hinwegkommt, ihm
vorübergehend Hilfestellung zu leisten, nicht mehr. Wir brauchen nur das Opfer gerecht zu verteilen, dann
werden alle wieder gesunden und gedeihen.«
»Sie verteilen die Opfer seit über hundert« – er unterbrach sich – »… seit über tausend Jahren«, sagte
Rearden. »Sehen Sie denn nicht, daß Sie damit in eine Sackgasse geraten und jetzt an ihrem Ende angelangt
sind?«
»Das ist nur Theorie!« brauste Wesley Mouch auf.
Rearden lächelte. »Ihre Praxis kenne ich«, sagte er ruhig. »Ihre Theorie versuche ich noch zu verstehen.«
Er wußte, daß Orren Boyle der Drahtzieher des Plans war; er wußte, daß Boyle durch eine komplizierte, durch
Beziehungen, Druck, Drohung und Erpressung betriebene Maschinerie, die ähnlich einer betrügerischen
Rechenmaschine willkürliche Resultate auswarf, diese Männer zwang, den letzten üblen Trick mit ihm zu
versuchen. Er wußte auch, daß Boyle nicht der Lenker dieser Höllenmaschinerie war, welche die Welt zu
zerstören drohte, daß weder er noch diese Männer sie erfunden hatten. Sie alle waren nur Passagiere auf einem
führerlosen Fahrzeug, von dem sie wußten, daß es einem Abgrund entgegenraste, und nicht weil sie Boyle
liebten oder fürchteten, beharrten sie auf ihrem tödlichen Kurs; es war etwas Namenloses, das sie dazu zwang,
etwas, das sie kannten, aber nicht kennen wollten, etwas, das weder der Vernunft noch einer Hoffnung entsprang
und sich in ihren ausweichenden Blicken offenbarte, in Blicken, die zu sagen schienen: Wir werden schon
davonkommen. – Warum, dachte er, warum glauben sie, davonkommen zu können?
»Wir können uns keine Theorien leisten«, schrie Wesley Mouch, »wir müssen handeln!«
»Nun, dann will ich Ihnen eine andere Lösung vorschlagen. Warum übernehmen Sie nicht mein Werk und
lassen es damit gut sein?«
Das Entsetzen, das sie packte, war echt.
»Nur das nicht!« stöhnte Mouch.
»Wir denken nicht daran!« protestierte Holloway.
»Wir sind für das freie Unternehmertum!« beteuerte Dr. Ferris.
»Wir wollen Ihnen nicht weh tun!« schrie Lawson. »Wir sind Ihre Freunde, Mr. Rearden. Können wir denn
nicht alle zusammenarbeiten? Wir sind doch Ihre Freunde!«
Auf der anderen Seite des Raumes stand ein Tisch mit einem Telefon, wahrscheinlich der gleiche Tisch und
der gleiche Telefonapparat… und plötzlich glaubte Rearden die über dieses Telefon gebeugte Gestalt eines
Mannes zu sehen, eines Mannes, der damals wußte, was er, Rearden, jetzt zu verstehen begann, eines Mannes,
der darum kämpfte, ihm das gleiche Ansinnen zu verweigern, das er nun den jetzigen Mietern dieses Raumes
verweigerte… er sah das Ende jenes Kampfes, sah das gequälte Gesicht jenes Mannes sich zu ihm erheben und
hörte seine verzweifelte, tonlose Stimme sagen: »Mr. Rearden, ich schwöre Ihnen – bei der Frau, die ich liebe –
daß ich Ihr Freund bin.«
Dies war die Handlung, die er damals Verrat genannt hatte, und dies war der Mann, den er damals
zurückgestoßen hatte, um weiter den Männern zu dienen, die ihm jetzt entgegentraten. Wer war also der Verräter
gewesen? dachte er; er dachte es fast ohne Gefühl, ohne das Recht auf ein Gefühl, in feierlicher Klarheit. Wer
hatte es den jetzigen Mietern möglich gemacht, in diese Räume einzuziehen? Wen hatte er geopfert, und zu
wessen Nutzen?
»Mr. Rearden?« fragte Lawson ängstlich. »Was ist mit Ihnen?«
Er wandte den Kopf, sah Lawsons Augen ihn besorgt beobachten und erriet, was Lawson in seinem Gesicht
gelesen hatte.
»Wir wollen Ihr Werk nicht beschlagnahmen!« schrie Mouch.
»Wir wollen Ihnen Ihr Eigentum nicht wegnehmen!« schrie Dr. Ferris.
»Sie verstehen uns nicht!«
»Ich beginne, Sie zu verstehen.«
Vor einem Jahr, dachte er, hätten sie ihn erschossen; vor zwei Jahren hätten sie seinen Besitz beschlagnahmt;
vor Generationen wären Männer ihrer Art in der Lage gewesen, sich den Luxus von Mord und Enteignung zu
leisten und sich selbst und ihre Opfer glauben zu machen, das Plündern materieller Güter sei ihr einziges Ziel.
Doch ihre Zeit war abgelaufen, und die anderen Opfer waren gegangen, früher gegangen als geplant, und sie, die
Plünderer, waren nun gezwungen, ihr unverhülltes Ziel zu erkennen.
»Sehen Sie, meine Herren«, sagte er müde, »ich weiß, was Sie wollen. Sie wollen meine Fabrik aufessen und
sie gleichzeitig behalten. Und nun möchte ich gern wissen: Was veranlaßt Sie zu glauben, daß das möglich ist?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte Mouch beleidigt. »Wir haben Ihnen doch gesagt, daß wir Ihre Fabrik
nicht wollen.«
»Gut, ich will mich genauer ausdrücken: Sie wollen mich aufessen und mich gleichzeitig behalten. Wie
gedenken Sie, das zu tun?«
»Ich verstehe nicht, wie Sie so etwas sagen können, nachdem wir Ihnen jede nur mögliche Zusicherung
gegeben haben, daß wir Sie als höchst wertvoll für das Land und für die Stahlindustrie betrachten…«
»Ich glaube es Ihnen. Aber das macht das Rätsel nur um so schwieriger. Sie betrachten mich als äußerst
wertvoll für das Land? Zum Teufel, Sie betrachten mich sogar als äußerst wertvoll für Ihre eigenen Köpfe. Sie
sitzen hier und zittern, weil Sie wissen, daß ich der einzige bin, der Ihnen das Leben retten kann, und daß keine
Zeit mehr zu verlieren ist. Und trotzdem schlagen Sie einen Plan vor, der mich vernichten soll, einen Plan, der
ohne Umschweife, ohne Bemäntelung, mit brutaler Offenheit verlangt, daß ich mit Verlust arbeite, daß ich Stahl
erzeuge, der mich mehr kostet, als er mir einbringt, daß ich den letzten Rest meines Reichtums wegwerfe, bis wir
alle zusammen verhungern. So etwas Widersinniges kann kein Mensch und auch kein Plünderer wollen. Um
Ihrer selbst willen, ohne an mich oder an das Land zu denken. Sie müssen mit etwas rechnen. Womit?«
Er sah den ausweichenden Blick in ihren Augen, einen seltsamen Blick, der etwas verbergen zu wollen, aber
ihm gleichzeitig vorzuwerfen schien, daß er ein Geheimnis vor ihnen hatte.
»Ich sehe nicht, was Sie veranlaßt, die Situation so pessimistisch zu betrachten«, sagte Mouch gekränkt.
»Pessimistisch? Wie soll ich unter Ihrem Plan bestehen können?«
»Aber er ist doch nur eine vorübergehende Maßnahme!«
»Es gibt keinen vorübergehenden Selbstmord.«
»Aber es ist doch nur für die Dauer der Not! Nur bis sich das Land erholt hat!«
»Wie soll es sich denn erholen?« Es kam keine Antwort.
»Wie soll ich produzieren, nachdem ich Pleite gemacht habe?«
»Sie werden nicht pleite gehen. Sie werden immer produzieren können«, sagte Dr. Ferris gelassen, weder
lobend noch tadelnd, als ob er eine natürliche Tatsache feststellte, als wenn er zu jemand sagte: Sie werden
immer ein Taugenichts bleiben. »Sie können nicht anders. Es liegt Ihnen im Blut. Oder, um es wissenschaftlicher
auszudrücken: Sie sind so veranlagt.«
Rearden setzte sich auf; es war, als hätte er sich bemüht, die Geheimkombination eines Schlosses zu finden,
und spürte nun in diesen Worten ein feines Klicken, welches das Einschnappen der ersten Zuhaltung anzeigte.
»Es handelt sich nur darum, die Krise zu überstehen«, sagte Mouch, »dem Volk einen Aufschub zu gewähren,
eine Chance aufzuholen.«
»Und dann?«
»Dann wird sich alles zum Guten wenden.«
»Wie?«
Es kam keine Antwort.
»Was wird es wenden?« Es kam keine Antwort. »Wer wird es wenden?«
»Mein Gott, Mr. Rearden, die Leute bleiben nicht auf der Stelle stehen!« rief Holloway verzweifelt aus. »Sie
tun etwas, sie wachsen, sie schreiten vorwärts.«
»Welche Leute?«
Holloway machte eine vage Handbewegung. »Die Leute«, sagte er.
»Welche Leute? Die Leute, denen Sie den letzten Rearden-Stahl ohne Gegenleistung in den Rachen werfen
wollen? Die Leute, die fortfahren werden, mehr zu verbrauchen als zu produzieren?«
»Die Bedingungen werden sich ändern.«
»Wer wird sie ändern?«
Es kam keine Antwort.
»Ist Ihnen überhaupt etwas zum Plündern übriggeblieben? Wenn Sie die zerstörerische Natur Ihrer Politik
früher nicht gesehen haben, können Sie sie auch jetzt nicht sehen. Schauen Sie sich um. Alle diese traurigen
Volksstaaten auf der ganzen Erde haben nur von den Almosen gelebt, die Sie aus diesem Land herausgepreßt
haben. Aber jetzt gibt es auf der Oberfläche des Globus kein Land mehr, das Sie noch aussaugen könnten. Dieses
Land war das größte, und es war das letzte. Sie haben es leer gemolken. Von all seinem unwiederbringlichen
Glanz bin ich der letzte Rest. Was werden Sie tun, Sie und Ihr Volksglobus, wenn Sie mich erledigt haben? Auf
was hoffen Sie? Was sehen Sie vor sich – außer elendem, sicherem, vollkommenem Verhungern der gesamten
Menschheit?«
Sie antworteten nicht. Sie sahen ihn nicht an. Ihre Gesichter trugen einen Ausdruck verbissenen Grolls, als
wäre er derjenige, der sie täuschen wollte.
Dann sagte Lawson mit einer Stimme, in der sich Vorwurf und Spott mischten: »Nun, ihr Industriellen
prophezeit seit Jahren die Katastrophe und schreit Zeter und Mordio bei jeder neuen Maßnahme und sagt uns,
daß wir zugrunde gehen werden – aber wir sind immer noch da.« Er versuchte ein Lächeln, unterdrückte es aber
sofort wieder, als er den plötzlichen harten Blick in Reardens Augen sah.
Rearden spürte ein zweites, schärferes Klicken in seinem Hirn, das Einschnappen der zweiten Zuhaltung des
Schlosses. Er beugte sich vor. »Womit rechnen Sie?« fragte er; der Ton seiner Stimme hatte sich verändert; sie
klang jetzt stetig, drängend und hartnäckig wie ein Bohrer.
»Es handelt sich nur darum, Zeit zu gewinnen!« sagte Mouch.
»Es ist keine Zeit mehr zu gewinnen.«
»Wir brauchen nur eine Chance!« sagte Lawson.
»Es gibt keine Chance mehr.«
»Nur bis wir uns erholt haben!« rief Holloway.
»Es gibt keine Möglichkeit mehr, sich zu erholen.«
»Nur bis unser Plan zu funktionieren beginnt!« sagte Dr. Ferris.
»Es gibt keinen Weg, das Widersinnige zum Funktionieren zu bringen.«
Es kam keine Antwort. »Was kann Sie jetzt noch retten?«
»Oh, Sie werden schon etwas tun!« sagte James Taggart. Dann spürte Rearden, obwohl es nur ein Satz war,
den er während seines ganzen Lebens immer wieder gehört hatte, einen betäubenden Knall in seinem Innern, als
spränge eine Stahltür mit dem Einschnappen der letzten Zuhaltung plötzlich auf und gäbe ihm den Blick auf die
Antwort frei, die alle Fragen und Probleme seines Lebens mit einem Schlage löste.
In der Stille nach dem Knall glaubte er, die Stimme Franciscos zu hören, die ihn im Ballsaal dieses Gebäudes,
aber auch jetzt in diesem Zimmer, mit ruhigem Ernst fragte: »Wer ist der schuldigste Mann in diesem Raum?«
Er hörte seine eigene Antwort der Vergangenheit: »Ich nehme an… James Taggart?« und hörte Franciscos
Stimme ohne Vo rwurf sagen: »Nein, Mr. Rearden, es ist nicht James Taggart.« Doch jetzt, in diesem Augenblick
und in diesem Zimmer, antwortete sein Gewissen: »Ich bin es.«
Ja, er hatte die Blindheit dieser Plünderer verflucht, aber er hatte sie auch möglich gemacht. Von der ersten
Erpressung an, die er erduldete, vom ersten Gesetz an, das er befolgte, hatte er ihnen Grund gegeben zu glauben,
daß die Wirklichkeit etwas war, das man betrügen konnte, daß man das Widersinnige fordern konnte und daß
irgend jemand es irgendwie möglich machen würde. Als er das Chancenausgleichsgesetz anerkannte, als er
anerkannte, daß diejenigen, die seiner Tüchtigkeit nicht gleichkommen konnten, das Recht hatten, sich ihrer zu
bedienen, daß diejenigen, die nicht gesät hatten, ernten durften, diejenigen aber, die es getan hatten, leer
ausgehen mußten; daß diejenigen, die nicht denken konnten, befahlen, aber diejenigen, die es konnten, ihnen
gehorchen mußten – konnte man ihnen dann den Vorwurf der Unlogik machen, wenn sie glaubten, daß sie in
einem vernunftlosen Universum lebten? Er hatte es für sie geschaffen, es für sie wirklich gemacht. Waren sie
unlogisch, wenn sie glaubten, daß es nur ihre Sache war, zu wünschen, ohne Rücksicht auf die Möglichkeit der
Erfüllung, und seine Aufgabe, diese Wünsche durch Mittel zu erfüllen, die sie nicht zu kennen und nicht zu
benennen brauchten? Sie, die ohnmächtigen Mystiker, die sich bemühten, der Verantwortung der Vernunft zu
entfliehen, hatten gewußt, daß er, der Rationalist, es übernommen hatte, für sie zu denken. Sie hatten gewußt,
daß er ihnen einen Blankoscheck auf die Wirklichkeit gegeben hatte. Er hatte nicht zu fragen, warum? Und sie
brauchten nicht zu fragen, wie? Sie hatten zuerst nur einen Anteil an seinem Reichtum verlangt, dann alles, was
er besaß, und jetzt verlangten sie mehr als er hatte. War das nicht unmöglich? – Nein, er wird schon irgend etwas
tun, es möglich zu machen!
Er wußte nicht, daß er aufgesprungen war, daß er James Taggart anstarrte und in der weichen Formlosigkeit
seiner Züge die Erklärung las für alle Verwüstungen, deren Zeuge er in seinem Leben gewesen war.
»Was ist, Mr. Rearden? Was habe ich gesagt?« fragte Taggart mit wachsender Angst, doch Rearden war außer
Hörweite von Taggarts Stimme.
Er sah den verhängnisvollen Verlauf der Jahre, die ungeheuerlichen Erpressungen, die unmöglichen
Forderungen, die unerklärlichen Siege des Bösen, die widersinnigen Pläne und irrsinnigen Ziele einer
schwülstigen Philosophie, die verzweifelten Bemühungen der Opfer, zu ergründen, welche teuflische,
aberwitzige Macht die Welt zerstörte. Und er wußte jetzt, daß diese Macht – auf einem einzigen Glaubenssatz
der Sieger beruhte, einem Satz, der sich in ihrem ausweichenden Blick offenbarte: Er wird schon etwas tun! Wir
werden davonkommen! Er wird es möglich machen! Er wird schon etwas tun!
Ihr Industriellen prophezeit uns seit Jahren, daß wir zugrunde gehen werden, aber wir sind immer noch da. Sie
hatten recht, dachte er. Sie waren nicht blind gewesen für die Wirklichkeit. Er war blind gewesen für eine
Wirklichkeit, die er selbst geschaffen hatte. Nein, sie waren nicht zugrunde gegangen, doch wer? Wer war
zugrunde gegangen, damit sie überleben konnten? Ellis Wyatt, Ken Danagger, Francisco d’Anconia.
Als er nach seinem Hut und seinem Mantel griff, bemerkte er, daß die Männer, die mit ihm zusammen in dem
Raum waren, versuchten, ihn zurückzuhalten, daß in ihren Gesichtern offene Panik stand, und daß ihre Stimmen
wild durcheinanderschrien: »Was ist, Mr. Rearden? – Warum? – Aber warum denn? – Was haben wir gesagt? –
Sie dürfen nicht gehen! – Sie können nicht gehen! – Es ist zu früh! – Noch nicht! – Nein, noch nicht!«
Ihm war, als sähe er sie durch das Aussichtsfenster eines dahineilenden Schnellzuges, als stünden sie auf der
Strecke hinter ihm, schwenkten die Arme in hilflosen Gesten und schrien unverständliche Worte, während ihre
Gestalten in der Ferne immer kleiner wurden und ihre Stimmen erloschen. Einer von ihnen versuchte ihn
festzuhalten, als er sich zur Tür wandte. Rearden schob ihn beiseite, nicht grob, sondern mit einer einfachen,
sanften Bewegung des Armes, als schöbe er einen Vorhang zur Seite, und ging hinaus.
Stille war seine einzige Empfindung, als er am Steuer seines Wagens saß und nach Philadelphia zurückfuhr.
Es war die Stille einer inneren Bewegungslosigkeit, als ob er, nun im Besitz des letzten Wissens, es sich leisten
könnte auszuruhen, seine Seele nicht länger arbeiten zu lassen. Er fühlte nichts, weder Angst noch Freude. Es
war, als hätte er in jahrelanger Anstrengung einen Berg erklettert, um einen Blick in die Ferne zu tun, und als
hätte er, auf dem Gipfel angelangt, sich niedergelegt, um auszuruhen, bevor er in die Weite schaute.
Er sah das lange, leere Band der Straße vor sich, folgte ihren Windungen, spürte den Gegendruck des
Lenkrades und hörte das Kreischen der Reifen in den Kurven, doch er glaubte, mühelos über eine im leeren
Raum aufgehängte Himmelsstraße hinwegzugleiten.
Die Passanten bei den Fabriken, den Brücken, den Kraftwerken entlang der Straße erlebten einen Anblick, der
einst für sie nur allzu natürlich gewesen war, den Anblick eines teuren, kraftvollen Wagens, gesteuert von einem
selbstbewußten Mann, der durch die unaufdringliche Eleganz seiner Kleidung, die Zielstrebigkeit seines
schnellen Fahrens den wahren Begriff von Macht und Erfolg deutlicher verkörperte als durch Sirenengeheul und
Lichtsignale. Sie sahen ihn vorbeifliegen und im nächtlichen Nebel verschwinden. In der Dunkelheit vor ihm
tauchte als schwarze Silhouette vor glühendem Hintergrund sein Werk auf. Die Glut hatte die Farbe brennenden
Goldes, und mit dem kalten, weißen Feuer von Kristall stand in den Himmel geschrieben: »Rearden Steel«.
Seine Augen sahen die wachsenden Konturen des nächtlichen Panoramas, die Schornsteine als feierliche
Säulen entlang der Ehrenstraße einer kaiserlichen Stadt, die Brücken als hängende Girlanden, die Krane als
grüßende Lanzen und den Rauch als wehende Fahnen. Der Anblick brach die Stille in ihm, und er lächelte im
Gegengruß. Es war ein Lächeln des Glücks, der Liebe, der Hingabe. Nie hatte er sein Werk so geliebt wie in
diesem Augenblick, denn jetzt, da er es mit leiblichen Augen, im Licht seiner eigenen Wertbegriffe und in
leuchtender, widerspruchsfreier Wirklichkeit sah, sah er den Grund seiner Liebe: Sein Werk war eine Leistung
seines Verstandes, geweiht seiner Freude am Leben, errichtet in einer denkenden Welt zum Nutzen denkender
Menschen. Wenn diese Menschen verschwunden waren, wenn diese Welt untergegangen war, wenn sein Werk
aufgehört hatte, seinen Werten zu dienen, dann war es nur noch ein Haufen toten Schrotts, den er – je früher,
desto besser – dem Verfall überließ, nicht in einem Akt des Verrats, sondern in einem Akt der Treue gegenüber
seiner wahren Bedeutung.
Die Werksanlagen waren noch eine Meile weit von ihm entfernt, als eine kleine Flamme plötzlich seine
Aufmerksamkeit erregte. Unter all den Schattierungen von Feuer über dem weiten Gelände konnte er jede
anormale Erscheinung sofort erkennen; dieser Schein war um einen Grad zu gelb, und er zeigte sich an einer
Stelle, wo kein Feuer sein durfte, über einem Gebäude neben dem Tor des Haupteinganges.
Im nächsten Augenblick hörte er den trockenen Knall eines Schusses und dann in schneller Folge drei weitere
Schüsse, die wie eine wütende Antwort klangen.
Dann sah er eine dunkle Masse, die den Weg vor ihm versperrte und nicht zurückwich, als er näher kam. Es
war eine Menschenmenge, die das Tor umlagerte und das Werk zu stürmen versuchte.
Er unterschied winkende Arme, einige mit Knüppeln, Brecheisen und Gewehren bewaffnet, sah die gelben
Flammen brennenden Holzes, die aus den Fenstern des Torwärterhäuschens schlugen, das blaue Mündungsfeuer
von Gewehren, die in der Menge und auf den Dächern der Gebäude aufzuckten. Er sah noch eine menschliche
Gestalt zusammenbrechen und vom Dach eines Wagens herunterfallen, dann riß er das Steuer herum und bog in
eine dunkle Seitenstraße ein. Er fuhr mit höchster Geschwindigkeit über einen ungepflasterten Weg, der zum
Osttor des Werksgeländes führte, und das Tor war schon in Sicht, da wurde der Wagen vom Aufprall der Reifen
gegen einen Senkkasten von der Fahrbahn und an den Rand einer Schlucht geschleudert, in der eine alte
Schlackenhalde lag. Er stemmte sein Gewicht gegen zwei Tonnen fliegendes Metall, fing den Schwung des
Wagens ab und brachte ihn zurück auf die Fahrbahn. Es hatte nur einen Augenblick lang gedauert; dann trat sein
Fuß auf die Bremse und brachte den Wagen zum Halten. Während die Scheinwerfer den Hang bestrichen, hatte
er einen länglichen Schatten erblickt, der dunkler war als das hier wuchernde Unkraut, und hatte geglaubt, das
weiße Flimmern einer winkenden Hand unterscheiden zu können.
Er warf seinen Mantel ab und eilte halb rutschend den Hang hinunter auf den langen dunklen Schatten zu, den
er jetzt als einen menschlichen Körper erkannte. Ein Ballen Watte schwamm vor dem Mond. Er konnte das Weiß
einer Hand und die Form eines Armes im Unkraut liegen sehen, und dann sah er den bewegungslosen Körper.
»Mr. Rearden…«
Es war ein Flüstern, das ein Schrei sein wollte. Es war der fürchterliche Laut einer Stimme, die statt eines
Hilferufes nur noch ein Schmerzensstöhnen hervorbringen konnte.
Er wußte nicht, was zuerst kam, er empfand es als einzigen Schock: den Gedanken, daß ihm diese Stimme
vertraut war, den Mondstrahl, der durch den Wattebausch brach, sein Niederknien neben dem weißen Oval eines
Gesichtes und das Erkennen. Es war der junge Beauftragte des Koordinierungsausschusses.
Er spürte die Hand des jungen Mannes die seine mit der Kraft des Todeskampfes umklammern, während er
die gequälten Züge seines Gesichts, die blutleeren Lippen, die glasigen Augen und den dunklen schmalen
Streifen betrachtete, der aus einem schwarzen Loch auf der linken Brustseite rann.
»Mr. Rearden, ich wollte es verhindern, ich wollte Sie retten «
»Was ist Ihnen geschehen, mein Junge?«
»Sie haben mich niedergeschossen, damit ich nicht reden kann… Ich wollte verhindern« – seine Hand zeigte
auf den roten Schein am Himmel – »was sie tun. Es war zu spät, doch ich habe es versucht… ich habe
versucht… und ich kann… ich kann noch sprechen… hören Sie, sie…«
»Du brauchst Hilfe. Ich bringe dich in ein Krankenhaus und…«
»Nein! Warten Sie! Ich glaube nicht, daß ich noch viel Zeit habe, und ich muß es Ihnen sagen. Hören Sie,
dieser Aufstand… er ist bestellt von Washington – es sind keine Arbeiter… nicht Ihre Arbeiter, es sind die
neuen… das Gesindel, das sie ins Werk geschmuggelt haben. Glauben Sie kein Wort, was man Ihnen darüber
erzählt. Es ist ein Komplott, ein Komplott von Washington… «
Verzweifelte Anspannung verkrampfte das Gesicht des jungen Mannes, die Anspannung eines inneren
Kampfes. Seine Stimme schien genährt von einem flackernden Feuer in seiner Brust – und Rearden wußte, daß
er dem tapferen Jungen keine größere Hilfe leisten konnte, als ihm zuzuhören.
»Sie… sie haben einen Stahl-Koordinierungsplan ausgearbeitet… und sie brauchen einen Vorwand dafür…
weil sie wissen, daß niemand ihn annehmen wird… und daß Sie ihn bekämpfen werden… Sie befürchten, daß
sie damit nicht durchkommen… Was sie vorhaben, ist ungefähr, als wollten sie Ihnen – bei lebendigem Leibe
die Haut abziehen… und deshalb wollen sie es so machen, daß es aussieht, als würden Sie Ihre Arbeiter
verhungern lassen… und daß die Arbeiter Amok laufen… und daß Sie die Lage nicht mehr beherrschen – und
daß die Regierung zu Ihrem Schutz und zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit einschreiten muß… Das ist ihr
Trick, Mr. Rearden…«
Rearden bemerkte die zerschundenen Hände des jungen, das getrocknete Blut und den Schmutz auf seinen
Kleidern und die Spur des niedergedrückten Unkrauts, die in der dunklen Tiefe des Hangs verschwand. Er wagte
nicht daran zu denken, wie lange der junge Mann gebraucht hatte, um hierher zu kriechen.
»Sie wollten nicht, daß Sie heute abend hier sind, Mr. Rearden. Sie wollten nicht, daß Sie den ‘Volksaufstand’
sehen… und später – Sie wissen, wie sie so etwas machen – wollten sie das Land glauben machen, daß alles nur
zu Ihrem Schutz geschieht – daß… Lassen Sie es nicht zu, Mr. Rearden! Sagen Sie es den Menschen, sagen Sie
es den Zeitungen, sagen Sie, daß ich es Ihnen gesagt habe. Ich beschwöre es. Es ist wahr. Sagen Sie es. Das wird
Sie retten.« Rearden drückte die Hand des jungen Mannes. »Danke.«
»Es… es tut mir leid, Mr. Rearden, daß ich es Ihnen so spät sage. Aber sie haben mich erst in letzter Minute
eingeweiht – kurz bevor es losging. Sie riefen mich zu einer Konferenz. Da war ein Mann namens Peters vom
Koordinierungsausschuß. Er ist eine Kreatur von Tinky Holloway, der eine Kreatur von Orren Boyle ist. Sie
wollten, daß ich einen ganzen Stoß Passierscheine unterzeichne, um ihre Gangster ins Werk zu lassen, damit sie
den Aufruhr gleichzeitig drinnen und draußen beginnen konnten, damit es so aussah, als seien es wirklich Ihre
Arbeiter. Ich habe mich geweigert, die Scheine zu unterzeichnen.«
»Nachdem sie dich in ihr Komplott eingeweiht hatten?«
»Aber… aber natürlich, Mr. Rearden. Haben Sie geglaubt, ich würde so etwas mitmachen, gegen Sie?«
»Nein, mein Junge, das habe ich nicht geglaubt. Nur…«
»Was?«
»Nur hatte ich kein Recht, anzunehmen, daß du deinen Kopf für mich riskierst.«
»Aber das mußte ich. Ich konnte doch nicht zulassen, daß sie das Werk zerstören? Wie lange hätte ich noch
warten sollen, bis ich meinen Kopf riskiere? Was hätte ich mit meinem Kopf anfangen sollen, wenn ich ihn nur
um diesen Preis retten konnte. Sie… Sie verstehen mich doch, Mr. Rearden?«
»Ja, ich verstehe dich, mein Junge.«
»Ich weigerte mich. Ich rannte aus dem Büro. Ich suchte den Betriebsdirektor, um ihm alles zu erzählen. Doch
ich konnte ihn nicht finden. Und dann hörte ich Schüsse am Haupttor, und ich wußte, daß es angefangen hatte.
Ich versuchte, bei Ihnen zu Hause anzurufen. Die Telefondrähte waren durchgeschnitten. Ich lief zu meinem
Wagen doch sie mußten mir gefolgt sein. Denn hier schossen sie auf mich, auf dem Parkplatz, von hinten. Ich
erinnere mich nur, daß ich hinfiel. Und dann, als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich, daß sie mich auf die
Schlackenhalde geworfen hatten…«
»Auf die Schlackenhalde?« fragte Rearden leise, denn er wußte, daß die Halde etwa dreißig Meter tiefer lag.
Der junge Mann nickte und deutete in die dunkle Schlucht hinunter. »Ja, dort unten. Und dann begann ich –
begann ich zu kriechen. Ich wollte… wollte so lange durchhalten, bis ich es jemand gesagt hätte, der es Ihnen
sagen würde.«
Die schmerzverzerrten Züge seines Jungengesichtes glätteten sich plötzlich zu einem Lächeln; seine Stimme
hatte einen triumphierenden Klang, als er sagte: »Ich habe durchgehalten.« Dann hob er den Kopf und fragte im
verwunderten, kindlichen Ton plötzlicher Entdeckung: »Mr. Rearden, ist es so, wenn man etwas verzweifelt
wünscht… wenn man ganz verzweifelt wünscht, etwas zu tun?«
»Ja, mein Junge, so ist es.« Der Kopf des jungen Mannes fiel wieder zurück, gegen Reardens Arm, seine
Augen schlossen sich, sein Mund wurde schlaff, als wollte er einen Augenblick tiefster Genugtuung festhalten.
»Aber du bist nicht am Ende, mein Junge. Du mußt weiter durchhalten, bis ich einen Arzt finde und…«
Er hatte den jungen Mann vorsichtig hochgehoben, doch dessen Gesicht verkrampfte sich in einem
Schmerzanfall, und seine Lippen preßten sich aufeinander, um den Schrei zu unterdrücken. Rearden mußte ihn
langsam wieder auf den Boden legen.
Der junge Mann schüttelte den Kopf mit einem Blick, der fast eine Entschuldigung war. »Ich schaffe es nicht
mehr, Mr. Rearden… keinen Zweck, mir selbst was vorzumachen. Ich bin am Ende.«
Dann fügte er wie in schwacher Auflehnung gegen Selbstmitleid hinzu, als zitiere er eine auswendig gelernte
Lektion: »Was macht es aus, Mr. Rearden? Der Mensch ist nur ein koordiniertes System von Chemikalien. Und
der Tod eines Menschen ist nicht wichtiger als… als der Tod eines Tieres.«
»Du weißt es besser.«
»Ja«, flüsterte er. »Ich glaube, ja.«
Sein Blick durchforschte die Dunkelheit, die sie umgab, und kehrte zu Reardens Gesicht zurück. Seine Augen
waren jetzt hilflos, sehnsüchtig, kindlich bestürzt. »Ich weiß, es ist Lüge, alles, was sie uns gelehrt haben… alles,
was sie gesagt haben… über Leben oder… Sterben. Sterben würde nichts bedeuten, wenn wir nur Chemikalien
wären, aber«, er hielt inne, und sein verzweifelter Protest verdichtete sich in seiner Stimme, die er senkte, um zu
flüstern: »… aber für mich bedeutet es etwas… und… und ich glaube, es bedeutet auch etwas für ein Tier. Doch
sie sagen, es gebe keine Werte, nur soziale Gewohnheiten, keine Werte!« Seine Hand griff blind nach dem Loch
in seiner Brust, als wollte er versuchen zu halten, was er zu verlieren im Begriff war. »Keine Werte…«
Dann öffneten sich seine Augen weit und blieben weit geöffnet in einer plötzlichen feierlichen Ruhe. »Ich
würde gern leben, Mr. Rearden, mein Gott, wie gern!« Seine Stimme klang leidenschaftlich ernst. »Nicht weil
ich sterbe, sondern weil ich erst heute abend entdeckt habe, was es bedeutet, wirklich zu leben und es ist
seltsam… Wissen Sie, wann ich es entdeckt habe? Im Büro als ich meinen Kopf riskierte, als ich den Gangstern
sagte, sie sollten zum Teufel gehen. Es gibt so vieles… so vieles, was ich gern früher gewußt hätte. Jedoch, es
hat keinen Zweck, dem Versäumten nachzuweinen.«
»Hör, mein Junge«, sagte Rearden ernst, »willst du mir einen Gefallen tun?«
»Jetzt, Mr. Rearden?«
»Ja, jetzt.«
»Natürlich, Mr. Rearden, wenn ich kann.«
»Du hast mir heute schon einen großen Dienst erwiesen, doch du sollst mir einen noch viel größeren erweisen.
Es war eine harte Arbeit, von der Schlackenhalde hierher zu kriechen. Willst du etwas versuchen, das noch
schwerer ist? Du warst bereit, für mein Werk zu sterben. Willst du jetzt versuchen, für mich zu leben?«
»Für Sie, Mr. Rearden?«
»Für mich. Weil ich dich darum bitte. Weil ich es will. Weil wir noch ein gutes Stück zu klettern haben, wir
beide, du und ich.«
»Ist Ihnen das so wichtig, Mr. Rearden?«
»Es ist mir sehr wichtig. Willst du dich entschließen, weiterleben zu wollen – so wie du es dort unten auf der
Halde getan hast? Durchzuhalten und weiterzuleben – willst du dafür kämpfen? Willst du mit mir zusammen
kämpfen, unseren gemeinsamen Kampf?«
Er fühlte, daß der junge Mann seine Hand drückte; seine Stimme war nur ein Flüstern: »Ich will es versuchen,
Mr. Rearden.«
»Und jetzt hilf mir, dich zu einem Arzt zu bringen. Entspanne dich und halte dich ruhig, damit ich dich
hochheben kann.«
»Jawohl, Mr. Rearden.« Mit einer plötzlichen Anstrengung versuchte der junge Mann, sich aufzurichten und
sich auf einen Ellenbogen zu stützen.
»Langsam, Tony.«
Er sah ein Flackern in den Augen des jungen Mannes, einen Versuch, breit und frech zu grinsen – wie früher.
»Bin ich jetzt nicht mehr der ‘Nicht-Absolute’, der alles in Frage stellt?«
»Nein, nicht mehr. Und du weißt es.«
»Ja, ich weiß. Hier« – er zeigte auf die Wunde in seiner Brust – »hier ist der Beweis. Und« – er sprach weiter,
während Rearden ihn vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter, hochnahm, sprach, als ob seine Worte ihm als
Betäubungsmittel gegen seine Schmerzen dienten – »und die Menschen können nicht leben, wenn Verbrecher
wie die Leute in Washington mit so etwas davonkommen. Was sie heute abend versucht haben… die Menschen
können so nicht leben… das ist etwas Absolutes, nicht wahr?«
»Ja, Tony, das ist etwas Absolutes.«
Rearden richtete sich vorsichtig auf; er sah die Züge des jungen Mannes sich schmerzhaft verkrampfen, als er
ihn langsam gegen seine Brust lehnte, wie ein Kind… doch der Krampf wurde wieder zu einem Versuch des
alten Grinsens, und der Junge fragte: »Wer ist nun die Amme?«
»Ich denke, ich.«
Er machte die ersten Schritte auf der nachgebenden Erde des steilen Hanges und spannte sämtliche Muskeln
an, um das Gleichgewicht zu halten und dem Körper auf seinen Armen jede Erschütterung zu ersparen.
Der Kopf des jungen Mannes legte sich zögernd gegen Reardens Schulter, als wäre es eine Anmaßung.
Rearden beugte den Kopf herab und drückte seine Lippen auf die staubige Stirn.
Der junge Mann zuckte zurück und hob den Kopf mit einem Blick ungläubigen Staunens. »Wissen Sie, was
Sie getan haben?« flüsterte er, als könnte er nicht glauben, was ihm geschehen war.
»Lege deinen Kopf wieder an meine Schulter«, sagte Rearden, »damit ich es noch einmal tun kann.«
Der junge Mann ließ den Kopf zur Seite sinken, und Rearden küßte ihn auf die Stirn; es war die Anerkennung
eines Vaters für die Tapferkeit seines Sohnes.
Der junge Mann lag still, das Gesicht an Reardens Brust verborgen, seine Schultern umklammernd. Dann
erkannte Rearden, nicht an einem Laut, sondern an dem schwachen, regelmäßigen Erschauern, daß der junge
Mann weinte… weinte mit Hingabe, in gläubiger Hingabe an alles das, was er nicht in Worte fassen konnte.
Rearden stieg langsam den Hang hinauf, suchte Schritt für Schritt festen Halt in dem Unkraut und den
Metallabfällen, den Überresten eines vergangenen Zeitalters. Er stieg hinauf zu der Linie, wo der rote Schein des
Werkes den Rand der Schlucht anzeigte, bemüht, sich so sanft und fließend wie möglich zu bewegen.
Er hörte kein Schluchzen, doch er spürte die rhythmischen Erschütterungen – und durch den Stoff seines
Hemdes spürte er statt Tränen den warmen Strom des Blutes, der mit jeder Erschütterung aus der Wunde
drängte. Er wußte, daß der Druck seiner Arme die einzige Antwort war, die der junge Mann jetzt verstehen
konnte. Er hielt den zitternden Körper gegen sich gepreßt, als könnte er seine Lebenskraft in die Arterien
übertragen, die er immer schwächer an seiner Brust schlagen s pürte.
Dann hörte das Schluchzen auf, und der junge Mann hob den Kopf. Sein Gesicht erschien schmaler und
bleicher, doch die Augen leuchteten, und er sah Rearden an, atmete schneller, nach Worten ringend. »Mr.
Rearden… ich… ich habe Sie sehr gern gehabt.«
»Ich weiß.«
Die Gesichtsmuskeln des Jungen hatten nicht mehr die Kraft, sich zu einem Lächeln zu formen, doch ein
Lächeln sprach aus seinem Blick, als er Rearden ansah und in seinem Gesicht erkannte, was er in seinem kurzen
Leben gesucht, aber nicht gefunden hatte, was er gesucht hatte als das Bild der Werte, die er nicht gekannt hatte,
solange er lebte.
Dann fiel sein Kopf zurück. Sein Gesicht verkrampfte sich nicht von neuem, nur sein Mund entspannte sich
zu einem Ausdruck heiteren Ernstes; doch ein kurzer Krampf ging durch seinen Körper wie ein letzter
Protestschrei; und Rearden wußte, daß Vorsicht nicht länger nötig war, denn das, was er in seinen Armen trug,
war nun das, was der Mensch in der Vorstellung der Lehrer des jungen Mannes war – eine Ansammlung von
Chemikalien.
Er ging weiter, als wäre dieser Gang sein letzter Tribut und die Totenfeier für das junge Leben, das in seinen
Armen geendet hatte. Er fühlte eine Wut, die zu stark war, als daß er sich ihrer ganz bewußt werden durfte: Es
war der Wunsch zu töten.
Der Wunsch galt nicht dem unbekannten Mörder, der die Kugel durch den jungen Mann gejagt hatte, sondern
den Bürokraten, die den Mörder gedungen hatten; den Lehrern des jungen Mannes, die ihn waffenlos dem
Gewehr des Mörders ausgeliefert hatten; den sanften, feigen Mördern der Universitätshörsäle, die unfähig waren,
die Fragen eines suchenden Geistes zu beantworten, und es genossen, die Gehirne der ihnen anvertrauten jungen
Menschen zu vergiften.
Irgendwo, dachte er, lebte die Mutter dieses Jungen, die über seine ersten Schritte gewacht, seine
Säuglingsnahrung sorgfältig wie ein Juwelier abgewogen und gläubig die letzten Erkenntnisse der Wissenschaft
bei seiner Pflege und Erziehung beachtet hatte, seinen zarten Körper vor Bakterien zu bewahren – und ihn dann
denen in Obhut gegeben hatte, die ihn zu einem verwirrten Neurotiker machten, indem sie ihn lehrten, er habe
keinen Verstand und dürfe nie versuchen zu denken. Hätte sie Gift in sein Essen gemischt, dachte er, es wäre
liebevoller und weniger verderblich gewesen.
Er dachte an alle Lebewesen, die ihre Jungen lehren zu überleben, an die Katzen, die ihren Kätzchen das
Jagen, an die Vögel, die ihren Jungen das Fliegen beibringen. Doch der Mensch, dessen Werkzeug des
Überlebens sein Verstand ist, unterläßt es nicht nur, seinem Kind das Denken beizubringen, sondern weiht die
Erziehung des Kindes dem Zweck, sein Gehirn zu zerstören, es davon zu überzeugen, daß Denken nutzlos und
böse ist.
Vom ersten bis zum letzten Satz, den ein Kind zu hören bekommt, dienen sie alle dazu, den Motor seines
Denkens stillzulegen, den Strom seines Bewußtseins zu unterbinden. »Stell nicht so viele Fragen! Kinder sollen
nicht so vorlaut sein!« – »Laß mich in Ruhe! Es ist so, weil ich es sage!« – »Widersprich nicht! Gehorche!« –
»Versuche nicht zu verstehen, glaube!« – »Widersetze dich nicht, passe dich an!« – »Schließ dich nicht aus!
Schließ dich an!« – »Kämpfe nicht! Mache Kompromisse!« – »Dein Herz ist wichtiger als dein Verstand!« –
»Woher willst du das wissen? Die Gesellschaft weiß das besser!« – »Was fällt dir ein, der Kugel des Mörders
auszuweichen? Das ist nur ein persönliches Vorurteil!«
Die Menschen würden erschauern, wenn sie einen Vogel sähen, der seinen Jungen die Federn ausreißt und sie
aus dem Nest wirft. Doch genau das taten sie mit ihren Kindern.
Nur mit sinnlosen Phrasen bewaffnet, war dieser junge Mann in den Lebenskampf hinausgestoßen worden,
war eine kurze Strecke Weges gekrochen und gestolpert, hatte einen Schrei des Protests ausgestoßen – und war
bei seinem ersten Versuch, sich mit seinen verstümmelten Flügeln in die Höhe zu erheben, zugrunde gegangen.
Doch einst hatte es eine andere Gattung von Lehrern gegeben, dachte er; sie hatten die Menschen erzogen, die
dieses Land schufen; er dachte, daß Mütter sich auf den Knien aufmachen müßten, um Menschen wie Hugh
Akston zu finden und sie zu bitten, zurückzukehren.
Er schritt durch das Werkstor, bemerkte kaum die Wachen, die ihn einließen und ihn und seine Last
anstarrten; er blieb nicht stehen, um ihnen zuzuhören, als sie ihm die Kampfgeräusche in der Ferne erklärten. Er
ging langsam weiter auf das erleuchtete offene Tor des Krankenhauses zu.
Er betrat einen Saal, der überfüllt war von Männern mit blutigen Verbänden. Er legte seine Last auf eine
Bank, ohne jemand ein Wort der Erklärung zu sagen, und ging hinaus, ohne hinter sich zu schauen.
Er ging weiter in Richtung des Haupttors, dem Schein des Feuers und dem Knallen der Schüsse entgegen.
Von Zeit zu Zeit sah er durch die Lücken zwischen den Gebäuden vereinzelte Gestalten rennen oder hinter
dunklen Ecken verschwinden, verfolgt von Wachmännern und Arbeitern. Er war erstaunt zu sehen, daß seine
Arbeiter bewaffnet waren. Sie schienen die Aufrührer innerhalb des Werkgeländes überwältigt zu haben, nur die
Belagerung des Haupttors schien noch anzudauern. Er sah eine Gestalt durch einen Lichtstreifen rennen und mit
einem Stück Rohr eine große Glaswand zertrümmern, zum Splittern der Scheiben tanzend und grölend wie ein
Gorilla, bis drei stämmige Männer auf ihn zustürzten und ihn niederschlugen.
Die Belagerung des Haupttors schien nachzulassen, als wäre das Rückgrat des Mobs gebrochen. Er hörte noch
die fernen johlenden Schreie, doch die Schüsse auf der Straße wurden immer seltener. Das Feuer im
Torwärterhäuschen war gelöscht, und die Fenster waren von bewaffneten Arbeitern besetzt.
Auf dem Dach eines Gebäudes neben dem Tor sah er im Näherkommen die schlanke Silhouette eines
Mannes, der in jeder Hand eine Pistole hielt und aus der Deckung hinter einem Schornstein hervor in die Menge
hinunterschoß, in kurzen Abständen und, wie es schien, manchmal in zwei Richtungen gleichzeitig. Die
selbstbewußte Schnelligkeit und Sicherheit seiner Bewegungen, seine Art zu schießen, ohne zu zielen, ließen ihn
aussehen wie den Helden einer Wildwest-Geschichte – und Rearden beobachtete ihn mit einem fast
unpersönlichen Vergnügen, als ob der Kampf um das Werk nicht mehr sein eigener Kampf war, und er freute
sich über die Geschicklichkeit und Selbstsicherheit mit der dieser Mann, wie die Männer einer vergangenen Zeit,
das Böse bekämpfte.
Der Strahl eines schwenkenden Scheinwerfers traf Reardens Gesicht, und als das Licht weiterhuschte, sah er
den Mann auf dem Dach sich nach unten beugen, als schaute er in seine Richtung. Dann winkte der Mann
jemand herbei, der ihn ablöste, und er selbst verschwand von seinem Posten.
Rearden eilte durch die kurze Strecke Dunkelheit, die ihn noch von dem Haupttor trennte, weiter, als er aus
einer Seitengasse eine betrunkene Stimme schreien hörte: »Dort ist er!« Er fuhr heru m und sah zwei massige
Gestalten auf sich zulaufen. Er sah ein leeres, tierisch grinsendes Gesicht und einen Knüppel in einer erhobenen
Faust; er hörte das Geräusch von Schritten, die sich aus einer anderen Richtung näherten, wandte sich um, und
im gleichen Augenblick sauste der Knüppel krachend auf seinen Hinterkopf; er schwankte, ein dunkler Schleier
legte sich ihm über die Augen; er fühlte, daß er langsam zusammensank, doch bevor er fiel, fühlte er sich von
einem starken Arm umschlungen, hörte dicht neben seinem Ohr den Knall eines Schusses, dann einen zweiten
Schuß, doch viel schwächer und fern, als wäre er in einen Schacht gefallen.
Das erste, was er empfand, als er die Augen wieder öffnete, war das Gefühl einer tiefen Heiterkeit. Dann sah
er, daß er auf einer Couch in einem Raum von strenger Eleganz lag; dann erkannte er, daß er sich in seinem
eigenen Büro befand, und daß die beiden Männer, die neben ihm standen, der Werksarzt und der
Betriebsdirektor waren. Er fühlte einen schwachen Schmerz im Kopf und spürte unter seiner tastenden Hand ein
Wundpflaster auf seinem Haar. Das Gefühl der Heiterkeit, das ihn erfüllte, entsprang dem Wissen, daß er frei
war.
Der Gedanke an seinen Verband und der Gedanke an sein Büro waren zwei Dinge, die nicht miteinander zu
vereinbaren waren, ein Widerspruch, den er nicht anerkennen wollte. Dies war nicht mehr sein Büro, nicht mehr
sein Werk.
»Ich denke, ich bin nicht ernstlich verletzt«, sagte er und hob den Kopf.
»Glücklicherweise nicht«, erwiderte der Arzt und sah ihn an, als könne er immer noch nicht glauben, daß dies
Hank Rearden in seinem eigenen Werk widerfahren war. Seine Stimme bebte vor Empörung. »Es ist nur eine
Platzwunde und eine leichte Gehirnerschütterung. Doch Sie müssen sich schonen und ausruhen.«
»Das werde ich tun«, sagte Rearden mit fester Stimme.
»Es ist alles vorüber«, sagte der Betriebsdirektor und deutete zum Fenster hinaus. »Wir haben die Verbrecher
in die Flucht geschlagen. Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen. Es ist alles vorbei.«
»Das ist es wirklich«, sagte Rearden. »Es muß eine Menge Arbeit geben für Sie, Doktor.«
»O ja! Ich hätte nie gedacht, daß ich so etwas noch erleben müßte…«
»Ich weiß. Gehen Sie ruhig. Kümmern Sie sich um die anderen. Ich bin wieder in Ordnung.«
»Jawohl, Mr. Rearden.«
»Ich werde mich um das Werk kümmern«, sagte der Betriebsdirektor, als der Arzt hinausgeeilt war. »Wir sind
wieder Herr der Lage. Aber es war der schmutzigste…«
»Ich weiß alles«, sagte Rearden. »Wer hat mir das Leben gerettet? Jemand packte mich, als ich fiel, und schoß
auf meine Angreifer.«
»Und wie! Genau in ihre Gesichter. Hat ihnen glatt die Köpfe runtergeschossen. Das war unser neuer
Hochofen-Vorarbeiter. Ist seit zwei Monaten hier. Der beste Mann, den ich je gehabt habe. Er hatte
herausbekommen, was die Schurken vorhatten, und hat mich heute nachmittag gewarnt. Er sagte mir, ich sollte
alle erreichbaren Männer bewaffnen. Wir bekamen keine Hilfe von der Polizei oder von den Regierungstruppen;
sie drückten sich alle mit den durchsichtigsten Ausreden. Alles war vorher verabredet. Die Aufrührer haben nicht
mit bewaffnetem Widerstand gerechnet. Dieser Hochofenarbeiter – Frank Adams heißt er – hat unsere
Verteidigung organisiert und den Kampf geleitet. Er selbst stand auf einem Dach und schoß alle ab, die dem Tor
zu nahe kamen. Und wie er schoß – wie ein Kunstschütze! Mich schaudert, wenn ich daran denke, wie vielen
von uns er heute nacht das Leben gerettet hat. Diese Schweinehunde waren auf Blut aus, Mr. Rearden.«
»Ich möchte ihn gern sehen.«
»Er wartet irgendwo draußen. Er hat Sie hierher gebracht und gebeten, Sie sprechen zu dürfen, wenn es
möglich wäre.«
»Schicken Sie ihn herein. Dann gehen Sie zurück ins Werk und kümmern sich um die Arbeiter.«
»Kann ich noch etwas für Sie tun, Mr. Rearden?«
»Nein, danke.«
Er lag unbewegt in der Stille seines Büros. Er wußte, daß der Sinn seines Werks aufgehört hatte zu existieren,
und die Fülle dieser Erkenntnis ließ keinen Raum für den Schmerz um eine verlorene Illusion. Er hatte in einem
letzten Bild die Seele und das Wesen seiner Feinde gesehen: in dem leeren, tierischen Gesicht des Mannes mit
dem Knüppel. Es war nicht das Gesicht selbst, das ihn erschauern ließ, sondern die Professoren, die Philosophen,
die Moralisten und Mystiker, die dieses Gesicht auf die Welt losgelassen hatten.
Er fühlte sich überwältigt von einem Bewußtsein leuchtender Klarheit, einem Bewußtsein stolzer Liebe zu
dieser Erde, die seine Erde war und nicht die ihre. Es war das Bewußtsein, das ihn als unbestimmtes Gefühl
durch sein ganzes Leben geleitet hatte, das Gefühl, das manche Menschen in ihrer Jugend empfanden, aber
später verrieten, das er jedoch nie verraten und immer in sich getragen hatte; das Gefühl, das er jetzt in seiner
vollen Bedeutung und Reinheit erlebte; das Bewußtsein seines eigenen außerordentlichen Wertes und des
außerordentlichen Wertes seines Lebens. Es war die letzte Gewißheit, daß sein Leben ihm gehörte und gelebt
werden mußte ohne die Fesseln des Bösen, und daß diese Fesseln niemals nötig gewesen waren. Es war die
strahlende Heiterkeit des Wissens, daß er frei war von Furcht, von Schmerz und von Schuld.
Wenn es wahr ist, dachte er, daß es Rächer gibt, die für die Befreiung von Menschen meiner Art arbeiten,
dann sollen sie sich jetzt zeigen und mir ihr Geheimnis verraten… ich will sie willkommen heißen…
»Herein!« sagte er laut als Antwort auf ein Klopfen an der Tür des Büros.
Die Tür öffnete sich, und er erstarrte. Der Mann, der auf der Schwelle stand, mit zerzaustem Haar,
rußverschmiertem Gesicht, bekleidet mit einem zerknitterten und blutbefleckten Overall, war Francisco
d’Anconia.
Rearden war zumute, als eilte sein Bewußtsein seinem Körper voraus, der ihm, von der Überraschung
gelähmt, den Dienst versagte, während sein Geist lachte und ihm versicherte, daß dies das natürlichste, am
ehesten zu erwartende Ereignis der Welt war.
Francisco lächelte, als begrüßte er einen Freund seiner Kindheit, als wäre nichts zwischen ihnen geschehen –
und Rearden bemerkte, daß auch er lächelte, halb ungläubig verwundert, halb wissend, daß es nicht anders sein
konnte.
»Sie haben sich monatelang das Hirn zermartert«, sagte Francisco näherkommend, »welche Worte Sie
gebrauchen sollten, um mich um Verzeihung zu bitten, und ob Sie das Recht hätten, es zu tun, wenn Sie mich je
wiedersehen würden; aber jetzt wissen Sie, daß es nicht notwendig ist, daß es nichts gibt, was ich verzeihen
könnte.«
»Ja«, sagte Rearden. Das Wort kam über seine Lippen als ein verwundertes Flüstern, doch als er seinen Satz
beendete, wußte er, daß dies der höchste Tribut war, den er zollen konnte: »Ja, ich weiß es.«
Francisco setzte sich neben ihm auf die Couch und fuhr mit der Hand langsam über Reardens Stirn. Es war
wie eine heilende Berührung, die das Vergangene beschloß.
»Nur eines möchte ich Ihnen noch sagen«, sagte Rearden. »Ich will, daß Sie es von mir hören: Sie haben
Ihren Schwur gehalten. Sie waren mein Freund.«
»Ich wußte, daß Sie es wußten. Sie wußten es von Anfang an. Sie wußten es, was auch immer Sie über meine
Taten dachten. Sie schlugen mir ins Gesicht, weil Sie sich nicht zwingen konnten, daran zu zweifeln.«
»Das…« flüsterte Rearden, ihn anstarrend, »das war das, was ich Ihnen nicht sagen… nicht als meine Ausrede
geltend machen durfte…«
»Glaubten Sie nicht, daß ich Sie verstand?«
»Ich wollte Sie finden. Ich hatte kein Recht, nach Ihnen zu suchen… und die ganze Zeit waren Sie…« Er
deutete auf Franciscos Kleidung, ließ die Hand hilflos fallen und schloß die Augen.
»…war ich Ihr Hochofen-Vorarbeiter«, sagte Francisco grinsend. »Ich dachte mir, Sie würden nichts dagegen
haben. Sie haben mir die Stellung selbst angeboten.«
»Sie waren also zwei Monate lang hier… als meine Leibwache?«
»Ja.«
»Sie waren immer hier, seit…«, er unterbrach sich.
»Jawohl. Am Morgen des Tages, an dem Sie meine Abschiedsbotschaft über den Dächern von New York
lasen, meldete ich mich zu meiner ersten Schicht als Ihr Hochofen-Vorarbeiter.«
»Noch eines«, sagte Rearden zögernd, »in jener Nacht bei James Taggarts Hochzeit, als Sie mir sagten, daß
Sie hinter Ihrer größten Eroberung her waren… meinten Sie da mich?«
»Natürlich.«
Francisco setzte sich aufrecht wie zu einer feierlichen Handlung. Sein Gesicht wurde ernst, doch das Lächeln
blieb auf seinen Lippen. »Ich habe Ihnen sehr viel zu sagen. Doch zuerst will ich Sie bitten, ein Wort zu
wiederholen, das Sie einmal zu mir sagten und das ich damals zurückweisen mußte, weil ich wußte, daß ich noch
nicht frei war, es anzunehmen.«
Rearden lächelte. »Welches Wort, Francisco?«
Francisco neigte den Kopf und erwiderte: »Ich danke dir, Hank.« Dann hob er den Kopf wieder. »Und jetzt
will ich dir das sagen, was ich schon einmal angefangen habe dir zu sagen, aber nicht beendete… damals, als ich
zum ersten Mal hier bei dir war. Ich glaube, jetzt bist du bereit, es zu hören.«
»Ich bin es.«
Der Flammenschein eines angestochenen Hochofens schoß draußen in den Himmel. Eine Welle roten Lichtes
glitt langsam über die Wände des Büros, über den leeren Schreibtisch, über Reardens Gesicht, wie zum Gruß
und zum Abschied.

VII. »Hier spricht John Galt«

Die Türglocke läutete Sturm. Es klang wie ein langer fordernder Schrei, unterbrochen durch das Zittern eines
ungeduldigen Fingers.
Aus dem Bett springend sah Dagny das kalte, bleiche Sonnenlicht eines späten Morgens, und eine ferne
Turmuhr sagte ihr, daß es zehn Uhr war. Sie hatte bis vier Uhr früh im Büro gearbeitet und Bescheid
hinterlassen, daß man sie nicht vor Mittag erwarten sollte. Das weiße, von Panik verstörte Gesicht, dem sie sich
gegenübersah, als sie die Tür öffnete, gehörte James Taggart.
»Er ist fort!« rief er.
»Wer?«
»Hank Rearden! Er ist fort! Er ist weg! Verschwunden!«
Einen Moment stand sie unbewegt, die beiden Enden des Gürtels ihres Morgenrockes in der Schwebe haltend,
und als sie voll begriff, was sie gehört hatte, riß sie den Knoten mit einem heftigen Ruck zusammen, als wollte
sie ihren Körper in der Taille zerschneiden, und brach in Lachen aus. Es war ein Lachen des Triumphes.
Er starrte sie bestürzt an. »Was ist mit dir?« stieß er hervor. »Hast du nicht verstanden?«
»Komm herein, Jim«, sagte sie, wandte sich verachtungsvoll ab und ging voraus ins Wohnzimmer. »O ja, ich
habe verstanden.«
»Er ist fort! Verschwunden wie die anderen! Hat sein Werk zurückgelassen, sein Bankkonto, sein ganzes
Eigentum, alles! Einfach verschwunden! Er hat nur etwas Kleidung mitgenommen und das, was er in dem Safe
in seiner Wohnung hatte. Man hat den Safe in seinem Schlafzimmer offen gefunden und leer. Das war alles!
Kein Wort, kein Brief, keine Erklärung! Von Washington haben sie mich angerufen, aber es war zu spät! Die
ganze Stadt weiß es schon! Ich meine, daß er verschwunden ist! Sie konnten es nicht geheimhalten! Sie haben es
versucht, aber… Niemand weiß, wie es durchgesickert ist, doch es ging durch das Werk, als wenn ein Hochofen
ausgelaufen wäre… die Nachricht, daß er verschwunden ist, meine ich… und dann… bevor man es verhindern
konnte, waren eine ganze Reihe anderer ebenfalls verschwunden! Der Betriebsdirektor, der Chefmetallurg, der
Chefingenieur, Reardens Sekretärin, ja sogar der Werksarzt! Und Gott weiß, wer sonst noch! Desertiert sind sie
alle, die Schweine, trotz der schweren Strafen, die wir angedroht haben! Haben das Werk im Stich gelassen, und
jetzt liegt der ganze Betrieb still! Weißt du, was das bedeutet?«
»Weißt du es?« fragte sie.
Er hatte ihr seinen Bericht, Satz für Satz, ins Gesicht geschleudert, als wollte er das Lächeln aus ihm verjagen,
ein seltsames, starres Lächeln der Bitterkeit und des Triumphes. Es war ihm nicht gelungen. »Das bedeutet eine
nationale Katastrophe! Was ist los mit dir? Siehst du denn nicht, daß es ein tödlicher Schlag ist? Es wird die
Moral und die Wirtschaft des Landes zerbrechen! Wir dürfen sie nicht verschwinden lassen! Du mußt ihn
zurückholen!«
Ihr Lächeln erlosch.
»Du kannst es!« schrie er. »Du bist die einzige, die es kann! Er ist doch dein Liebhaber? – Schau mich nicht
so an! Es ist jetzt keine Zeit, zimperlich zu sein! Jetzt gibt es nur eins – ihn zurückholen! Du mußt wissen, wo er
ist! Du mußt ihn finden und ihn zurückbringen!«
Der Blick, mit dem sie ihn jetzt ansah, war schlimmer als ihr Lächeln… es war, als sähe sie ihn nackt und
könnte seinen Anblick nicht länger ertragen.
»Ich kann ihn nicht zurückholen«, sagte sie, ohne die Stimme zu heben. »Und wenn ich es könnte, würde ich
es nicht tun. Und jetzt mach, daß du hinauskommst!«
»Aber die nationale Katastrophe…«
»Hinaus!«
Sie bemerkte nicht, daß er ging. Sie stand allein mitten in ihrem Wohnzimmer, mit gesenktem Kopf und
hängenden Schultern, und lächelte, ein Lächeln des Schmerzes, der Zärtlichkeit… Es war ein stummer Gruß an
Hank Rearden. Kurz tauchte in ihr die Frage auf, warum sie so glücklich war, daß er den Weg in die Freiheit
gefunden hatte, so sicher, daß er recht hatte, obwohl sie selbst sich die gleiche Befreiung verweigerte. Zwei
Sätze füllten ihr Bewußtsein; der eine war ein Triumph: Er ist frei, er ist außerhalb ihrer Macht! Der andere war
ein Gebet: Es gibt noch eine Chance zu siegen, doch laß mich das einzige Opfer sein…
Es war seltsam, dachte sie in den Tagen, die folgten, wenn sie die Menschen ihrer Umgebung betrachtete,
diese Katastrophe hatte sie auf Hank Rearden in einer Weise aufmerksam gemacht, wie seine Leistungen es nie
vermocht hatten, als öffnete sich ihr Bewußtsein eher dem Unglück als dem positiven Wert. Einige sprachen von
ihm in lauten Verwünschungen; andere flüsterten über ihn, Angst und Schuld im Blick, als ob nun ein
fürchterliches Strafgericht sie erwartete; andere versuchten verzweifelt, so zu tun, als wäre nichts geschehen.
Die Zeitungen, ähnlich Marionetten an verwirrten Drähten, verkündeten mit der gleichen Hysterie und am
gleichen Tage: »Es ist sozialer Verrat, der Desertion Hank Reardens eine übertriebene Wichtigkeit
zuzuschreiben und die öffentliche Moral zu untergraben durch den altmodischen Glauben, daß ein Individuum
von entscheidender Bedeutung für die Gesellschaft sein kann.« – »Es ist sozialer Verrat, Gerüchte zu verbreiten
über das Verschwinden von Hank Rearden. Mr. Rearden ist nicht verschwunden, er befindet sich in seinem Büro
und leitet sein Werk wie immer, und es hat keine Unruhen im Rearden-Stahlwerk gegeben, nur einen
unbedeutenden, privaten Streit zwischen Arbeitern.« – »Es ist sozialer Verrat, dem tragischen Ende Hank
Reardens unpatriotische Motive zu unterstellen. Mr. Rearden ist nicht desertiert, er kam ums Leben bei einem
Autounglück, als er sich auf dem Wege zu seinem Werk befand, und die trauernde Familie hat auf einem stillen
Begräbnis bestanden.«
Es war seltsam, dachte sie, Neuigkeiten nur dadurch zu erfahren, daß sie geleugnet wurden, als hätte die
Wirklichkeit aufgehört zu existieren, als wären die Fakten verschwunden und als würden nur die wilden
Dementis der Beamten und der Journalisten einen Schlüssel zu der Wahrheit geben, die sie bestritten. »Es ist
nicht wahr, daß die Miller Steel Foundry in New Jersey Konkurs angemeldet hat.« – »Es ist nicht wahr, daß die
Jansen Motor Company in Michigan ihre Tore geschlossen hat.« – »Es ist eine verbrecherische, antisoziale
Lüge, daß die Fabrikanten von Stahlwaren infolge des drohenden Mangels an Rohstoffen dem Zusammenbruch
nahe sind. Es gibt keinen Grund, mit einer Verknappung an Stahl zu rechnen.« – »Es ist ein böswilliges und
unbegründetes Gerücht, daß ein Stahl-Koordinierungsplan in Vorbereitung war und von Mr. Orren Boyle
unterstützt wurde. Mr. Boyles Anwalt hat ein energisches Dementi veröffentlicht und der Presse versichert, daß
Mr. Boyle sich einem solchen Plan jetzt entschieden widersetzt. Mr. Boyle leidet zur Zeit an den Folgen eines
Nervenzusammenbruchs.«
Doch einige Ereignisse, die sich in den Straßen New Yorks an kalten, feuchten Herbstabenden abspielten,
zeugten für die unterdrückte Wahrheit: Eine Menschenmenge staute sich vor einem Eisenwarengeschäft, dessen
Besitzer die Türen weit geöffnet, die Schaufenster zertrümmert hatte und die Passanten hysterisch kreischend
aufforderte, sich kostenlos zu bedienen. Eine andere, stumme Menschengruppe drängte sich vor der Tür eines
verwahrlosten Wohnhauses, während Polizisten die Leichen eines Mannes, seiner Frau und ihrer drei Kinder
heraustrugen; der Mann, ein kleiner Fabrikant von Stahlwaren, hatte den Gashahn aufgedreht.
Wenn sie Hank Reardens Wert jetzt erkennen, dachte sie, warum haben sie ihn nicht früher erkannt? Warum
hatten sie nicht ihr eigenes Unglück vermieden und ihm Jahre sinnloser Opfer erspart? Sie fand keine Antwort.
In der Stille ihrer schlaflosen Nächte dachte sie daran, daß Hank Rearden und sie nun die Plätze getauscht
hatten: Er war in Atlantis, und sie war durch einen Strahlenschirm von dort ausgeschlossen. Er rief vielleicht
nach ihr, wie sie seinem kämpfenden Flugzeug zugerufen hatte, doch kein Zeichen erreichte sie durch diesen
Schirm. Und dennoch öffnete sich der Schirm für einen kurzen Augenblick, um einen Brief durchzulassen, den
sie eine Woche nach seinem Verschwinden erhielt. Der Umschlag trug keine Absenderadresse, nur den
Poststempel eines kleinen Dorfes in Colorado. Der Text des Briefes bestand aus zwei kurzen Sätzen:
Ich habe ihn kennengelernt. Ich verstehe dich. H. R.
Lange saß sie bewegungslos und starrte auf den Brief, als könnte sie weder fühlen noch sich bewegen. Sie
fühlte wirklich nichts, dachte sie; dann bemerkte sie, daß ihre Schultern zitterten, und begriff, daß das, was sie
erschütterte, Jubel, Dankbarkeit und Verzweiflung zugleich waren. Jubel über den Sieg, den dieses
Zusammentreffen für die beiden Männer bedeutete. Dankbarkeit, weil die Menschen in Atlantis sie immer noch
als eine der Ihren betrachteten und ihr das Privileg eingeräumt hatten, eine Nachricht zu erhalten. Verzweiflung
über die Erkenntnis, daß ihre innere Leere dem Bemühen entsprang, den Fragen auszuweichen, die sich ihr
stellten. Hatte Galt sie im Stich gelassen? War er ins Tal zurückgegangen, um seine größte Eroberung zu
begrüßen? Würde er zurückkommen? Hatte er aufgegeben? Das Unerträgliche war nicht, daß es auf diese Fragen
keine Antwort gab, sondern daß die Antwort so leicht, so einfach zu erreichen war, und daß sie kein Recht hatte,
sich ihr zu nähern.
Sie hatte keinen Versuch gemacht, ihn zu sehen. Wenn sie morgens ihr Büro betrat, war sie sich seit einem
Monat nicht mehr des Raumes bewußt, sondern nur der Tunnel unter dem Gebäude. Und während der Arbeit
hatte ein mechanischer Teil ihres Gehirns in lebloser Hast Zahlen zusammengestellt, Berichte gelesen und
Entscheidungen getroffen, während ihr lebendiger Verstand untätig war, eingefroren in stummer Betrachtung,
gelähmt durch das Verbot, weiter zu gehen als zu der Feststellung: Er ist unten. Die einzige Nachforschung, die
sie sich gestattet hatte, war ein Blick auf die Lohnliste der Arbeiter des Bahnhofes. Sie hatte seinen Namen
gesehen: Galt, John. Und hinter dem Namen hatte sie eine Adresse gelesen – und sie versuchte seit einem Monat,
sie wieder zu vergessen. Das Leben war ihr schwer erschienen während des letzten Monats. Doch jetzt, als sie
den Brief betrachtete, dachte sie, daß Galts Weggehen noch schwerer zu ertragen war. Selbst der Kampf, seine
Nähe zu meiden, war noch ein Bindeglied zu ihm gewesen, ein Preis, den sie zahlen mußte, ein zu erringender
Sieg. Jetzt war nichts mehr da außer einer Frage, die nicht gestellt werden durfte. Seine Gegenwart in den
Tunneln war der Motor ihres Lebens gewesen in diesen Tagen – so wie seine Gegenwart in der Stadt ihr Motor
während der Monate dieses Sommers, so wie seine Gegenwart irgendwo in der Welt ihr Motor gewesen war
während der Jahre vorher, als sie seinen Namen noch nicht gehört hatte. Jetzt war ihr, als wäre ihr Motor
stehengeblieben.
Sie lebte weiter mit dem reinen Glanz einer goldenen Fünfdollarmünze, die sie stets in ihrer Tasche bei sich
trug, als ihren letzten Tropfen Treibstoff. Sie lebte weiter – von der Welt ringsum nur noch beschützt durch einen
letzten Panzer: die Gleichgültigkeit.
Die Zeitungen erwähnten nicht die Ausbrüche von Gewalttätigkeit, die überall im Lande immer zahlreicher
wurden. Doch sie erhielt Kenntnis davon durch die Berichte von Zugführern über beschossene Waggons,
demontierte Strecken, überfallene Züge, belagerte Stationen in Nebraska, in Oregon, in Texas, in Montana –
kurze, zum Scheitern verurteilte Ausbrüche, ausgelöst durch Verzweiflung, endend in sinnloser Zerstörung.
Manche dieser Unruhen waren nur lokaler Natur, andere griffen weiter um sich. Ganze Bezirke erhoben sich in
blinder Rebellion, sperrten die Beamten ein, verjagten die Vertreter Washingtons, töteten die Steuereintreiber,
erklärten ihre Loslösung von der Zentralregierung und griffen dann zu dem Heilmittel, das sie zerstört hatte…
sie beschlagnahmten alles Eigentum in ihrem Machtbereich, erklärten Gütergemeinschaft für alle und gingen
innerhalb einer Woche, nachdem ihre magere Beute verzehrt war, zugrunde im blutigen Haß aller gegen alle, in
einem Chaos, in dem die Gewehre regierten, unter den Schüssen abgestumpfter Soldaten, die Washington
geschickt hatte, Ordnung zu schaffen in den Ruinen.
Die Journalisten erwähnten nichts von alledem. Die Leitartikler predigten weiter die Selbstverleugnung als
den Weg zu künftigem Fortschritt, die Selbstaufopferung als moralischen Imperativ, die Habgier als deren Feind,
die Liebe als die Lösung aller Probleme – und ihre Phrasen rochen widerlich süß wie der Ätherduft in einem
Krankenhaus.
Die Gerüchte verbreiteten sich nur in heimlichen, flüsternden Gesprächen. Doch in der Öffentlichkeit fuhren
die Menschen fort, Zeitungen zu lesen, und handelten, als glaubten sie, was sie lasen, wetteiferten miteinander,
wer am blindesten und am taubsten war, gaben vor, nicht zu wissen, was sie wußten, bemühten sich zu glauben,
daß das Nichtausgesprochene unwirklich war. Es war, als wäre ein Vulkan ausgebrochen, und die Menschen an
seinem Fuß ignorierten die plötzlichen Risse im Berg, den schwarzen Rauch, die kochenden Lavabäche, und
glaubten, die einzige Gefahr, die ihnen drohte, sei die Anerkennung der Realität dieser Warnzeichen.
»Hören Sie am 22. November den Bericht Mr. Thompsons über die Weltkrise!« Es war die erste
Anerkennung der geleugneten Wirklichkeit. Die Ankündigungen begannen eine Woche vorher und überfluteten
schnell das ganze Land. »Mr. Thompson wird zum Volk über die Weltkrise sprechen! Hören Sie Mr. Thompson
über alle Radiosender und alle Fernsehkanäle am 22. November, abends 8 Uhr!«
Zunächst hatten die Frontseiten der Zeitungen und die Sprecher der Radiostationen erklärt: »Um einer
allgemeinen Angst und den von den Feinden des Volkes verbreiteten Gerüchten entgegenzuwirken, wird Mr.
Thompson am 22. November dem Land einen umfassenden Bericht über die Weltlage geben. Mr. Thompson
wird jenen finsteren Kräften das Handwerk legen, deren Absicht es ist, uns in Angst und Verzweiflung zu
stürzen. Er wird Licht in die Finsternis der Welt bringen und wird uns den Weg zur Lösung unserer tragischen
Probleme zeigen – einen harten Weg, wie er dem Ernst der Stunde entspricht, doch einen glorreichen Weg, der
uns wieder zum Licht führen wird. Mr. Thompsons Ansprache wird über alle Sender dieses Landes ausgestrahlt
und über die Sender aller Länder der Erde.«
Dann fiel der ganze Chor der offiziellen Meinungsmacher ein und schwoll von Tag zu Tag an. »Hören Sie
Mr. Thompson am 22. November!« lauteten die täglichen Schlagzeilen der Presse. »Vergessen Sie nicht: Mr.
Thompson am 22. November!« mahnten die Radiosender am Ende eines jeden Programms. »Mr. Thompson
wird Ihnen die Wahrheit sagen!« verkündeten Plakate in der Untergrundbahn und in den Autobussen, dann an
den Wänden der Gebäude und an den Reklametafeln entlang leerer Highways.
»Verzweifeln Sie nicht! Hören Sie Mr. Thompson!« sagten Wimpel an den Regierungswagen. »Geben Sie
nicht auf! Hören Mr. Thompson!« sagten Spruchbänder in Büros und Läden. »Haben Sie Vertrauen! Hören Sie
Mr. Thompson!« predigten Stimmen in den Kirchen. »Mr. Thompson wird Ihnen die Antwort geben!« schrieben
Militärflugzeuge an den Himmel, doch die Buchstaben lösten sich so schnell auf, daß nur noch die beiden letzten
Worte lesbar waren, wenn der ganze Satz geschrieben war.
Auf den Plätzen New Yorks wurden Lautsprecher aufgestellt, und zu jeder vollen Stunde ertönte aus ihnen
über dem Verkehrslärm der Ruf einer blechernen Stimme: »Hören Sie am 22. November Mr. Thompsons Bericht
über die Weltkrise!«, rollte durch die Straßen, stieg in die fröstelnde Luft und verklang über den Dächern, unter
einem riesigen Kalenderblatt, das kein Datum anzeigte.
Am Nachmittag des 22. November teilte James Taggart Dagny mit, Mr. Thompson bäte sie zu einer
Besprechung, die noch vor der Sendung stattfinden sollte.
»In Washington?« fragte sie ungläubig nach einem Blick auf ihre Armb anduhr.
»Nun, ich muß schon sagen, du scheinst wenig Wert darauf zu legen, über das Wichtigste auf dem laufenden
zu bleiben. Liest du denn keine Zeitungen? Weißt du nicht, daß Mr. Thompson von New York aus sprechen
wird? Er ist hierher gekommen, um sich mit den Führern der Industrie, der Gewerkschaften, der Wissenschaften
und mit den Besten der Führerschaft des Landes im allgemeinen zu besprechen. Er hat mich aufgefordert, dich
zu dieser Konferenz mitzubringen.«
»Wo findet diese Konferenz statt?«
»Im Studio des Senders.«
»Erwarten sie, daß ich im Radio für ihre Politik eintrete?«
»Keine Angst, dich werden sie nicht mehr in die Nähe eines Mikrophons lassen! Sie wollen nur deine
Meinung hören, und du kannst dich in einem Augenblick nationaler Not nicht weigern, nicht, wenn Mr.
Thompson dich eingeladen hat!« Er sprach ungeduldig, vermied es, sie anzuschauen.
»Wann findet die Konferenz statt?«
»Um halb acht.«
»Man läßt sich nicht viel Zeit für eine Konferenz über die nationale Not!«
»Mr. Thompson ist ein vielbeschäftigter Mann. Bitte, mach jetzt keine Schwierigkeiten. Ich sehe nicht ein,
warum du…«
»Gut«, sagte sie gleichgültig, »ich werde kommen«, und fügte, veranlaßt durch eine innere Warnung, sich
nicht ohne Zeugen in eine Versammlung von Gangstern zu begeben, hinzu: »Doch ich werde Eddie Willers
mitbringen.«
Er runzelte die Stirn, überlegte einen Moment, mehr verärgert als ängstlich. »Gut, wenn du Wert darauf
legst«, sagte er, die Achseln zuckend.
Sie betrat das Sendestudio mit James Taggart als Polizist auf der einen und Eddie Willers als Leibwache auf
der anderen Seite. Taggarts Gesicht war finster und gespannt, Eddie wirkte gelassen, aber überrascht. In einer
Ecke des großen, düsteren Raumes war aus Pappkulissen eine Szenerie errichtet worden, die ein Mittelding
zwischen Prunksalon und Arbeitszimmer darstellte. Ein Halbkreis leerer Sessel erinnerte an die Vorbereitungen
zu einer Fotoaufnahme für ein Familienalbum. Über den Sesseln hingen wie Köder an langen Stangen mehrere
Mikrophone.
Die Führerschaft des Landes, die in unruhigen Gruppen herumstand, erweckte den Eindruck einer
Versammlung von Bankrotteuren: Sie sah Wesley Mouch, Eugene Lawson, Chick Morrison, Tinky Holloway,
Dr. Floyd Ferris, Dr. Simon Pritchett, Ma Chalmers, Fred Kinnan und eine Handvoll obskurer Geschäftsleute,
unter denen die schäbige Gestalt des Mr. Mowen von Amalgamated Switch and Signal die Großindustrie vertrat.
Doch die Erscheinung, die sie am meisten erschütterte, war Dr. Robert Stadler. Sie hatte nicht gewußt, daß ein
Gesicht in der kurzen Zeitspanne eines Jahres so altern konnte: Der Ausdruck zeitloser Energie und jungenhaften
Eifers war verschwunden, und nichts war übriggeblieben von diesem Gesicht als die Züge angewiderter
Bitterkeit. Er stand allein, abseits von den anderen, und sie konnte sein Gesicht beobachten, als er sie den Raum
betreten sah; er machte den Eindruck eines Mannes, der von seiner Frau in einem Bordell ertappt wird; in seinen
Augen spiegelte sich die Verwandlung von Schuld in Haß. Dann sah sie Robert Stadler, den Wissenschaftler,
sich abwenden, als hätte er sie nicht gesehen – als ob seine Weigerung zu sehen, eine Tatsache aus der Welt
schaffen könnte. Mr. Thompson lief nervös zwischen den Gruppen umher, wahllos kurze Sätze an einzelne
richtend wie ein Mann der Tat, der nur Verachtung empfindet für seine Pflicht, Reden zu halten. In einer Hand
trug er ein zerknülltes Manuskript, als wäre es ein Bündel alter Kleider, das er wegwerfen wollte. James Taggart
trat ihm in den Weg und sprach ihn mit überlauter, unsicherer Stimme an: »Mr. Thompson, darf ich Ihnen meine
Schwester vorstellen, Miss Dagny Taggart?«
»Nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte Mr. Thompson und schüttelte ihr die Hand, als wäre sie eine
seiner Wählerinnen, deren Namen er nie zuvor gehört hatte, dann wandte er sich schroff ab und ging weiter.
»Wo findet die Konferenz statt, Jim?« fragte sie mit einem Blick auf die Uhr; es war ein riesiges weißes
Zifferblatt, auf dem ein schwarzer Zeiger die Minuten zerschnitt wie ein Messer, das sich auf die achte Stunde
zubewegte.
»Ich weiß es nicht! Ich bin hier nicht der Regisseur!« erwiderte er wütend.
Eddie Willers warf ihr einen erstaunten Blick zu und trat näher an ihre Seite.
Aus einem Lautsprecher ertönte Militärmusik, die von einem anderen Studio gesendet und halb erstickt wurde
durch nervöses Stimmengewirr, hastige, ziellose Schritte und das Klirren von Apparaten, die vor der Szenerie
aufgefahren wurden.
»Bleiben Sie eingeschaltet, um Mr. Thompsons Bericht über die Weltkrise zu hören!« schallte die aufgeregte
Stimme eines Ansagers aus dem Lautsprecher, als der Zeiger auf dem großen Zifferblatt auf 7.45 Uhr
gesprungen war.
»Gut so, Jungs, gut so!« rief Mr. Thompson, als ein neuer Militärmarsch aus dem Lautsprecher dröhnte.
Es war 7.50 Uh r, als Chick Morrison, der Chef des Amtes für öffentliche Meinung, der die Sendung zu leiten
schien, in gezwungener Aufgeräumtheit ausrief: »Bitte, die Damen und Herren, lassen Sie uns unsere Plätze
einnehmen!« und dabei mit einer Papierrolle wie mit einem Dirigentenstab auf den von Licht überfluteten
Halbkreis von Sesseln zeigte.
Mr. Thompson stürzte sich auf den mittleren Sessel wie auf einen frei gewordenen Platz in der
Untergrundbahn.
Chick Morrisons Assistenten geleiteten die Anwesenden in den Lichtkreis.
»Wie eine glückliche Familie«, erklärte Chick Morrison. »Das Land muß uns als eine große, vereinte,
glückliche… Was ist los mit dem Ding?« Die Musik hatte plötzlich mitten im Takt ausgesetzt. Der Lautsprecher
gab noch einige pfeifende und knarrende Geräusche von sich und verstummte. Es war 7.51 Uhr. Morrison zuckte
die Achseln und fuhr fort: »…glückliche Familie sehen. Los, Jungs! Macht zunächst einige Großaufnahmen von
Mr. Thompson! «
Der Uhrzeiger rückte langsam weiter, während die Pressefotografen ihre Kameras auf Mr. Thompsons
verdrossenes Gesicht richteten.
»Mr. Thompson wird zwischen der Wissenschaft und der Industrie sitzen!« kündigte Chick Morrison an. »Dr.
Stadler, bitte – links von Mr. Thompson. Miss Taggart – hierher bitte, rechts neben Mr. Thompson.« Dr. Stadler
folgte der Aufforderung. Sie rührte sich nicht.
»Es ist nicht nur für die Presse, es ist für das Fernsehpublikum«, erklärte Chick Morrison aufmunternd. Sie
trat einen Schritt vor. »Ich werde bei dieser Sendung nicht mitwirken«, sagte sie mit ruhiger Stimme zu Mr.
Thompson gewandt.
»Sie wollen nicht mitmachen?« fragte er verblüfft und starrte sie an, als wäre sie eine Blumenvase, die sich
plötzlich weigerte, weiter eine Blumenvase zu sein.
»Dagny, um Gottes willen!« rief James Taggart entsetzt aus.
»Was ist los mit ihr?« fragte Mr. Thompson.

»Aber, Miss Taggart! Warum nicht?« fragte Chick Morrison bestürzt.


»Sie alle wissen, warum«, sagte sie zu den Gesichtern, die sie anstarrten. »Sie hätten es besser nicht noch
einmal versucht.«
»Miss Taggart!« schrie Chick Morrison. »Es ist eine nationale Not…«
In diesem Augenblick stürzte ein Mann auf Mr. Thompson zu, und sie blieb stehen, wie die anderen auch –
und der Blick dieses Mannes ließ sie alle plötzlich verstummen. Es war der Chefingenieur des Senders, und es
war seltsam zu sehen, wie in seinem Gesicht ein letzter Rest von Selbstbeherrschung gegen panischen Schrecken
ankämpfte.
»Mr. Thompson«, stammelte er, »wir… wir müssen die Sendung vielleicht verschieben.«
»Wie?« schrie Mr. Thompson.
Der Zeiger stand auf 7.58 Uhr.
»Wir versuchen, es in Ordnung zu bringen, Mr. Thompson… wir versuchen herauszufinden, woran es liegt –
aber vielleicht werden wir nicht rechtzeitig…«
»Wovon reden Sie? Was ist geschehen?«
»Wir versuchen, festzustellen… «
»Was geschehen ist, frage ich!«
»Ich weiß es nicht. Aber… wir… wir können nicht senden.« Einige Sekunden lang herrschte Schweigen.
Dann fragte Mr. Thompson mit unnatürlich leiser Stimme: »Sind Sie wahnsinnig?«
»Ich muß wohl. Ich wollte, ich wäre es. Ich finde nicht, woran es liegt. Aber der Sender ist tot.«
»Eine technische Störung?« brüllte Mr. Thompson und sprang auf. »Eine technische Störung in einem
Augenblick wie diesem? Verdammt, so leiten Sie Ihren Sender?«
Der Chefingenieur bewegte langsam den Kopf hin und her wie ein Erwachsener, der ein Kind nicht
erschrecken will. »Es ist nicht nur mein Sender, Mr. Thompson«, sagte er behutsam. »Es sind alle Sender im
Land, soweit wir feststellen konnten. Und es handelt sich nicht um eine technische Störung. Weder hier bei uns
noch anderswo. Die Anlagen sind intakt, vollkommen intakt, und alle berichten dasselbe. Aber alle
Radiostationen setzten um 7.51 Uhr aus – und niemand kann herausfinden, warum.«
»Aber…« keuchte Mr. Thompson, unterbrach sich, schaute um sich und schrie, »nicht heute abend! Das darf
nicht heute abend passieren! Sie haben dafür zu sorgen, daß ich sprechen kann!«
»Mr. Thompson«, sagte der Mann beschwichtigend, »wir haben das elektronische Laboratorium des State
Science Institute angerufen. Sie… sie haben niemals etwas Ähnliches erlebt. Sie sagten, es sei eine Art
kosmischer Störung unbekannter Art, nur…«
»Ja?«
»Nur, sie glauben nicht, daß es das ist. Auch wir nicht. Sie sagen, es sieht aus wie Radiowellen, doch von
einer Frequenz, die bisher nie erzeugt, nie beobachtet und nie für möglich gehalten wurde.«
Niemand antwortete ihm. Dann fuhr er mit fast feierlicher Stimme fort: »Es sieht aus wie eine Mauer von
Radiowellen, die die Luft absperrt, und wir können sie nicht durchdringen, wir können sie nicht berühren und
nicht brechen – und, was noch schlimmer ist, wir können sie nicht lokalisieren, nicht mit unseren üblichen
Methoden. Diese Wellen scheinen von einem Sender zu kommen, der… der alles, was wir kennen, als
Kinderspielzeug erscheinen läßt!«
»Aber das ist doch nicht möglich!« Der Schrei kam hinter dem Rücken Mr. Thompsons hervor, und alle sahen
bestürzt in seine Richtung. Dr. Stadler hatte ihn ausgestoßen. »So etwas gibt es nicht! Es gibt keinen Menschen
auf Erden, der so etwas machen kann!«
Der Chefingenieur spreizte die Hände. »So ist es, Dr. Stadler«, sagte er resigniert. »Es kann nicht möglich
sein. Es darf nicht möglich sein. Doch es ist so.«
»Nun, so tun Sie doch etwas!« schrie Mr. Thompson die Umstehenden an.
Niemand antwortete, niemand rührte sich.
»Ich werde das nicht zulassen!« brüllte Mr. Thompson. »Ich lasse es nicht zu! Auf keinen Fall heute abend!
Ich muß diese Rede halten! Tun Sie etwas! Bringen Sie das in Ordnung, was es auch ist! Ich befehle Ihnen,
bringen Sie das in Ordnung!«
Der Chefingenieur sah ihn mit leeren Augen an.
»Ich werde Sie alle entlassen! Ich werde alle Elektronikingenieure im Land entlassen! Ich werde den ganzen
Berufsstand vor Gericht bringen wegen Sabotage, Desertion und Verrat! Haben Sie mich verstanden? Tun Sie
etwas! Verdammt, so tun Sie doch etwas!«
Der Chefingenieur sah ihn teilnahmslos an, als wären Worte zwecklos geworden.
»Ist denn niemand hier, der meinem Befehl gehorcht?« schrie Mr. Thompson mit schriller Stimme. »Ist denn
kein Gehirn übrig geblieben in diesem Land?«
Der Zeiger auf dem großen weißen Zifferblatt hatte den Punkt der Acht erreicht.
»Guten Abend«, sagte eine Stimme aus dem Lautsprecher… eine klare, ruhige, unerbittliche Männerstimme,
eine Stimme, wie sie seit Jahren nicht mehr über das Radio gehört worden war… »Mr. Thompson wird heute
abend nicht sprechen. Seine Zeit ist um. Ich habe seine Aufgabe übernommen. Es war für heute abend ein
Bericht über die Weltkrise angekündigt. Ich werde diesen Bericht abgeben.«
Das Aufstöhnen von drei Zuhörern war wie ein Echo, aus dem herausklang, daß sie die Stimme erkannt
hatten. Doch niemand bemerkte das im Lärm der Menge, die wild durcheinanderschrie. Das eine war ein
Stöhnen des Triumphes… das zweite des Entsetzens – das dritte der Verwirrung. Drei Zuhörer wußten, wer der
Sprecher war: Dagny, Dr. Stadler, Eddie Willers. Niemand sah Eddie Willers an; doch Dagny und Dr. Stadler
sahen sich an. Sie sah, daß sein Gesicht von einem Grauen verzerrt wurde, dessen Anblick nicht zu ertragen war;
er sah, daß sie alles wußte und daß sie ihn ansah, als hätte der Sprecher ihm ins Gesicht geschlagen.
»Seit zwölf Jahren fragt ihr: Wer ist John Galt? Hier spricht John Galt. Ich bin der, der sein Leben liebt. Ich
bin der, der weder seine Liebe noch seine Werte opfert. Ich bin der, der euch der Opfer beraubt und damit eure
Welt zerstört hat. Und wenn ihr wissen wollt, warum ihr untergeht, ihr, die ihr euch vor dem Wissen fürchtet: Ich
werde es euch jetzt sagen.«
Der Chefingenieur war der einzige im Raum, der fähig war, sich zu bewegen. Er stürzte zu dem
Fernsehempfänger und drehte wild an den Knöpfen. Doch der Schirm blieb leer. Der Sprecher zog es vor, nicht
gesehen zu werden. Nur seine Stimme erfüllte den Luftraum des Landes – der Welt, dachte der Chefingenieur.
Und sie klang, als spräche er hier, in diesem Raum, und nicht zu einer Menge, sondern zu wenigen. Es war nicht
der Ton, in dem man zu einer Massenversammlung spricht, sondern der Ton, in dem man sich an den Verstand
wendet.
»Ihr habt sagen hören, dies sei die Zeit einer moralischen Krise. Ihr habt es selbst gesagt, halb fürchtend, halb
hoffend, daß diese Worte keine Bedeutung haben. Ihr habt gejammert, daß die Sünden der Menschen die Welt
zerstören, und ihr habt die menschliche Natur verflucht, weil sie sich weigert, die Tugenden zu üben, die ihr
fordert. Da für euch Tugend gleich Opfer ist, habt ihr nach jedem Desaster mehr Opfer verlangt. Im Namen einer
Rückkehr zur Moral habt ihr alle Übel geopfert, die ihr für die Ursache eures Elends hieltet. Ihr habt die
Gerechtigkeit dem Mitleid geopfert. Ihr habt die Unabhängigkeit der Einigkeit geopfert. Ihr habt die Vernunft
dem Glauben geopfert. Ihr habt den Reichtum der Bedürftigkeit geopfert. Ihr habt die Selbstachtung der
Selbstverleugnung geopfert. Ihr habt das Glück der Pflicht geopfert.
Ihr habt alles zerstört, was ihr für böse hieltet, und alles erreicht, was ihr für gut hieltet. Warum verkriecht ihr
euch dann vor Entsetzen beim Anblick der Welt um euch herum? Diese Welt ist nicht das Produkt eurer Sünden,
sie ist das Produkt und das Bild eurer Tugenden. Sie ist euer moralisches Ideal, verwirklicht in seiner vollen und
letzten Bedeutung. Ihr habt für sie gekämpft. Ihr habt von ihr geträumt. Ihr habt sie euch gewünscht, und ich…
ich bin der, der euch euren Wunsch erfüllt hat.
Euer Ideal hat einen unversöhnlichen Feind, den zu zerstören ihr euren Moralkodex geschaffen habt. Ich habe
euch von diesem Feind befreit. Ich habe euch diesen Feind aus dem Weg geräumt und ihn außer Reichweite
gebracht. Ich habe die Quelle aller Übel beseitigt, die ihr eines nach dem anderen geopfert habt. Ich habe euren
Kampf beendet. Ich habe euren Motor angehalten. Ich habe eurer Welt den menschlichen Verstand genommen.
Die Menschen leben nicht durch den Verstand, sagt ihr? Ich habe euch die genommen, die es tun. Der
Verstand ist ohnmächtig, sagt ihr? Ich habe euch die genommen, deren Verstand es nicht ist. Es gibt Werte, die
höher stehen als der Verstand, sagt ihr? Ich habe euch die genommen, für die es solche Werte nicht gibt.
Ihr wolltet die Menschen der Gerechtigkeit, der Unabhängigkeit, der Vernunft, des Reichtums und der
Selbstachtung zu euren Opferaltären schleifen. Ich bin euch zuvorgekommen. Ich war vor euch bei ihnen. Ich
habe ihnen das Wesen des Spiels erklärt, das ihr spielt, und das Wesen eurer Moral, das sie in ihrer unschuldigen
Großzügigkeit nicht begriffen hatten. Ich habe ihnen den Weg gezeigt, nach einer anderen Moral zu leben…
nach meiner. Sie haben sich für meine Moral entschieden.
Alle, die verschwunden sind, alle, die ihr haßtet und doch zu verlieren fürchtetet, ich bin es, der sie euch
entführt hat. Versucht nicht, uns zu finden. Wir lassen uns nicht finden. Jammert nicht, es sei unsere Pflicht,
euch zu dienen. Wir erkennen eine solche Pflicht nicht an. Jammert nicht, daß ihr uns braucht. Wir betrachten
Bedürftigkeit nicht als Anspruch. Jammert nicht, daß wir euch gehören. Wir gehören euch nicht. Bittet uns nicht
zurückzukommen. Wir streiken, wir – die Menschen des Verstands.
Wir streiken gegen Selbstaufopferung. Wir streiken gegen den Glauben an unverdiente Belohnungen und
selbstverständliche Pflichten. Wir streiken gegen das Dogma, das Streben nach Glück sei böse. Wir streiken
gegen die Doktrin, das Leben sei Sünde.
Es besteht ein Unterschied zwischen unserem Streik und all denen, die ihr jahrhundertelang praktiziert habt:
Unser Streik besteht nicht darin, daß wir Forderungen stellen, sondern darin, daß wir sie erfüllen. Nach eurer
Moral sind wir böse. Wir haben beschlossen, euch nicht länger zu schaden. Nach eurer Wirtschaftstheorie sind
wir nutzlos. Wir haben beschlossen, euch nicht länger auszubeuten. Nach eurer politischen Theorie sind wir
gefährlich und müssen im Zaum gehalten werden. Wir haben beschlossen, euch nicht länger zu gefährden und
kein Zaumzeug mehr zu tragen. Nach eurer Philosophie sind wir nur eine Illusion. Wir haben beschlossen, euch
nicht länger zu blenden. Wir stehen eurer Begegnung mit der Realität nicht länger im Weg – mit der Realität, die
ihr euch immer gewünscht habt, mit der Welt, die ihr jetzt vor euch habt, mit einer Welt ohne Verstand.
Ihr habt von uns alles bekommen, was ihr gefordert habt. Wir waren immer die Gebenden. Das haben wir erst
jetzt begriffen. Wir haben keine Forderungen an euch, keine Bedingungen, die wir mit euch aushandeln wollen,
keine Kompromisse, die wir mit euch schließen möchten. Ihr habt uns nichts zu bieten. Wir brauchen euch nicht.
Jammert ihr jetzt, daß es nicht das war, was ihr wolltet? Daß eine hirnlose Welt in Trümmern nicht euer Ziel
war? Daß ihr nicht wolltet, daß wir euch verlassen? Ihr seid moralische Kannibalen. Ihr wußtet immer, was ihr
wolltet. Doch euer Spiel ist aus, denn jetzt wissen wir es auch.
Jahrhunderte der durch euren Moralkodex heraufbeschworenen Notzeiten und Katastrophen hindurch habt ihr
gejammert, euer Kodex sei gebrochen worden und die Notzeiten seien die Strafe dafür, daß die Menschen zu
schwach und zu eigennützig sind, das geforderte Blut zu vergießen. Ihr habt die Menschen verdammt, doch nie
habt ihr gewagt, euren Kodex in Frage zu stellen. Eure Opfer nahmen die Schuld auf sich und kämpften weiter,
für ihr Märtyrertum belohnt nur durch eure Flüche… während euer Jammern immer lauter wurde, euer Kodex
sei gut, die menschliche Natur aber nicht gut genug, ihn zu befolgen. Und keiner fragte: Gut? Gemessen woran?
Ihr wolltet wissen, wer John Galt ist. Ich bin der, der diese Frage gestellt hat.
Ja, dies ist die Zeit einer moralischen Krise. Ja, ihr erleidet die Strafe für eure Schlechtigkeit. Doch es ist nicht
der Mensch, der vor Gericht steht, und nicht die menschliche Natur wird für schuldig befunden werden. Es ist
euer Moralkodex, der am Ende ist. Euer Moralkodex hat sein Ziel erreicht, die Sackgasse, in die er führt. Und
wenn ihr weiterleben wollt, dann müßt ihr nicht zurückkehren zur Moral – ihr, die ihr nie eine Moral gekannt
habt –, sondern sie entdecken.
Ihr kennt nur mystische und soziale Moralbegriffe. Man hat euch gelehrt, Moral sei ein Verhaltenskodex, der
euch aus einer Laune heraus auferlegt wurde, einer Laune himmlischer Mächte oder einer Laune der
Gesellschaft, um Gottes Plänen zu dienen oder der Wohlfahrt eurer Nachbarn, um einer Autorität jenseits des
Grabes zu gefallen oder den Leuten nebenan… nicht aber, um eurem Leben und eurem Vergnügen zu dienen.
Man hat euch gelehrt, daß euer Vergnügen in der Unmoral liegt und daß Schlechtigkeit euren Interessen am
besten dient. Ein Moralkodex darf daher nicht für, sondern muß gegen euch konzipiert sein, darf euer Leben
nicht schön, sondern muß es schwer machen.
Jahrhundertelang tobte der Kampf um die Moral zwischen denen, die behaupteten, euer Leben gehöre Gott,
und denen, die behaupteten, es gehöre euren Nachbarn… zwischen denen, die predigten, das Gute sei
Selbstaufopferung für Geister im Himmel, und denen, die predigten, das Gute sei Selbstaufopferung für
Unfähige auf der Erde. Und keiner kam und sagte, daß euer Leben euch gehört, und daß das Gute darin besteht,
es zu leben.
Beide Seiten stimmten darin überein, daß Moral die Aufgabe eures Selbstinteresses und eures Verstandes
verlangt, daß Moral und Praxis Gegensätze sind, daß Moral nicht auf Vernunft, sondern auf Glauben und Zwang
beruht. Beide Seiten stimmten darin überein, daß eine rationale Moral nicht möglich ist, daß die Vernunft kein
Recht und kein Unrecht kennt, daß es keinen vernünftigen Grund für moralisches Verhalten gibt.
Wofür eure Moralisten auch immer gekämpft haben, stets standen sie vereint gegen den menschlichen
Verstand. Alle ihre Pläne und Systeme waren allein darauf angelegt, den menschlichen Verstand zu verderben
und zu zerstören. Entscheidet euch jetzt, ob ihr untergehen oder lernen wollt, daß Vernunftfeindlichkeit
Lebensfeindlichkeit ist.
Das Wichtigste, was der Mensch benötigt, um zu überleben, ist sein Verstand. Das Leben ist ihm gegeben,
doch nicht das Überleben. Sein Körper ist ihm gegeben, doch nicht dessen Erhaltung. Sein Verstand ist ihm
gegeben, doch nicht dessen Arbeit. Um zu überleben, muß er handeln, und bevor er handeln kann, muß er das
Wesen und den Zweck seines Handelns kennen. Er kann seine Nahrung nicht erlangen, ohne das Wissen um die
Nahrung und den Weg, sie zu erlangen. Er kann keinen Graben ausheben – oder ein Zyklotron bauen – ohne das
Wissen um sein Ziel und die Mittel, es zu erreichen. Um zu überleben, muß er denken.
Doch Denken ist ein Akt der Wahl. Der Schlüssel zu dem, was ihr so achtlos die ‘menschliche Natur’ nennt,
das offene Geheimnis, mit dem ihr lebt und das ihr nicht zu benennen wagt, liegt in der Tatsache, daß der
Mensch ein Wesen mit einem wollenden Bewußtsein ist. Der Verstand arbeitet nicht automatisch. Denken ist kein
mechanischer Vorgang. Logische Schlüsse werden nicht durch Instinkt vollzogen. Die Funktionen unseres
Herzens, unserer Lungen, unseres Magens sind automatisch. Die Funktion unseres Verstandes ist es nicht. Zu
jeder Stunde und in jeder Lage eures Lebens könnt ihr denken oder dieser Anstrengung ausweichen. Aber ihr
könnt eurer Natur nicht entfliehen, der Tatsache, daß ihr euren Verstand braucht, um zu überleben… so daß für
euch, als menschliche Wesen, die Frage ‘Sein oder nicht sein?’ lautet: ‘Denken oder nicht denken?’.
Ein Wesen mit einem wollenden Bewußtsein hat kein automatisches Verhaltensrepertoire. Es braucht einen
Wertekanon, der sein Handeln leitet. ‘Werte’ sind das, was man zu erreichen und zu bewahren sucht, wenn man
handelt. ‘Tugenden’ sind die Handlungen, mit denen man es erreicht und bewahrt. ‘Werte’ setzen eine Antwort
auf die Frage voraus: von Wert für wen und für was? ‘Werte’ setzen einen Maßstab voraus, einen Zweck und die
Notwendigkeit einer Handlung angesichts einer Alternative. Wo es keine Alternative gibt, sind Werte nicht
möglich.
Es gibt nur eine fundamentale Alternative im Universum: Sein oder Nichtsein… und sie gilt nur für eine
einzige Art von Entitäten: für lebende Organismen. Das Sein der unbelebten Materie ist unbedingt, das Sein des
Lebens ist es nicht: Es hängt ab von einer bestimmten Folge von Handlungen. Materie ist unzerstörbar, ihre
Form ändert sich, doch sie kann nicht aufhören zu existieren. Nur ein lebendiger Organismus sieht sich einer
ständigen Alternative gegenüber: Leben oder Tod. Leben ist ein Prozeß selbsterhaltenden und
selbstschöpferischen Handelns. Wenn ein Organismus dabei versagt, stirbt er; seine chemischen Bestandteile
bleiben, doch das Leben hört auf zu existieren. Nur der Begriff ‘Leben’ macht den Begriff ‘Wert’ möglich. Nur
für ein lebendes Wesen können die Dinge gut oder böse sein.
Eine Pflanze muß sich ernähren, um zu leben; das Licht der Sonne, das Wasser und die chemischen Stoffe, die
sie braucht, sind die Werte, die zu erstreben ihre Natur beschaffen ist; ihr Leben ist der Wertmaßstab, der ihre
Handlungen bestimmt. Doch eine Pflanze hat keine Wahl in ihren Handlungen; es gibt Alternativen in den
Bedingungen, denen sie unterliegt, doch in ihren Funktionen gibt es sie nicht; sie handelt automatisch, um ihr
Leben zu entfalten, sie kann nicht handeln, um sich selbst zu zerstören.
Ein Tier ist mit allem ausgerüstet, sein Leben zu erhalten; seine Sinne liefern ihm ein automatisches
Verhaltensrepertoire, ein automatisches Wissen um das, was gut oder böse für es ist. Es besitzt nicht die
Fähigkeit, dieses Wissen zu erweitern oder es zu mißachten. In Situationen, in denen sein Wissen unzureichend
ist, stirbt es. Doch solange es lebt, handelt es auf Grund dieses Wissens mit automatischer Sicherheit ohne
Freiheit der Wahl; es ist unfähig, seinen eigenen Vorteil zu ignorieren, unfähig, aus eigenem Entschluß zu
seinem eigenen Nachteil zu handeln und sich selbst zu zerstören.
Der Mensch besitzt kein automatisches Verhaltensrepertoire, um zu überleben. Was ihn grundlegend von
allen anderen Lebewesen unterscheidet, ist die Notwendigkeit, sich angesichts von Alternativen frei zu
entscheiden und willentlich zu handeln. Er besitzt kein automatisches Wissen um das, was gut oder böse für ihn
ist, von welchen Werten sein Leben abhängt, welche Handlungen es erfordert. Ihr faselt von einem Instinkt der
Selbsterhaltung. Ein Instinkt der Selbsterhaltung ist genau das, was der Mensch nicht besitzt. Ein ‘Instinkt’ ist
eine niemals irrende automatische Form des Wissens. Ein Wunsch ist kein Instinkt. Der Wunsch zu leben gibt
euch nicht das Wissen, das ihr zum Leben braucht. Und selbst der Wunsch des Menschen zu leben ist nicht
automatisch: Das geheime Übel, an dem ihr heute leidet, besteht genau darin, daß ihr diesen Wunsch nicht habt.
Eure Furcht vor dem Tod ist keine Liebe zum Leben und gibt euch nicht das Wissen, das erforderlich ist, es zu
erhalten. Der Mensch muß sein Wissen erwerben und seine Handlungen wählen durch einen Akt des Denkens,
den zu vollziehen, ihn die Natur nicht zwingt. Der Mensch hat die Macht, als sein eigener Zerstörer zu handeln –
und so hat er im Lauf der Geschichte meistens gehandelt.
Ein Lebewesen, das die Mittel, die es zum Überleben braucht, als böse betrachtet, wird nicht überleben. Eine
Pflanze, die sich bemüht, ihre Wurzeln zu zerstören, ein Vogel, der versucht seine Flügel zu ze rbrechen, werden
das Leben, dem sie sich verweigern, nicht lange behalten. Doch die Geschichte der Menschheit war ein Kampf,
den menschlichen Verstand zu leugnen und zu zerstören.
Man hat den Menschen ein vernünftiges Wesen genannt, doch Vernunft verlangt Entscheidungen. Seine Natur
stellt den Menschen vor die Alternative: vernünftiges Wesen oder selbstmörderische Kreatur. Er muß
entscheiden, ob er Mensch sein will; er muß entscheiden, ob er sein Leben für einen Wert halten will; er muß
entscheiden, ob er lernen will, es zu erhalten; er muß entscheiden, ob er die Werte, die es erfordert, entdecken
und seine Tugenden üben will.
Ein Wertekanon, für den man sich entscheidet, ist ein Moralkodex.
Wer immer ihr seid, die ihr mich jetzt hört, ich spreche zu dem in euch, was an Lebendigem unverdorben
geblieben ist, zu dem Rest an Menschlichem, zu eurem Verstand, und ich sage euch: Es gibt eine Moral der
Vernunft, eine Moral, die der Natur des Menschen entspricht, und ihr Wertmaßstab ist sein Leben.
Alles, was das Leben eines vernünftigen Wesens fördert, ist das Gute, alles, was es zerstört, ist das Böse.
Das Leben, das die Natur des Menschen fordert, ist nicht das Leben einer Kreatur ohne Verstand, eines
plündernden Räubers oder eines schmarotzenden Mystikers, sondern das Leben eines denkenden Wesens; nicht
ein Leben durch Gewalt und Betrug, sondern ein Leben durch Leistung; nicht ein Überleben um jeden Preis,
denn es gibt einen Preis, der allein das Überleben des Menschen wert ist: die Vernunft.
Das Leben des Menschen ist der Maßstab der Moral, doch euer eigenes Leben ist ihr Zweck. Wenn das Dasein
auf der Erde euer Ziel ist, dann müßt ihr eure Handlungen und Werte nach dem Maßstab dessen wählen, was der
menschlichen Natur entspricht, was der Bewahrung, der Erfüllung und dem Genuß des unersetzlichen Wertes
dient, der euer Leben ist.
Da das Leben eine bestimmte Logik des Handelns erfordert, wird eine andere Logik es zerstören. Ein Wesen,
das sein Leben nicht zum Motiv und Ziel seiner Handlungen macht, handelt selbstmörderisch. So ein Wesen ist
ein metaphysisches Monstrum, das sich bemüht, die Tatsache seiner eigenen Existenz zu leugnen und zu
widerlegen, und Amok läuft auf dem sicheren Weg der Zerstörung, zu nichts anderem fähig als zum Schmerz.
Glück ist der Zustand des erfolgreichen Lebens, Schmerz ist ein Agent des Todes. Glück ist jener Zustand des
Bewußtseins, der aus der Verwirklichung der eigenen Werte entsteht. Eine Moral, die es wagt, euch zu sagen,
daß ihr euer Glück im Verzicht auf euer Glück findet, daß ihr es für wertvoll halten sollt, wenn ihr eure Werte
nicht verwirklicht, ist eine schamlose Leugnung aller Moral. Eine Doktrin, die euch als Ideal die Rolle eines
Opfertieres zuschreibt, das seine Hinschlachtung auf dem Altar der anderen sucht, gibt euch den Tod als
Wertmaßstab. Durch die Gnade der Wirklichkeit und durch die Natur des Lebens ist der Mensch, jeder Mensch,
ein Zweck in sich selbst, er existiert um seiner selbst willen, und die Verwirklichung seines eigenen Glücks ist
sein höchstes moralisches Ziel.
Weder Leben noch Glück sind vereinbar damit, daß man irrationalen Launen nachgibt. So wie es dem
Menschen frei steht, aufs Geratewohl zu leben, er aber untergeht, wenn er nicht so lebt, wie seine Natur es
erfordert, so steht es ihm frei, sein Glück in hirnlosen Betrügereien zu suchen. Doch die Qual der Enttäuschung
ist alles, was er finden wird, wenn er nicht das seiner Natur gemäße Glück sucht. Die Moral soll euch lehren,
nicht zu leiden und zu sterben, sondern zu leben und glücklich zu sein.
Hört nicht auf die Parasiten an den öffentlichen Schulen, die von den Profiten der Verstandesleistungen
anderer leben und behaupten, daß der Mensch keine Moral braucht und keine Werte und keine Verhaltensregeln.
Sie geben sich als Wissenschaftler aus und behaupten, daß der Mensch nur ein Tier ist, schließen ihn aber nicht
ein in das Gesetz des Daseins, das sie für die niedersten Insekten gelten lassen. Sie erkennen an, daß jedes
Lebewesen Gesetzen unterliegt, die seiner Natur entsprechen und von denen sein Überleben abhängt. Sie
behaupten nicht, daß ein Fisch außerhalb des Wassers oder ein Hund ohne seinen Geruchssinn leben kann. Aber
sie behaupten, daß der Mensch, das komplexeste aller Lebewesen, unter beliebigen Bedingungen überleben
kann; daß er unbeschränkt anpassungsfähig und von seiner Natur in nichts festgelegt ist; und daß es keinen
Grund gibt, weshalb er nicht leben können soll, wenn die Mittel, die er zum Überleben braucht, zerstört werden
und wenn sein Verstand erstickt und den Befehlen unterworfen wird, die sie ihm dann erteilen.
Hört nicht auf die vom Haß vergifteten Mystiker, die sich als Freunde der Menschheit ausgeben und predigen,
daß die höchste Tugend, die der Mensch üben kann, der Glaube an die Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens
ist. Sie sagen euch, der Zweck der Moral sei es, den Selbsterhaltungsinstinkt des Menschen zu unterdrücken. Ich
aber sage euch, gerade zum Zweck der Selbsterhaltung braucht der Mensch einen Moralkodex. Nur ein Mensch,
der moralisch sein will, ist ein Mensch, der leben will.
Ihr braucht nicht zu leben. Es liegt in eurer Entscheidung. Doch wenn ihr euch entschieden habt zu leben,
dann müßt ihr als Mensch leben… durch die Betätigung und nach dem Urteil eures Verstandes.
Ihr braucht nicht als Menschen zu leben. Es liegt in eurer Entscheidung. Doch ihr könnt nicht als etwas
anderes leben. Die Alternative ist der Zustand lebendigen Todes, den ihr jetzt in euch und um euch seht, der
Zustand lebensunfähiger Wesen, nicht Mensch und nicht einmal Tier, die nichts anderes kennen als Leid und die
sich unter den Qualen gedankenloser Selbstzerstörung durch die Jahre schleppen.
Ihr braucht nicht zu denken. Es liegt in eurer Entscheidung. Doch irgend jemand muß denken, um euch am
Leben zu erhalten. Wenn ihr euch entscheidet, es nicht zu tun, schiebt ihr die Last der Verantwortung für euer
Leben auf andere ab und erwartet, daß sie ihre Moral opfern, damit ihr in eurer Unmoral weiterleben könnt.
Ihr braucht keine Menschen zu sein. Doch diejenigen, die es heute noch sind, sind nicht mehr bei euch. Ich
habe euch das, was ihr zum Überleben benötigt, weggenommen. Ich habe eure Opfer entführt.
Wenn ihr wissen wollt, wie ich das gemacht habe und was ich zu ihnen gesagt habe, damit sie euch verlassen,
könnt ihr es jetzt hören. Ich habe ihnen im wesentlichen das gesagt, was ich heute abend zu euch sagen werde.
Sie waren Menschen, die nach meiner Moral lebten, ohne daß deren Befolgung von ihnen als große Tugend
angesehen wurde. Ich habe ihnen gezeigt, wie groß ihre Tugend war. Ich habe sie nicht zu einer Umwertung
ihrer Werte veranlaßt, sondern dazu, sich ihrer bewußt zu werden.
Wir, die Menschen des Verstands, stehen jetzt im Streik gegen euch im Namen eines einzigen Axioms, das
die Wurzel unserer Moral ist, so wie die Wurzel eurer Moral der Wunsch ist, ihm auszuweichen. Das Axiom
lautet: Existenz existiert.
Existenz existiert. Wer das begriffen hat, für den ergeben sich zwei Korrolare: Wenn man etwas wahrnimmt,
dann existiert auch etwas. Und: Weil das Bewußtsein die Fähigkeit zur Wahrnehmung dessen ist, was existiert,
existiert man, wenn man ein Bewußtsein hat.
Wenn nichts existiert, kann es kein Bewußtsein geben. Ein Bewußtsein, das nichts hat, dessen es sich bewußt
ist, ist ein Widerspruch in sich. Ein Bewußtsein, das sich nur seiner selbst bewußt ist, ist ein Widerspruch in sich.
Bevor es sich als Bewußtsein erkennen kann, muß es etwas haben, dessen es sich bewußt ist. Wenn das, was ihr
wahrzunehmen behauptet, nicht existiert, ist das, was ihr besitzt, kein Bewußtsein.
Wie groß euer Wissen auch sein mag, diese beiden – Existenz und Bewußtsein – sind Axiome, denen ihr nicht
ausweichen könnt, diese beiden sind die unausweichlichen Voraussetzungen für all euer Handeln, für jeden Teil
eures Wissens und für seine Summe, vom ersten Lichtstrahl, den ihr zu Beginn eures Lebens wahrnehmt, bis zur
umfangreichsten Bildung, die ihr an seinem Ende erworben haben mögt. Ob ihr die Form eines Kieselsteins
erkennt oder die Struktur eines Sonnensystems, die Axiome bleiben die gleichen: daß das Erkannte existiert, und
daß ihr es erkennt.
Zu existieren bedeutet, etwas zu sein, das sich vom Nichts der Nicht-Existenz unterscheidet, bedeutet, eine
Entität von spezifischer Natur und mit spezifischen Attributen zu sein. Vor Jahrhunderten hat der Mann, der –
trotz all seiner Irrtümer – der größte eurer Philosophen war, die Formel aufgestellt, die den Begriff des Seins und
das Gesetz des Erkennens definiert: A gleich A. Ein Ding ist es selbst. Ihr habt die Bedeutung dieses
Grundsatzes niemals begriffen. Ich bin gekommen, diesen Satz zu vervollständigen: Existenz ist Identität,
Bewußtsein ist Erkennen. Was immer ihr betrachtet, sei es ein Gegenstand, eine Eigenschaft oder eine Handlung,
das Gesetz der Identität bleibt das gleiche. Ein Blatt kann nicht gleichzeitig ein Stein sein, es kann nicht ganz rot
und ganz grün zugleich sein, es kann nicht im selben Augenblick frieren und brennen. A gleich A. Oder,
einfacher ausgedrückt: Ihr könnt euren Kuchen nicht gleichzeitig essen und ihn behalten.
Wollt ihr wissen, was mit der Welt nicht in Ordnung ist? All die Katastrophen, die eure Welt zerstört haben,
rühren von dem Versuch eurer Führer her, der Tatsache auszuweichen, daß A gleich A ist. All das geheime Böse,
das ihr in euch zu entdecken fürchtet, und aller Schmerz, den ihr erduldet habt, rührt von eurem eigenen Versuch
her, der Tatsache auszuweichen, daß A gleich A ist. Diejenigen, die euch lehrten, ihr auszuweichen, wollten euch
vergessen machen, daß ein Mensch ein Mensch ist.
Der Mensch kann nur überleben, wenn er Wissen erwirbt, und die Vernunft ist das Mittel dazu. Die Vernunft
ist die Fähigkeit, die das Material, das die Sinne liefern, wahrnimmt, erkennt und kombiniert. Die Aufgabe der
Sinne ist es, dem Menschen eine Anschauung der Welt zu geben, doch die Aufgabe des Erkennens obliegt seiner
Vernunft. Seine Sinne sagen ihm nur, daß etwas ist, doch was es ist, muß er durch Gebrauch seines Verstands
lernen.
Alles Denken ist ein Prozeß des Erkennens und der Komb ination. Der Mensch sieht einen Farbfleck. Indem er
das, was sein Gesichtssinn sieht, mit dem kombiniert, was sein Tastsinn fühlt, lernt er, ihn als einen festen
Gegenstand zu erkennen; er erkennt den Gegenstand als Tisch; er erkennt, daß der Tisch aus Holz gemacht ist; er
erkennt, daß das Holz aus Zellen besteht, daß die Zellen aus Molekülen bestehen, daß die Moleküle aus Atomen
bestehen. Während dieses ganzen Prozesses besteht die Aufgabe des Verstandes darin, eine bestimmte Frage zu
beantworten: Was ist das? Sein Mittel, die Wahrheit seiner Antworten zu prüfen, ist die Logik, und die Logik
beruht auf dem Axiom, daß Existenz existiert. Logik ist die Kunst des widerspruchsfreien Erkennens. Ein
Widerspruch kann nicht existieren. Ein Atom ist es selbst, und ebenso ist es das Universum; keines von beiden
kann seiner eigenen Identität widersprechen und auch kein Teil davon dem Ganzen. Kein Begriff, den der
Mensch bildet, ist gültig, wenn er ihn nicht widerspruchsfrei in die Summe seines Wissens integriert. Wenn man
zu einem Widerspruch gelangt, gesteht man damit einen Denkfehler ein; wenn man einen Widerspruch
hinnimmt, verabschiedet man sich damit von seiner Vernunft und schließt sich selbst aus der Wirklichkeit aus.
Die Wirklichkeit ist das, was existiert; das Unwirkliche existiert nicht; das Unwirkliche ist nur jene Negation
der Existenz, die ein menschliches Bewußtsein vollziehen zu können glaubt, wenn es versucht, die Vernunft
aufzugeben. Wahrheit ist die Erkenntnis der Wirklichkeit; die Vernunft, das einzige Erkenntnismittel des
Menschen, ist sein einziger Maßstab für die Wahrheit.
Die unmoralischste Frage, die ihr stellen könnt, ist: Wessen Vernunft? Die Antwort lautet: Eure. Gleichgültig,
wie groß oder wie bescheiden euer Wissen ist, es ist euer Verstand, der es erwerben muß. Nur mit eurem eigenen
Wissen könnt ihr handeln. Nur euer eigenes Wissen könnt ihr als euer Eigentum beanspruchen und fordern, daß
die anderen es anerkennen. Euer Verstand ist euer einziger Richter über die Wahrheit. Und wenn andere euer
Urteil nicht anerkennen wollen, bleibt als letzte Berufungsinstanz die Wirklichkeit. Nichts anderes als der
Verstand des Menschen kann jenen komplizierten, differenzierten, komplexen und entscheidenden Akt des
Erkennens vollziehen, den das Denken darstellt. Nichts kann diesen Akt dirigieren als sein eigenes Urteil. Nichts
kann sein Urteil leiten als seine moralische Integrität.
Ihr, die ihr von einem ‘moralischen Instinkt’ sprecht, als wäre er eine besondere, von der Vernunft
unabhängige und ihr entgegengesetzte Gabe: Die Vernunft des Menschen ist die Quelle seiner Moral. Ein Akt
der Vernunft ist ein Akt ständiger Wahl in der Beantwortung der Frage: Wahr oder unwahr? Richtig oder falsch?
Ist es richtig oder falsch, einen Samen in den Erdboden zu legen, um ihn zu einer Pflanze werden zu lassen? Ist
es richtig oder falsch, die Wunde eines Verletzten zu desinfizieren, um sein Leben zu retten? Ist es richtig oder
falsch, daß atmosphärische Elektrizität in kinetische Energie verwandelt werden kann? Es waren die Antworten
auf solche Fragen, die euch alles gaben, was ihr habt… und die Antworten kamen aus dem Verstand eines
Menschen, einem Verstand von kompromißloser Hingabe an das, was richtig ist.
Ein Denkprozeß ist ein moralischer Prozeß. In jeder Phase können euch Fehler unterlaufen, und nur eure
eigene Strenge schützt euch davor. Vielleicht versucht ihr zu betrügen, die Fakten zu verfälschen und dem
Versuch der Nachprüfung zu entgehen – doch wenn die Liebe zur Wahrheit der Echtheitsstempel der Moral ist,
dann gibt es keine größere, edlere, heroischere Form der Liebe als die Übernahme der Verantwortung zu denken.
Was ihr eure Seele nennt, ist euer Bewußtsein, und das, was ihr ‘freien Willen’ nennt, ist die Freiheit eures
Verstandes, zu denken oder nicht zu denken, ist der einzige Wille, den ihr habt, eure einzige Freiheit, die
Entscheidung, die alle eure anderen Entscheidungen bestimmt und euer Leben und euren Charakter formt.
Denken ist die einzige grundlegende Tugend des Menschen. Alle anderen gehen aus ihr hervor. Und sein
grundlegendes Laster, die Quelle all seiner Übel, ist jener namenlose Akt, den ihr alle immer wieder vollzieht,
aber nie zugeben wollt: der Akt des Nichtdenkens, die willentliche Ausschaltung des Bewußtseins, die
Weigerung, den Verstand zu benutzen… nicht Blindheit, sondern die Weigerung zu sehen. Es ist der Akt, durch
den ihr euren Verstand stillegt und euer Hirn in einen Nebel hüllt, um der Verantwortung des Urteilens zu
entgehen – in der grotesken Annahme, daß Dinge nicht existieren, wenn ihr euch weigert, sie zu erkennen; daß A
nicht A ist, solange ihr es nicht zugebt. Nicht-Denken ist ein Akt der Vernichtung, der Wunsch, die Welt zu
negieren, der Versuch, die Wirklichkeit auszulöschen. Doch: Existenz existiert. Die Wirklichkeit läßt sich nicht
wegwischen; aber sie wischt den weg, der das versucht. Wenn ihr die Welt verleugnet, verleugnet ihr euch
selbst. Wenn ihr euer Urteil aussetzt, negiert ihr eure Person. Wenn ein Mensch erklärt: ‘Was zählt mein Urteil
schon?’… erklärt er: ‘Was zählt mein Leben schon?’ Dies ist zu jeder Stunde und in jeder Lage die moralische
Grundfrage aller eurer Entscheidungen: Denken oder Nichtdenken, Sein oder Nichtsein, A oder Nicht-A, Leben
oder Tod.
Das Leben bestimmt das Handeln eines Menschen, wenn und soweit er rational handelt. Wenn und soweit er
irrational handelt, bestimmt der Tod sein Handeln.
Ihr, die ihr plappert, daß die Moral sozialer Natur ist, und daß ein Mensch auf einer einsamen Insel keine
Moral braucht: Gerade auf einer einsamen Insel braucht er sie am meisten. Er mag sich einreden, daß die Steine
am Strand ein Haus sind, daß der Sand ihn kleidet, daß ihm die Nahrung in den Mund fällt, ohne Grund und
ohne eigene Anstrengungen, daß er morgen ernten kann, wenn er heute seine Saat aufißt. Aber er hat keine
Opfer, niemand, der für ihn aufkommt – und dann widerlegt ihn die Wirklichkeit, wie er es verdient. Die
Wirklichkeit zeigt ihm, daß das Leben ein Wert ist, für den er bezahlen muß, und daß Denken die einzige
Währung ist, mit der er bezahlen kann.
In eurer Sprache würde ich sagen, das einzige Gebot der Moral lautet: Du sollst denken. Doch ein ‘Gebot der
Moral’ ist ein Widerspruch in sich. Moral muß frei gewählt, darf nie erzwungen sein. Es geht nicht darum zu
gehorchen, sondern zu verstehen. Moral ist Vernunft, und Vernunft erkennt keine Gebote an.
Meine Moral, die Vernunft, ist in einem einzigen Axiom enthalten: Existenz existiert. Und in einer einzigen
Entscheidung: zu leben. Hieraus folgt alles andere. Um zu leben, muß der Mensch drei Dinge für die höchsten
und leitenden Werte seines Lebens halten: Vernunft, Zielstrebigkeit, Selbstachtung. Vernunft als sein einziges
Mittel der Erkenntnis, Zielstrebigkeit als seine Wahl des Glücks, das er mit diesem Mittel verwirklichen will,
Selbstachtung als seine unums tößliche Gewißheit, daß sein Verstand fähig ist, zu denken, und seine Person es
wert ist, glücklich zu sein, was bedeutet: wert ist zu leben. Diese drei Werte umfassen und erfordern alle
Tugenden des Menschen, und alle seine Tugenden richten sich auf das Verhältnis zwischen Existenz und
Bewußtsein: Rationalität, Unabhängigkeit, Integrität, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Produktivität, Stolz.
Rationalität ist die Anerkennung der Tatsache, daß Existenz existiert, daß nichts die Wahrheit verändern kann
und daß nichts den Vorrang haben kann vor dem Akt, der sie wahrnimmt, dem Akt des Denkens, daß der
Verstand der einzige Richter über Werte und der einzige Maßstab des Handelns ist, daß die Vernunft etwas
Absolutes ist, das keine Kompromisse duldet; daß ein Zugeständnis an die Irrationalität das Bewußtsein lähmt
und aus der Wahrnehmung der Realität deren Verfälschung macht, daß die angebliche Abkürzung auf dem Weg
zur Erkenntnis, der Glaube, nur ein Kurzschluß ist, der den Verstand zerstört; daß die Hingabe an mystische
Eingebungen der Wunsch nach der Vernichtung der Welt ist und daß sie – folgerichtig – das Bewußtsein
vernichtet.
Unabhängigkeit ist die Anerkennung der Tatsache, daß ihr Urteile fällen müßt und daß nichts euch diese
Verantwortung abnehmen kann; daß niemand für euch denken kann, so wie niemand für euch leben kann; daß
die erbärmlichste Form der Selbsterniedrigung und Selbstzerstörung die Unterordnung eures Verstandes unter
den Verstand eines anderen ist, die Anerkennung einer Autorität über euer Gehirn, die Hinnahme seiner
Behauptungen als Tatsachen, seiner Meinungen als Wahrheit, seiner Dogmen als Vermittler zwischen eurem
Bewußtsein und eurer Existenz.
Integrität ist die Anerkennung der Tatsache, daß ihr euer Bewußtsein nicht fälschen könnt, so wie Ehrlichkeit
die Anerkennung der Tatsache ist, daß ihr die Wirklichkeit nicht fälschen könnt; daß der Mensch ein unteilbares
Ganzes ist, die verschränkte Einheit zweier Attribute: der Materie und des Bewußtseins, und daß er keinen Bruch
zulassen darf zwischen Körper und Verstand, zwischen Handeln und Denken, zwischen seinem Leben und
seinen Überzeugungen; daß er wie ein Richter, der unzugänglich ist für den Einfluß der öffentlichen Meinung,
seine Überzeugungen nicht den Wünschen anderer opfern darf, auch wenn die ganze Menschheit ihn mit Bitten
oder Drohungen bestürmt; daß Mut und Vertrauen praktische Notwendigkeiten sind, daß Mut die Treue zum
Leben und die Treue zur Wahrheit ist, und Vertrauen die Treue gegenüber dem eigenen Bewußtsein.
Ehrlichkeit ist die Anerkennung der Tatsache, daß das Unwirkliche unwirklich ist und keinen Wert haben
kann, daß weder Liebe, noch Ruhm, noch Geld von irgendeinem Wert sind, wenn sie durch Betrug erlangt
wurden; daß ihr mit dem Versuch, einen Wert zu erlangen, indem ihr den Verstand anderer täuscht, eure Opfer
höher stellt als die Wirklichkeit, auf eine Ebene, wo ihr selbst Opfer ihrer Blindheit, Sklaven ihres Nichtdenkens
werdet, und euch damit gleichzeitig ihre Intelligenz, ihre Rationalität, ihre Beobachtungsgabe zu Feinden macht,
die ihr fürchten und vor denen ihr euch in acht nehmen müßt; daß ihr nicht in Abhängigkeit leben wollt, am
allerwenigsten abhängig von der Dummheit anderer, oder als ein Dummkopf, der seine Werte Dummköpfen
verdankt, die er selbst verdummt; daß Ehrlichkeit nicht eine soziale Pflicht ist, nicht ein Opfer um anderer
willen, sondern die eigennützigste Tugend, die ein Mensch üben kann: seine Weigerung, die Wirklichkeit seiner
eigenen Existenz dem getäuschten Bewußtsein anderer zu opfern.
Gerechtigkeit ist die Anerkennung der Tatsache, daß ihr den Charakter des Menschen nicht fälschen könnt, so
wie ihr auch nicht den Charakter der Natur fälschen könnt, daß ihr alle Menschen ebenso gewissenhaft beurteilen
müßt, wie ihr unbelebte Dinge beurteilt, mit der gleichen Achtung vor der Wahrheit, mit der gleichen
unbestechlichen Klarheit, durch einen ebenso reinen und rationalen Akt des Erkennens; daß jeder Mensch
beurteilt werden muß als das, was er ist, und daß er entsprechend behandelt werden muß, daß ihr, ebenso wie ihr
für rostigen Schrott keinen höheren Preis zahlt als für glänzendes Metall, auch einen Lumpen nicht höher schätzt
als einen Helden; daß eure moralische Beurteilung die Münze ist, mit der ihr die Menschen für ihre Tugenden
oder ihre Laster bezahlt; und daß diese Bezahlung von euch die gleiche Ehrenhaftigkeit verlangt, wie ihr sie bei
Geldgeschäften übt; daß es moralischer Betrug ist, eure Verachtung für die Laster der Menschen zu
verheimlichen, und moralische Unterschlagung, eure Bewunderung für ihre Tugenden nicht zu zeigen; daß es
eine Entwertung eurer moralischen Währung zugunsten des Bösen und zum Schaden des Guten bedeutet, wenn
ihr irgend etwas höher schätzt als die Gerechtigkeit, denn nur das Gute kann verlieren und nur das Böse
gewinnen durch die Herabsetzung der Gerechtigkeit; und daß in der Tiefe des Abgrundes am Ende dieses Weges
die moralische Bankrotterklärung steht, die Bestrafung der Menschen für ihre Tugenden und die Belohnung für
ihre Laster; und daß dies das Bekenntnis zur absoluten Verderbtheit ist, die Schwarze Messe der
Todessehnsucht, mit der ihr euer Bewußtsein der Zerstörung des Lebens weiht.
Produktivität ist eure Annahme der Moral, die Anerkennung der Tatsache, daß ihr leben wollt; daß
produktive, schöpferische Arbeit der Prozeß ist, durch den das Bewußtsein des Menschen sein Leben beherrscht,
ein ständiger Prozeß des Erwerbs von Wissen und der Gestaltung der Materie gemäß diesem Wissen zum
eigenen Erfolg, der Verwandlung einer Idee in physische Form, der Gestaltung der Erde nach dem Bild der
eigenen Wertbegriffe; daß alle produktive Arbeit vollbracht wird durch einen denkenden Verstand, und daß
keine Arbeit produktiv ist, wenn sie von jemand getan wird, der in unkritischer Stumpfheit eine Routinehandlung
wiederholt, die er von anderen gelernt hat; daß ihr eure Arbeit im Rahmen eurer intellektuellen Fähigkeiten
selbst wählen müßt – nicht darüber, weil es nicht möglich ist, und nicht darunter, weil es unmenschlich wäre;
daß derjenige, der sich durch Betrug in eine Stellung einschleicht, der sein Verstand nicht gewachsen ist, zum
angstgepeinigten Dieb fremder Gedanken und fremder Zeit wird; und daß derjenige, der eine Arbeit annimmt,
die weniger verlangt, als sein Verstand leisten kann, seinen Lebensmotor abwürgt und sich zum sicheren Verfall
verurteilt; daß eure Arbeit die Verwirklichung eurer Werte ist und daß ihr mit dem Verlust eures Strebens nach
Werten auch euer Streben nach Glück verliert; daß euer Körper ein Fahrzeug ist und euer Verstand sein Lenker
und daß ihr so weit fahren sollt, wie euer Verstand euch bringt, mit Leistung als Ziel eurer Fahrt; daß der
Mensch, der keine Zielstrebigkeit und keinen Erfolgswillen besitzt, nur ein Fahrzeug ist, das einen Abhang
hinabrast, immer in Gefahr, an einem Felsen zu zerschellen oder in einen Graben zu stürzen; daß ein Mensch,
der seinen Verstand erstickt, ein abgestellter Motor ist, der langsam verrostet; daß der Mensch, der sich von
einem anderen seinen Weg vorschreiben läßt, ein Wrack ist, das zum Abfallhaufen geschleppt wird; und daß ein
Mensch, der das Glück eines anderen zu seinem Ziel macht, ein Tramp ist, den kein Fahrer mitnehmen sollte;
daß eure Arbeit der Sinn und Zweck eures Lebens ist und daß ihr an jedem Wegelagerer vorbeifahren müßt, der
sich das Recht anmaßt, euch anzuhalten; daß jeder Wert, den ihr außerhalb eurer Arbeit findet, jede Loyalität,
jede Liebe nur denen gelten darf, die ihr euch selbst ausgesucht habt und die aus eigener Kraft zum gleichen Ziel
wie ihr unterwegs sind.
Stolz ist die Anerkennung der Tatsache, daß ihr selbst euer höchster Wert seid, der wie alle Werte des
Menschen erworben werden muß; daß von den Leistungen, die ihr vollbringen wollt, die Formung eures
Charakters diejenige ist, die alle anderen erst möglich macht; daß euer Charakter, eure Handlungen, eure
Wünsche, eure Gefühle Ergebnisse der Voraussetzungen sind, die euer Verstand schafft; daß der Mensch, so wie
er die physischen Werte schaffen muß, um sein Leben zu erhalten, auch die charakterlichen Werte erwerben
muß, die sein Leben erst erhaltenswert machen; daß der Mensch, wie er seinen Reichtum selbst verdienen, auch
seine Seele selbst bereichern muß; daß man, um zu leben, Selbstwertgefühl braucht, und daß der Mensch, weil er
nicht automatisch Werte und Selbstachtung hat, sie erwerben muß, indem er seine Seele nach dem Bild seines
moralischen Ideals formt, nach dem Bild eines denkenden Wesens, das zu schaffen ihm zwar mit der Geburt die
Fähigkeit verliehen wird, das er aber in freier Entscheidung selbst verwirklichen muß; daß die erste
Vorbedingung der Selbstachtung die strahlende Eigennützigkeit der Seele ist, die in allem, im Bereich des
Materiellen und des Geistigen, immer nur das Beste für sich begehrt, einer Seele, die vor allem ihre eigene
moralische Vollkommenheit erstrebt und nichts höher schätzt als sich selbst; und daß der Beweis für erlangte
Selbstachtung der Schauer des Widerwillens und der Verachtung in eurer Seele gegen die Rolle eines Opfertieres
ist, gegen die widerwärtige Anmaßung jeden Glaubens, der euch anträgt, den unersetzlichen Wert eures
Bewußtseins und die unvergleichliche Herrlichkeit eurer Existenz den blinden Ausflüchten und dem
unaufhaltsamen Niedergang anderer zu opfern.
Beginnt ihr zu begreifen, wer John Galt ist? Ich bin der, der das errungen hat, wofür ihr nicht gekämpft habt,
was ihr aufgegeben, verraten und korrumpiert habt, was ihr aber dennoch nicht ganz zerstören konntet und nun
als eure geheime Schuld verbergt, für die ihr den berufsmäßigen Kannibalen immer neue Entschuldigungen
auftischt, damit sie nicht merken, daß irgendwo tief in eurem Inneren die Sehnsucht noch nicht erloschen ist zu
sagen, was ich jetzt vor den Ohren der ganzen Menschheit sage: Ich bin stolz auf meinen eigenen Wert und auf
meinen Lebenswillen.
Dieser Wille, den auch ihr habt, den ihr jedoch als etwas Böses unterdrückt, ist der einzige Rest des Guten in
euch, doch es ist eine Sehnsucht nach etwas, das man verdienen muß. Glück ist das einzige moralische Ziel des
Menschen, doch nur durch seine eigene Tugend kann er es erreichen. Tugend ist kein Selbstzweck. Tugend ist
nicht ihr eigener Lohn oder eine Opfergabe zur Belohnung des Bösen. Leben ist der Lohn der Tugend – und
Glück ist das Ziel und der Lohn des Lebens.
So wie euer Körper zwei grundlegende Empfindungen hat, Lust und Schmerz, als Zeichen für sein
Wohlergehen und seine Krankheiten, als Barometer seiner letzten Alternativen, Leben und Tod, so hat euer
Bewußtsein zwei grundlegende Gefühle, Freude und Leid, als Antwort auf dieselbe Alternative. Eure Gefühle
sind Indikatoren für das, was euer Leben fördert oder bedroht, sind Rechenmaschinen, die euch die Summe eurer
Gewinne und eurer Verluste anzeigen. Ihr habt keine Macht über eure Fähigkeit zu fühlen, daß etwas gut oder
schlecht für euch ist, doch was ihr für gut oder schlecht haltet, was euch Freude oder Leid verursacht, was ihr
liebt oder haßt, begehrt oder fürchtet, das hängt von euren Werten ab. Gefühle sind eurer Natur angeboren, doch
ihr Inhalt unterliegt dem Diktat eures Verstandes. Eure Empfindungsfähigkeit ist ein leerer Motor, und eure
Werte sind der Treibstoff, mit dem euer Verstand ihn füllt. Wenn ihr eine Mischung von Widersprüchen als
Treibstoff wählt, wird sie euren Motor verschmutzen, die Kolben zerfressen und euch beim ersten Fahrversuch
stoppen – nachdem ihr selbst euren Motor zerstört habt.
Wenn ihr die Unvernunft zu eurem Wertmaßstab macht und das Unmögliche zu eurem Begriff des Guten;
wenn ihr Belohnungen erwartet, die ihr nicht verdient, ein Vermögen oder eine Liebe ohne Gegenleistung, eine
Lücke im Gesetz der Kausalität, ein A, das nach Laune zum Nicht-A wird; wenn ihr das Gegenteil der Existenz
wollt – werdet ihr es bekommen. Jammert dann nicht, daß das Leben Frustration ist und daß der Mensch nicht
glücklich sein kann; Prüft euren Treibstoff; er hat euch dorthin gebracht, wo ihr hinwolltet. Glück kann nicht
erreicht werden durch zufällige Launen des Schicksals. Glück ist nicht die Befriedigung irgendeines irrationalen
Wunsches, dem man blind nachgibt. Glück ist widerspruchsfreie Freude; Freude ohne Schuld und Reue; Freude,
die nicht unvereinbar ist mit euren Werten und die nicht eurer Zerstörung dient; nicht die Freude, der Reichweite
eures Verstandes zu entkommen, sondern die Freude, die volle Kraft eures Verstandes zu nutzen; nicht die
Freude, die Wirklichkeit zu verfälschen, sondern die Freude, echte Werte zu verwirklichen; nicht die Freude
eines Trinkers, sondern die Freude eines schaffenden Menschen. Glück ist nur möglich für einen rationalen
Menschen, einen Menschen, der nur rationale Ziele erstrebt, nur rationale Werte sucht und seine Freude nur in
rationalem Handeln findet.
So wie ich weder von Raub noch von Almosen lebe, sondern vom Ertrag meiner Arbeit, so versuche ich auch
nicht, mein Glück dadurch zu erlangen, daß ich andere schädige oder mich von ihnen begünstigen lasse, sondern
durch meine eigene Leistung. So wie ich das Glück anderer nicht als Ziel meines Lebens betrachte, so betrachte
ich mein Glück auch nicht als Lebensziel anderer. So wie es keine Widersprüche in meinen Werten und keine
Konflikte zwischen meinen Wünschen gibt, so gibt es auch keine Opfer und keine Interessenkonflikte zwischen
rationalen Menschen, zwischen Menschen, die nicht das Unverdiente verlangen und sich nicht mit der Begierde
von Kannibalen ansehen, zwischen Menschen, die weder Opfer bringen noch annehmen.
Das Symbol aller Beziehungen zwischen solchen Menschen, das moralische Symbol der Achtung für
menschliche Wesen ist der Händler. Wir, die wir von Werten leben und nicht von Beute, wir sind Händler –
sowohl im materiellen als auch im ideellen Bereich. Ein Händler ist ein Mensch, der sich verdient, was er erhält,
und der Unverdientes weder gibt noch nimmt. Ein Händler verlangt nicht, für sein Versagen bezahlt zu werden,
noch verlangt er, um seiner Fehler willen geliebt zu werden. Ein Händler verschwendet seinen Körper nicht als
Futter oder seine Seele als Almosen. So wie er seine Arbeit nur im Austausch gegen materielle Werte hergibt, so
gibt er seine ideellen Werte – seine Liebe, seine Freundschaft, seine Achtung – nur als Bezahlung und im
Austausch gegen menschliche Tugenden her, nur als Bezahlung seines eigenen, seines persönlichen Vergnügens,
das er durch die Menschen findet, die er achtet. Die mystischen Parasiten, die durch alle Zeitalter hindurch die
Händler geschmäht und verhöhnt haben, während sie die Plünderer und Bettler ehrten, kannten das geheime
Motiv ihrer Verachtung: Ein Händler ist das, was sie fürchten – ein Mensch der Gerechtigkeit.
Fragt ihr mich, welche moralischen Verpflichtungen ich meinen Mitmenschen gegenüber habe? Keine – außer
denen, die ich mir selber, allen materiellen Dingen und allem, was existiert, gegenüber habe: Rationalität. Ich
begegne Menschen so, wie meine Natur und ihre es verlangt: mit den Mitteln der Vernunft. Ich suche oder strebe
nach keinen anderen Beziehungen zu ihnen als solchen, die sie in freier Entscheidung eingehen wollen. Ich kann
mich nur über ihren Verstand mit ihnen einigen und nur in meinem Interesse – falls sie sehen, daß meine
Interessen mit ihren übereinstimmen. Falls nicht, nehme ich keine Beziehungen zu ihnen auf; ich lasse
Andersdenkende ihrer Wege gehen und weiche auch nicht von meinem ab. Ich überzeuge allein durch Logik,
und ich lasse mich allein durch Logik überzeugen. Ich gebe meine Vernunft nicht auf und gebe mich nicht mit
Menschen ab, die ihre aufgeben. Schwachköpfe oder Feiglinge bringen mich nicht voran; menschliche Laster –
Dummheit, Unehrlichkeit oder Furcht – bringen mir keinen Nutzen. Der einzige Wert, den Menschen mir bieten
können, ist die Arbeit ihres Verstandes. Wenn ich mit einem vernünftigen Menschen nicht übereinstimme, lasse
ich die Wirklichkeit unseren letzten Schiedsrichter sein; wenn ich recht habe, wird er etwas lernen; wenn ich
unrecht habe, werde ich etwas lernen; einer von uns wird gewinnen, doch beide werden profitieren.
Über vieles kann man streiten, nur über eines nicht. Es gibt etwas, was niemand anderen antun und was
niemand billigen oder vergeben darf. Solange Menschen zusammen leben wollen, darf niemand physische
Gewalt gegen andere initiieren – hört ihr? –, darf niemand anfangen, physische Gewalt gegen andere auszuüben.
Die Drohung physischer Zerstörung zwischen einen Menschen und seine Wahrnehmung der Wirklichkeit
stellen, bedeutet seine Mittel zum Überleben negieren und lähmen; ihn zwingen, gegen sein eigenes Urteil zu
handeln, ist, als würde man ihn zwingen, gegen das zu handeln, was er mit eigenen Augen sieht. Wer immer – zu
welchem Zweck und in welchem Ausmaß auch immer – den Anfang macht mit der Anwendung von Gewalt,
trachtet seinem Opfer nach dem Leben – in einem weiteren Sinne als ein Mörder: Er trachtet ihm nach der
Fähigkeit zu leben.
Sagt mir ja nicht, daß euer Verstand euch von eurem Recht, meinen Verstand zu zwingen, überzeugt hat.
Zwang und Verstand sind Gegensätze; Moral hört da auf, wo die Gewehre zu sprechen beginnen. Wenn ihr
erklärt, daß die Menschen unvernünftige Tiere sind, und sie als solche behandeln wollt, definiert ihr hierdurch,
was ihr selber seid, und könnt nicht länger Vernunft für euch in Anspruch nehmen – wie es niemand kann, der
Widersprüche verficht. Es kann kein Recht auf die Zerstörung der Quelle des Rechts geben, auf die Zerstörung
des einzigen Mittels zur Unterscheidung von Recht und Unrecht: des Verstandes.
Einen Menschen zwingen, seinen Verstand aufzugeben und euren Willen als Ersatz anzuerkennen, indem ihr
Gewehre an Stelle von Syllogismen benutzt und Terror an Stelle von Beweisen, ist der Versuch in Mißachtung
der Realität zu leben. Die Realität verlangt, daß der Mensch in seinem eigenen rationalen Interesse handelt; eure
Gewehre verlangen von ihm, daß er dagegen handelt. Die Wirklichkeit bedroht den Menschen mit dem Tod,
wenn er nicht nach seinem rationalen Urteil handelt; ihr bedroht ihn mit dem Tod, wenn er es tut. Ihr versetzt ihn
in eine Welt, in der die Aufgabe aller Tugenden, die das Leben fordert, der Preis für sein Leben ist – und Tod
durch einen Prozeß allmählicher Zerstörung ist alles, was ihr und euer System erreichen könnt, wenn Tod die
beherrschende Macht, das stärkere Argument in einer Gesellschaft von Menschen ist.
Sei es ein Straßenräuber, der einem Reisenden das Ultimatum stellt: ‘Dein Geld oder dein Leben’, oder ein
Politiker, der einem Land das Ultimatum stellt: ‘Die Erziehung eurer Kinder oder euer Leben’, der Sinn des
Ultimatums ist der gleiche: ‘Verstand oder Leben’ – und der Mensch kann keines von beiden ohne das jeweils
andere haben.
Wenn es Gradunterschiede des Bösen gibt, dann ist es schwer zu sagen, wer am verächtlichsten ist: das
Untier, das sich das Unrecht anmaßt, den Verstand der anderen zu vergewaltigen, oder der moralische Kretin, der
anderen das Recht gibt, seinen Verstand zu vergewaltigen. Dies ist das moralische Absolutum, das nie zur
Diskussion gestellt werden darf. Vernunft darf niemand von mir erwarten, der mir Unvernunft aufzwingen will.
Ich lasse mich nicht in Diskussionen ein mit Nachbarn, die glauben, sie können mir das Denken verbieten. Ich
gebe meine moralische Sanktion nicht dem Wunsch des Mörders, mich zu töten. Wenn jemand versucht, mich
mit Gewalt gefügig zu machen, antworte ich ihm – mit Gewalt.
Nur als Vergeltung darf Gewalt angewendet werden und nur gegen den, der mit ihrer Anwendung beginnt.
Nein, ich teile seine Bosheit nicht und sinke nicht auf sein moralisches Niveau herab. Ich erfülle nur seinen
eigenen Wunsch, seinen Wunsch nach Zerstörung, der einzigen Zerstörung, auf die er ein Anrecht hat: seiner
eigenen. Er gebraucht Gewalt, um sich eines Wertes zu bemächtigen; ich gebrauche sie nur, um die Zerstörung
zu zerstören. Ein Räuber will sich bereichern, indem er mich tötet; ich werde nicht reicher, wenn ich einen
Räuber töte. Ich suche keine Werte zu erlangen mit den Mitteln des Bösen, noch liefere ich meine Werte dem
Bösen aus.
Im Namen aller Produzierenden, die euch am Leben erhalten haben und denen ihr als Gegenleistung euer
Todesultimatum gestellt habt, antworte ich jetzt mit unserem Ultimatum: unsere Arbeit oder eure Gewehre. Ihr
könnt eins von beiden wählen, aber ihr könnt nicht beides haben. Wir wenden nicht als erste Gewalt an gegen
andere und unterwerfen uns auch nicht der Gewalt anderer. Wenn ihr je wieder in einer Industriegesellschaft
leben wollt, dann nur nach unseren Grundsätzen. Unsere Grundsätze und unsere Motive sind die Antithese der
euren. Ihr habt die Furcht als Waffe gebraucht und dem Menschen den Tod als Strafe für die Ablehnung eurer
Moral gebracht. Wir bieten ihm das Leben als Belohnung für die Annahme der unseren.
Ihr, die ihr das Nichts anbetet, ihr habt nie entdeckt, daß die Verwirklichung des Lebens nicht
gleichbedeutend ist mit der Vermeidung des Todes. Freude ist nicht ‘die Abwesenheit von Schmerz’, Intelligenz
ist nicht ‘die Abwesenheit von Dummheit’, Licht ist nicht ‘die Abwesenheit von Dunkelheit’, ein Etwas ist nicht
‘die Abwesenheit eines Nichts’. Bauen heißt nicht, sich der Zerstörung enthalten. Jahrhunderte des
‘enthaltsamen’ Herumsitzens und Wartens können nicht einen einzigen Pfeiler bauen. Ihr könnt nicht länger zu
uns, den Erbauern, sagen: ‘Produziert und ernährt uns als Gegenleistung dafür, daß wir euer Werk nicht
zerstören.’ Ich antworte euch im Namen aller eurer Opfer: Geht zugrunde mit und in eurer Nichtigkeit. Sein ist
nicht eine Negation von Negativem, nicht eine Verneinung des Nichts. Das Böse, nicht der Wert, ist
Abwesenheit und Negation; das Böse ist ohnmächtig und besitzt keine Macht als diejenige, die ihr von uns
erpressen könnt, wenn wir es zulassen. Geht zugrunde, denn wir haben gelernt, daß ein Nichts keine Gewalt
haben kann über das Leben.
Ihr sucht dem Leid zu entfliehen. Wir suchen die Verwirklichung des Glücks. Ihr lebt zu dem Zweck,
Bestrafung zu vermeiden. Wir leben zu dem Zweck, Belohnung zu verdienen. Drohungen werden uns nicht
zwingen, nach eurem Willen zu handeln. Furcht ist für uns kein Anreiz. Wir leben nicht, um den Tod zu
vermeiden, sondern um unser Leben zu leben.
Ihr, die ihr den Sinn für diesen Unterschied verloren habt, ihr, die ihr behauptet, daß Furcht und Freude gleich
starke Anreize sind – und heimlich hinzufügt, daß Furcht wirksamer ist –, ihr wollt nicht wirklich leben, und nur
aus Angst vor dem Tod klammert ihr euch an dieses Dasein, das ihr verdammt habt. In Panik stürzt ihr voran in
der Falle eures Lebens, sucht nach dem Ausgang, den ihr euch selbst verschlossen habt, rennt davon vor einem
Verfolger, den ihr nicht beim Namen zu nennen wagt, einem Schrecken entgegen, den ihr nicht zu erkennen
wagt, und je größer eure Angst wird, um so größer wird eure Scheu vor dem einzigen, das euch retten könnte,
vor dem Denken. Der Zweck eures Kampfes ist, nicht zu erkennen, nicht zu begreifen oder zu benennen oder zu
hören, was ich jetzt vor euer aller Ohren ausspreche: daß eure Moral eine Moral des Todes ist.
Tod ist der Maßstab eurer Werte, Tod ist euer erwähltes Ziel, und ihr müßt weiterrennen, weil es kein
Entrinnen gibt vor dem Verfolger, der euch vernichten will, oder vor der Erkenntnis, daß dieser Verfolger ihr
selbst seid. Hört auf zu rennen, für dieses eine Mal bleibt stehen, nackt, wie ihr zu sein fürchtet, aber wie ich
euch sehe, und schaut euch an, was ihr einen Moralkodex zu nennen wagt.
Verdammung ist der Ausgangspunkt eurer Moral, Zerstörung ist sein Zweck, Mittel und Ende. Euer Kodex
beginnt damit, daß er den Menschen als etwas Böses verurteilt; dann verlangt er von ihm, daß er etwas Gutes tut,
das er aber gleichzeitig als etwas definiert, das er nicht tun kann. Er fordert von ihm als ersten Beweis seiner
Tugend, daß er seine eigene Schlechtigkeit ohne Beweis anerkennt. Es fordert, daß er lebt, nicht nach einem
Maßstab des Guten, sondern nach einem Maßstab des Bösen, das er selbst ist, und an Hand dessen er dann das
Gute definieren soll als das, was er nicht ist.
Es spielt keine Rolle, wer dann der Nutznießer seiner aufgegebenen Größe und seiner gequälten Seele ist, ein
mystischer, unbegreiflicher Gott oder irgendein Notleidender, dessen schwärende Wunden als unerklärlicher
Anspruch gegen ihn geltend gemacht werden – es ist gleichgültig. Das Gute zu verstehen, ist nicht seine Sache,
seine Pflicht ist es, sich unter dem Joch einer ewigen Strafe durch das Leben zu schleppen, zu zahlen für seine
Schuld, überhaupt zu leben, zu zahlen an jeden, dem es in den Sinn kommt, Forderungen zu erheben; sein
einziger Begriff eines Wertes ist eine Verneinung: Das Gute ist das, was nicht sein kann.
Der Name dieser monströsen Absurdität ist Erbsünde.
Der Begriff einer ungewollten Sünde ist ein Schlag ins Gesicht der Moral und ein dreister Widerspruch in sich
selbst: Was außerhalb der Möglichkeit der Wahl liegt, liegt außerhalb des Bereiches der Moral. Wenn der
Mensch von Geburt böse ist, dann hat er keinen Willen, keine Macht, es zu ändern; wenn er keinen Willen hat,
kann er weder gut noch böse sein; ein Roboter ist amoralisch. Eine Tatsache, die außerhalb der Wahl eines
Menschen stand, für eine Sünde zu halten, ist eine Verhöhnung der Moral. Einen Menschen für eine Sünde zu
bestrafen, die vor seiner Geburt begangen wurde, ist eine Verhöhnung der Gerechtigkeit. Ihn für schuldig zu
erklären in einer Sache, in der es keine Unschuld gibt, ist eine Verhöhnung der Vernunft. Die Moral, die Natur,
die Gerechtigkeit und die Vernunft durch einen einzigen Begriff zu zerstören, ist eine Übeltat, die kaum
übertroffen werden kann. Und doch ist sie die Wurzel eurer Moral.
Versteckt euch nicht hinter der feigen Ausflucht, der Mensch sei mit einem freien Willen, aber mit einem
Hang zum Bösen geboren. Ein freier Wille, der mit einem Hang zum Bösen belastet ist, gleicht einem Spiel mit
geladenen Würfeln. Er zwingt den Menschen, sich dem Risiko eines Spiels auszusetzen, dessen Ausgang im
vorhinein von einer Tendenz bestimmt wird, über die er keine Macht hat. Wenn diese Tendenz von ihm gewählt
ist, kann er sie nicht bei seiner Geburt besessen haben; ist sie nicht von ihm gewählt, dann ist sein Wille nicht
frei.
Welcher Natur ist die Schuld, die eure Lehrer die Erbsünde nennen? Welche üblen Eigenschaften hat der
Mensch erworben, als er jenes Zustandes verlustig ging, den sie die Vollkommenheit nennen? Ihr Mythos
erklärt, daß er von der Frucht des Baumes der Erkenntnis aß und hierdurch einen Verstand erwarb und ein
denkendes Wesen wurde. Es war die Erkenntnis des Guten und des Bösen, die er erwarb, und er wurde zu einem
moralischen Wesen. Er wurde dazu verurteilt, sein Brot durch seine Arbeit zu verdienen, und er wurde ein
produktives Wesen. Er wurde dazu verurteilt, Lust zu empfinden, und er erlangte die Fähigkeit des sinnlichen
Genusses. Die Übel, für die sie ihn verdammen, sind Vernunft, Moral, Schöpferkraft, Freude – alle
Kardinaltugenden seines Daseins. Nicht die Laster des Menschen erklären sie durch ihren Mythos vom
Sündenfall des Menschen, nicht seine Fehler rechnen sie ihm als Schuld an, sondern das Wesen seiner
menschlichen Natur. Was auch immer er war – jener Roboter im Garten Eden, der ohne Verstand, ohne Arbeit,
ohne Liebe existierte –, er war kein Mensch. Der Sündenfall des Menschen, erklären eure Lehrer, bestand darin,
daß er die Tugenden und Fähigkeiten erwarb, die nötig sind zum Leben. Diese Tugenden sind nach ihrem
Wertmaßstab seine Sünden. Seine Übeltat, klagen sie ihn an, besteht darin, daß er Mensch ist. Seine Schuld,
klagen sie ihn an, besteht darin, daß er lebt.
Das nennen sie eine Moral des Mitleids und eine Doktrin der Nächstenliebe. Nein, sagen sie, sie behaupten
nicht, daß der Mensch böse ist – böse sei nur sein Körper. Nein, sagen sie, sie wollen ihn nicht töten, sie wollen
nur, daß er seinen Körper verliert. Sie suchen, sagen sie, ihm zu helfen gegen seinen Schmerz – und sie deuten
auf das Folterrad, auf das sie ihn gespannt haben, das Rad, das ihn auseinanderreißt, das Rad der Doktrin, die
Leib und Seele spaltet.
Sie haben den Menschen in zwei Teile geteilt und eine Hälfte in Gegensatz zur anderen gesetzt. Sie haben ihn
gelehrt, daß sein Körper und sein Bewußtsein zwei in einen tödlichen Konflikt verstrickte Feinde sind, zwei
Vertreter entgegengesetzter Naturen, widersprechender Ansprüche und unversöhnlicher Bedürfnisse; daß des
einen Nutzen des anderen Schaden sein muß; daß seine Seele einem übernatürlichen Bereich angehört, sein
Körper jedoch ein Gefängnis ist, das ihn an diese Erde bindet; und daß das Gute darin besteht, seinen Körper zu
besiegen, ihn in Jahren eines geduldigen Kampfes zu schwächen, um schließlich aus ihm auszubrechen in die
Freiheit des Grabes.
Sie haben den Menschen gelehrt, daß er eine hoffnungslose Mißgeburt ist, bestehend aus zwei Elementen, die
beide Symbole des Todes sind. Ein Körper ohne Seele ist ein Leichnam, eine Seele ohne Körper ist ein Gespenst.
Doch dies ist ihr Bild vom Wesen des Menschen: das Schlachtfeld eines Kampfes zwischen einem Leichnam
und einem Gespenst, einem Leichnam mit seinen eigenen bösen Zwecken und einem Gespenst mit dem Wissen,
daß alles, was der Mensch weiß, nichtexistent ist, daß nur das existiert, was man nicht wissen kann.
Seht ihr jetzt, welche Fähigkeit des Menschen zu unterdrücken ihre Doktrin bestimmt war? Es war das
Denkvermögen des Menschen, das geleugnet werden sollte, damit er auseinanderfällt. Wenn er einmal seine
Vernunft aufgegeben hatte, war er auf Gnade und Ungnade zwei Ungeheuern ausgeliefert, die er weder
ergründen noch bändigen konnte: einem Körper, der beherrscht wurde von unberechenbaren Instinkten, und
einer Seele, die beherrscht wurde von mystischen Offenbarungen. Er wurde zum willen- und wehrlosen Opfer
eines Kampfes zwischen einem Roboter und einem Diktaphon.
Und während er jetzt durch die Trümmer kriecht und blind nach einem Weg zum Weiterleben sucht, bieten
ihm eure Lehrer die Hilfe einer Moral an, die erklärt, daß er keine Erlösung finden wird und keine Erfüllung auf
Erden suchen darf. Wirkliche Existenz, sagen sie zu ihm, ist das, was er nicht wahrnehmen kann, wahres
Bewußtsein ist die Fähigkeit, das Nichtexistente wahrzunehmen. Und wenn er unfähig ist, dies zu verstehen, so
ist das der Beweis dafür, daß sein Dasein von Übel und sein Bewußtsein ohnmächtig ist.
Als Produkte der Spaltung des Menschen in Seele und Leib gibt es zwei Arten von Lehrern der Moral des
Todes: die Seelen- und die Muskelmystiker, die ihr Spiritualisten und Materialisten nennt, die, die an
Bewußtsein ohne Existenz glauben, und die, die an Existenz ohne Bewußtsein glauben. Beide fordern sie die
Auslieferung eures Verstandes, die einen an ihre Offenbarungen, die anderen an ihre Reflexe. Gleichgültig, wie
laut sie ihre Rollen als unversöhnliche Antagonisten spielen, ihre Moralgesetze sind die gleichen, und gleich sind
auch ihre Ziele – materiell: die Versklavung des menschlichen Körpers; geistig: die Zerstörung des menschlichen
Verstandes.
Das Gute, sagen die Seelenmystiker, ist Gott, dessen einzige Definit ion darin besteht, daß sein Wesen jenseits
des Begriffsvermögens des Menschen liegt – eine Definition, die das Bewußtsein des Menschen auslöscht und
seine Begriffe vom Leben für ungültig erklärt. Das Gute, sagen die Muskelmystiker, ist die Gesellschaft – ein
Ding, das sie als einen Organismus erklären, der keine physische Form besitzt, verkörpert in niemand im
besonderen und in jedermann im allgemeinen, mit Ausnahme von euch selbst. Der Verstand des Menschen,
sagen die Seelenmystiker, muß sich dem Willen Gottes unterordnen. Der Verstand des Menschen, sagen die
Muskelmystiker, muß sich dem Willen der Gesellschaft unterordnen. Der Wertmesser des Menschen, sagen die
Seelenmystiker, ist das Wohlgefallen Gottes, dessen Wertmaßstab außerhalb des Begriffsvermögens des
Menschens liegt und auf Treu und Glauben anerkannt werden muß. Der Wertmesser des Menschen, sagen die
Muskelmystiker, ist das Wohlergehen der Gesellschaft, deren Wertmesser außerhalb des Beurteilungsrechtes des
Menschen liegt und als absolut anerkannt und befolgt werden muß. Der Sinn des menschlichen Lebens, sagen
beide, ist, ein verächtliches Wesen zu werden, das einem Zweck dient, den es nicht kennt, aus Gründen, nach
denen es nicht fragen darf. Seine Belohnung, sagen die Seelenmystiker, wird ihm jenseits des Grabes gegeben
werden. Seine Belohnung, sagen die Muskelmystiker, wird auf der Erde gegeben werden – seinen Ururenkeln.
Eigennützigkeit, sagen beide, ist das Böse im Menschen. Das Gute, sagen beide, ist die Aufgabe seiner
persönlichen Wünsche, die Verleugnung seiner selbst, der Verzicht auf seine Rechte, auf seine Existenz; das
Gute die Negierung des Lebens, das er lebt. Opferbereitschqft, schreien beide, ist die Quintessenz aller Moral,
der höchste Wert, den ein Mensch je erreichen kann.
Ihr unter denen, die mich jetzt hören, die zu den Opfern gehören und nicht zu den Mördern, ich spreche zu
euch am Totenbett eures Verstandes, am Rande der Finsternis, in der ihr versinkt, und wenn in euch noch ein
Rest von Kampfkraft übriggeblieben ist, um das zu verteidigen, was einmal ihr selbst wart, dann – nutzt sie jetzt.
Das Wort, das euch zerstört hat, lautet Opfer. Nutzt eure letzte Stärke, es zu verstehen. Ihr lebt noch. Ihr habt
noch eine Chance, zu überleben. Opfern bedeutet nicht die Hergabe des Wertlosen, sondern die des Wertvollen.
Opfern bedeutet nicht die Verwerfung des Bösen um des Guten willen, sondern des Guten um des Bösen willen.
Opfern ist die Preisgabe dessen, was ihr schätzt, zugunsten dessen, was ihr nicht schätzt.
Wenn ihr einen Cent gegen einen Dollar eintauscht, so ist dies kein Opfer; wenn ihr einen Dollar gegen einen
Cent eintauscht, so ist dies ein Opfer. Wenn ihr die Laufbahn, die ihr eingeschlagen habt, nach Jahren des
Kampfes vollendet, so ist dies kein Opfer; wenn ihr aber dann verzichtet zugunsten eines Rivalen, ist es eines.
Wenn ihr eine Flasche Milch habt und gebt sie eurem hungernden Kind, so ist das kein Opfer; wenn ihr sie dem
Kind des Nachbarn gebt und laßt das eure verhungern, ist es eines. Wenn ihr einem Freund Geld gebt, um ihm zu
helfen, ist dies kein Opfer; wenn ihr es einem unwürdigen Fremden gebt, ist es eines. Wenn ihr einem Freund
eine Summe gebt, die euch nicht weh tut, so ist dies kein Opfer; wenn ihr ihm Geld gebt auf Kosten eures
eigenen Wohlbefindens, so ist dies, nach ihrem moralischen Wertmaßstab, nur eine halbe Tugend; wenn ihr ihm
aber soviel Geld gebt, daß ihr selbst in Not geratet, dann ist dies die Tugend der Opferbereitschaft in ihrer vollen
Bedeutung.
Wenn ihr auf alle eure persönlichen Wünsche verzichtet und euer Leben jenen weiht, die ihr liebt, dann übt
ihr nicht die volle Tugend: Ihr behaltet immer noch einen Wert für euch selbst – eure Liebe. Wenn ihr euer
Leben einem beliebigen Fremden weiht, dann ist dies ein Akt größerer Tugend. Wenn ihr euer Leben dem
Dienste eines Menschen weiht, den ihr haßt, dann ist dies die höchste aller Tugenden, deren der Mensch fähig
ist.
Ein Opfer ist die Preisgabe eines Wertes. Ein volles Opfer ist die volle Preisgabe aller Werte. Wenn ihr den
höchsten Grad der Tugend erreichen wollt, dann dürft ihr keine Dankbarkeit für eure Opfer erwarten oder
suchen, kein Lob, keine Liebe, keine Bewunderung, keine Selbstachtung, nicht einmal den Stolz, tugendhaft zu
sein; die geringste Spur eines Gewinnes entwertet eure Tugend. Wenn ihr stets so handelt, daß keine Freude in
euer Leben dringt, daß ihr weder materiellen noch geistigen Gewinn erzielt, wenn ihr diesen Grad der
Nichtigkeit eures Handelns erreicht, dann seid ihr beim Ideal moralischer Vollkommenheit angelangt. Man sagt
euch, daß moralische Vollkommenheit für den Menschen unmöglich ist; mit diesem Maß gemessen, ist sie es.
Ihr könnt sie nicht erreichen, solange ihr lebt, doch der Wert eurer Person und eures Lebens wird gemessen nach
dem Grad eurer Annäherung an das letzte Nichts, an den Tod.
Wenn ihr beginnt als ein gefühlloses Nichts, als eine Pflanze, die nur verschlungen zu werden sucht, ohne
Werte, die ihr preisgeben, und ohne Wünsche, auf die ihr verzichten könnt, dann könnt ihr die Krone des Opfers
nicht erringen. Es ist kein Opfer, auf das Nichtgewünschte zu verzichten. Es ist kein Opfer, euer Leben für
andere hinzugeben, wenn ihr euren Tod wünscht. Um die Tugend des Opfers zu üben, müßt ihr leben wollen,
müßt ihr das Leben lieben, müßt ihr glühen vor Leidenschaft für diese Erde und für alle Freude, die sie euch
geben kann… müßt jeden Schnitt des Messers fühlen, das euch von euren Wünschen trennt und eure Liebe zu
eurem Körper abtötet. Nicht nur den Tod stellt euch die Opfermoral als Ideal dar, sondern den Tod durch
langsame Folter.
Sagt mir nicht, daß dies sich nur auf das irdische Leben bezieht. Ich kenne kein anderes. Und ihr auch nicht.
Wenn ihr den letzten Rest eurer Würde bewahren wollt, dann nennt nicht die besten eurer Taten ein ‘Opfer’:
Dieses Wort brandmarkt euch als unmoralisch. Wenn eine Mutter lieber Essen für ihr Kind kauft als einen Hut
für sich selbst, so ist dies kein Opfer: Sie schätzt das Kind höher als den Hut. Doch es ist ein Opfer für die
Mutter, die den Hut höher schätzt als das Kind, die es vorziehen würde, das Kind hungern zu lassen, und es nur
aus einem Gefühl der Pflicht heraus ernährt. Wenn jemand im Kampf für seine eigene Freiheit stirbt, dann ist
dies kein Opfer: Er will nicht als Sklave leben. Doch es ist ein Opfer für den, der es will. Wenn jemand sich
weigert, seine Überzeugung zu verkaufen, dann ist dies kein Opfer, es sei denn, er ist jemand, der keine
Überzeugungen hat.
Opfer bringen können nur diejenigen, die nichts zu opfern haben – keine Werte, keine Maßstäbe, kein
Urteilsvermögen –, also die, deren Wünsche irrationalen Gefühlen entspringen, die sie ebenso unverbindlich und
unverantwortlich aufgeben können, wie sie sie empfangen haben. Für einen moralischen Menschen, dessen
Wünsche rationalen Werten entstammen, ist Opfern die Hingabe des Rechten für das Unrechte, des Guten für
das Böse.
Die Opferglaube ist die Moral der Unmoral, eine Moral, die ihren eigenen Bankrott erklärt, indem sie
eingesteht, daß sie den Menschen keinen persönlichen Nutzen ihrer Tugenden und Werte zubilligt und ihnen
sagt, daß ihre Seelen Abgründe der Verderbtheit sind, die zu opfern sie gelehrt werden müssen. Nach ihrem
eigenen Eingeständnis ist sie unfähig, die Menschen zu lehren, gut zu sein, und kann sie nur einer ständigen
Strafe unterwerfen.
Glaubt ihr in eurer Dumpfheit vielleicht, daß eure Moral von euch nur das Opfer materieller Werte fordert?
Und was, glaubt ihr, sind materielle Werte? Die Materie besitzt nur Wert als Mittel zur Befriedigung
menschlicher Wünsche. Zu wessen Nutzen sollt ihr die materiellen Werkzeuge hergeben, die eure Tugend
geschaffen hat? Zum Nutzen dessen, was ihr als böse betrachtet: zum Nutzen eines Prinzips, das ihr nicht billigt,
einer Person, die ihr nicht achtet, zur Erfüllung eines Zweckes, der eurem eigenen Nutzen entgegengesetzt ist –
sonst ist euer Geschenk kein Opfer.
Eure Moral verlangt von euch, daß ihr auf die materielle Welt verzichtet und eure Werte von der Materie
trennt. Ein Mensch, dessen Werte nicht ihren Ausdruck finden in materiellen Formen, dessen Existenz in keiner
Beziehung zu seinen Idealen steht, dessen Taten seinen Überzeugungen widersprechen, ist ein kleiner billiger
Heuchler. Doch dies ist der Mensch, der eurer Moral gehorcht und seine Werte von der Materie trennt. Der
Mann, der eine Frau liebt, aber mit einer anderen schläft; der Mann, der das Können eines Arbeiters bewundert,
aber einen anderen einstellt; der Mann, der hohe Anforderungen an handwerkliche Leistungen stellt, aber selbst
Schund produziert – sie alle sind Menschen, die auf die Materie verzichtet haben, Menschen, die glauben, daß
die Werte ihrer Vernunft nicht in der Materie verwirklicht werden können.
Sagt ihr, daß solche Menschen die Vernunft aufgegeben haben? Jawohl, das haben sie. Ihr könnt nicht das
eine ohne das andere haben. Ihr seid eine unteilbare Einheit aus Materie und Bewußtsein. Gebt euer Bewußtsein
auf, und ihr werdet zu dumpfen Tieren. Gebt euren Körper auf, und ihr werdet eine Illusion. Gebt die materielle
Welt auf, und ihr überantwortet sie dem Bösen.
Und das genau ist das Ziel eurer Moral, die Pflicht, die euer Kodex euch vorschreibt: Gebt für das, was euch
nicht freut, dient dem, was ihr nicht bewundert, unterwerft euch dem, was ihr als böse betrachtet – überliefert die
Welt den Werten anderer, leugnet, verwerft und verdammt euer Selbst. Euer Selbst ist euer Verstand; gebt ihn
auf, und ihr werdet ein Stück Fleisch, dem nächsten Kannibalen zum Fraß.
Es ist euer Verstand, dessen Übergabe sie von euch fordern – alle, die den Opferglauben predigen, unter
welchem Zeichen und aus welchem Motiv auch immer –, ob sie ihn fordern um eurer Seele oder um eurer
Körper willen, ob sie euch ein besseres Leben im Himmel oder einen vollen Magen auf der Erde versprechen.
Diejenigen, die damit anfangen zu sagen: ‘Es ist eigennützig, deine eigenen Wünsche zu erfüllen, du mußt sie
den Wünschen anderer opfern’, enden immer damit, daß sie sagen: ‘Es ist eigennützig, an deinen Überzeugungen
festzuhalten, du mußt sie den Überzeugungen anderer opfern.’
Soviel aber ist wahr: Das eigennützigste, was es gibt, ist der unabhängige Geist, der keine andere Autorität
anerkennt als seine eigene und keinen Wert höher schätzt als seinen eigenen Begriff von der Wahrheit. Ihr
werdet aufgefordert, eure intellektuelle Integrität zu opfern, euer Denken, eure Logik, euren Wahrheitsbegriff,
um zu Prostituierten zu werden, deren Maßstab das größtmögliche Glück der größten Zahl ist.
Wenn ihr euren Moralkodex erforscht nach einer Antwort auf die Frage: ‘Was ist das Gute?’ – dann wird die
einzige Antwort, die ihr findet, lauten: ‘Das Wohl der anderen.’ Das Gute ist das, was die anderen sich
wünschen, wovon ihr zu fühlen glaubt, daß sie es sich wünschen, oder wovon ihr glaubt, daß sie sich es
wünschen sollen. ‘Das Wohl der anderen’ ist die magische Formel, die alles in Gold verwandelt, eine Formel,
die zitiert wird als Garantie für moralische Größe und als Entschuldigung für jede Tat, selbst für die
Hinschlachtung ganzer Völker. Euer Tugendmaßstab ist nichts Objektives, keine Tat, kein Grundsatz, sondern
eine Absicht. Ihr braucht keinen Beweis, keine Gründe, keinen Erfolg, ihr braucht das Wohl der anderen nicht zu
verwirklichen – alles, was ihr braucht, ist das Wissen, daß euer Motiv das Wohl der anderen war, nicht euer
eigenes. Eure Definition des Guten ist eine Negation: Das Gute ist das, was nicht für mich gut ist.
Euer Kodex, der sich damit brüstet, daß er ewige, absolute, objektive moralische Werte vertritt und das
Bedingte, das Relative und das Subjektive verwirft, dieser euer Kodex gibt als seine Auffassung vom Absoluten
die folgende Regel moralischen Verhaltens aus: Wenn du es wünschst, dann ist es böse; wenn andere es
wünschen, dann ist es gut; wenn das Motiv deiner Handlung dein eigenes Wohlergehen ist, dann führe sie nicht
aus; wenn dein Motiv das Wohlergehen der anderen ist, dann ist alles erlaubt.
So wie diese doppelgesichtige und doppelbödige Moral euch in zwei Teile spaltet, so spaltet sie auch die
Menschheit in zwei Lager: Das eine Lager seid ihr, das andere Lager ist die übrige Menschheit. Ihr seid die
Ausgestoßenen, die kein Recht haben zu leben oder zu wünschen. Ihr seid die Diener, die anderen sind die
Herren. Dir seid die Gebenden, die anderen sind die Nehmenden. Ihr seid die ewigen Schuldner, die anderen sind
die nie zu befriedigenden Gläubiger. Ihr dürft ihr Recht auf eure Opfer oder die Natur ihrer Wünsche und ihrer
Bedürfnisse nicht ergründen wollen: Ihr Recht ist ihnen verliehen auf Grund eines Negativums, auf Grund der
Tatsache, daß sie die anderen sind.
Für die unter euch, die dennoch Fragen stellen zu müssen glauben, hält euer Moralkodex einen Trostpreis und
eine Falle bereit: Es ist für euer eigenes Glück, sagt er, daß ihr dem Glück der anderen dienen sollt; der einzige
Weg, Freude zu erlangen, ist, sie anderen zu geben, der einzige Weg, zur Wohlhabenheit zu gelangen, ist, euren
Besitz anderen zu übergeben, der einzige Weg, euer Leben zu schützen, ist, alle Menschen zu beschützen außer
euch selbst – und wenn ihr auf diesen Wegen keine Freude findet, dann ist es eure eigene Schuld und der Beweis
für eure Schlechtigke it; wenn ihr gut wärt, dann würdet ihr Freude darin finden, für andere ein Bankett zu
bereiten, und eure Würde darin, von den Brosamen zu leben, die sie euch vielleicht zuzuwerfen geruhen.
Ihr, die ihr keinen Maßstab für eure Selbstachtung habt, ihr anerkennt eure Schuld und wagt es nicht, Fragen
zu stellen. Doch ihr kennt die uneingestandene Antwort und weigert euch zu erkennen, was ihr seht, welche
geheimen Kräfte eure Welt regieren. Ihr kennt sie, nicht in ehrlicher Wahrnehmung, sondern als dunkles
Unbehagen in eurem Innern, und ihr schwankt hin und her zwischen schuldigem Selbstbetrug und verhaßtem
Dienst an einem Glauben, der zu widerlich ist, um mit Namen genannt zu werden.
Ich, der ich das Unverdiente nicht annehme, weder in Werten noch als Schuld, ich bin hier, die Fragen zu
stellen, denen ihr ausweicht. Warum ist es moralisch, dem Glück der anderen zu dienen, aber nicht eurem
eigenen? Wenn Freude ein Wert ist, warum ist sie moralisch, wenn sie von anderen empfunden wird, aber
unmoralisch, wenn ihr sie empfindet? Wenn das Essen eines Kuchens ein Genuß ist, warum ist es unmoralisch,
wenn ihr diesen Genuß eurem eigenen Magen gönnt, jedoch ein moralisches Verdienst, wenn ihr ihn den Mägen
der anderen verschafft? Warum ist es für euch unmoralisch, zu wünschen, doch moralisch für die anderen?
Warum ist es unmoralisch, einen Wert zu schaffen und ihn zu behalten, aber moralisch, ihn wegzuschenken?
Und wenn es für euch nicht moralisch ist, einen Wert für euch zu behalten, warum is t es moralisch für die
anderen, ihn anzunehmen? Wenn ihr selbstlos und tugendhaft seid, indem ihr etwas weggebt, sind dann nicht
jene, die es annehmen, eigennützig und lasterhaft? Besteht die Tugend darin, daß man dem Laster dient? Besteht
die moralische Verpflichtung der Guten in der Selbstaufopferung um jener willen, die schlecht sind?
Die Antwort, der ihr ausweicht, diese ungeheuerliche Antwort lautet: Nein, die Nehmenden sind nicht
schlecht, wenn sie den Wert, den ihr ihnen schenkt, nicht verdient haben. Es ist nicht unmoralisch für sie, ihn
anzunehmen, wenn sie selbst unfähig sind, ihn zu schaffen. Es ist nicht unmoralisch für sie, diesen Wert zu
genießen, wenn sie ihn nicht von Rechts wegen erhalten haben.
Dies ist der geheime Kern eures Glaubens, die zweite Hälfte eurer Doppelmoral: Es ist unmoralisch, von
eigener Arbeit zu leben, aber moralisch, von der Arbeit der anderen zu leben; es ist unmoralisch, eure eigenen
Produkte zu verzehren, doch moralisch, die der anderen zu verzehren; es ist unmoralisch zu verdienen, doch
moralisch zu schmarotzen. Die Parasiten sind die moralische Rechtfertigung für die Existenz der
Produzierenden, doch die Existenz der Parasiten ist ein Zweck in sich selbst. Es ist böse, Gewinn zu erzielen aus
Leistung, doch gut, von den Opfern der anderen zu profitieren; es ist böse, euer eigenes Glück zu verwirklichen,
doch gut, es zu genießen um den Preis des Blutes der anderen.
Euer Moralkodex teilt die Menschheit ein in zwei Kasten und befiehlt ihnen, nach zwei gegensätzlichen
Gesetzen zu leben: In jene, die alles begehren dürfen, und jene, die nichts begehren dürfen, in die Erwählten und
in die Verdammten, in die Träger und in die Getragenen, in die Esser und in die Verzehrten. Welcher Maßstab
bestimmt eure Kaste? Welches Paßwort verschafft euch Zutritt zur moralischen Elite? Das Paßwort ist
Wertlosigkeit.
Welcher Wert auch immer es sei – daß er euch fehlt, gibt euch einen Anspruch gegen die, denen er nicht fehlt.
Es ist euer Bedürfnis allein, das euch einen Anspruch auf Belohnung gibt. Wenn ihr fähig seid, eure Bedürfnisse
selbst zu befriedigen, dann annulliert eure Fähigkeit euer Recht, sie zu befriedigen. Doch ein Bedürfnis, das ihr
nicht selbst befriedigen könnt, gibt euch ein Recht auf das Leben anderer.
Wenn ihr Erfolg habt, ist jeder, der scheitert, euer Herr; wenn ihr scheitert, ist jeder, der Erfolg hat, euer
Sklave. Ob ihr zu Recht scheitert oder nicht, ob eure Wünsche vernünftig sind oder nicht, ob euer Pech
unverschuldet ist oder die Folge eurer Laster, es ist das Pech, das euch ein Recht auf Belohnung gibt. Es ist der
Schmerz, ohne Rücksicht auf seine Natur oder Ursache, Leid als primär Absolutes, das euch einen Anspruch auf
alles gibt, was existiert.
Wenn ihr euren Schmerz durch eigene Anstrengung heilt, wird euch keine moralische Anerkennung zuteil;
euer Kodex betrachtet es als eine eigennützige Tat. Welchen Wert auch immer ihr zu erlangen sucht, sei es
Reichtum oder Nahrung oder Rechte, wenn ihr ihn durch eure eigenen Tugenden erwerbt, so betrachtet euer
Kodex dies nicht als ein moralisches Verdienst: Ihr verursacht niemand einen Verlust, es ist ein Handel, kein
Almosen; eine Bezahlung, kein Opfer. Das Verdienst gehört in den Bereich des eigennützigen, kommerziellen
gegenseitigen Profits; nur das Unverdiente gilt als jene moralische Transaktion, die dem einen Profit, dem
anderen aber Unglück bringt. Belohnung zu verlangen für eure Tugenden ist eigennützig und unmoralisch; es ist
euer Mangel an Tugend, der eure Forderung in ein moralisches Recht verwandelt.
Eine Moral, die das Bedürfnis als einzigen Anspruch gelten läßt, macht die Leere – Nicht-Existenz – zu ihrem
Maßstab; sie belohnt eine Abwesenheit, einen Defekt: Schwäche, Unfähigkeit, Untüchtigkeit, Leiden, Krankheit,
Unglück, Mangel, Irrtum, Fehler – das Nichts.
Wer aber erfüllt diese Ansprüche? Die, die dazu verdammt sind, mehr als nichts zu sein, jeder im Maß seiner
Entfernung von diesem Ideal. Da alle Werte durch Tugenden geschaffen werden, ist das Maß eurer Tugenden
zugleich das Maß für eure Strafen; das Maß eurer Fehler dient als Maß für eure Belohnung. Euer Moralkodex
erklärt, daß der vernünftige Mensch sich opfern muß für den unvernünftigen, der Unabhängige für die Parasiten,
der Ehrliche für die Unehrlichen, der Gerechte für die Ungerechten, der Schaffende für die Nichtstuer, der
Unbestechliche für die Korrupten, der selbstbewußte Stolze für die winselnden Schwächlinge. Wundert ihr euch
über die moralische Verkommenheit jener, die ihr um euch seht? Der Mensch, der diese Tugenden besitzt, wird
euren Moralkodex nicht anerkennen; der Mensch, der euren Moralkodex anerkennt, besitzt diese Tugenden
nicht. Der erste Wert, den ihr unter einer Opfermoral opfert, ist die Moral; der nächste ist die Selbstachtung.
Wenn Bedürfnisse der Maßstab sind, ist jeder Opfer und Parasit zugleich. Als Opfer muß er arbeiten, um die
Bedürfnisse der anderen zu befriedigen, bleibt aber ein Parasit, dessen Bedürfnisse von anderen befriedigt
werden müssen. Er kann sich seinen Mitmenschen nicht anders nähern als in einer dieser beiden unwürdigen
Rollen: als Bettler oder als Geschröpfter.
Ihr fürchtet den Menschen, der einen Dollar weniger hat als ihr, dieser Dollar gehört ihm nach eurem Gesetz;
er zwingt euch, euch als moralische Betrüger zu fühlen. Ihr haßt den Menschen, der einen Dollar mehr besitzt als
ihr; dieser Dollar gehört euch nach eurem Recht; er zwingt euch, euch als moralisch Betrogene zu fühlen. Der
Mensch unter euch ist für euch eine Quelle der Schuld; der Mensch über euch ist für euch eine Quelle des
Neides. Ihr wißt nicht, was ihr geben sollt und was verlangen, auf welche Freude ihr ein Recht habt und welche
Schuld an andere noch nicht bezahlt ist. Ihr versucht der Erkenntnis zu entrinnen, daß ihr nach der Moral, die ihr
anerkannt habt, in jedem Augenblick eures Lebens schuldig seid, daß kein Bissen, den ihr eßt, nicht einem
anderen Bedürftigen irgendwo auf der Welt gehört. Und ihr gebt es in blinder Verzweiflung auf, das Problem zu
lösen. Ihr schließt, daß moralische Vollkommenheit weder erreicht werden kann noch erstrebt werden soll, und
ihr meidet die Blicke der jungen Menschen, die noch an Selbstachtung glauben und sie von euch erwarten.
Schuld ist das einzige, was ihr in euren Seelen empfindet. Und so ergeht es allen anderen Menschen, die an euch
vorübergehen und eure Blicke meiden. Wundert ihr euch, daß eure Moral keine Bruderliebe auf die Erde
gebracht hat und keinen guten Willen unter die Menschen?
Die Rechtfertigung des Opfers, die eure Moral vorbringt, ist verworfener als die Verworfenheit, die sie zu
rechtfertigen versucht. Das Motiv eures Opfers, sagt sie zu euch, soll die Liebe sein – die Liebe, die ihr für jeden
Menschen empfinden müßt. Eine Moral, die sich zu dem Glauben bekennt, daß die Werte des Geistes höher
stehen als die Materie, eine Moral, die euch lehrt, eine Hure zu verachten, die ihren Körper wahllos jedem Mann
anbietet – diese gleiche Moral fordert von euch, daß ihr eure Seele in wahlloser Promiskuität jedem, dem ihr
begegnet, zur Liebesgabe macht.
Wie es keinen Reichtum ohne Ursache gibt, so kann es auch keine Liebe ohne Grund oder irgendein anderes
Gefühl ohne Anlaß geben. Ein Gefühl ist eine Reaktion auf eine wirkliche Tatsache, eine Abschätzung, diktiert
von eurem Wertmaßstab. Lieben heißt schätzen. Der Mensch, der euch sagt, es sei möglich, zu schätzen, was
ohne Wert ist, zu lieben, was ihr als wertlos erachtet, ist ein Mensch, der euch sagt, daß es möglich ist, reich zu
werden, indem man verbraucht, ohne zu produzieren, und daß Papiergeld ebenso wertvoll ist wie Gold.
Fällt es euch nicht auf, daß er nicht von euch erwartet, daß ihr unbegründet Furcht empfindet? Wenn
Menschen seines Schlages an die Macht kommen, dann sind sie groß darin, Mittel der Furcht zu erfinden, euch
reichen Grund zu jener Furcht zu geben, durch die sie euch beherrschen wollen. Doch wenn es sich um die Liebe
handelt, das wertvollste der Gefühle, dann erlaubt ihr ihnen, euch in anklagendem Ton zuzurufen, daß ihr
moralische Verbrecher seid, wenn ihr keine Liebe ohne Ursache empfinden könnt. Wenn ein Mensch sich ohne
Grund fürchtet, schickt ihr ihn zu einem Psychiater; ihr seid nicht in gleichem Maß besorgt um die Bedeutung,
das Wesen und die Würde der Liebe.
Liebe ist der Ausdruck eurer Werte, ist der höchste Lohn für den moralischen Rang, den ihr erreicht habt, ist
der Preis, den ein Mensch für die Freude zahlt, die ihm durch die Tugenden eines anderen zuteil wird. Eure
Moral fordert, daß ihr eure Liebe von den Werten scheidet und sie dem Erstbesten schenkt, nicht als Gegenwert
für seinen Wert, sondern zur Befriedigung seines Bedürfnisses, nicht als Lohn, sondern als Almosen, nicht als
eine Bezahlung für seine Tugenden, sondern als einen Blankoscheck für seine Laster. Eure Moral sagt euch, daß
es der Zweck der Liebe ist, euch frei zu machen von den Fesseln der Moral, daß die Liebe höher steht als das
moralische Urteil, daß wahre Liebe alles Böse in dem, den man liebt, vergißt und verzeiht, und daß die Liebe, je
größer sie ist, um so größere Verderbtheit nachsieht. Einen Menschen wegen seiner Tugenden zu lieben, ist
niedrig und menschlich, sagt euch eure Moral; ihn wegen seiner Fehler zu lieben, ist göttlich. Jene zu lieben, die
eurer Liebe wert sind, ist eigennützig; die zu lieben, die ihrer nicht wert sind, ist Opfer. Ihr schuldet eure Liebe
denen, die sie nicht verdienen, und je weniger sie sie verdienen, um so mehr Liebe schuldet ihr ihnen. Je
verachtenswerter sie sind, um so edler ist eure Liebe. Je unkritischer eure Liebe ist, um so größer ist eure
Tugend. Und wenn es euch gelingt, eure Seele zu einem Schuttabladeplatz zu machen, der alles zu gleichen
Bedingungen aufnimmt, wenn ihr so weit gelangt, daß ihr aufhört, moralische Werte zu schätzen, dann habt ihr
den Zustand moralischer Vollkommenheit erreicht. Dies ist eure Opfermoral, und dies sind die beiden Ideale, die
sie euch bietet: das Leben eures Körpers zu gestalten nach dem Bilde eines menschlichen Schlachthofes und das
Leben eurer Seele nach dem Bilde eines Schuttabladeplatzes.
Dies war euer Ziel. Und ihr habt es erreicht. Warum stöhnt und klagt ihr jetzt über die Ohnmacht des
Menschen und über die Vergeblichkeit alles menschlichen Strebens? Weil ihr nicht in der Lage wart, Erfolg zu
haben, indem ihr die Zerstörung suchtet? Weil ihr unfähig wart, Freude zu finden, indem ihr Schmerz begehrtet?
Weil ihr nicht leben konntet, indem ihr den Tod zu eurem Maßstab machtet? Das Maß eurer Fähigkeit zu leben,
war das Maß, in dem ihr euren Moralkodex gebrochen habt, und dennoch glaubt ihr immer noch, daß diejenigen,
die ihn predigen, Freunde der Menschheit sind, verdammt ihr euch selbst und wagt nicht, nach den Motiven ihrer
Lehre zu fragen. Schaut sie euch jetzt an, da ihr vor der letzten Wahl steht – und wenn ihr den Untergang wählt,
dann geht unter im vollen Wissen, ein wie kleiner und schäbiger Feind euer Leben vernichtet hat.
Die Mystiker der beiden Schulen, die den Opferglauben predigen, sind Bakterien, die euch auf gleiche Weise
vergiften: Sie rechnen mit eurer Furcht, euren Verstand zu gebrauchen. Sie sagen, sie besäßen Mittel des
Erkennens, die dem Verstand überlegen sind, eine Art von Bewußtsein, die der Vernunft überlegen ist – als
hätten sie eine besondere Vereinbarung getroffen mit einem Verwaltungsbeamten des Universums, der ihnen
geheime, anderen verschlossene Auskünfte gibt. Die Seelenmystiker erklären, sie besäßen einen zusätzlichen
Sinn, der euch fehlt: Dieser besondere sechste Sinn widerlege alle Erkenntnisse eurer fünf normalen Sinne. Die
Muskelmystiker machen sich nicht die Mühe, Anspruch auf eine übersinnliche Wahrnehmung zu erheben: Sie
behaupten nur, eure Sinne taugten nichts, und ihre Weisheit bestehe darin, daß sie durch nicht näher bezeichnete
Mittel eure Blindheit wahrnehmen. Beide fordern, daß ihr euer Bewußtsein ausschaltet und euch in ihre Macht
begebt. Als Beweis ihres überlegenen Wissens führen sie die Tatsache an, daß sie von allem, was ihr wißt, das
Gegenteil behaupten, und als Beweis ihrer überlegenen Fähigkeiten, mit dem Leben fertig zu werden, die
Tatsache, daß sie euch zu Elend, Selbstaufopferung, Hunger und Zerstörung führen.
Sie behaupten, daß sie eine Art des Seins kennen, die eurer Existenz auf Erden überlegen ist. Die
Seelenmystiker nennen sie eine ‘andere Dimension’, die darin besteht, daß sie alle anderen aufhebt. Die
Muskelmystiker nennen sie die ‘Zukunft’, die darin besteht, die Gegenwart zu leugnen. Existieren heißt Identität
besitzen. Welche Identität können sie ihrem höheren Bereich geben? Sie sagen euch nur, was er nicht ist, aber
nie, was er ist. Ihre ganze Identifizierung besteht in der Negation: Gott ist das, was kein menschlicher Verstand
erkennen kann, sagen sie – und fordern von euch, daß ihr dies als Erkenntnis betrachtet –, Gott ist Nicht-Mensch,
Himmel ist Nicht-Erde, Seele ist Nicht-Körper, Tugend ist Nicht-Gewinn, Wissen ist Nicht-Vernunft. Ihre
Definitionen definieren nicht, sondern annihilieren.
Welches ist diese höhere Welt, der sie die existierende Welt opfern? Die Seelenmystiker verdammen die
Materie, die Muskelmystiker verdammen den Profit. Jene erklären, die Menschen gewinnen dadurch, daß sie auf
die Erde verzichten, diese behaupten, die Menschen werden die Erde gewinnen, wenn sie auf allen Profit
verzichten. Ihre nichtmaterielle Welt und ihre profitfreie Welt sind Reiche, in denen Flüsse von Milch und Honig
fließen, wo auf ihren Befehl Wein aus den Felsen springt, wo Kuchen aus den Wolken fällt, wenn sie den Mund
öffnen. Auf dieser materiellen, profitbedachten Erde ist ein ungeheurer Aufwand an Tugenden – an Intelligenz,
Integrität, Energie und Können – erforderlich, um eine Eisenbahn zu bauen, die sie über die Distanz von einer
Meile trägt; in ihrer nichtmateriellen, profitverachtenden Welt reisen sie von einem Planeten zum anderen um
den Preis eines Wunsches. Wenn ein ehrlicher Mensch sie fragt: ‘Wie?’ – antworten sie entrüstet, ‘Wie’ sei ein
Begriff vulgärer Realisten; der Begriff höherer Geister sei ‘Irgendwie’. Auf dieser Erde der Materie und des
Profits wird Lohn verdient durch Denken; in einer Welt, die frei ist von ihnen, bekommt man alles geschenkt,
was man sich wünscht.
Und dies ist ihr ganzes schäbiges Geheimnis. Das Geheimnis aller ihrer esoterischen Philosophien, ihrer
Dialektiken und übersinnlichen Wahrnehmungen, ihrer ausweichenden Blicke und ihrer schleimigen Stimmen,
das Geheimnis, für das sie Zivilisation, Sprache, Industrien und Leben zerstören, das Geheimn is, für das sie ihre
Augen und Trommelfelle durchbohren, ihre Sinne betäuben, ihren Verstand ausschalten, der Zweck, für den sie
die absoluten Werte der Vernunft, der Logik, der Materie, des Seins und der Wirklichkeit negieren und verbieten
– die geheime Absicht, die sie mit all dem verfolgen, ist, auf den Trümmern der Welt, die sich ihnen unterworfen
hat, ein heiliges Absolutum zu errichten: ihre Wünsche.
Die Beschränkung, der sie zu entrinnen suchen, ist das Gesetz der Identität. Die Freiheit, die sie erstreben, ist
die Freiheit von der Tatsache, daß ein A ein A bleibt trotz ihrer Gebete und Beschwörungen; daß ein Fluß ihnen
keine Milch bringt, wie groß auch ihr Hunger ist; daß Wasser nicht den Berg hinauf fließt, wie große Vorteile es
ihnen auch bringen würde, und wenn sie es auf das Dach eines Wolkenkratzers leiten wollen, dann brauchen sie
dazu Rohre, Gedanken und tätige Hände, aber keine Gefühle; daß ihre Gefühle unfähig sind, auch nur ein
einziges Staubkörnchen im Raum zu bewegen, oder die Folgen einer Tat, die sie begangen haben, rückgängig zu
machen. Diejenigen, die behaupten, daß der Mensch unfähig ist, eine durch seine Sinne nicht entstellte
Wirklichkeit wahrzunehmen, meinen damit, daß sie sich weigern, eine durch ihre Wünsche nicht entstellte
Wirklichkeit wahrzunehmen. ‘Dinge, wie sie sind’, sind Dinge, die ihr durch euren Verstand erfaßt; trennt sie
von der Vernunft, und sie werden ‘Dinge, wie ihr sie durch eure Wünsche wahrnehmt’.
Es gibt keine ehrliche Auflehnung gegen die Vernunft – und wenn ihr auch nur einen Teil ihres Glaubens
annehmt, dann entspringt dies eurem heimlichen Wunsch, etwas zu tun, was euer Verstand euch nie erlauben
würde. Die Freiheit, die ihr dann erstrebt, ist die Freiheit von der Tatsache, daß ihr Diebe seid, wenn ihr euer
Eigentum gestohlen habt, gleichgültig, wieviel ihr für wohltätige Zwecke spendet oder wieviel Gebete ihr
sprecht; daß ihr keine anständigen Ehemänner seid, wenn ihr mit hergelaufenen Schlampen schlaft, gleichgültig,
wie ängstlich ihr darauf bedacht seid, eure Frauen am nächsten Morgen zu lieben; daß ihr Entitäten seid und
nicht irgendwelche zufälligen Ansammlungen von Teilchen, verstreut in einem Universum, in dem nichts
zusammenhängt und nichts euch zu etwas verpflichtet, ähnlich der Welt eines kindlichen Angsttraumes, in dem
die Gestalten sich verändern und verschwimmen und der Held und der Schurke willkürlich auswechselbare
Rollen spielen; daß ihr Menschen seid; daß ihr identifizierbare Wesen seid; daß ihr existiert.
Wie eifrig ihr auch behauptet, daß das von euren mystischen Wünschen angestrebte Ziel eine höhere Form des
Lebens ist, die Auflehnung gegen die Identität ist der Wunsch nach Nicht-Existenz. Der Wunsch, nicht etwas
Bestimmtes zu sein, ist der Wunsch, nicht zu sein.
Eure Lehrer, die Mystiker beider Schulen, haben die Kausalität in ihrem Bewußtsein verdreht und versuchen
nun, sie auch in der Realität zu verdrehen. Sie betrachten ihre Gefühle als Ursachen und ihren Verstand als eine
passive Folge. Sie machen ihre Empfindungen zu ihren Werkzeugen der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sie
betrachten ihre Wünsche als unwandelbaren Primat, als eine Tatsache, die allen anderen Tatsachen vorangeht.
Ein ehrlicher Mensch wünscht nicht etwas, bevor er nicht das Objekt seines Wunsches identifiziert hat. Er sagt:
‘Es ist, deshalb wünsche ich es.’ Sie aber sagen: ‘Ich wünsche es, deshalb ist es.’
Sie wollen das Axiom von Sein und Bewußtsein umgehen, sie wollen, daß ihr Bewußtsein ein Werkzeug ist,
mit dem sie das Seiende nicht wahrnehmen, sondern schaffen, und daß das Sein nicht das Objekt, sondern das
Subjekt ihres Bewußtseins ist. Sie wollen jener Gott sein, den sie nach ihrem eigenen Bild geschaffen haben, ein
Gott, der das Universum durch bloßes willkürliches Wünschen aus dem Nichts geschaffen hat. Doch die
Wirklichkeit läßt sich nicht betrügen. Was sie erreichen, ist das Gegenteil dessen, was sie wünschen. Sie
begehren unumschränkte Macht über das Sein; statt dessen verlieren sie die Macht über ihr Bewußtsein. Indem
sie sich weigern, zu wissen, verdammen sie sich zu dem Grauen ewigen Nichtwissens.
Die irrationalen Wünsche, die euch zu ihrem Glauben hinziehen, die Gefühle, die ihr als Idole anbetet, auf
deren Altar ihr die Erde opfert, die dunkle, verschwommene Leidenschaft in euch, die ihr für die Stimme Gottes
oder die eurer Drüsen haltet – das alles ist nichts anderes als die Leiche eures Verstandes. Ein Gefühl, das eurer
Vernunft widerspricht, ein Gefühl, das ihr nicht erklären und nicht beherrschen könnt, ist nur das Gerippe jenes
dumpfen, leeren Denkens, das zu erhellen und auszufüllen ihr eurem Verstand verboten habt.
Wann immer ihr die Übeltat begeht, nicht sehen und nicht denken zu wollen, einen eurer kleinen Wünsche
auszunehmen von der absoluten Wirklichkeit, wenn ihr sagt: Laßt mich dem Urteil der Vernunft die Bonbons
entziehen, die ich gestohlen habe, oder die Existenz Gottes, gönnt mir nur die Befriedigung eines einzigen
unvernünftigen Wunsches, dann will ich in allem anderen ein vernünftiger Mensch sein – dann ist dies jedesmal
eine Bestechung eures Bewußtseins, eine Verführung eures Verstandes. Euer Verstand wird zu einem korrupten
Richter, der Befehle aus einer geheimen Unterwelt empfängt und dessen Urteil die Wirklichkeit vergewaltigt.
Und das Resultat ist eine aufgelöste Realität, in der die Teilchen, die ihr zu sehen geruht, zusammenhanglos
herumschwimmen in dem, was ihr nicht sehen wollt, und das nur zusammengehalten wird durch jene faule
Flüssigkeit eines Verstandes, der nichts anderes ist als von Gedanken entleerte Gefühlsduselei. Was ihr in
diesem Sumpf ertränken wollt, sind die Bindeglieder der ursächlichen Zusammenhänge. Der Feind, den ihr zu
bezwingen sucht, ist das Gesetz der Kausalität, denn es erlaubt euch keine Wunder. Das Gesetz der Kausalität ist
das Gesetz der Identität, bezogen auf das Geschehen. Alles Geschehen wird verursacht durch Seiendes. Die
Natur eines Geschehens wird verursacht und bestimmt durch die Natur des Seienden, das handelt; ein Ding kann
nicht im Widerspruch zu seiner Natur handeln. Ein nicht durch ein Seiendes verursachtes Geschehen wäre durch
ein Nichts verursacht, was bedeuten würde, daß ein Nichts ein Ding beherrscht, das Nichtexistierende das
Existierende. Und dies ist das Universum, das eure Lehrer wünschen, ist die Ursache ihrer Doktrin vom
ursachenlosen Geschehen, der Grund ihrer Auflehnung gegen die Vernunft, das Ziel ihrer Moral, ihrer Politik,
ihrer Wirtschaft, das Ideal, das sie erstreben: die Herrschaft des Nichts.
Das Gesetz der Identität erlaubt euch nicht, euren Kuchen zu behalten und ihn zugleich zu essen. Das Gesetz
der Kausalität erlaubt euch nicht, euren Kuchen zu essen, bevor ihr ihn habt. Doch wenn ihr beide Gesetze in der
Leere eures Verstandes ertränkt, wenn ihr euch selber und anderen gegenüber so tut, als sähet ihr nicht – dann
könnt ihr versuchen, euer Recht zu proklamieren, heute euren Kuchen zu essen und morgen den meinen, dann
könnt ihr predigen, der Weg, einen Kuchen zu bekommen, sei, ihn zu essen, bevor man ihn bäckt, daß der
Vorgang der Produktion mit dem Verbrauch beginnt, daß alle, die etwas wünschen, gleichen Anspruch haben auf
alles, da ja nichts durch etwas verursacht wird. Das Korollar der Leugnung des Zusammenhanges zwischen
Ursache und Wirkung ist die Leugnung des Zusammenhanges zwischen Leistung und Verdienst.
Wenn ihr gegen die Kausalität rebelliert, dann ist euer betrügerischer Wunsch nicht, ihr zu entgehen, sondern
schlimmer: sie umzukehren. Ihr wollt unverdiente Liebe, als ob Liebe, die Folge, euch persönlichen Wert, die
Ursache, verleihen würde; ihr wollt unverdiente Bewunderung, als ob Bewunderung, die Folge, euch Tugend,
die Ursache, verleihen würde; ihr wollt unverdienten Reichtum, als ob Reichtum, die Folge, euch Tüchtigkeit,
die Ursache, verleihen würde; ihr bettelt um Gnade – Gnade, nicht Gerechtigkeit –, als ob unverdiente
Vergebung den Grund eurer Bitte, eure Schuld, auslöschen könnte. Und um eure kleinen, häßlichen Betrügereien
zu legalisieren, unterstützt ihr die Doktrinen eurer Lehrer, die verkünden, Ausgeben, die Folge, schaffe
Reichtum, die Ursache; Maschinen, die Folge, schafften Intelligenz, die Ursache; eure sexuellen Begierden, die
Folge, schafften eure philosophischen Werte, die Ursache.
Und wer bezahlt die auf den Kopf gestellte Rechnung? Wer verursacht das Ursachenlose? Wer sind die Opfer,
die dazu verdammt sind, unbekannt zu bleiben und schweigend zu verderben, wenn nicht ihr Todeskampf eure
Behauptung, daß sie nicht existieren, widerlegt? Wir sind es, wir, die Verstandesmenschen, die Menschen der
Vernunft.
Wir sind die Ursache aller Werte, die ihr begehrt, wir, die wir den Akt des Denkens vollziehen, den Akt, der
die Identität feststellt und die kausalen Zusammenhänge entdeckt. Wir haben euch gelehrt, zu erkennen, zu
sprechen, zu produzieren, zu wünschen, zu lieben. Ihr, die ihr der Vernunft abschwört: Wenn wir sie nicht
bewahren würden, dann wärt ihr nicht in der Lage, eure Wünsche zu erfüllen oder auch nur zu denken. Ihr wärt
nicht fähig, die Kleider zu wünschen, die noch nicht fabriziert sind, das Auto, das noch nicht erfunden ist, das
Geld, das noch nicht im Umlauf ist, als Gegenwert für Dinge, die nicht existieren, die Bewunderung, die nicht
empfunden wird, für Menschen, die nichts geleistet haben, die Liebe, die nur denen gehört und gilt, die ihre
Fähigkeit zu denken, zu wählen und zu werten bewahrt haben.
Ihr, die ihr wie Wilde aus dem Dschungel eurer Gefühle hervorstürzt in die Fifth Avenue unseres New York
und erklärt, ihr wünscht, daß die elektrischen Lampen weiterbrennen sollen, daß man aber die Generatoren
zerstört: Es ist unser Reichtum, den ihr genießt, während ihr uns vernichtet; es sind unsere Werte, die ihr
gebraucht, während ihr uns verdammt; es ist unsere Sprache, die ihr sprecht, während ihr den Verstand leugnet.
So wie eure Seelenmystiker ihren Himmel nach dem Bild unserer Erde geschaffen haben und, unsere Existenz
unterschlagend, euch Belohnungen versprachen, die durch Wunder aus dem Nichtmateriellen entstehen, so
unterschlagen auch eure modernen Muskelmystiker unsere Existenz und versprechen euch einen Himmel, in dem
die Materie sich selbst durch ihren ursachenlosen Willen in jene Belohnungen verwandelt, die euer Nicht-
Verstand begehrt.
Seit Jahrhunderten leben die Seelenmystiker davon, daß sie eine sogenannte Schutz-Gaunerei unterhalten…
indem sie das Leben auf der Erde unerträglich machen und euch dann ihren Trost und ihren Schutz in Rechnung
stellen, indem sie alle Tugenden, die das Leben möglich machen, verbieten und euch dann für eure Schuld
bezahlen lassen, indem sie Produktivität und Freude für Sünde erklären und dann die Sünder erpressen. Wir, die
Verstandesmenschen, wir waren die ungenannten Opfer ihres Glaubens, wir, die wir bereit waren, ihre
Moralgesetze zu übertreten und verdammt zu werden für unsere Sünden der Vernunft; wir, die dachten und
handelten, während sie wünschten und beteten; wir, die moralisch Ausgestoßenen, wir, die wir als Schmuggler
des Lebens galten, weil Leben zum Verbrechen erklärt wurde, während sie sich im moralischen Ruhm ihrer
Tugenden badeten, die darin bestanden, daß Sie über materielle Habgier erhaben waren und in selbstloser
Wohltätigkeit die materiellen Güter verteilten, die produziert worden waren von – Leerstelle.
Jetzt sind wir gefesselt und zum Produzieren verurteilt von Wilden, die uns nicht einmal die Identität von
Sündern zugestehen; von Wilden, die erklären, daß wir nicht existieren, und uns dann androhen, uns des Lebens
zu berauben, das wir nicht besitzen, wenn wir sie nicht mit den Gütern versorgen, die wir nicht produzieren. Jetzt
verlangt man von uns, daß wir Eisenbahnen betreiben und auf die Minute genau wissen, wann ein Zug nach der
Durchquerung eines Kontinentes ankommt, man verlangt von uns, daß wir Hochöfen betreiben und die
molekulare Struktur eines jeden Tropfens Metall in den Pfeilern eurer Brücken und in den Rümpfen der
Flugzeuge kennen, die euch in die Lüfte tragen; während die Stämme eurer grotesken, kleinen Muskelmystiker
über unsere zerstörte Welt triumphieren und in Lauten einer Nicht-Sprache schnattern, daß es keine Grundsätze,
keine Logik, kein Wissen, keinen Verstand gebe.
Noch unter dem Niveau eines Wilden, der glaubt, daß die magischen Worte, die er ausspricht, die Macht
haben, die Wirklichkeit zu verändern, glauben sie, die Wirklichkeit verändern zu können durch die Macht der
Worte, die sie nicht aussprechen; und ihr Zauberinstrument ist die Vorspiegelung der Tatsache, daß nichts
Wirklichkeit werden kann, wenn sie sich weigern, es zu erkennen.
So wie sie ihre Körper mit gestohlener Nahrung füttern, so füttern sie ihren Verstand mit gestohlenen
Gedanken und erklären, Ehrlichkeit bestehe darin, daß man sich weigert zu wissen, daß man stiehlt. So wie sie
Wirkungen nutzen, während sie die Ursachen leugnen, so benutzen sie unsere Begriffe, während sie die Wurzeln
und die Existenz der Gedanken leugnen, die sie benutzen. So wie sie suchen, Industrien nicht zu bauen, sondern
zu übernehmen, so suchen sie auch, Gedanken nicht selbst zu denken, sondern von Denkenden zu übernehmen.
So wie sie behaupten, daß zum Betrieb einer Fabrik nichts anderes erforderlich sei als die Fähigkeit, die Hebel
von Maschinen zu bedienen, so behaupten sie auch, daß es keine Entitäten gibt, daß nichts existiert außer
Bewegung, und unterschlagen die Tatsache, daß Bewegung ein Ding voraussetzt, das sich bewegt, daß es ohne
den Begriff der Entität keinen Begriff der Bewegung geben kann. So wie sie ihr Recht proklamieren, das
Unverdiente zu verbrauchen, und die Frage übergehen, wer es produzieren soll, so erklären sie, daß es kein
Gesetz der Identität gibt, daß nichts existiert außer dem Wechsel, und unterschlagen die Tatsache, daß Wechsel
die Begriffe dessen voraussetzt, was sich ändert, von was und zu was, daß ohne das Gesetz der Identität ein
Begriff wie der des ‘Wechsels’ nicht möglich ist. Wie sie einen Unternehmer ausplündern, während sie seinen
Wert leugnen, so suchen sie die Macht über alles Existierende an sich zu reißen, während sie leugnen, daß
Existenz existiert.
‘Wir wissen, daß wir nichts wissen’, plappern sie und ignorieren die Tatsache, daß sie damit ein Wissen
beanspruchen. ‘Nichts ist absolut’, plappern sie und ignorieren die Tatsache, daß sie damit etwas Absolutes
aussprechen wollen. ‘Du kannst nicht beweisen, daß du existierst oder daß du dir deiner bewußt bist’, plappern
sie und ignorieren die Tatsache, daß ein Beweis Existenz, Bewußtsein und eine ganze Kette von Erkenntnissen
voraussetzt: die Existenz von etwas, das erkannt werden soll, eines Bewußtseins, das fähig ist zu erkennen, und
eines Erkenntnisvermögens, das gelernt hat, zwischen den Begriffen des Bewiesenen und des Unbewiesenen zu
unterscheiden.
Wenn ein Wilder, der nicht gelernt hat zu sprechen, erklärt, daß Existenz bewiesen werden muß, verlangt er
von euch, daß ihr es durch Nicht-Existenz beweist; wenn er erklärt, daß euer Bewußtsein bewiesen werden muß,
verlangt er von euch, daß ihr es durch Bewußtlosigkeit beweist, verlangt von euch, aus der Existenz und aus dem
Bewußtseins zu treten und ihm den Beweis für beides zu liefern, verlangt von euch, daß ihr ein Nichts werdet
und Erkenntnis erlangt über ein Nichts.
Wenn er erklärt, Axiome seien beliebig wählbar und das Axiom, daß er existiert, gehöre nicht zu den von ihm
akzeptierten Axiomen, so ignoriert er die Tatsache, daß er es anerkannt hat, indem er diesen Satz aussprach, und
daß der einzige Weg, es abzulehnen, darin besteht, den Mund zu halten, keine Theorien aufzustellen und zu
sterben.
Ein Axiom ist eine Behauptung, die die Grundlage des Wissens und aller weiteren Behauptungen benennt, die
dieses Wissen artikulieren, eine Behauptung, die notwendigerweise in allen anderen enthalten ist, gleichgültig,
ob irgendein Sprecher sie zur Kenntnis nimmt oder nicht. Ein Axiom ist eine Behauptung, die ihre Gegner
dadurch schlägt, daß sie sie zwingt, sie bei jedem Widerlegungsversuch zu benutzen. Laßt den Höhlenmenschen,
der das Axiom der Identität nicht anerkennen will, versuchen, seine Theorie vorzubringen, ohne den Begriff der
Identität oder einen davon abgeleiteten Begriff zu benutzen; laßt den Anthropoiden, der die Existenz von
Hauptwörtern nicht anerkennen will, versuchen, eine Sprache zu gestalten ohne Substantive, Adjektive oder
Verben; laßt den Medizinmann, der die Gültigkeit sinnlicher Wahrnehmung nicht anerkennen will, seine
Anschauung beweisen, ohne Erkenntnisse zu benutzen, die er durch sinnliche Wahrnehmungen gewonnen hat;
laßt den Kopfjäger, der die Gültigkeit der Logik nicht anerkennen will, versuchen, seine Anschauung zu
beweisen, ohne die Logik zu benutzen; laßt den Pygmäen, der erklärt, ein Wolkenkratzer brauche kein
Fundament mehr, nachdem er sein fünfzigstes Stockwerk erreicht hat, die Basis seines Gebäudes wegziehen,
aber nicht die des euren; gebt dem Kannibalen, der behauptet, die Freiheit des menschlichen Verstandes sei nötig
gewesen, um eine industrielle Zivilisation zu errichten, werde aber nicht mehr benötigt, um sie zu erhalten, eine
Bärenhaut und eine Steinschleuder, aber nicht einen Lehrstuhl der Wirtschaftswissenschaft.
Glaubt ihr, sie führen euch zurück in finstere Vorzeiten? Sie führen euch zurück in Zeitalter, die dunkler sind,
als eure Geschichte sie kennt. Ihr Ziel ist nicht die Ära der Vorwissenschaft, sondern die Ära vor der
Entwicklung der Sprache. Ihre Absicht ist es, euch jenes Begriffes zu berauben, von dem der Verstand, das
Leben und die Kultur des Menschen abhängen: dem Begriff einer objektiven Realität. Identifiziert die
Entwicklung eines menschlichen Bewußtseins, und ihr werdet den Zweck ihres Glaubens erkennen.
Ein Wilder ist ein Wesen, das nicht begriffen hat, daß A gleich A und daß die Wirklichkeit wirklich ist. Sein
Verstand ist auf dem Niveau eines Säuglingsverstandes stehengeblieben, in einem Stadium, in dem das
Bewußtsein seine ersten sinnlichen Wahrnehmungen vollzieht, aber noch nicht gelernt hat, feste Gegenstände zu
unterscheiden. Dem Säugling erscheint die Welt als verschwommene Bewegung ohne einzelne Dinge, die sich
bewegen. Und ein Verstand wird geboren an dem Tag, an dem er begreift, daß der helle Streifen, der immer
wieder an ihm vorbeihuscht, seine Mutter ist, und die weiße Wolke hinter ihr ein Vorhang, daß diese beiden
Erscheinungen feste Entitäten sind, von denen sich keine in die andere verwandeln kann, daß sie sind, was sie
sind, daß sie existieren. An dem Tage, an dem er begreift, daß die Materie keinen Willen hat, begreift er, daß er
selbst ein wollendes Wesen ist – und dies ist seine Geburt als Mensch. An dem Tage, an dem er begreift, daß die
Reflexion, die er in einem Spiegel sieht, nicht eine Täuschung ist, daß sie wirklich ist, aber nicht er selbst, daß
die Spiegelung in einer Wüste nicht eine Täuschung ist, daß die Luft und die Lichtstrahlen, die sie verursachen,
wirklich sind, doch daß sie keine Stadt ist, sondern nur die Reflexion einer Stadt; der Tag, an dem er begreift,
daß er nicht ein passiver Empfänger von willkürlichen Empfindungen ist, daß seine Sinne ihn nicht mit
automatischen, voneinander unabhängigen Erkenntnissen beliefern, sondern nur mit dem Rohmaterial von
Wissen, das sein Verstand zu integrieren lernen muß; der Tag, an dem er begreift, daß seine Sinne ihn nicht
täuschen können, daß physikalische Gegenstände nicht ohne Ursache handeln können, daß seine
Wahrnehmungsorgane physischer Natur sind und kein Willensvermögen besitzen, keine Fähigkeit, zu erfinden
oder zu entstellen, daß die Zeugnisse, die sie ihm liefern, absolut sind, daß sein Verstand das Wesen, die
Ursachen, den vollen inneren Zusammenhang seiner sinnlichen Wahrnehmungen entdecken, also die Dinge, die
er wahrnimmt, identifizieren muß – dies ist der Tag seiner Geburt als Denker und Wissenschaftler.
Wir sind die Menschen, die diesen Tag erlebt haben; ihr seid die Menschen, die ihn teilweise erlebt haben; ein
Wilder ist ein Mensch, der ihn nie erleben wird. Für einen Wilden ist die Welt ein Ort unerklärlicher Wunder, an
dem der leblosen Materie alles, ihm selbst aber nichts möglich ist. Seine Welt ist nicht das Unbekannte, sondern
die irrationale Leere des Unerkennbaren. Er glaubt, daß physikalische Gegenstände mit einem geheimnisvollen
Wollen ausgestattet sind, das durch ursachenlose, unvorhersehbare Launen bewegt wird, während er ein hilfloses
Opfer von Mächten ist, die außerhalb seiner Erkenntnis und seiner Kontrolle stehen. Er glaubt, daß die Natur von
Dämonen regiert wird, die allmächtige Gewalt besitzen, und daß die Wirklichkeit der Tummelplatz ihrer
unberechenbaren Einfalle ist, wo sie jederzeit seinen Eßnapf in eine Schlange und seine Frau in ein Insekt
verwandeln können, wo das A, das er nie entdeckt hat, jedes Nicht-A werden kann, das sie sich wünschen, wo
das einzige Wissen, das er besitzt, in der dumpfen Ahnung besteht, daß er nicht versuchen darf zu wissen. Er
kann mit nichts fest rechnen, er kann nur hoffen und wünschen und verbringt sein Leben damit, zu wünschen,
seine Dämonen zu bitten, ihm seine Wünsche nach ihrem Willen zu erfüllen, sie zu loben, wenn sie es tun, sich
selbst zu tadeln, wenn sie es nicht tun, ihnen Opfer zum Zeichen seiner Dankbarkeit und Opfer als Sühne für
seine Schuld anzubieten, auf dem Bauch zu kriechen und Sonne und Mond anzubeten und den Wind und den
Regen und jeden, der sich als ihr Sprecher ausgibt, vorausgesetzt, daß seine Worte unverständlich und seine
Maske hinreichend furchterregend ist. Er wünscht, bettelt und kriecht und überläßt euch, als Fazit seiner
Lebensanschauung, die entstellten Monstrositäten seiner Idole, die – halb Mensch, halb Tier, halb Spinne – die
Welt des Nicht-A verkörpern. Sein Intelligenzniveau ist das eurer modernen Lehrer, und seine Welt ist die, in die
sie euch bringen wollen.
Wenn ihr wissen möchtet, wie sie dies bewerkstelligen wollen, betretet irgendeinen Hörsaal oder eine
Schulklasse, und ihr werdet hören, wie eure Professoren eure Kinder lehren, daß der Mensch keines Wissens
sicher sein kann, daß sein Bewußtsein keine Gültigkeit hat, daß er die Tatsachen und Gesetze des Seins nicht
erkennen kann, daß er unfähig ist, eine objektive Realität zu erfassen. Welches ist dann aber sein Maßstab für
Wissen und Wahrheit? ‘Alles, was andere glauben’, ist ihre Antwort. ‘Es gibt keine Erkenntnis’, sagen sie, ‘es
gibt nur Glauben’: Eure Erkenntnis, daß ihr lebt, ist ein Akt des Glaubens, nicht gültiger als der Glaube eines
anderen an sein Recht, euch zu töten; die Axiome der Wissenschaft sind ein Akt des Glaubens, nicht gültiger als
der Glaube eines Mystikers an Offenbarungen; die Erkenntnis, daß elektrisches Licht durch einen Generator
erzeugt werden kann, ist ein Akt des Glaubens, nicht gültiger als der Glaube, daß er erzeugt werden kann, indem
man eine Hasenpfote bei Neumond unter einer Stehleiter küßt. Wahrheit ist das, wovon die Menschen wünschen,
daß es wahr ist, und Menschen sind alle außer euch; Wirklichkeit ist alles, von dem die Menschen sagen, daß es
wirklich ist; es gibt keine objektiven Tatsachen, es gibt nur willkürliche Wünsche. Ein Mensch, der Erkenntnisse
zu erlangen sucht, indem er mit Reagenzgläsern und Logik in einem Laboratorium hantiert, ist ein altmodischer,
abergläubischer Narr; ein wahrer Wissenschaftler ist ein Mensch, der herumgeht und Umfragen macht – und
wenn nicht die habgierigen Hersteller von Stahlträgern wären, die den Fortschritt der Wissenschaft sabotieren,
würdet ihr erkennen, daß New York nicht exis tiert, weil bei einer Befragung der gesamten Erdbevölkerung eine
überwältigende Mehrheit sagen würde, daß ihre Überzeugungen die Existenz New Yorks ausschließen.
In den vergangenen Jahrhunderten haben die Seelenmystiker gelehrt, daß der Glaube der Vernunft überlegen
ist, doch sie haben nicht gewagt, die Existenz der Vernunft zu leugnen. Ihre Erben, die Muskelmystiker, haben
ihr Werk zu Ende geführt und ihren Traum erfüllt: Sie erklären, daß alles Täuschung ist, und nennen es eine
Revolte gegen den Glauben. Als Revolte gegen unbewiesene Behauptungen erklären sie, daß nichts bewiesen
werden kann; als Revolte gegen übernatürliche Erkenntnis erklären sie, daß überhaupt keine Erkenntnis möglich
ist; als Revolte gegen die Feinde der Wissenschaft erklären sie, daß Wissenschaft Aberglaube ist; als Revolte
gegen die Versklavung des Verstandes erklären sie, daß es keinen Verstand gibt.
Wenn ihr euer Wahrnehmungsvermögen aufgebt, wenn ihr den Wechsel eures Wertmaßstabes vom
Objektiven zum Kollektiven anerkennt und darauf wartet, daß die Menschheit euch sagt, was ihr denken sollt,
dann vollzieht sich vor euren Augen, auf die ihr verzichtet habt, ein weiterer Wechsel: Ihr werdet entdecken, daß
eure Lehrer zu Beherrschern des Kollektivs werden, und wenn ihr euch weigert, ihnen zu gehorchen, indem ihr
sagt, sie seien nicht die ganze Menschheit, werden sie euch antworten: ‘Wodurch wollt ihr erkennen, daß wir es
nicht sind? Sein, Freunde? Woher habt ihr diesen altmodischen Ausdruck?’ Wenn ihr nicht glauben wollt, daß
dies ihre Absicht ist, dann beobachtet, mit welcher leidenschaftlichen Beharrlichkeit die Muskelmystiker sich
bemühen, euch vergessen zu machen, daß ein Begriff wie ‘Verstand’ je existiert hat. Beachtet die Verrenkungen
ihrer verschwommenen Sprache, ihre Worte mit gummiartiger Bedeutung, ihre fließenden Ausdrücke, durch die
sie die Erkenntnis des Begriffes ‘Denken’ zu umgehen suchen. Euer Bewußtsein, sagen sie, besteht aus
‘Reflexen’, ‘Reaktionen’, ‘Empfindungen’, ‚Trieben’ und ‘Bedürfnissen’ – und weigern sich, die Mittel zu
identifizieren, durch die sie dieses Wissen erlangt haben, weigern sich, den Akt zu identifizieren, den sie
vollziehen, während sie euch dies sagen, oder den Akt, den ihr vollzieht, während ihr ihnen zuhört. Worte haben
die Macht, euch zu ‘konditionieren’, sagen sie, und weigern sich, den Grund zu identifizieren, warum Worte die
Macht haben, etwas zu verändern, euer – Leerstelle. Ein Student, der ein Buch liest, versteht es durch einen
Prozeß, des – Leerstelle. Ein Psychologe, der einem Neurotiker hilft, ein Problem zu lösen oder einen Konflikt
zu bewältigen, tut das, indem er – Leerstelle. Ein Wissenschaftler, der an einer Erfindung arbeitet, benutzt –
Leerstelle. Ein Industrieller – Leerstelle – Es gibt ihn nicht. Eine Fabrik ist eine ‘natürliche Ressource’ – wie ein
Baum, ein Felsen oder ein Sumpf.
Das Problem der Produktion, sagen sie, ist gelöst und bedarf keiner weiteren Analyse; das einzige Problem,
das euren ‘Reflexen’ zu lösen übrigbleibt, ist das der Verteilung. Wer hat das Problem der Produktion gelöst?
Die Menschheit, antworten sie. Welches war die Lösung? Die Güter sind da. Wie sind sie entstanden? Irgendwie.
Was hat sie verursacht? Nichts hat Ursachen.
Sie erklären, jeder Mensch sei geboren mit dem Recht, ohne Arbeit zu leben und habe, ungeachtet der Gesetze
der Realität, die das Gegenteil beweisen, ein Anrecht auf sein ‘Existenzminimum’ an Nahrung, Kleidung und
Wohnung, ohne jedes Zutun von seiner Seite, lediglich als Erfüllung seines ihm durch seine Geburt verliehenen
Anspruchs. Wer erfüllt diesen Ansprach? Leerstelle. Jeder Mensch, verkünden sie, besitzt ein Anrecht auf die
Nutznießung aller in der Welt geschaffenen technischen Erleichterungen. Geschaffen von wem? Leerstelle.
Erbärmliche Feiglinge, die sich als Verteidiger der Unternehmer ausgeben, definieren nun den Sinn der
Wirtschaft als einen Ausgleich zwischen den unbegrenzten Bedürfnissen der Menschen und den nur in
begrenzter Menge produzierten Gütern. Produziert von wem? Leerstelle. Intellektuelle Scharlatane, die sich als
Professoren ausgeben, schieben die Denker der Vergangenheit beiseite und erklären, deren soziale Theorien
seien auf der unrealistischen Voraussetzung gegründet gewesen, daß der Mensch ein denkendes Wesen ist. Aber
da die Menschen keine denkenden Wesen sind, erklären sie dann, müßte ein System geschaffen werden, das es
den Menschen ermöglicht als nichtdenkende Wesen zu existieren, was bedeutet: zu leben und gleichzeitig die
eigene Existenz zu leugnen. Wer wird das ermöglichen? Leerstelle. Irgendein hergelaufener Spinner
veröffentlicht Pläne für eine internationale Produktionskontrolle. Niemand macht ihm das Recht streitig, seine
Pläne unter Gewaltandrohung durchführen zu lassen. Gegen wen? Leerstelle. Frauen mit unverdientem
Einkommen bereisen mit viel Lärm den Erdball und kehren zurück mit der Botschaft, daß die rückständigen
Völker einen höheren Lebensstandard fordern. Fordern? Von wem? Leerstelle.
Und um jeder Erforschung der Ursachen des Unterschiedes zwischen einem Dschungeldorf und New York
zuvorzukommen, schrecken sie nicht davor zurück, den industriellen Fortschritt der Menschheit dadurch zu
erklären, daß sie sagen, der Mensch sei ein Tier, das einen ‘Instinkt des Werkzeugherstellens’ besitzt.
Fragt ihr euch, was mit der Welt nicht in Ordnung ist? Ihr erlebt den Kulminationspunkt des Glaubens an das
Ursachenlose und Unverdiente. Alle eure Banden von Seelen- und Muskelmystikern kämpfen gegeneinander um
die Macht, euch zu beherrschen, und predigen euch, Liebe sei die Lösung für alle eure seelischen Probleme und
eine Peitsche die Lösung für alle eure körperlichen Probleme. Während sie dem Menschen weniger Würde
einräumen als dem Vieh und das ignorieren, was ihnen jeder Tierhalter sagen könnte, nämlich, daß man kein
Tier durch Furcht erziehen kann, daß ein geschlagener Elefant seinen Wärter zertrampelt, aber nicht weiter für
ihn seine Lasten trägt, erwarten sie von dem Menschen, daß er weiter Elektronenröhren, Überschallflugzeuge,
Atomgeneratoren und Interstellar-Teleskope baut, wenn er eine Portion Fleisch als Belohnung und einen
Peitschenhieb als Anreiz erhält.
Gebt euch keinen Täuschungen hin über den Charakter der Mystiker. Euer Bewußtsein zu unterdrücken, war
durch alle Zeitalter hindurch ihre einzige Absicht und Macht ihr einziges Ziel, die Macht, durch Gewalt zu
herrschen.
Angefangen mit den Riten des Medizinmannes im Dschungel, der die Wirklichkeit in groteske Absurditäten
verzerrte, die Hirne seiner Opfer betäubte und sie in ständiger Furcht hielt durch Drohung mit übernatürlichen
Kräften – über die esoterischen Doktrinäre des Mittelalters, die die Menschen zwangen, sich in ihren
Elendshütten zusammenzudrängen aus Angst, der Teufel könnte ihnen ihre Suppe stehlen, die sie in
achtzehnstündiger Tagesarbeit verdient hatten – bis zu den kümmerlichen kleinen Professoren der modernen
Wissenschaften, die euch beteuern, daß euer Hirn nicht die Fähigkeit besitzt zu denken, daß ihr kein
Wahrnehmungsvermögen besitzt, und daß ihr blind dem Willen jener übernatürlichen Macht gehorchen müßt,
die sich ‘die Ge sellschaft’ nennt – alledem liegt die gleiche Absicht zugrunde: euch zu Brei ohne Bewußtsein zu
machen.
Doch dies kann nicht ohne euer Einverständnis geschehen. Wenn ihr erlaubt, daß es mit euch getan wird, dann
habt ihr es verdient.
Wenn ihr der Rede eines Mystikers über die Ohnmacht des menschlichen Verstandes lauscht und beginnt an
eurem Bewußtsein zu zweifeln, nicht aber an dem seinen, wenn ihr zulaßt, daß euer empfindlicher halbbewußter
Geist durch irgendeine Behauptung vollkommen erschüttert wird, und ihr zu dem Schluß kommt, daß es sicherer
ist, seiner höheren Gewißheit und seinem besseren Wissen zu vertrauen, seid ihr beide die Opfer eines
grausamen Witzes: Eure Anerkennung seines Wissens ist die einzige Gewißheit, die er besitzt. Die
übernatürliche Macht, die ein Mystiker fürchtet, der unerkennbare Geist, den er anbetet, das Bewußtsein, das er
für allmächtig hält, ist eures.
Ein Mystiker ist ein Mensch, der seinen Verstand beim ersten Zusammenstoß mit dem Verstand der anderen
ausliefert. Wenn in den ersten Kindheitsjahren seines Denkens seine Anschauung von der Wirklichkeit mit den
Behauptungen, Forderungen und Drohungen der anderen in Widerspruch gerät, dann befällt ihn eine so feige
Furcht vor der Unabhängigkeit, daß er auf sein eigenes Denkvermögen verzichtet. An dem Scheideweg der Wahl
zwischen ‘ich weiß’ und ‘sie sagen’, entscheidet er sich für die Autorität der anderen, unterwirft sich lieber, als
daß er versucht zu verstehen, glaubt lieber, als daß er denkt. Glaube an das Übernatürliche beginnt als Glaube an
die Überlegenheit der anderen. Seine Kapitulation vollzieht sich unter dem Eindruck des Gefühls, daß er seinen
Mangel an Verstand verbergen muß, daß andere geheimnisvolle Erkenntnisse besitzen, deren allein er nicht
teilhaftig wird, daß die Wirklichkeit das ist, was sie sich als Wirklichkeit wünschen, und daß die Mittel, es ihnen
gleich zu tun, ihm für immer versagt sind.
Und dann wird er in seiner Angst zu denken, ein Opfer unbestimmter Gefühle. Seine Gefühle werden seine
einzige Richtschnur, der einzige Rest seiner persönlichen Identität. Er klammert sich an sie mit wilder
Hartnäckigkeit, und wenn er denkt, denkt er nur daran, vor sich selbst zu verheimlichen, daß der Ursprung aller
seiner Gefühle nur Angst ist.
Wenn ein Mystiker behauptet, daß er die Existenz einer Macht fühlt, die der Vernunft überlegen ist, dann
fühlt er sie wirklich, aber diese Macht ist nicht ein allwissender Übergeist des Universums, sie ist das
Bewußtsein irgendeiner Zufallsbekanntschaft in seinem Leben, der er sein eigenes Bewußtsein ausgeliefert hat.
Ein Mystiker wird getrieben von dem Drang, das allmächtige Bewußtsein der anderen zu beeindrucken, zu
betrügen, zu umschmeicheln, zu täuschen, zu zwingen. ‘Sie’ sind sein einziger Schlüssel zur Wirklichkeit. Er
fühlt, daß er nicht existieren kann, ohne sich ihre geheimnisvolle Macht nutzbar zu machen und ihre unbegrenzte
Zustimmung zu erlangen. ‘Sie’ sind sein einziges Medium der Wahrnehmung. Ähnlich wie bei einem Blinden,
der vom Sehvermögen eines Hundes abhängig ist. Er weiß, daß er ‘sie’ an die Leine binden muß, um leben zu
können. Das Bewußtsein der anderen zu beherrschen, wird zu seiner einzigen Leidenschaft; Machtgier ist ein
Unkraut, das nur auf der kahlen Fläche eines verleugneten Verstandes gedeiht.
Jeder Diktator ist ein Mystiker, und jeder Mystiker ist ein potentieller Diktator. Ein Mystiker will den
Gehorsam der anderen, nicht ihre Zustimmung. Er will, daß sie ihr Bewußtsein seinen Behauptungen, seinen
Geboten, seinen Wünschen, seinen Launen unterordnen, so wie er sein Bewußtsein dem ihren unterworfen hat.
Er will mit den Menschen umgehen in den Formen des Glaubens und der Gewalt. Er findet keine Befriedigung
in ihrer Zustimmung, wenn er sie durch Tatsachen und Vernunft erlangen muß. Vernunft ist der Feind, den er am
meisten fürchtet und gleichzeitig für unzuverlässig hält; er fühlt, daß die Menschen eine Macht besitzen, die
mächtiger ist als die Vernunft – und nur ihr blinder Glaube oder ihr erzwungener Gehorsam kann ihm ein Gefühl
der Sicherheit geben, einen Beweis dafür, daß er die Beherrschung der mystischen Begabung erlangt hat, die ihm
selbst fehlt. Sein Begehren ist, zu befehlen, nicht, zu überzeugen: Überzeugung erfordert Unabhängigkeit und
beruht auf dem Absolutum einer objektiven Realität. Was er erstrebt, ist die Macht über die Realität und über die
Mittel der Menschen, sie wahrzunehmen, nämlich ihren Verstand, die Macht, seinen Willen zwischen Sein und
Bewußtsein zu schalten, als ob die Menschen, indem sie die Wirklichkeit fä lschen, sie zugleich schafften. So wie
der Mystiker ein Parasit der Materie ist, der sich den von anderen geschaffenen Reichtum aneignet, so ist er auch
ein Parasit des Geistes, der die von anderen gedachten Gedanken stiehlt und so fällt er unter das Niveau eines
Geisteskranken, der sich sein eigenes verzerrtes Bild von der Wirklichkeit schafft, auf das Niveau eines Parasiten
der Geisteskrankheit, der nach einem verzerrten Weltbild strebt, das andere geschaffen haben.
Es gibt nur einen Zustand, der die Sehnsucht des Mystikers nach Unendlichkeit, Nicht-Kausalität und Nicht-
Identität befriedigen kann: den Tod. Gleichgültig, welche unergründlichen Ursachen er seinen unmitteilbaren
Gefühlen zuschreibt, wer immer die Realität leugnet, leugnet das Sein – und die Gefühle, die ihn von diesem
Augenblick an bewegen, sind Haß gegen alle Werte des menschlichen Lebens und die Lust an allen Übeln, die es
zerstören. Ein Mystiker genießt das Schauspiel des Leidens, der Armut, der Unterdrückung und des Terrors; sie
geben ihm ein Gefühl des Triumphes, einen Beweis für die Niederlage der rationalen Wirklichkeit. Doch es gibt
keine andere Wirklichkeit. Gleichgültig, wessen Wohlergehen zu dienen er vorgibt, sei es dem eines Gottes, sei
es dem jenes formlosen Ungetüms, das er ‘das Volk’ nennt, gleichgültig, zu welchem Ideal einer übernatürlichen
Dimension er sich bekennt – in Wirklichkeit, auf der Erde, ist sein Ideal der Tod, ist sein Verlangen, zu töten,
seine einzige Befriedigung, zu quälen.
Zerstörung ist das einzige Resultat, das der Glaube der Mystiker je erzielt hat, wie es das einzige Resultat ist,
das ihr sie heute erzielen seht, und wenn die Verwüstungen, die ihre Taten angerichtet haben, sie nicht dazu
bewogen haben, ihre Doktrinen zu bezweifeln, wenn sie behaupten, daß Liebe ihr Motiv ist, aber nicht vor
Haufen menschlicher Leichen zurückschrecken, dann deshalb, weil die Wahrheit über ihre Seelen schlimmer ist
als die schmutzige Ausrede, die ihr ihnen abnehmt, daß der Zweck die Mittel rechtfertigt, und daß die
Schauerlichkeiten, die sie verüben, die Mittel zu edleren Zwecken sind. Die Wahrheit ist, daß die
Schauerlichkeiten ihre Zwecke sind.
Ihr, die ihr verkommen genug seid zu glauben, daß ihr euch der Diktatur eines Mystikers anpassen und ihn
besänftigen könnt, indem ihr seinen Befehlen gehorcht: Es gibt keine Möglichkeit, ihn zu besänftigen; wenn ihr
ihm gehorcht, wird er seine Befehle umkehren; er will Gehorsam um des Gehorsams willen und Zerstörung um
der Zerstörung willen. Ihr, die ihr feige genug seid zu glauben, daß ihr euch mit einem Mystiker arrangieren
könnt, indem ihr seinen Erpressungen nachgebt: Es gibt keine Möglichkeit, sich von ihm loszukaufen; das
Lösegeld, das er verlangt, ist euer Leben, so langsam oder schnell ihr bereit seid, es ihm zu geben – und das
Ungeheuer, das er selbst in seinem Inneren zu bestechen versucht, ist sein Verstand, der ihn antreibt zu töten,
damit er nicht erkennt, daß der Tod, den er wünscht, sein eigener ist.
Ihr, die ihr naiv genug seid zu glauben, daß die heute in eurer Welt entfesselten Kräfte bewegt werden durch
die Sucht nach materieller Beute: Die Raubgier der Mystiker ist nur eine Tarnung, um vor ihrem eigenen
Verstand die wahre Natur ihrer Motive zu verbergen. Reichtum ist ein Mittel, das menschliche Leben zu
verschönern, und sie beanspruchen Reichtum wie normale Menschen, um sich selbst vorzutäuschen, daß sie zu
leben wünschen. Doch ihr Verlangen nach gestohlenem Luxus ist kein Verlangen nach Genuß, es ist Flucht. Sie
wollen euer Vermögen nicht besitzen, sie wollen nur, daß ihr es verliert; sie wollen keinen Erfolg haben, sie
wollen nur, daß ihr scheitert; sie wollen nicht leben, sie wollen nur, daß ihr sterbt; sie wünschen nichts, sie
hassen das Leben, und sie laufen Amok in ihrem Haß und in ihrer Angst, erkennen zu müssen, daß sie selbst das
Objekt ihres Hasses sind.
Ihr, die ihr das Wesen des Bösen nie begriffen habt, die ihr sie als ‘irregeleitete Idealisten’ betrachtet – mag
der Gott, den ihr erfunden habt, euch verzeihen! –: Sie sind das Wesen des Übels, sie, jene lebensfeindlichen,
sich selbst hassenden Mystiker, die versuchen, das Nichts ihrer Seele zu füllen, indem sie die Welt verschlingen.
Es ist nicht euer Reichtum, den sie wollen. Ihre Verschwörung ist gegen den Verstand gerichtet, und das
bedeutet: gegen das Leben und gegen den Menschen. Es ist eine Verschwörung ohne Führer oder Richtung, und
die zufälligen kleinen Räuber, die heute von dem Todeskampf des einen oder des anderen Landes profitieren,
sind nur der Schaum, der hochgeschwemmt wird von dem Sturzbach der Abwässer, die sich seit Jahrhunderten
hinter dem nun gebrochenen Damm angesammelt hatten in dem Reservoir des Hasses gegen die Vernunft, gegen
die Logik, gegen die Tüchtigkeit, gegen die Leistung, gegen die Freude, in dem Reservoir, das langsam gefüllt
worden war von all jenen, die je die Überlegenheit des Herzens über den Verstand gepredigt haben.
Es ist eine Verschwörung all jener, die suchen, nicht zu leben, sondern das Leben zu betrügen, jener, die nur
ein kleines Stück der Wirklichkeit stehlen wollen und sich zu jenen hingezogen fühlen, die ebenfalls für sich ein
Stück beiseite bringen wollen; eine Verschwörung, die alle jene vereint, die ein Nichts als einen Wert erstreben:
den Lehrer, der, selbst unfähig zu denken, Vergnügen daran findet, den Verstand seiner Schüler zu unterdrücken,
den Geschäftsmann, der, um seine eigene Unfähigkeit zu schützen, Vergnügen daran findet, die Fähigkeiten
seiner Rivalen lahmzulegen, den Neurotiker, der, um seine eigene Selbstverachtung zu rechtfertigen, Vergnügen
daran findet, den Stolz anderer zu brechen, den Versager, der Vergnügen daran findet, Leistung zu verhindern,
den Mittelmäßigen, der Vergnügen daran findet, alles Große herabzuziehen, den Eunuchen, der Vergnügen daran
findet, alle Lust zu kastrieren. Sie alle und ihre intellektuellen Helfershelfer, alle jene, die predigen, daß die
Opferung der Tugend Laster in Tugend verwandeln wird: Tod ist die Wurzel ihrer Theorien, Tod ist das Ziel
ihrer Taten, und ihr seid die letzten ihrer Opfer.
Wir, die wir die lebenden Puffer zwischen euch und eurem Glauben waren, wir sind nicht länger da, um euch
vor den Folgen eurer selbstgewählten Irrtümer zu bewahren. Wir sind nicht länger willens, mit unserem Leben
die Schulden zu bezahlen, die ihr in eurem Leben gemacht habt, oder das moralische Defizit auszugleichen, das
die Generationen vor euch hinterlassen haben. Ihr habt von geborgter Zeit gelebt – und ich bin der, der das
Darlehen gekündigt hat. Ich bin der, dessen Existenz leugnen zu können, ihr euch das Denken verboten habt. Ich
bin der, den ihr weder leben noch sterben lassen wolltet. Ihr wolltet nicht, daß ich lebe, weil ihr Angst hattet zu
erkennen, daß ich die Verantwortung trug, die ihr aufgegeben hattet, und daß euer Leben von mir abhing; ihr
wolltet nicht, daß ich sterbe, weil ihr dies wußtet.
Vor zwölf Jahren, als ich in eurer Welt arbeitete, war ich Erfinder. Dies ist einer der Berufe, die als letzte
entstanden sind in der Geschichte der Menschheit, und er wird der erste sein, der auf dem Weg zurück zu
vormenschlicher Existenz verschwindet. Ein Erfinder ist ein Mensch, der das Universum fragt: ‘Warum?’ und
nichts sich zwischen die Antwort und seinen Verstand drängen läßt.
Wie der Mann, der den Gebrauch des Dampfes, oder der Mann, der den Gebrauch des Öls entdeckt hat, habe
ich eine Energiequelle entdeckt, die seit der Entstehung der Erde vorhanden war, die die Menschen jedoch nicht
zu nutzen verstanden, höchstens als Objekt der Anbetung, als Werkzeug des Schreckens oder als Legende von
einem zürnenden Gott. Ich baute das Modell eines Motors, mit dem ich und diejenigen, die mich in ihre Dienste
genommen hätten, ein Vermögen verdient hätten, eines Motors, der die Leistung jeder Anlage, die Kraftstrom
braucht, erheblich gesteigert und für euch alle die Produktivität jeder Arbeitsstunde erhöht hätte.
Dann hörte ich eines Abends in einer Betriebsversammlung, daß ich wegen dieser meiner Leistung zum Tode
verurteilt wurde. Ich hörte drei Parasiten behaupten, mein Leben und mein Gehirn seien ihr Eigentum, mein
Recht zu leben sei nur bedingt und hänge von der Befriedigung ihrer Wünsche. Der Zweck meiner Fähigkeiten,
sagten sie, bestehe darin, die Bedürfnisse derjenigen zu befriedigen, die weniger fähig waren. Ich habe kein
Recht zu leben, sagten sie, nur auf Grund meiner Fähigkeit, das Leben zu meistern; ihr Recht zu leben, sei
jedoch unbedingt, und zwar aufgrund ihrer Unfähigkeit.
Dann erkannte ich, was nicht stimmte mit dieser Welt, ich erkannte, was die Menschen und die Nationen
zerstörte und wo der Kampf für das Leben gekämpft werden mußte. Ich sah, daß der Feind eine umgekehrte
Moral hatte und daß meine Billigung ihre einzige Macht war. Ich sah, daß das Böse ohnmächtig war, daß das
Böse das Irrationale, das Blinde, das Wirklichkeitsfeindliche war und daß die einzige Waffe, die seinen Triumph
möglich machen konnte, die Bereitwilligkeit des Guten war, ihm zu dienen. So wie die Parasiten um mich herum
ihre hilflose Abhängigkeit von meinem Verstand erklärten und erwarteten, daß ich mich freiwillig in Sklaverei
begab, die mir aufzuzwingen sie nicht die Macht hatten, so wie sie mit meiner Selbstaufopferung rechneten, um
ihre eigenen Pläne durchführen zu können – so sind es in der ganzen Welt und seit Beginn der
Menschheitsgeschichte immer die Guten, die Fähigen, die Verstandesmenschen gewesen, die als ihre eigenen
Zerstörer handelten, die den Bösen das Blut ihrer Tugend überließen, von ihnen das Gift der Zerstörung
annahmen und ihnen so die Kraft gaben zu überleben, während sie für ihre Werte die Ohnmacht des Todes
erhielten. Ich sah, daß in der Niederlage eines jeden wertvollen Menschen der Punkt kommen mußte, da sein
Einverständnis nötig wurde für den Endsieg des Bösen, und daß nichts ihn ganz vernichten konnte, wenn er sich
weigerte unterzugehen. Ich sah, daß ich eurer Gewalt ein Ende setzen konnte, indem ich im Geiste ein einziges
Wort aussprach. Ich sprach es aus. Das Wort war ‘nein’.
Ich verließ die Fabrik. Ich verließ die Welt. Ich machte es zu meiner Lebensaufgabe, eure Opfer zu warnen
und ihnen die Waffe in die Hand zu geben, euch zu bekämpfen. Die Waffe war die Gerechtigkeit. Wenn ihr
wissen wollt, was ihr verloren habt, als ich mich zurückzog und auch meine Mitstreikenden eure Welt verließen:
Stellt euch auf eine kahle Fläche in einer von Menschen unerforschten Wildnis und fragt euch, was ihr tun könnt,
um weiterzuleben, und wie lange ihr durchhalten könnt, wenn ihr euch weigert, zu denken, und niemand da ist,
der es für euch tut, oder, wenn ihr euch entschließt zu denken, was euer Verstand zuwege bringen würde; fragt
euch, wieviel selbständige Gedanken ihr gedacht habt im Laufe eures Lebens und wieviel Zeit ihr darauf
verwandt habt, von anderen erlernte Bewegungen durchzuführen; fragt euch, ob ihr fähig wäret, zu entdecken,
wie man den Boden urbar macht und wie ihr eure Nahrung anpflanzen könnt, ob ihr fähig wäret, ein Rad zu
erfinden, einen Hebel, eine Induktionsspule, einen Generator, eine Elektronenröhre – und dann entscheidet, ob
Menschen von Begabung und Fleiß Ausbeuter sind, die von der Frucht eurer Arbeit leben und euch des
Reichtums berauben, den ihr schafft, und ob ihr wagt zu glauben, daß ihr die Macht besitzt, sie zu versklaven.
Laßt eure Frauen ein Dschungelweib mit seinem eingeschrumpften Gesicht und seinen ausgezehrten Brüsten
betrachten, während es Stunde für Stunde, Tag für Tag das Getreide auf einem Stein zermahlt, und fordert sie
dann auf, sich zu fragen, ob ihr ‘Instinkt der Werkzeugherstellung’ sie mit ihren elektrischen Kühlschränken,
Waschmaschinen und Staubsaugern versorgen wird, und wenn nicht, ob sie Wert darauf legen, diejenigen zu
vernichten, die ihnen all diese Dinge geschaffen haben, doch nicht durch ‘Instinkt’.
Schaut um euch, ihr Wilden, die ihr stammelt, daß Gedanken durch die Produktionsmittel des Menschen
geschaffen werden, daß eine Maschine nicht ein Produkt des menschlichen Denkens ist, sondern eine mystische
Macht, die menschliche Gedanken produziert. Ihr habt noch nicht entdeckt, daß wir im industriellen Zeitalter
leben, und hängt noch an der Moral der barbarischen Epochen, in denen die Menschen mit Hilfe der
Muskelarbeit von Sklaven ein primitives Dasein fristeten. Alle Mystiker haben sich immer nach Sklaven
umgesehen, die sie vor der materiellen Wirklichkeit schützen sollten, die sie fürchteten. Doch ihr, ihr
lächerlichen, kleinen Atavisten, ihr starrt blind auf die Wolkenkratzer und die Schornsteine und träumt davon,
diejenigen, die sie errichtet haben, die Wissenschaftler, Erfinder und Industriellen, zu versklaven. Wenn ihr den
Gemeinbesitz der Produktionsmittel fordert, dann fordert ihr den Gemeinbesitz des Verstandes. Ich habe meine
Streikbrüder die Antwort gelehrt, die ihr verdient. Sie lautet: ‘Holt ihn euch!’
Ihr erklärt euch selbst für unfähig, die Kräfte der unbelebten Materie zu nutzen, aber ihr maßt euch an, die
Hirne der Menschen zu benutzen, die fähig sind, die Taten zu vollbringen, die ihr selbst nicht vollbringen könnt.
Ihr erklärt, daß ihr ohne uns nicht leben könnt, doch ihr wollt uns die Bedingungen für unser Leben
vorschreiben. Ihr erklärt, daß ihr uns braucht, behauptet jedoch frech, ihr hättet das Recht, uns durch Gewalt zu
beherrschen, und erwartet, daß wir, die wir keine Furcht kennen vor der physischen Natur, die euch mit
Schrecken erfüllt, beim Anblick eines jeden Tölpels in die Knie gehen, der euch dazu überredet hat, ihn zu
wählen und ihm die Macht zu geben, uns zu befehlen.
Ihr schlagt vor, eine soziale Ordnung auf den folgenden Grundsätzen zu errichten: daß ihr unfähig seid, euer
eigenes Leben zu führen, doch fähig, das Leben anderer zu regieren; daß ihr unfähig seid, in Freiheit zu leben,
doch fähig, allmächtige Herrscher zu werden; daß ihr unfähig seid, euren Lebensunterhalt durch eure eigene
Intelligenz zu verdienen, doch fähig, Politiker zu beurteilen und sie in Ämter zu wählen, die ihnen absolute
Macht verleihen über Künste, die sie nie erlernt haben, über Wissenschaften die sie nie studiert haben, über
Leistungen, von denen sie keine Ahnung haben, über gigantische Industrieunternehmungen, in denen sie,
gemessen an eurer eigenen Definition eurer Fähigkeiten, unfähig wären, auch nur den Posten eines Hilfsarbeiters
zufriedenstellend auszufüllen.
Das Idol eurer Anbetung des Nichts, dieses Symbol der Impotenz – der geborene Schmarotzer – ist euer
Menschenbild und euer Wertmaßstab, nach dem ihr unsere Seelen umwandern wollt. ‘Es ist nur menschlich’,
schreit ihr in Verteidigung jeder unmenschlichen Niedrigkeit, sinkt hinab auf das Niveau letzter
Selbsterniedrigung und sucht den Begriff ‘menschlich’ zu identifizieren mit dem Begriff des Schwächlings, des
Dummkopfs, des Lumpen, des Lügners, des Versagers, des Feiglings, des Betrügers und sucht den Helden, den
Denker, den Unternehmer, den Erfinder, den Starken, den Klugen, den Reinen aus der menschlichen Rasse
auszuschließen – als ob nur ‘Fühlen’ menschlich wäre, Denken jedoch nicht, als ob Versagen menschlich wäre,
Erfolg jedoch nicht, als ob Korruption menschlich wäre, Ehrlichkeit jedoch nicht, als ob der Sinn des
Menschenlebens nicht das Leben, sondern der Tod wäre.
Um uns unserer Ehre zu berauben, damit ihr uns dann unseres Reichtums berauben könnt, habt ihr uns stets
als Sklaven betrachtet, die keine moralische Anerkennung verdienen. Ihr lobt Projekte, die behaupten, keine
Gewinne zu erzielen, und verdammt die Menschen, die die Gewinne erwirtschaften, die solche Projekte möglich
machen. Für euch liegen Projekte ‘im öffentlichen Interesse’, die denen nützen, die nicht zahlen; nicht im
öffentlichen Interesse liegt es, denen zu nützen, die zahlen. ‘Öffentlicher Nutzen’ ist alles, was als Almosen
gegeben wird; Handel zu treiben, bedeutet eine Schädigung der Öffentlichkeit. ‘Gemeinwohl’ ist die Wohlfahrt
derjenigen, die es nicht erarbeiten; diejenigen, die es erarbeiten, haben kein Anrecht auf Wohlfahrt. ‘Die
Öffentlichkeit’ ist für euch jeder, der weder einen Wert noch eine Tugend verwirklicht hat; wer immer es tut, wer
die Güter produziert, die ihr zum Leben braucht, wird nicht länger als ein Teil der Öffentlichkeit oder als ein
Mitglied der menschlichen Rasse betrachtet.
Welcher Selbstbetrug hat euch dazu verführt zu hoffen, ihr könntet mit diesem Wust von Widersprüchen
durchkommen und ihn als Plan für eine ideale Gesellschaft benutzen, wenn das ‘Nein’ eurer Opfer genügt, euer
ganzes Gebäude zu zerstören? Was berechtigt einen frechen Bettler, den Vorübergehenden seine Wunden zu
zeigen und sie im Ton einer Drohung um Hilfe zu bitten? Ihr schreit, wie er, daß ihr mit unserem Mitgefühl
rechnet, doch eure geheime Hoffnung ist euer Moralkodex, der euch gelehrt hat, mit unserem Schuldgefühl zu
rechnen. Dir erwartet von uns, daß wir uns angesichts eurer Lasten, Wunden und Mißerfolge unserer Tugenden
schuldig fühlen, schuldig, daß wir Erfolg haben im Leben, schuldig, daß wir das Leben genießen, das ihr
verdammt, indem ihr uns gleichzeitig anfleht, euch zu helfen, es zu leben.
Wolltet ihr wissen, wer John Galt ist? Ich bin der erste begabte Mensch, der sich weigert, seine Begabung als
Schuld anzusehen. Ich bin der erste Mensch, der nicht bereit ist, Buße zu tun für seine Tugenden oder sie als
Werkzeuge zu seiner Vernichtung mißbrauchen zu lassen. Ich bin der erste Mensch, der nicht den Märtyrertod
von der Hand jener erleiden will, die seinen Untergang wollen, weil er sie am Leben erhält. Ich bin der erste
Mensch, der ihnen gesagt hat, daß er sie nicht braucht, und daß sie, solange sie nicht lernen, mit ih m wie ehrliche
Händler zu verhandeln, Wert gegen Wert einzutauschen, ohne ihn existieren müssen, wie er ohne sie existieren
wird; dann werden sie erfahren, wer wen braucht und wer, wenn es ums Überleben geht, am Ende übrigbleibt.
Ich habe planmäßig und mit Absicht getan, was im Verlauf der Menschheitsgeschichte von anderen in
schweigender Unterlassung getan worden ist. Es hat immer Verstandesmenschen gegeben, die aus verzweifeltem
Protest in den Streik traten, doch sie erkannten nicht die Bedeutung ihres Handelns. Der Mensch, der sich aus
dem öffentlichen Leben zurückzieht, um zu denken, aber seine Gedanken niemand mitzuteilen; der Mensch, der
sich entschließt, sein Leben in untergeordneter Stellung zu verbringen, das Feuer seines Geistes für sich zu
behalten und ihm keine Gestalt zu geben in einer Welt, die er verachtet; der Mensch, der vor dieser Welt
zurückschaudert, der verzichtet, bevor er begonnen hat; der Mensch, der nur einen Teil seiner Fähigkeiten nutzt,
gelähmt durch seine Sehnsucht nach einem Ideal, das er nicht gefunden hat – sie alle stehen im Streik, im Streik
gegen die Unvernunft, im Streik gegen eure Welt und eure Werte. Doch da sie keine eigenen Werte kennen,
geben sie die Suche nach ihnen auf. Und in der Finsternis ihrer hoffnungslosen Empörung, die rechtschaffen ist,
ohne das Recht zu kennen, und voller Leidenschaft ist, ohne ein Ziel zu haben, überlassen sie euch die Macht
über die Realität und die Funken ihres Verstandes – und enden in bitterer Enttäuschung als Rebellen, die nie den
Sinn ihrer Rebellion kannten, wie Liebende, die nie ihre Liebe entdeckten.
Die unrühmlichen Zeiten, die ihr die dunklen Zeitalter nennt, waren Epochen der streikenden Intelligenz, in
denen Menschen von Begabung untertauchten und unentdeckt lebten, im geheimen studierten und starben,
nachdem sie die Produkte ihres Geistes zerstört hatten; in denen oft nur einige wenige der tapfersten Märtyrer
übrig blieben, um die menschliche Rasse am Leben zu erhalten. Jede Ära, die von Mystikern beherrscht wurde,
war eine Ära der Stagnation und der Not, in der die meisten Menschen im Streik standen gegen das Leben, nur
für ihren nackten Unterhalt arbeiteten, nichts zum Plündern übrig ließen für ihre Beherrscher, sich weigerten zu
denken, zu produzieren; in der der letzte Nutznießer ihrer Arbeit und die höchste Autorität über Recht und
Unrecht ein degenerierter Potentat war, sanktioniert durch göttliche Gnade oder die Gewalt des Knüppels. Der
Weg der Menschheitsgeschichte führte durch eine Reihe voll verödeten Landstrichen, die durch Glauben und
Gewalt verwüstet waren und in denen nur manchmal kurz die Sonne aufleuchtete, wenn die befreite Energie von
Verstandesmenschen die Wunder vollbrachte, die ihr bestauntet, aber sofern wieder zerstörtet.
Doch dieses Mal werdet ihr nichts zerstören. Das Spiel der Mystiker ist aus. Ihr werdet in eurer und mit eurer
gefälschten Wirklichkeit untergehen. Wir, die Verstandesmenschen, werden überleben.
Ich habe eine Art von Märtyrern zum Streik aufgerufen, die euch nie zuvor im Stich gelassen hatten. Ich gab
ihnen die Waffe, die ihnen fehlte: das Wissen um ihren eigenen moralischen Wert. Ich habe sie gelehrt, daß die
Welt uns gehört, wann immer wir wollen, durch unsere Tugend und dank der Tatsache, daß wir die Moral des
Lebens vertreten. Sie, die großen Opfer, die alle Wunder des kurzen Sommers der Menschheit vollbracht hatten,
sie, die Industriellen, die Bezwinger der Materie, sie hatten die Natur ihres Rechtes nicht entdeckt. Sie wußten,
daß ihnen die Macht gehörte. Ich lehrte sie, daß auch der Ruhm ihnen gehörte.
Ihr, die ihr es wagt, uns als moralisch unterlegen zu betrachten gegenüber jedem Mystiker, der behauptet,
übernatürliche Visionen zu haben, ihr, die ihr einen ehrlichen Geschäftsmann verachtet, doch jeden Schwindler
als Ehrenmann behandelt: Die Wurzeln eurer Anschauungen reichen hinab in das mystische Miasma der
urzeitlichen Sümpfe, und eure Kultur, die einen Menschen für unmoralisch erklärt, weil er euch ernährt, ist eine
Kultur des Selbstmordes. Ihr, die ihr vorgebt, euch über die rohen Belange des Körpers erheben zu wollen, über
die Abhängigkeit von den rein physischen Bedürfnissen: Wer ist der Sklave seiner physischen Bedürfnisse? Der
Hindu, der von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit dem Handpflug arbeitet, um sich eine Schale Reis zu
verdienen, oder der Amerikaner, der einen Traktor fährt? Wer ist der Bezwinger der physikalischen
Wirklichkeit? Der Mann, der auf einem Nagelbrett, oder der Mann, der auf einer Federkernmatratze schläft?
Welches ist das Denkmal des Triumphes des menschlichen Geistes über die Materie? Die verseuchten Hütten an
den Ufern des Ganges oder die Skyline von New York? Wenn ihr die Antworten auf diese Fragen nicht findet
und nicht lernt, in Hochachtung stillzustehen vor den Leistungen des menschlichen Geistes, werdet ihr nicht
mehr sehr lange auf dieser Erde bleiben, die wir lieben und nicht von euch zerstören lassen werden. Dir werdet
nicht davonkommen mit dem Rest eurer Lebenszeit. Ich habe den normalen Verlauf der Geschichte abgekürzt
und euch die Lüge der Schuld erkennen lassen, die ihr auf die Schultern anderer abzuwälzen hofftet. Eure letzte
Lebenskraft wird nun verbraucht werden, um das Unverdiente für die Anbeter des Todes zu liefern. Sagt nicht,
eine böswillige Wirklichkeit habe euch besiegt; ihr wurdet vernichtet durch eure eigene Feigheit. Behauptet
nicht, daß ihr für ein hohes Ideal sterben werdet, ihr werdet als Futter für die Menschenhasser enden.
Doch denjenigen unter euch, die sich noch einen letzten Rest an Würde und Willen und Liebe zum eigenen
Leben bewahrt haben, biete ich die Chance einer letzten Wahl. Wählt, ob ihr verderben wollt für eine Moral, an
die ihr nie geglaubt und die ihr nie befolgt habt. Macht halt am Rande der Selbstzerstörung und prüft eure Werte
und euer Leben. Ihr habt es verstanden, eine Bestandsaufnahme unseres Reichtums zu machen. Nun macht eine
Bestandsaufnahme eures Verstandes.
Seit eurer Kindheit habt ihr das schuldvolle Geheimnis bewahrt, daß ihr kein Verlangen danach empfindet,
moralisch zu sein, kein Verlangen nach Selbstaufopferung, daß ihr euren Moralkodex gefürchtet und gehaßt,
doch nicht gewagt habt, auch nur zu euch selbst zu sagen, daß ihr jener moralischen ‘Instinkte’ vollkommen bar
seid, die andere zu besitzen vorgaben. Je weniger ihr sie empfandet, um so lauter bekanntet ihr eure selbstlose
sklavische Liebe für die anderen, aus Angst, sie je euer eigenes Selbst entdecken zu lassen, das Selbst, das ihr
betrogen habt und verborgen hieltet wie ein Skelett im Innern eures Leibes. Und sie, die zugleich eure Betrüger
und eure Betrogenen waren, sie lauschten und gaben laut ihren Beifall kund aus Angst, euch je entdecken zu
lassen, daß sie das gleiche unausgesprochene Geheimnis in ihrer Brust bewahrten. Das Leben unter euch ist ein
ungeheurer Betrug, ein Spiel, das ihr alle voreinander spielt, bei dem jeder glaubt, er sei der einzige schuldige
Wicht, bei dem jeder seine höchste moralische Autorität in dem Unbekannten sieht, das nur den anderen
erkennbar ist, und jeder die Wirklichkeit so verfälscht, wie er glaubt, daß die anderen es von ihm erwarten, und
keiner den Mut hat, den Teufelskreis zu sprengen.
Gleichgültig, welche ehrlosen Kompromisse ihr mit eurem vernunftwidrigen Glauben geschlossen habt,
gleichgültig, welch trauriges Gleichgewicht zwischen Zynismus und Aberglaube ihr noch aufrechtzuerhalten
vermögt, euer erster, tödlicher Grundsatz ist der gleiche geblieben: der Glaube, daß Moral und Praxis Gegensätze
sind. Seit eurer Kindheit lauft ihr davon vor einer Alternative, die ihr nicht in ihrer vollen Bedeutung zu
erkennen wagt: Wenn Praxis – alles, was ihr tun müßt, um weiterzuleben, was funktioniert, was Erfolg hat, was
eure Zwecke verwirklicht, was euch Nahrung und Freude bringt, was euch nützt – wenn das böse ist, und wenn
Moral, das ‘Gute’, praxisfern ist und nicht funktioniert, euch zerstört, euch frustriert, euch schadet und euch
Verlust und Schmerz bringt – dann steht ihr vor der Entscheidung: Moral oder Leben.
Aus dieser mörderischen Doktrin ergab sich die Notwendigkeit, die Moral aus dem Leben zu entfernen. Ihr
seid aufgewachsen in dem Glauben, daß die Moralgesetze in keiner Beziehung zum tätigen Leben stehen, es sei
denn als Hindernis und Drohung, daß die menschliche Existenz ein amoralischer Dschungel ist, in dem alles
möglich und alles erlaubt ist. Und in diesem Nebel verwirrter Begriffe, der eure Welt erfüllt, habt ihr vergessen,
daß das Böse, das euer Glaube verdammt, die zum Leben nötigen Tugenden waren, und ihr seid zu dem Schluß
gekommen, daß das Böse das praktische Mittel ist, sich am Leben zu erhalten. Ihr vergeßt, daß das unpraktische
‘Gute’ die Selbstaufopferung war, und glaubt, daß Selbstachtung unpraktisch ist; ihr vergeßt, daß das praktische
‘Böse’ die Produktion war, und glaubt, daß Raub praktisch ist.
Schwankend wie ein hilfloser Ast im Wind einer moralischen Wildnis, wagt ihr weder wirklich böse zu sein,
noch wirklich zu leben. Wenn ihr ehrlich seid, fühlt ihr euch als geprellte Dummköpfe; wenn ihr betrügt,
empfindet ihr Angst und Scham. Wenn ihr glücklich seid, ist eure Freude getrübt durch Schuldgefühle, wenn ihr
leidet, wird euer Schmerz gesteigert durch das Gefühl, daß Unglück euer natürlicher Zustand ist. Ihr bemitleidet
die Menschen, die ihr bewundert, weil ihr glaubt, daß sie zum Scheitern verurteilt sind; ihr beneidet die
Menschen, die ihr haßt, weil ihr glaubt, daß sie die Meister des Lebens sind. Ihr fühlt euch wehrlos, wenn ihr
einem Schurken begegnet: Ihr glaubt, daß das Böse immer siegt, weil Moral ohnmächtig und praxisfern ist.
Moral ist für euch eine Vogelscheuche, bestehend aus Pflicht, Langeweile, Strafe, Schmerz, eine Kreuzung
zwischen eurem ersten Schullehrer und eurem Finanzbeamten, eine Vogelscheuche, die auf einem unfruchtbaren
Feld steht und einen Prügel schwingt, um euer Vergnügen zu verjagen, und Vergnügen ist für euch ein
alkoholisiertes Gehirn, eine hirnlose Schlampe, die Stumpfheit eines Schwachsinnigen, der sein Geld auf die
Schnelligkeit irgendeines Tieres setzt – da jedes Vergnügen ja nur unmoralisch sein kann.
Wenn ihr euren Glauben ehrlich identifiziert, müßt ihr ihn als eine dreifache Verdammnis erkennen – eurer
selbst, des Lebens, der Tugend – und zu dem Schluß kommen, daß Moral für euch ein notwendiges Übel ist.
Fragt ihr euch, warum ihr ohne Würde, ohne Liebe und ohne Begeisterung lebt und widerstandslos dem Tod
entgegengeht? Fragt ihr euch, warum ihr überall, wo ihr hinschaut, nur unbeantwortbare Fragen seht, warum
euer Leben zerrissen ist durch unlösbare Konflikte, warum ihr es damit verbringt, über widersinnige Zäune zu
klettern, um künstlichen Alternativen auszuweichen, wie Seele und Körper, Verstand und Gefühl, Sicherheit und
Freiheit, privater Nutzen und Gemeinwohl?
Jammert ihr, daß ihr keine Antworten findet? Durch was hofft ihr, sie zu finden? Ihr verwerft euer Instrument
der Erkenntnis – euren Verstand – und beklagt euch dann, das Universum sei ein Mysterium. Ihr werft euren
Schlüssel weg und beschwert euch dann, daß euch alle Türen verschlossen sind. Ihr jagt nach dem
Widersinnigen und verdammt dann das Leben als sinnlos.
Der Zaun, den ihr die letzten zwei Stunden zu überklettern versucht, während ihr meine Worte hört und euch
bemüht, sie nicht an euch heranzulassen, ist die Formel der Feigheit: ‘Aber wir brauchen doch nicht in Extreme
zu verfallen!’ Das Extrem, das ihr bisher immer verzweifelt vermieden habt, ist die Erkenntnis, daß die
Wirklichkeit endgültig, daß A gleich A, daß die Wahrheit wahr ist. Ein Moralkodex, der praktisch
undurchführbar ist, der Unvollkommenheit oder Tod fordert, hat euch gelehrt, alle Ideen in Nebel aufzulösen,
keine klare Definition zuzulassen, jeden Begriff nur als annähernd zu betrachten und jede Verhaltensregel als
elastisch, jeden Grundsatz einzuschränken, jeden Wert zu verwässern und immer einen Mittelweg zu suchen.
Indem dieser Kodex euch verleitete, übernatürliche Gesetze anzuerkennen, hat er euch gezwungen, die
Wirklichkeit der Natur zu verleugnen. Indem er moralische Urteile unmöglich machte, hat er euch unfähig
gemacht, logisch zu urteilen. Ein Moralgesetz, das euch verbietet, den ersten Stein zu werfen, verbietet euch
zugleich, die Identität von Steinen anzuerkennen und zu erkennen, ob und wann ihr gesteinigt werdet.
Der Mensch, der sich weigert zu urteilen, der weder zustimmt noch ablehnt, der erklärt, daß es keine
absoluten Werte gibt, und glaubt, sich seiner Verantwortung entziehen zu können, ist verantwortlich für all das
Blut, das jetzt in der Welt vergossen wird. Die Wirklichkeit ist absolut, die Existenz ist absolut, ein Staubkorn ist
absolut, und das menschliche Leben ist absolut. Ob ihr ein Stück Brot habt oder nicht, ist absolut. Ob ihr euer
Brot eßt oder es im Magen eines Plünderers verschwinden seht, ist absolut.
Jedes Ding hat zwei Seiten: Die eine Seite ist falsch, die andere ist richtig, doch die Mitte ist immer von Übel.
Der Mensch, der unrecht hat, bewahrt immer noch eine Achtung vor der Wahrheit, wenn auch nur, indem er die
Verantwortlichkeit der Wahl anerkennt. Doch der Mensch der Mitte ist der Feigling, der die Existenz einer
Wahrheit leugnet, um behaupten zu können, daß es keine Wahl und keine Werte gibt, ist der Schmarotzer, der
sich aus allem Kampf heraushält, bereit, sich vom Blut des unschuldigen Verlierers zu nähren oder vor dem
schuldigen Sieger auf den Bauch zu fallen, der die Gerechtigkeit aufhebt, indem er den Räuber und den
Beraubten ins Gefängnis schickt, der Konflikte dadurch löst, daß er Denker und Idioten zwingt, sich auf halbem
Wege zu treffen. Bei jedem Kompromiß zwischen Nahrung und Gift kann immer nur der Tod gewinnen. Bei
jedem Kompromiß zwischen Gut und Böse kann immer nur das Böse profitieren. Bei jener Bluttransfusion, die
den Guten anzapft, um den Bösen leben zu lassen, ist der Kompromiß der Gummischlauch, durch den das Blut
des Guten fließt. Ihr, die Wetterfahnen zwischen Vernunft und Feigheit, ihr habt ein Falschspiel mit der
Wirklichkeit getrieben, doch das Opfer, das ihr betrogen habt, seid ihr selbst. Wenn die Menschen ihre Tugenden
auf das Ungefähre reduzieren, dann gewinnt das Böse absolute Macht; wenn der Tugendhafte seine
unnachgiebige Treue zu einem Ziel fallen läßt, wird es von den Schurken aufgehoben – und dann erlebt ihr das
unwürdige Schauspiel eines kriechenden, feilschenden und heuchelnden Guten und eines selbstgerechten,
kompromißlosen Bösen. So wie ihr euch den Muskelmystikern ausgeliefert habt, als sie euch sagten, daß
Nichtwissen darin besteht, Wissen zu beanspruchen, so liefert ihr euch ihnen jetzt ebenfalls aus, wenn sie
schreien, daß Unmoral darin besteht, moralische Urteile auszusprechen. Wenn sie euch sagen, es sei egoistisch,
sicher zu sein, daß man recht hat, versichert ihr ihnen, daß ihr keinerlei Überzeugung habt. Wenn die
Machthaber der Volksstaaten Europas kläffen, daß ihr euch der Intoleranz schuldig macht, weil ihr euren
Wunsch zu leben und ihren Wunsch, euch zu töten, nicht als eine bloße Meinungsverschiedenheit behandelt,
beeilt ihr euch ihnen zu versichern, daß ihr keiner Grausamkeit gegenüber intolerant seid. Wenn ein barfüßiger
Bettler in einem Pestloch in Asien euch zuruft: Wie könnt ihr es wagen, reich zu sein, entschuldigt ihr euch,
bittet ihn, Geduld zu haben, und versprecht ihm, daß ihr alles verschenken werdet.
Ihr seid in die Sackgasse des Verrats geraten, den ihr begangen habt, als ihr zugabt, daß ihr kein Recht habt zu
existieren. Zunächst glaubtet ihr, es sei ‘nur ein Kompromiß’: Ihr räumtet ein, daß es böse ist, für euch selber zu
leben, doch moralisch, um eurer Kinder willen zu leben. Dann räumtet ihr ein, daß es egoistisch ist, für eure
Kinder zu leben, doch moralisch, für eure Gemeinde zu leben. Dann räumtet ihr ein, daß es egoistisch ist, für
eure Gemeinde zu leben, doch moralisch, für euer Land zu leben. Jetzt laßt ihr zu, daß dieses großartigste aller
Länder von dem aus allen Ecken der Erde herbeigeschwemmten Abschaum verschlungen wird, während ihr
beteuert, daß es egoistisch ist, für euer Land zu leben, und eure moralische Pflicht, für die ganze Erde zu leben.
Ein Mensch, der kein Recht auf sein eigenes Leben hat, hat kein Recht auf Werte und wird sie nicht behalten.
Am Ende eures Weges fortgesetzten Verrats, bar aller Waffen, aller Sicherheit, aller Ehre, begeht ihr den
letzten Akt eures Wahnsinns und unterzeichnet eure geistige Bankrotterklärung: Während die Muskelmystiker
der Volksstaaten erklären, sie seien die Matadore der Vernunft und der Wissenschaft, stimmt ihr zu und beeilt
euch zu erklären, daß die Vernunft Sache eurer Zerstörer ist, ihr euch jedoch mit dem Glauben begnügt.
Gegenüber den sich verzweifelt wehrenden Resten ehrlichen Denkens in den bestürzten Hirnen eurer Kinder
erklärt ihr, daß ihr kein vernünftiges Argument für die Ideen bieten könnt, die dieses Land geschaffen haben, daß
es keine rationale Rechtfertigung gibt für Freiheit, Eigentum, Gerechtigkeit und Rechte, daß sie auf einer
mystischen Einsicht beruhen, daß sie in gutem Glauben hingenommen werden müssen, daß in Sachen der
Vernunft und der Logik der Feind recht hat, daß der Glaube aber der Vernunft überlegen ist. Ihr sagt euren
Kindern, es sei vernünftig, zu plündern, zu foltern, zu versklaven, zu enteignen, zu morden, sie müßten jedoch
den Versuchungen der Logik widerstehen und sich an die Unlogik des Unvernünftigen halten. Ihr sagt ihnen,
Wolkenkratzer, Fabriken, Radioapparate und Flugzeuge seien Produkte des Glaubens und mystischer Intuition,
Hungersnöte jedoch und Konzentrationslager und Erschießungskommandos seien die Produkte einer
vernünftigen Lebensweise; die industrielle Revolution sei die Revolte der Menschen des Glaubens gegen jene
Ära der Logik und Vernunft gewesen, die das Mittelalter genannt wird. Gleichzeitig, im gleichen Atemzug, in
dem ihr dem gleichen Kind sagt, daß die Plünderer, die die Volksstaaten beherrschen, unser Land an materieller
Produktion übertreffen werden, weil sie die Vertreter der Wissenschaften sind, doch daß es böse ist, sich um
irdischen Reichtum zu sorgen, und daß man auf materielles Wohlergehen verzichten muß, sagt ihr ihm, daß die
Ideale der Plünderer edel sind, doch daß sie sie nicht ehrlich meinen, während ihr es tut; daß der Zweck eures
Kampfes gegen die Plünderer nur darin besteht, ihnen zu helfen, ihre Ziele zu verwirklichen, die sie selbst nicht
verwirklichen können, wohl aber ihr, und daß die einzige Möglichkeit, sie zu bekämpfen, darin besteht, seinen
eigenen Reichtum wegzuschenken. Dann wundert ihr euch, daß eure Kinder sich den Demagogen anschließen
oder halbirre Opfer werden, wundert euch, daß die Plünderer in ihren Forderungen immer unverschämter
werden, doch ihr gebt die Schuld der menschlichen Dummheit und erklärt, die Massen seien keiner Vernunft
zugänglich.
Ihr verschließt die Augen vor dem öffentlichen Schauspiel des Kampfes der Plünderer gegen den Verstand
und vor der Tatsache des blutigen Terrors, den sie gegen das Verbrechen des Denkens entfesselt haben. Ihr
verschließt die Augen vor der Tatsache, daß die meisten Muskelmystiker als Seelenmystiker begonnen haben,
daß sie auch weiterhin von dem einen Glauben zum anderen überwechseln, daß die Menschen, die ihr
Materialisten und Spiritualisten nennt, nur die beiden Hälften der gleichen gespaltenen Menschlichkeit sind, die
sich ständig wiederzuvereinigen suchen, jedoch indem sie sich von der Zerstörung des Fleisches der Zerstörung
des Geistes zuwenden und wieder zurück, daß sie von euren Hochschulen zu den hörigen Lehrern Europas
überlaufen, um zu Füßen eines indischen Mystikers zu enden, immer auf der Flucht vor der Wirklichkeit, vor der
Vernunft.
Ihr verschließt die Augen und klammert euch an euren heuchlerischen ‘Glauben’, um die Tatsache nicht zu
erkennen, daß die Plünderer euch im Würgegriff haben, im Würgegriff eures Moralkodex; daß die Plünderer die
letzten praktischen Nutznießer der Moral sind, der ihr halb entflieht und halb gehorcht; daß sie diese Moral
benutzen, um die Erde in einen Opferaltar zu verwandeln; daß eure Moral euch verbietet, euch ihnen auf die
einzig mögliche Art zu widersetzen: indem ihr euch weigert, Opfertiere zu werden, und stolz auf eurem Recht zu
leben besteht; daß ihr, um sie in offenem Kampf überwinden zu können, eure Moral verwerfen müßt.
Ihr aber verschließt die Augen vor dieser Möglichkeit, weil eure Selbstachtung erstickt ist durch jene
mystische ‘Selbstlosigkeit’, die ihr nie besessen oder geübt habt; doch ihr habt so lange geheuchelt, sie zu
besitzen, daß der Gedanke, sie zu verraten, euch mit Schrecken erfüllt. Es gibt keinen höheren Wert als
Selbstachtung, doch ihr habt ihn in gefälschte Papiere investiert – und jetzt hat eure Moral euch in einer Falle
gefangen, wo ihr gezwungen seid, eure Selbstachtung zu schützen, indem ihr für den Glauben der
Selbstzerstörung kämpft. Es liegt eine grausige Ironie in der Tatsache, daß die Forderung nach Selbstachtung,
die ihr weder erklären noch definieren könnt, ein Grundsatz meiner Moral ist und nicht der euren; sie ist der
Maßstab meines Kodex, sie ist mein Beweis in eurer Seele.
Aufgrund eines Gefühls, das er nicht gelernt hat zu identifizieren, jedoch aus seinen ersten Wahrnehmungen
des Lebens und aus seiner Entdeckung abgeleitet hat, daß er Entscheidungen treffen muß, weiß der Mensch, daß
die Forderung nach Selbstachtung eine Frage des Lebens oder Sterbens ist. Als ein Wesen mit wollendem
Bewußtsein weiß er, daß er seinen eigenen Wert kennen muß, um sein eigenes Leben zu behaupten. Er weiß, daß
er richtig handeln muß; denn falsch zu handeln, bedeutet Gefahr für sein Leben. Jede Tat im Leben des
Menschen ist gewollt; daß er sich seine Nahrung verschafft und verzehrt, schließt ein, daß die Person, die er
erhält, wert ist, erhalten zu werden; jede Freude, die er sucht, schließt ein, daß die Person, für die er sie sucht,
wert ist, Freude zu empfinden. Er hat keine Entscheidung über sein Bedürfnis nach Selbstachtung, seiner Wahl
ist nur der Standard überlassen, nach dem er sie bemißt. Und er begeht einen tödlichen Irrtum, wenn er diesen
Maßstab, der sein Leben schützen soll, in den Dienst seiner eigenen Zerstörung stellt, wenn er einen Standard
wählt, der dem Leben widerspricht und seine Selbstachtung in Gegensatz bringt zur Wirklichkeit.
Jede Form von grundloser Selbstverzweiflung, jedes Minderwertigkeitsgefühl und jede innere Unsicherheit ist
in Wirklichkeit des Menschen Furcht vor seiner Unfähigkeit, mit dem Leben fertig zu werden. Doch je größer
diese Furcht ist, um so verzweifelter klammert er sich an die mörderischen Doktrinen, die ihn fesseln. Kein
Mensch kann den Augenblick überleben, in dem er sich für unverbesserlich böse erklärt; tut er es, dann ist sein
Schicksal Wahnsinn oder Selbstmord. Will er ihm entfliehen, indem er sich dem irrationalen Glauben
verschreibt, muß er die Wirklichkeit fälschen, die Augen verschließen und sich um sein Glück und seinen
Verstand betrügen; und am Ende wird er sich auch um seine Selbstachtung betrügen, indem er lieber deren
Illusion bewahrt, als das Risiko einzugehen, ihr Fehlen zu entdecken. Wer sich fürchtet, einer Sache ins Auge zu
sehen, rechnet mit dem Schlimmsten.
Es sind nicht irgendwelche Verbrechen, die eure Seelen mit ständigen Schuldgefühlen vergiften; es sind nicht
eure Fehler oder Irrtümer, sondern eure Bemühungen, ihren Folgen zu entgehen; es ist keine Erbsünde oder ein
anderer Geburtsfehler, sondern euer Wissen um die Tatsache, daß ihr euren Verstand ausgeschaltet habt, daß ihr
euch weigert zu denken. Angst und Schuld sind eure ständigen Gefühle, und sie sind echt, und ihr verdient sie,
doch sie entstammen nicht jenen oberflächlichen Ursachen, die ihr erfindet, um ihre tieferen Gründe zu
verdecken, nicht eurem ‘Egoismus’, eurer Schwäche oder Unwissenheit, sondern einer echten und
entscheidenden Bedrohung eurer Existenz: Ihr empfindet Angst, weil ihr eure Waffe zum Weiterleben
weggeworfen habt, und Schuld, weil ihr wißt, daß ihr es willentlich, mit Bewußtsein, getan habt.
Das Selbst, das ihr verraten habt, ist euer Verstand; Selbstachtung ist Vertrauen in die eigene Denkfähigkeit.
Das Ich, das ihr sucht und weder ausdrücken noch definieren könnt, ist nicht die Summe eurer Gefühle und
Träume, sondern euer Intellekt, jener Richter eures höchsten Tribunals, den ihr verbannt habt, um euch einem
obskuren Rechtsapostel anzuvertrauen, den ihr ‘Gefühl’ nennt.
Betrachtet die Hartnäckigkeit der Legende von einem Paradies, das die Menschen einst besessen haben sollen,
wie der Stadt Atlantis, dem Garten Eden oder irgendeinem anderen, längst vergangenes Reich der
Vollkommenheit! Diese Legende hat eine echte Wurzel, doch nicht in der Vergangenheit der menschlichen
Rasse, sondern in der Vergangenheit des einzelnen Menschen. Ihr spürt – nicht als eine Erinnerung, sondern
ähnlich dem dumpfen Schmerz einer hoffnungslosen Sehnsucht – die Gewißheit, daß ihr irgendwann in den
ersten Jahren eurer Kindheit, bevor ihr gelernt habt, euch zu unterwerfen, dem Terror der ‘Unvernunft zu
verfallen und den Wert eures Verstandes zu bezweifeln, einen Zustand des Seins erlebt habt, in dem euer
unabhängiges, denkendes Bewußtsein sich einem offenen Universum gegenübersah. Dies ist das Paradies, das
ihr verloren habt, das ihr sucht – und wiedergewinnen könnt.
Manche von euch werden nie begreifen, wer John Galt ist. Doch denjenigen unter euch, die auch nur einen
einzigen Augenblick lang Liebe zum Leben empfunden haben und Stolz, sein würdiger Liebhaber zu sein, die
auch nur ein einziges Mal die Erde angeschaut und sie mit diesem Blick gutgeheißen haben, haben erfahren, was
es heißt, ein Mensch zu sein. Ihnen sage ich, daß ich nur der bin, der weiß, daß dies nicht verraten werden darf.
Ich bin der, der weiß, was es möglich gemacht hat, und der sich entschlossen hat, dem treu zu bleiben und so zu
leben und zu empfinden, wie ihr in jenem Augenblick empfunden und gelebt habt.
Es ist eurer Entscheidung überlassen, das gleiche zu tun – euer Leben seinem höchsten Wert zu weihen. Ihr
könnt es tun, indem ihr die Tatsache anerkennt, daß die edelste und menschenwürdigste Tat, die ihr je vollbracht
habt, die war, als euer Verstand begriff, daß zwei und zwei gleich vier ist.
Euch, die ihr mich jetzt hört und euch ehrlich bemüht, meine Worte zu verstehen, euch allen steht die
Möglichkeit offen, Menschen zu sein, doch der Preis dafür besteht darin, von vorn anzufangen, euch nackt der
Wirklichkeit zu stellen, einen kostspieligen Irrtum der Menschheit zu korrigieren und zu erklären: ‘Ich bin, also
will ich denken.’
Anerkennt die unumstößliche Tatsache, daß euer Leben von eurem Verstand abhängt. Gebt zu, daß euer
Kampf, eure Zweifel, eure Ausflüchte nur ein verzweifeltes Verlangen waren, der Verantwortlichkeit eines
wollenden Bewußtseins zu entrinnen, einem Verlangen nach automatischer Erkenntnis, nach instinktivem
Handeln, nach intuitiver Gewißheit – und während ihr glaubt, Engel werden zu wollen, habt ihr danach verlangt,
Tiere zu werden. Macht zu eurem moralischen Ideal die Aufgabe, Menschen zu werden.
Sagt nicht, ihr fürchtet euch, eurem Verstand zu vertrauen, weil ihr so wenig wißt. Seid ihr sicherer, wenn ihr
euch den Mystikern ausliefert und das bißchen, was ihr wißt, mißachtet? Lebt und handelt in den Grenzen eures
Wissens und vergrößert es nach den Erfordernissen eures Lebens. Befreit euren Verstand von den Fesseln
betrügerischer Autorität. Findet euch ab mit der Tatsache, daß ihr nicht allwissend seid, doch wisset, daß
Aberglaube euch keine Allwissenheit schenken kann, daß euer Verstand fehlbar ist, doch denkt daran, daß der
Verzicht auf euren Verstand euch nicht unfehlbar machen kann, daß ein eigener Irrtum sicherer ist als eine nur
im Glauben hingenommene Wahrheit, denn jener läßt euch die Möglichkeit, ihn zu korrigieren, diese aber
zerstört in euch die Fähigkeit, Irrtum von Wahrheit zu unterscheiden. Anstatt von einem allwissenden
Automaten zu träumen, anerkennt die Tatsache, daß der Mensch alles Wissen nur aus eigenem Willen und aus
eigener Kraft erwirbt, und daß dies seinen Vorrang im Universum darstellt, dies seine Natur ausmacht, seine
Moral, seine Größe.
Sagt euch los von dem unbegrenzten Zugeständnis an das Böse, das in der Behauptung liegt, der Mensch sei
unvollkommen. Nach welchem Maßstab verdammt ihr ihn, wenn ihr es behauptet? Anerkennt die Tatsache, daß
in der Moral nur das Vollkommene genügt. Doch Vollkommenheit wird nicht gemessen nach mystischen
Geboten, die das Unmögliche verlangen, und euer moralischer Wert wird nicht gewogen nach Taten, die nicht
von eurer Entscheidung abhängen. Der Mensch hat nur eine Alternative: zu denken oder nicht zu denken, und
dies ist der Gradmesser seiner Tugend. Moralische Vollkommenheit ist nicht der Grad eurer Intelligenz, sondern
der volle und ständige Gebrauch eures Verstandes, nicht das Maß eures Wissens, sondern die Anerkennung der
Vernunft als absolut.
Lernt unterscheiden zwischen Irrtümern des Wissens und Übertretungen der Moral. Ein Wissensirrtum ist
kein moralischer Fehler, wenn ihr willens seid, ihn zu korrigieren; nur ein Mystiker beurteilt Menschen nach
dem Maßstab einer automatischen Allwissenheit. Doch die Übertretung eines Moralgesetzes ist die bewußte
Entscheidung zu einer Tat, von der ihr wißt, daß sie böse ist oder ein willentliches Ausweichen vor der
Wirklichkeit, eine Unterdrückung der Wahrnehmung und des Denkens. Das, was ihr nicht wißt, kann nicht zur
moralischen Anklage gegen euch gemacht werden; aber das, was zu wissen ihr euch weigert, wird zur
wachsenden Schuld in eurer Seele. Seid großzügig gegenüber Irrtümern des Wissens und Erkennens; doch
vergebt euch selbst und anderen kein Vergehen gegen die Moral. Seid nachsichtig jenen gegenüber, die sich
bemühen zu wissen, doch behandelt als mögliche Mörder jene, die Forderungen an euch stellen mit der
Begründung, daß sie keine Gründe dafür haben noch suchen, die als ihre einzige Beglaubigung anführen, daß
‘sie sich berechtigt fühlen’, oder jene, die ein unwiderlegbares Argument verwerfen wollen, indem sie sagen: ‘Es
ist ja nur Logik’, was bedeutet: ‘Es ist ja nur Wirklichkeit.’ Das einzige Reich, das dem der Wirklichkeit
widerstrebt, ist das Reich des Todes.
Anerkennt die Tatsache, daß die Verwirklichung eures Glücks der einzige moralische Zweck eures Lebens ist,
und daß Glück – nicht Leid oder gedankenlose Genußsucht – der Beweis eurer moralischen Integrität ist, weil es
der Beweis und das Resultat eurer Treue zu dem Ideal der Verwirklichung eurer Werte ist. Glück war die
Verantwortung, die ihr gefürchtet habt; es verlangt jene Art von gedanklicher Disziplin, die ihr zu gering achtet,
um sie zu üben – und die verängstigte Leere eures Lebens ist das Zeugnis eurer Flucht vor der Erkenntnis, daß es
keinen moralischen Ersatz gibt für das Glück, daß es keinen verächtlicheren Feigling gibt als den Menschen, der
den Kampf um seine Lebensfreude aufgegeben hat und sich fürchtet, auf seinem Daseinsrecht zu bestehen, dem
der Mut und die Treue zum Leben fehlen, die jeder Vogel und jede Blume aufbringt, wenn sie der Sonne
entgegenstreben. Werft weg die schützenden Lumpen jenes Lasters, das ihr eine Tugend nanntet – der Demut;
lernt euch selbst zu schätzen, was bedeutet: für euer Glück zu kämpfen. Und wenn ihr erkennt, daß Stolz die
Summe aller Tugenden ist, werdet ihr auch lernen, wie Menschen zu leben.
Als ersten Schritt auf dem Wege zur Selbstachtung lernt, jede Forderung eines Menschen, ihm zu helfen, als
Kennzeichen von Kannibalismus zu betrachten. Wer fordert, beansprucht euer Leben für sich – und so
verächtlich ein solcher Anspruch sein mag, es gibt etwas, das noch verächtlicher ist: eure Zustimmung. Fragt ihr
mich, ob es denn nicht erlaubt ist, einem anderen Menschen zu helfen? Nein – wenn er eure Hilfe fordert als sein
Recht oder als eine moralische Pflicht, die ihr ihm schuldet. Ja – wenn es euer eigener Wunsch ist, gegründet auf
euer eigenes Gefallen an dem Wert seiner Person und seines Lebenskampfes. Leiden als solches ist kein Wert;
nur der Kampf des Menschen gegen das Leid ist ein Wert. Wenn ihr euch entschließen wollt, einem Menschen
zu helfen, der leidet, dann tut es nur auf Grund seiner Tugenden, seiner Anstrengung, sich selbst zu helfen, und
der Tatsache, daß er unschuldig leidet; dann wird eure Hilfe ein Handel sein, und seine Tugend ist die Bezahlung
für eure Hilfe. Doch einem Menschen zu helfen, der keine Tugenden besitzt, ihm zu helfen lediglich auf Grund
seines Leidens an sich, seine Fehler und sein Versagen, seine Bedürftigkeit als Anspruch zu betrachten –
bedeutet, für nichts eine Hypothek auf eure Werte aufzunehmen. Ein Mensch, der keine Tugenden besitzt, haßt
das Leben und handelt unter dem Zeichen des Todes; ihm helfen heißt, seine Laster sanktionieren und seine
zerstörerische Tätigkeit fördern. Sei es ein Cent, den ihr nicht vermissen werdet, oder ein Lächeln, das er nicht
verdient hat – ein Tribut an eine Null ist Verrat am Leben und an all jenen, die kämpfen, um es zu erhalten. Aus
solchen Cents und Lächeln entstand das, was eure Welt verwüstet hat.
Sagt nicht, daß meine Moral zu streng ist, um sie befolgen zu können, und daß ihr sie fürchtet, so wie ihr das
Unerkannte fürchtet. Alle Augenblicke lebendigen Lebens, die ihr erlebt haben mögt, ihr habt sie erlebt in den
Werten meiner Moral. Doch ihr habt sie geleugnet, unterdrückt und verraten. Ihr fuhrt fort, eure Tugenden euren
Lastern zu opfern, und die Besten unter euch den Schlechtesten. Schaut euch um: Was ihr der Gesellschaft
angetan habt, habt ihr zuvor eurer Seele angetan; die eine ist das Bild der anderen. Der traurige Trümmerhaufen,
den eure Welt jetzt darstellt, ist die physische Form des Verrats, den ihr an euren Werten begangen habt, an
euren Freunden, an euren Verteidigern, an eurer Zukunft, an eurem Land, an euch selbst.
Wir, nach denen ihr jetzt ruft, die aber nicht hören werden, wir haben unter euch gelebt, doch ihr habt uns
nicht erkannt; ihr habt euch geweigert zu denken und zu sehen, was wir waren. Ihr habt euch geweigert, den
Motor zu erkennen, den ich erfunden hatte, und er wurde in eurer Welt ein Haufen toten Abfalls. Ihr habt euch
geweigert, den Helden in eurer Seele zu erkennen, und habt euch geweigert, mich zu erkennen, wenn ich in den
Straßen an euch vorüberging. Wenn ihr verzweifelt nach dem unerreichbaren Geist schriet, der, wie ihr fühltet,
eure Welt verlassen hatte, gabt ihr ihm meinen Namen, doch nach was ihr rieft, war eure eigene verratene
Selbstachtung. Ihr werdet das eine nicht ohne das andere wiedererlangen.
Als ihr euch weigertet, den menschlichen Verstand anzuerkennen, und versuchtet, die Menschen durch
Gewalt zu beherrschen, hatten diejenigen, die sich unterwarfen, keinen Verstand auszuliefern; diejenigen, die
Verstand hatten, waren Menschen, die sich nie unterwerfen. So nahm der geniale Unternehmer in eurer Welt die
Rolle eines Playboys an und zog es vor, sein Vermögen zu vernichten, anstatt es euch auszuliefern. So nahm der
Denker, der Verstandesmensch, in eurer Welt die Rolle des Piraten an, um seine Werte mit Gewalt gegen eure
Gewalt zu verteidigen, weil er sich eurer Herrschaft der Brutalität nicht unterwerfen wollte. Hört ihr mich,
Francisco d’Anconia und Ragnar Danneskjöld, meine ersten Freunde, meine Kampfgefährten, in deren Namen
ich spreche?
Wir drei begannen, was ich jetzt vollende. Wir drei beschlossen, dieses Land zu rächen und seine gefangene
Seele zu befreien. Dieses großartigste aller Länder war erbaut auf den Grundsätzen meiner Moral, auf dem
unverletzlichen Recht des Menschen auf sein Leben. Doch ihr habt euch gefürchtet, es zu erkennen und in
Anspruch zu nehmen. Ihr bestauntet eine Leistung, die ihresgleichen in der Geschichte der Menschen nicht
kannte, ihr plündertet ihre Früchte und verleugnetet ihre Ursache. Angesichts des Denkmals menschlicher Moral,
das eine Fabrik darstellt, oder ein Highway, oder eine Brücke – fuhrt ihr fort, dieses Land als unmoralisch und
seinen Fortschritt als ‘materialistische Habgier’ zu verdammen, fuhrt fort, die Größe dieses Landes vor dem Idol
einer vorgeschichtlichen Barbarei zu entschuldigen, vor dem europäischen Idol mystischer Lebensverneinung.
Dieses Land – ein Produkt der Vernunft – konnte nicht leben mit einer Opfermoral. Es war nicht geschaffen
worden durch Menschen, die nach Selbstaufopferung strebten, oder durch Menschen, die um Almosen bettelten.
Es konnte nicht bestehen unter dem mystischen Glauben, der die Seele des Menschen von seinem Körper
scheidet. Es konnte nicht leben nach der mystischen Doktrin, die diese Erde als böse verdammte, und diejenigen,
die Erfolg hatten, als Sünder. Von seiner Geburt an war dieses Land eine Bedrohung für die alte Herrschaft der
Mystiker. In dem strahlenden Aufstieg seiner Jugend zeigte dieses Land einer ungläubigen Welt, welche Größe
der Mensch erreichen konnte, welches Glück möglich war auf Erden. Nur eine der beiden Mächte konnte
Überleben: Amerika oder die Mystiker. Die Mystiker wußten es; ihr erkanntet es nicht. Ihr ließt euch von ihnen
vergiften mit dem Glauben an das Bedürfnis – und dieses Land wurde zu einem Riesen an Körper mit einem
wimmernden Zwerg anstelle seiner Seele, während seine Seele in die Verbannung getrieben wurde, um für euch
zu arbeiten und euch zu füttern, ohne Anerkennung, ohne Lohn, ohne Ehre. Seele, Held und Opfer dieses Landes
war und ist der Industrielle, der schöpferische Mensch dieses Zeitalters. Hörst du mich, Hank Rearden, größtes
der Opfer, die ich gerächt habe?
Weder er noch wir anderen werden zurückkehren, ehe nicht der Weg frei ist, dieses Land wieder aufzubauen,
ehe nicht die Trümmer der Opfermoral ausgefegt worden sind. Das politische System eines Landes ist begründet
auf seinem Moralkodex. Wir werden Amerika wieder aufbauen auf den moralischen Grundsätzen, auf denen es
errichtet worden war, die ihr jedoch als unmoralisch verworfen habt in eurem verzweifelten Bemühen, dem
Konflikt zwischen eurer mystischen Moral und unserem Hauptgrundsatz auszuweichen, der lautet: Der Mensch
ist ein Endzweck in sich selber und nicht das Mittel für die Zwecke der anderen, und das Leben des Menschen,
seine Freiheit und sein Glück sind sein Eigentum auf Grund unveräußerlicher Rechte.
Ihr, die ihr den Begriff des Rechts verloren habt und in ohnmächtiger Unentschlossenheit hin und her
schwankt zwischen dem Anspruch, daß Rechte ein Geschenk Gottes sind, eine übernatürliche Gnade, die nur
durch Glauben verdient werden kann, und dem Anspruch, daß Rechte ein Geschenk der Gesellschaft sind und
von ihr nach Willkür und Laune verändert werden können: Der Ursprung der Menschenrechte ist weder ein
göttliches Gesetz noch ein Gesetz des Kongresses, sondern das Gesetz der Identität. A gleich A – und Mensch ist
Mensch. Rechte sind Existenzbedingungen, gefordert durch die Natur des Menschen zum Zwecke seines eigenen
Überlebens. Wenn der Mensch auf Erden leben soll, ist es sein Recht, seinen Verstand zu benutzen, ist es sein
Recht, nach seinem freien Urteil zu handeln, ist es sein Recht, für seine Werte zu arbeiten und die Produkte
seiner Arbeit für sich zu behalten. Wenn das Leben auf Erden sein Zweck ist, hat er ein Recht, als denkendes
Wesen zu leben: Die Natur verbietet ihm das Irrationale. Jede Gruppe, jede Gesellschaft, jede Nation, die die
Menschenrechte leugnet, hat unrecht, was bedeutet: ist böse, was bedeutet: ist lebensfeindlich.
Rechte sind ein moralischer Begriff – und Moral ist eine Sache freier Entscheidung. Die Menschen sind frei,
das Überleben des Menschen nicht als Prinzip ihrer Moral und ihrer Gesetze anzuerkennen, doch nicht frei, der
Tatsache auszuweichen, daß die Alternative eine kannibalische Gesellschaft ist, die für eine Weile existiert,
indem sie ihre Besten verschlingt und dann zusammenbricht wie ein krebskranker Körper, wenn die gesunden
Zellen von den kranken aufgezehrt worden sind, wenn die Vernunft von der Unvernunft erstickt worden ist. Dies
war oft das Schicksal eurer Gesellschaften der Vergangenheit, doch ihr habt euch geweigert, seine Ursache zu
erkennen. Ich bin gekommen, sie euch vor Augen zu halten: Die Kraft der ausgleichenden Gerechtigkeit war das
Gesetz der Identität. So wie ein einzelner Mensch nicht wider die Vernunft leben kann, so können es auch nicht
zwei und nicht zweitausend und auch nicht zwei Milliarden. So wie der einzelne scheitern muß, wenn er die
Wirklichkeit leugnet, so kann es auch nicht eine Nation und auch nicht ein Land und auch nicht eine ganze Welt.
A gleich A. Der Rest ist eine Frage der Zeit, bemessen nach der Großzügigkeit der Opfer.
So wie ein Mensch nicht existieren kann ohne Körper, so können Rechte nicht existieren ohne das Recht,
seine Rechte zu verwirklichen – zu denken, zu arbeiten und die Früchte zu behalten – was bedeutet: ohne das
Recht auf Eigentum. Die modernen Muskelmystiker, die euch die trügerische Alternative der ‘Menschenrechte’
gegen ‘Eigentumsrechte’ anbieten, als ob das eine ohne das andere existieren könnte, machen einen letzten
grotesken Versuch, die Doktrin ‘Seele gegen Körper’ wiederzubeleben. Nur ein Gespenst kann ohne materielles
Eigentum existieren; nur ein Sklave kann arbeiten ohne Recht auf das Produkt seiner Leistung. Die Doktrin, daß
‘Menschenrechte’ dem ‘Eigentumsrecht’ überlegen sind, bedeutet einfach, daß einige Menschen das Recht
haben, andere zu ihrem Eigentum zu machen; da der Tüchtige vom Untüchtigen nichts gewinnen kann, bedeutet
es das Recht der Untüchtigen, ihre tüchtigen Mitmenschen zu besitzen und sie als produktives Arbeitsvieh zu
benutzen. Wer dies als ‘menschlich’ betrachtet, hat kein Recht auf den Namen ‘Mensch’.
Die Quelle des Eigentumsrechtes ist das Gesetz der Kausalität. Alles Eigentum und alle Formen von
Reichtum werden erzeugt durch den Verstand und die Arbeit des Menschen. So wie ihr keine Folgen haben
könnt ohne Ursachen, so könnt ihr auch keinen Reichtum haben ohne seine Quelle: die Intelligenz. Ihr könnt die
Intelligenz nicht zum Arbeiten zwingen; diejenigen, die fähig sind zu denken, werden nicht unter Zwang
arbeiten; diejenigen, die dazu bereit sind, werden nicht mehr produzieren als die Peitsche wert ist, die sie zur
Arbeit antreibt. Ihr könnt das Erzeugnis eines Verstandes nur haben zu den Bedingungen, die sein Besitzer mit
euch frei aushandelt. Jede andere Methode, sich in den Besitz des Eigentums eines anderen zu setzen, ist
verbrecherisch. Verbrecher sind Wilde, die auf kurze Sicht handeln und selbst darben müssen, wenn ihnen die
Beute ausgeht – so wie ihr heute darbt, weil ihr geglaubt habt, Verbrechen lohne sich, weil eure Regierung
erklärt hat, Raub sei legal und Widerstand gegen Raub sei illegal.
Der einzige wahre Zweck einer Regierung ist, die Rechte des Menschen zu schützen, was bedeutet: ihn vor
physischer Gewalt zu schützen. Eine wahre Regierung ist nur ein Polizist, der als Funktionär der menschlichen
Selbstverteidigung handelt und als solcher nur Gewalt anwenden darf gegen jene, die selbst anfangen, Gewalt
anzuwenden. Die einzigen moralisch berechtigten Organe einer Regierung sind: die Polizei, um euch vor
Verbrechern zu schützen; die Armee, um euch vor fremden Eindringlingen zu schützen; die Gerichte, um euer
Eigentum zu schützen, eure Verträge zu garantieren und Streitigkeiten zu schlichten nach vernünftigen Gesetzen,
die einem objektiven Recht entsprechen. Doch eine Regierung, die den Gebrauch der Gewalt einführt gegen
Menschen, die gegen niemand gewalttätig waren, die bewaffneten Zwang anwendet gegen waffenlose Opfer, ist
ein Höllenapparat, dazu bestimmt, die Moral zu vernichten; eine solche Regierung verkehrt ihren eigentlichen
moralischen Zweck ins Gegenteil und vertauscht die Rolle des Beschützers mit der Rolle des Unterdrückers, die
Rolle des Polizisten mit der eines Verbrechers, der mit dem Recht ausgestattet ist, Gewalt anzuwenden gegen
Opfer, denen das Recht der Selbstverteidigung versagt ist. Eine solche Regierung setzt an die Stelle der Moral
die folgende Regel sozialen Verhaltens: Du darfst deinem Mitmenschen antun, was immer du willst,
vorausgesetzt, du bist stärker als er. Nur ein Wilder, ein Idiot oder ein Feigling kann bereit sein, unter solchen
Bedingungen zu leben oder seinen Mitmenschen einen Blankoscheck auf sein Leben und seinen Verstand
auszustellen, den Glauben anzunehmen, daß andere das Recht haben, nach Laune über seine Person zu verfügen,
daß der Wille der Mehrheit allmächtig ist, daß die physische Gewalt der Muskeln ein Ersatz ist für Gerechtigkeit,
Wirklichkeit und Wahrheit. Wir, die Verstandesmenschen, die wir Händler sind und nicht Herren oder Sklaven,
wir stellen keine Blankoschecks aus und nehmen auch keine an. Wir leben oder arbeiten nicht in einer Welt des
Nichtobjektiven.
Solange die Menschen im Stadium der Primitivität den Begriff der objektiven Realität nicht kannten und
glaubten, daß die physische Natur durch die Willkür unerkennbarer Dämonen beherrscht wird, waren Denken,
Wissenschaft und Produktion nicht möglich. Erst als die Menschen entdeckten, daß die Natur ein sicheres,
definierbares Absolutes ist, waren sie in der Lage, sich auf ihr Wissen zu verlassen, ihre Entscheidungen zu
treffen, ihre Zukunft zu planen und das Höhlenleben aufzugeben. Ihr habt jetzt die moderne Industrie mit ihrer
ungeheuren Komplexität und Präzision wieder zurück in die Gewalt von unbekannten Dämonen gegeben – in die
unberechenbare Gewalt der Willkür und Laune verborgener, kleiner, häßlicher Bürokraten. Ein Farmer wird
nicht bereit sein, die Arbeit eines Sommers zu investieren, wenn er nicht in der Lage ist, seine Chancen für eine
Ernte vorauszuberechnen. Doch ihr erwartet von Industrieführern, die in Zeitspannen von Jahrzehnten planen,
Investitionen für Generationen vornehmen und Verträge auf neunundneunzig Jahre abschließen, daß sie
weiterarbeiten und produzieren, ohne zu wissen, wann es einem Beamten einfällt, ihre ganzen Bemühungen mit
einem Federstrich zunichte zu machen. Handarbeiter leben und planen von einem Tag zum anderen. Je höher
entwickelt der Verstand, um so weiter vorausschauend die Planung. Der Kurzsichtige mag dem schnellen Profit
nachjagen. Der Unternehmer, der Wolkenkratzer baut oder Fabriken leitet, muß auf lange Sicht kalkulieren. Er
wird aber nicht zehn Jahre unprofitabler Arbeit der Entwicklung eines neuen Produktes widmen, wenn er weiß,
daß legalisierte Verbrecherbanden darauf lauern, ihn auszuplündern, wenn seine Erfindung beginnt, Gewinne
abzuwerfen.
Versucht über den nächsten Augenblick hinwegzuschauen, ihr, die ihr schreit, daß ihr Angst habt, mit
Menschen von höherer Intelligenz zu konkurrieren, daß ihr Verstand eine Bedrohung für eure Leistungen ist, daß
der Starke dem Schwachen keine Chance läßt auf einem freien Markt. Was bestimmt den materiellen Wert eurer
Arbeit? Nur die Produktivität eures Verstandes, wenn ihr allein auf einer einsamen Insel leben würdet. Je
weniger produktiv euer Hirn wäre, um so weniger würde eure körperliche Arbeit euch einbringen. Und ihr
könntet, wenn ihr nicht weiterdenken würdet, während eures ganzen Lebens nichts anderes tun als der Erde eine
unsichere Ernte abringen und mit Pfeil und Bogen jagen. Doch wenn ihr in einer rationalen Gesellschaft lebt, in
der die Menschen frei sind, Handel zu treiben, genießt ihr einen unschätzbaren Vorteil: Der materielle Wert eurer
Arbeit wird nicht nur durch eure eigene Leistung bestimmt, sondern auch durch die Leistung der besten
produktiven Hirne, die in eurer Umgebung leben und wirken.
Wenn ihr in einer modernen Fabrik arbeitet, werdet ihr nicht nur für eure eigene Arbeit bezahlt, sondern für
die gesamte geistige produktive Arbeit, die diese Fabrik möglich gemacht hat: für die Arbeit des Industriellen,
der sie gebaut hat, für die Arbeit des Investoren, der sein Geld in ihr riskiert hat, für die Arbeit des Ingenieurs,
der die Maschinen entworfen hat, deren Hebel ihr bedient, für die Arbeit des Erfinders, der das Produkt erfunden
hat, an dessen Herstellung ihr mitarbeitet, für die Arbeit des Wissenschaftlers, der die Gesetze erforscht hat, die
zur Entdeckung dieses Produktes führten, für die Arbeit des Philosophen, der die Menschen gelehrt hat, zu
denken, und den ihr zum Dank mit Schmähungen überhäuft.
Die Maschine, das Symbol lebendiger Intelligenz, ist die Macht, die das Potential eures Lebens erweitert,
indem sie die Produktivität eurer Zeit erhöht. Wenn ihr als Schmiede im Mittelalter der Mystiker arbeiten
würdet, könntet ihr in tagelanger, mühevoller Handarbeit vielleicht eine einzige Eisenstange produzieren.
Wieviel Tonnen Eisenbahnschienen produziert ihr pro Tag, wenn ihr für Hank Rearden arbeitet? Wagt ihr zu
behaupten, daß ihr die Höhe eures Lohnes nur eurer körperlichen Arbeit verdankt und daß diese Schienen nur
durch eure Muskeln erzeugt wurden? Der Lebensstandard des mittelalterlichen Schmiedes ist alles, was eure
Muskeln wert sind; der Rest ist ein Geschenk Hank Reardens.
Es steht jedem Menschen frei, so hoch zu steigen, wie er fähig oder willens ist, doch nur der Grad, wie weit er
denkt, bestimmt den Grad, wie hoch er steigt. Körperliche Arbeit als solche kann sich nicht weiter auswirken als
für den Augenblick. Der Mensch, der nur körperliche Arbeit leistet, verzehrt den materiellen Gegenwert seines
eigenen Beitrags zum Prozeß der Produktion und hinterläßt keinen weiteren Wert, weder für sich selbst noch für
andere. Doch der Mensch, der eine Idee auf einem Gebiet denkerischer Leistungen hervorbringt, der Mensch, der
neues Wissen entdeckt, ist der ständige Wohltäter der Menschheit. Materielle Produkte können nicht geteilt
werden, sie gehören dem jeweils letzten Verbraucher; nur der Wert einer Idee kann mit einer unbegrenzten
Anzahl von Menschen geteilt werden, macht alle, die an ihr teilhaben, reicher, ohne daß jemand etwas opfert
oder verliert, und steigert die Produktivität der Arbeit, die jeder von ihnen vollbringt. Es ist der Wert seiner
eigenen Zeit, den der Starke im Geist auf die Schwachen überträgt, indem er sie ausführen läßt, was er erfunden
hat, während er seine eigene Zeit weiteren Erfindungen widmet. Dies ist zweiseitiger Handel zu gegenseitigem
Nutzen; die Interessen des Verstandes sind gemeinsam – gleichgültig, wie groß die aufgewandte Intelligenz –
unter Menschen, die arbeiten wollen und nicht das Unverdiente suchen oder erwarten. Im Verhältnis zu der
geistigen Energie, die der Erfinder für seine Arbeit aufwendet, erhält er nur einen kleinen Prozentsatz seines
verdienten Wertes in Form materieller Vergütung, gleichgültig, ein wie großes Vermögen er macht, wieviel
Millionen er verdient. Doch der Mann, der als Pförtner in der Fabrik arbeitet, die diese Erfindung produziert,
erhält eine hohe Bezahlung im Verhältnis zu der geistigen Anstrengung, die seine Stellung von ihm fordert. Und
dies ist der Fall bei allen Menschen auf allen Ebenen der Tüchtigkeit und des Ehrgeizes, die zwischen dem
Erfinder und dem Pförtner stehen. Der Mensch an der Spitze der intellektuellen Pyramide leistet den größten
Beitrag für alle, die unter ihm rangieren, erhält aber nur seine materielle Bezahlung und empfängt keinerlei
geistigen Vorteil von den anderen, den er dem Wert seiner Zeit zurechnen könnte. Der Mensch auf der untersten
Stufe, der, sich selbst überlassen, darben müßte in seiner hoffnungslosen Unfähigkeit, schafft nichts, was den
anderen über ihm nützt, hat aber Teil an dem Gewinn, den ihre Hirne produzieren. Dies ist das Wesen der
Rivalität zwischen den Starken und den Schwachen des Intellekts. So sieht das aus, was ihr ‘Ausbeutung’ nennt
und dem Starken als Sünde anrechnet.
Dies war der Dienst, den wir euch geleistet haben und freiwillig und mit Freuden leisteten. Was haben wir als
Gegenwert gefordert? Nichts als Freiheit. Wir haben gefordert daß ihr uns die Freiheit laßt, zu denken und zu
arbeiten, wie es uns beliebte; die Freiheit, unsere eigenen Risiken einzugehen und unsere eigenen Verluste zu
tragen; die Freiheit, Vermögen zu schaffen; die Freiheit, unsere Produkte eurem Urteil zu unterstellen zum
Zwecke eines freien Marktes, uns auf den objektiven Wert eurer Arbeit zu stützen und uns auf die Fähigkeit
eures Verstandes zu verlassen, ihn gerecht einzuschätzen; die Freiheit, mit eurer Ehrlichkeit und eurer Intelligenz
zu rechnen und mit eurem gesunden Menschenverstand. Dies war der Preis, den wir forderten und den ihr als zu
hoch ablehntet. Ihr nanntet es ungerecht, daß wir, die wir euch aus euren Hütten hervorgeholt und euch moderne
Wohnungen gegeben haben und Radio und Filme und Autos, daß wir Paläste und Jachten besitzen sollten. Ihr
erklärtet, daß ihr ein Recht hättet auf eure Löhne, wir aber kein Recht auf unsere Gewinne, daß ihr nicht mit dem
Verstand mit uns verhandeln wolltet, sondern mit Gewehren. Unsere Antwort hierauf war: ‘Dann geht
zugrunde!’ Wir haben recht behalten. Ihr seid am Ende.
Ihr wolltet nicht den Wettbewerb der Vernunft, jetzt habt ihr den Triumph der Brutalität. Ihr wolltet nicht, daß
Verdienste erworben werden durch produktive Arbeit, jetzt regieren Raub und Plünderung eure Wirtschaft. Ihr
nanntet es egoistisch und grausam, daß die Menschen Wert gegen Wert eintauschen sollen, jetzt habt ihr eine
selbstlose Gesellschaft, in der Erpresser gegen Erpresser kämpfen. Euer System ist ein legaler Bürgerkrieg, in
dem die Menschen Banden bilden und übereinander herfallen und das Gesetz an sich zu reißen suchen, um es als
Knüppel zu benutzen, bis eine andere Bande es ihnen aus der Faust windet und damit auf sie einschlägt – und
alle behaupten sie, zum Wohl einer undefinierbaren Öffentlichkeit zu handeln. Ihr habt immer erklärt, ihr sähet
keinen Unterschied zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht, zwischen der Macht des Geldes und der
Macht der Gewehre, keinen Unterschied zwischen Lohn und Strafe, zwischen Kauf und Diebstahl, zwischen
Freude und Furcht, zwischen Leben und Tod. Jetzt lernt ihr den Unterschied kennen.
Einige von euch mögen vielleicht mit Recht für mildernde Umstände plädieren auf Grund ihrer Unwissenheit,
ihres fehlenden Verstandes und ihres Mangels an Weitsicht. Doch die volle und schwerste Schuld trifft
diejenigen unter euch, die die Fähigkeit besaßen, zu sehen und zu erkennen, es aber vorzogen, die Wirklichkeit
zu verleugnen, diejenigen, die bereit waren, ihre Intelligenz in die Sklaverei der Gewalt zu verkaufen, in die
Sklaverei jener verächtlichen Brut von Mystikern der Wissenschaft, die sich zu dem Glauben an eine sogenannte
‘reine Erkenntnis’ bekennen, deren Reinheit darin besteht, daß sie keinen praktischen Zweck auf dieser Erde
verfolgt; die ihre Logik für die unbelebte Materie reservieren, aber glauben, daß im Umgang mit Menschen
Vernunft nicht vonnöten ist; die das Geld verachten und ihre Seelen verkaufen für ein Laboratorium, das durch
Plünderung unterhalten wird. Und da es kein sogenanntes ‘nichtpraktisches Wissen’ und kein ‘desinteressiertes
Handeln’ gibt, da sie die Anwendung ihrer W issenschaft zum Nutzen des Lebens verachten, stellen sie sie in den
Dienst des Todes, wo sie dem einzigen Zweck dient, den sie für Plünderer haben kann: Waffen der
Unterdrückung und der Zerstörung zu schaffen. Sie, die Intellektuellen, die alle moralischen Werte zu leugnen
suchen, sie sind die Verdammten dieser Erde, und ihre Schuld übersteigt alles Verzeihen. Hören Sie mich, Dr.
Robert Stadler?
Doch er ist es nicht, an den ich mich wende. Ich spreche zu jenen unter euch, die noch einen Rest ihrer Seele
fre i gehalten haben von dem Stempel: ‘Verkauft und zur Verfügung der anderen’. Wenn in dem Chaos der
Motive, die euch veranlaßt haben, heute abend das Radio einzustellen, auch der ehrliche, vernünftige Wunsch
mitsprach zu erfahren, was mit dieser Welt nicht in Ordnung ist, dann seid ihr die Menschen, an die ich mich
wende. Nach den Gesetzen meines Kodex schuldet man denjenigen eine vernünftige Erklärung, die
Anstrengungen machen, einen zu verstehen. Diejenigen, die mich nicht verstehen wollen, kümmern mich nicht.
Ich spreche nur zu denjenigen, die als Menschen leben und die Ehre ihrer Seele wiedergewinnen wollen. Nun,
da ihr die Wahrheit über eure Welt wißt, hört auf, eure eigenen Zerstörer zu unterstützen. Das Übel in der Welt
ist nur möglich gemacht worden durch eure Zustimmung. Zieht eure Zustimmung zurück. Entzieht ihm eure
Unterstützung. Versucht nicht zu leben nach den Bedingungen eurer Feinde oder ein Spiel zu gewinnen, in dem
sie die Regeln festlegen. Sucht nicht die Gunst jener, die euch versklaven, bittet nicht die um Almosen, die euch
beraubt haben, sei es in Form von Geld, Arbeit oder Vorrechten, schließt euch nicht ihren Gangsterbanden an,
um das, was sie euch genommen haben, wiederzuerlangen, indem ihr ihnen helft, eure Nachbarn zu berauben.
Man kann nicht hoffen, sein Leben zu erhalten, indem man sich bestechen läßt, die eigene Zerstörung zu
verzeihen. Kämpft nicht um Profit, Erfolg oder Sicherheit um den Preis eines Wechsels auf euer Recht zu leben.
Einen solchen Wechsel könnt ihr nie einlösen; je mehr ihr zahlt, um so mehr werden sie fordern; je größer die
Werte sind, die ihr zu verwirklichen sucht, um so verwundbarer und hilfloser werdet ihr. Ihr System ist ein
System legalisierter Erpressung, dazu bestimmt, euch auszubluten, nicht auf Grund eurer Sünden, sondern auf
Grund eurer Liebe zum Leben.
Versucht nicht aufzusteigen nach den Regeln der Plünderer oder eine Leiter zu benutzen, die sie halten.
Erlaubt ihnen nicht, die einzige Macht anzutasten, die sie in Schach hält: euren Willen zum Leben. Tretet in den
Streik – wie ich es getan habe. Nutzt euren Verstand und euer Können im geheimen, erweitert euer Wissen,
entwickelt eure Fähigkeiten, doch teilt eure Leistungen nicht mit anderen. Versucht nicht, Vermögen zu
schaffen, während ein Plünderer auf eurem Rücken reitet. Bleibt auf der untersten Sprosse ihrer Leiter, verdient
nicht mehr, als ihr zum nackten Lebensunterhalt braucht, erübrigt keinen Cent, um den Staat der Plünderer zu
unterstützen. Da ihr Gefangene seid, handelt als Gefangene und helft ihnen nicht, so zu tun, als wäret ihr frei.
Seid der stumme, unbestechliche Feind, den sie furchten. Wenn sie euch zwingen, gehorcht. Doch tut nichts
freiwillig. Tut keinen Schritt freiwillig, um ihre Wünsche, ihre Forderungen, ihre Zwecke zu erfüllen. Helft
einem Wegelagerer nicht zu behaupten, daß er euer Freund und Wohltäter ist. Helft euren Gefängniswärtern
nicht zu behaupten, daß ihr Gefängnis eure natürliche Behausung ist. Helft ihnen nicht, die Wirklichkeit zu
fälschen. Diese Fälschung ist der einzige Damm, der sie vor ihrer geheimen Angst schützt, vor der Angst
erkennen zu müssen, daß sie unfähig sind, aus eigener Kraft zu leben; zerstört diesen Damm und laßt sie
ertrinken; eure Zustimmung zu ihrem Schwindel ist ihr einziger Rettungsgürtel. Wenn ihr eine Gelegenheit
findet, in eine Wildnis außerhalb ihres Machtbereichs zu verschwinden, dann tut es, doch lebt nicht als Banditen
und bildet keine Banden, um mit den ihren zu konkurrieren; lebt ein produktives Leben für euch allein und mit
jenen, die eure Moral anerkennen und willens sind, für ein menschenwürdiges Dasein zu kämpfen. Ihr habt keine
Chance, mit der Moral des Todes oder mit der Doktrin des Glaubens und der Gewalt zu siegen; erreicht ein
Ideal, dem alle Ehrlichen folgen: das Ideal des Lebens und der Vernunft.
Handelt wie vernünftige Wesen und strebt danach, ein Anziehungspunkt für alle jene zu werden, die sich nach
der Stimme der Integrität sehnen. Handelt nach dem Maßstab eurer rationalen Werte, ob ihr nun allein lebt oder
inmitten eurer Feinde oder zusammen mit einigen eurer erwählten Freunde oder als Begründer einer kleinen
Gemeinde an der Grenze der Wiedergeburt der Menschheit.
Wenn der Staat der Plünderer, beraubt der besten seiner Sklaven, zusammenbricht, wenn er auf das Niveau
eines ohnmächtigen Chaos herabgesunken ist wie die der Mystik verschworenen Nationen des Orients und sich
auflöst in hungernde Räuberbanden, die einander auslöschen, wenn die Anwälte der Opfermoral mit ihrem Idol
untergehen – dann und nur an diesem Tage werden wir zurückkehren. Wir wollen jenen, die es verdienen,
eintreten zu dürfen, die Tore unserer Stadt öffnen, einer Stadt von Schornsteinen, Rohrnetzen, Obstgärten,
Märkten und unverletztlichen Heimen. Wir wollen als Sammelpunkt dienen für die geheimen Posten, die ihr
errichten werdet. Mit dem Dollarzeichen als unserem Symbol – dem Wahrzeichen des freien Handels und der
freien Geister – werden wir von neuem dieses Land von den ohnmächtigen Wilden fordern, die nie seinen Wert,
seine Bedeutung, seine Größe erkannt haben. Diejenigen, die zu uns stoßen wollen, sind willkommen;
diejenigen, die es nicht wollen, werden nicht die Macht haben, uns aufzuhalten; Horden von Wilden waren nie
ein Hindernis für Menschen, die das Banner der Vernunft trugen. Dann wird dieses Land von neuem das
Heiligtum einer verschwundenen Gattung werden: der denkenden Wesen. Das politische System, das wir
errichten werden, beruht auf einem einzigen moralischen Grundsatz: Kein Mensch darf von einem anderen
irgendeinen Wert durch Anwendung physischer Gewalt erlangen. Jeder Mensch wird stehen oder fallen, leben
oder sterben nach dem Maßstab seines denkenden Verstandes. Wenn er ihn nicht nutzt und fällt, wird er sein
einziges Opfer sein. Wenn er fürchtet, daß sein Verstand nicht ausreicht, sein Ziel zu erreichen, wird ihm kein
Gewehr gegeben werden, um nachzuhelfen. Wenn er bereit ist, seine Irrtümer beizeiten zu korrigieren, wird ihm
das Beispiel seiner überlegenen Mitmenschen Gelegenheit geben, produktiveres Denken zu erlernen; doch es
wird ein Ende gemacht sein der Schande, daß einer mit seinem Leben für die Irrtümer anderer zahlt.
In dieser Welt wird es euch möglich, am Morgen zu erwachen mit jenem Geist, den ihr in eurer Kindheit
gekannt habt: dem Geist des Eifers, des Wagemuts und der Sicherheit, der dem Bewußtsein entstammt, in einem
rationalen Universum zu leben. Kein Kind hat Angst vor der Natur; auch eure Angst wird verschwinden, die
Angst, die eure Seelen betäubt hat, die Angst, die euch befiel bei euren ersten Begegnungen mit dem
Unverständlichen, dem Unvorhersehbaren, dem Widersprüchlichen, dem Willkürlichen, dem Verborgenen, dem
Falschen, dem Irrationalen im Menschen. Ihr werdet in einer Welt verantwortlicher Wesen leben, die so
zuverlässig sind wie Tatsachen; die Garantie ihrer Charaktere wird eine Ordnung des Zusammenlebens sein, in
der objektive Wirklichkeit Maßstab und Richter ist. Eure Tugenden werden geschätzt sein, nicht aber eure Laster
und Schwächen. Dem Guten in euch wird jede Chance offen sein, keine aber wird eurem bösen Willen gegeben
werden. Was ihr von Menschen erhalten werdet, wird nicht Almosen oder Mitleid oder Barmherzigkeit sein,
sondern nur ein einziger Wert: Gerechtigkeit. Wenn ihr die Menschen um euch oder euch selbst ansehen werdet,
werdet ihr nicht Ekel, Argwohn oder Schuld empfinden, sondern ein gleichbleibendes, unerschütterliches Gefühl
der Achtung.
Dies ist die Zukunft, die zu gewinnen ihr eingeladen und fähig seid. Sie erfordert Kampf, wie jeder
menschliche Wert. Alles Leben ist ein Kampf, und eure einzige Wahl ist die des Ziels. Wollt ihr den Kampf
weiterkämpfen, den ihr jetzt kämpft, oder wollt ihr für meine Welt kämpfen? Wollt ihr einen Kampf fortsetzen,
der darin besteht, daß ihr euch an eine Welt klammert, die langsam in den Abgrund gleitet, einen Kampf, in dem
kein Verlust wiedergutgemacht werden kann und jeder Sieg euch der Niederlage näher bringt? Oder wollt ihr
einen Kampf beginnen, der darin besteht, daß ihr eine neue Welt erobert, einen Kampf, in dem eure Prüfungen
Investitionen für die Zukunft sind und eure Siege euch der erstrebten Welt immer näher bringen? Dies ist die
Wahl, die euch offensteht. Laßt euren Verstand und eure Liebe zum Leben entscheiden.
Die letzten meiner Worte sollen jenen Helden gelten, die noch verborgen in eurer Welt leben, die
gefangengehalten werden, nicht durch ihre Feigheit, sondern durch ihre Tugenden und ihren verzweifelten Mut.
Meine Brüder im Geiste, prüft eure Tugenden und das Ziel der Feinde, denen ihr dient. Eure Zerstörer halten
euch durch eure Ausdauer, eure Großmut, eure Unschuld, eure Liebe gefangen – die Ausdauer, die ihre Lasten
trägt, die Großmut, die ihren verzweifelten Hilferufen folgt, die Unschuld, die unfähig ist, ihre Verderbtheit zu
begreifen, die Liebe, eure Liebe zum Leben, die euch glauben läßt, daß sie Menschen sind und es auch lieben.
Doch die Welt, die sie wollen, ist die Welt von heute; Leben ist der Gegenstand ihres Hasses. Überlaßt sie dem
Tod, den sie anbeten. Im Namen eurer wunderbaren Hingabe an diese Erde, sagt euch von ihnen los, erschöpft
die Größe eurer Seelen nicht für den Triumph des Bösen in den ihren. Hörst du mich, Liebste?
Im Namen des Besten in euch, opfert diese Welt nicht jenen, die ihre schlechtesten Söhne sind. Im Namen der
Werte, die euch am Leben erhalten, laßt euer Bild vom Menschen nicht zerstören durch das Häßliche, Feige und
Vernunftlose in jenen, die diesen Titel nie verdient haben. Vergeßt nicht, daß der Mensch aufrecht geht, daß sein
Verstand unbestechlich und sein Wille unbegrenzt ist. Laßt euer Feuer nicht Funke um Funke erlöschen in den
hoffnungslosen Sümpfen des Nicht-Ganzen, des Noch-Nicht, des Überhaupt-Nicht. Laßt den Helden in euch
nicht untergehen in einsamer Sehnsucht nach einem Leben, das euch gehört, von dem ihr aber immer weit
entfernt wart. Prüft euren Weg und den Sinn eures Kampfes. Die Welt, die ihr ersehnt, kann erobert werden, sie
existiert, sie ist wirklich, sie ist möglich, sie gehört euch.
Doch sie zu gewinnen, erfordert totale Hingabe und einen vollkommenen Bruch mit der Welt eurer
Vergangenheit, mit der Doktrin, daß der Mensch ein Opfertier ist, das zum Nutzen der anderen lebt. Kämpft für
den Wert eurer Persönlichkeit. Kämpft für die Tugend eures Stolzes. Kämpft für das, was der Mensch ist: für
seinen souveränen denkenden Verstand. Kämpft mit der klaren Sicherheit und der absoluten Aufrichtigkeit eures
Wissens, daß eure Moral die Moral des Lebens ist und daß euer Kampf der Kampf um die Verwirklichung aller
Werte, aller Größe, aller Güte und aller Freude ist, die auf dieser Erde möglich sind.
Ihr werdet siegen, wenn ihr bereit seid, den Eid zu leisten, den ich zu Beginn meines Kampfes geleistet habe –
und für diejenigen, die den Tag meiner Rückkehr wissen wollen, will ich ihn nun vor den Ohren der ganzen Welt
wiederholen:
Ich schwöre bei meinem Leben und bei meiner Liebe zum Leben: Ich werde nie für andere leben, und ich
werde nie von anderen verlangen, daß sie für mich leben.«

VIII. Der Egoist

»Das war doch nicht wirklich?« sagte Mr. Thompson. Wie hypnotisiert standen sie vor dem Radioapparat, als
der letzte Ton von Galts Stimme verklungen war. Keiner bewegte sich in dem plötzlichen Schweigen. Sie
starrten auf den Apparat, als warteten sie. Doch das Gerät war jetzt nur noch ein hölzerner Kasten mit einigen
Knöpfen und einem kreisrunden Stück Stoff über einem stummen Lautsprecher.
»Wir scheinen es gehört zu haben«, sagte Tinky Holloway.
»Wir konnten kaum anders«, sagte Chick Morrison. Mr. Thompson saß auf einer Kiste. Der bleiche, ovale
Fleck neben seinem Ellenbogen war das Gesicht von Wesley Mouch, der am Boden saß. Weit hinter ihnen lag
wie eine Insel in dem weiten Halbdunkel des Studios, verlassen und voll beleuchtet, die für ihre Sendung
bestimmte Salondekoration, ein Halbkreis von leeren Sesseln unter dem Spinnennetz von toten Mikrophonen im
grellen Schein der Flutlichter, die auszuschalten niemand eingefallen war.
Mr. Thompsons Blick wanderte über die Gesichter, die ihn umgaben, als suchte er in ihnen einen bestimmten,
nur ihm bekannten Ausdruck. Die anderen taten verstohlen das gleiche, versuchten einer im Blick des anderen zu
lesen, ohne sich selbst in die Augen schauen zu lassen.
»Laßt mich hier raus!« schrie ein junger Hilfsassistent plötzlich, ohne sich an eine bestimmte Person zu
wenden.
»Hiergeblieben!« schnarrte Mr. Thompson. Der Klang seiner eigenen Stimme und das Aufstöhnen der
bewegungslosen Gestalt im dunklen Hintergrund halfen ihm, seiner bedrohten Wirklichkeit wieder Herr zu
werden. Er reckte den Kopf.
»Wer hat zugelassen, daß…« begann er mit schneidender Stimme, unterbrach sich aber plötzlich. Was er in
den Gesichtern um sich aufglimmen sah, war die gefährliche Panik der Hilflosigkeit. »Was halten Sie davon?«
fuhr er statt dessen fort. Niemand antwortete. »Nun?« Er wartete. »So sagen Sie doch etwas – irgend jemand!«
»Wir brauchen es doch nicht zu glauben!« schrie James Taggart Mr. Thompson an, in einem Ton, der wie
eine Drohung klang. »Das brauchen wir doch nicht!« Taggarts Gesicht war verzerrt; seine Züge erschienen
formlos. Ein Schnurrbart aus Schweißperlen glitzerte zwischen seinem Mund und seiner Nase.
»Beruhigen Sie sich doch«, sagte Mr. Thompson unsicher und wich vor Taggart zurück.
»Wir dürfen es nicht glauben!« Taggarts Stimme war tonlos und eindringlich, als bemühte er sich, einen
Trancezustand aufrechtzuerhalten. »Niemand hat es je zuvor gesagt! Er ist nur einer! Wir brauchen es nicht zu
glauben!«
»Nehmen Sie es nicht so tragisch«, sagte Mr. Thompson.
»Warum glaubt er, im Recht zu sein? Wer ist er, daß er sich gegen die ganze Welt stellt, gegen alles, was seit
Jahrhunderten gelehrt wird? Woher will er es besser wissen? Niemand kann sicher sein! Niemand kann wissen,
was wahr ist! Es gibt keine absolute Wahrheit!«
»Schweigen Sie!« bellte Mr. Thompson. »Worauf wollen Sie…«
Der Lärm, der ihn verstummen ließ, war ein Militärmarsch, der plötzlich aus dem Radioapparat schallte – der
gleiche Marsch, der vor drei Stunden unterbrochen worden war, untermalt von dem gleichen kratzenden
Geräusch einer alten, abgespielten Studioplatte. Sie brauchten mehrere Sekunden, bis sie begriffen, was geschah,
während die fröhlichen, schneidigen Klänge grotesk unwirklich durch das Schweigen hallten wir das Grinsen
eines Blöden. Der Programmleiter des Senders gehorchte blind dem Gesetz, daß keine Sekunde der Sendezeit
leer bleiben durfte.
»Sagen Sie ihnen, sie sollen abschalten!« schrie Wesley Mouch, auf die Füße springend. »Sonst glauben die
Leute, wir hätten diese Rede autorisiert!«
»Sie verdammter Narr!« schrie Mr. Thompson. »Wollen Sie, daß sie glauben, wir haben sie nicht autorisiert?«
Mouch schwieg betroffen und warf Mr. Thompson einen Blick zu, aus dem die Anerkennung des Amateurs
für den Meister sprach.
»Weitersenden wie üblich!« befahl Mr. Thompson. »Sagen Sie ihnen, sie sollen senden, was im Programm
vorgesehen war! Keine Extra -Ansagen, keine Erklärungen! Sagen Sie ihnen, sie sollen so fortfahren, als wäre
nichts geschehen!«
»Instruieren Sie die Kommentatoren, sie sollen sich jeden Kommentars enthalten! Informieren Sie alle Sender
des Landes! Lassen Sie die Leute sich wundern! Lassen Sie sie nicht denken, daß wir beunruhigt sind! Lassen
Sie sie nicht glauben, daß die Sache wichtig ist!«
»Nein!« schrie Eugene Lawson. »Nein, nein, nein! Wir dürfen beim Volk nicht den Eindruck erwecken, als
billigten wir diese Rede! Sie war entsetzlich, entsetzlich, entsetzlich!« Lawson hatte keine Tränen in den Augen,
doch seine Stimme schluchzte in ohnmächtiger Wut.
»Wer hat etwas davon gesagt, daß wir sie billigen?« fuhr ihn Mr. Thompson an.
»Es war entsetzlich! Es war unmoralisch! Es war egoistisch, herzlos, gewissenlos, was er gesagt hat! Es war
die ungeheuerlichste Rede, die je gehalten wurde! Sie… sie wird die Menschen dazu bringen, glücklich sein zu
wollen! «
»Es war nur eine Rede«, sagte Mr. Thompson, nicht ganz sicher. »Mir scheint«, sagte Chick Morrison in
einem vermittelnden Ton, »daß Menschen von edler Geisteshaltung… Sie verstehen doch, was ich meine…
Menschen von… von… nun, von mystischer Einsicht«, er machte eine Pause, als erwarte er, daß ihn jemand ins
Gesicht schlüge; doch niemand rührte sich, und so wiederholte er mit fester Stimme, »ja, von mystischer
Einsicht werden auf diese Rede nicht hereinfallen.«
»Die Arbeiter werden nicht darauf hereinfallen«, sagte Tinky Holloway zuversichtlich. »Er sprach nicht wie
ein Freund der Werktätigen.«
»Die Frauen des Landes werden nicht darauf hereinfallen«, erklärte Ma Chalmers. »Es ist, so glaube ich, eine
feststehende Tatsache, daß Frauen nichts auf Verstandesdinge geben. Frauen haben ein feineres Empfinden. Auf
die Frauen können Sie zählen.«
»Auf die Wissenschaftler können Sie zählen«, sagte Dr. Simon Pritchett. Alle drängten sich plötzlich vor,
begierig zu reden, als hätten sie ein Thema gefunden, das sie mit Sicherheit behandeln konnten. »Wissenschaftler
sind darüber erhaben, an die Vernunft zu glauben. Er ist kein Freund der Wissenschaftler.«
»Er ist niemandes Freund«, sagte Wesley Mouch, in dieser plötzlichen Erkenntnis wieder etwas Vertrauen
gewinnend, »mit Ausnahme vielleicht der großen Unternehmer.«
»Nein!« rief Mr. Mowen entsetzt aus. »Nein! Klagen Sie uns nicht an! Sagen Sie nicht so etwas! Ich dulde
nicht, daß Sie so etwas sagen!«
»Was?«
»Daß – daß… jemand Freund der Unternehmer ist!«
»Machen wir doch nicht so viel Aufhebens von dieser Rede«, sagte Dr. Floyd Ferris. »Sie war zu intellektuell.
Viel zu intellektuell für den einfachen Mann. Sie wird keine Wirkung haben. Die Menschen sind zu dumm, sie
zu verstehen.«
»Ja«, sagte Mouch hoffnungsvoll, »so ist es.«
»Erstens«, fuhr Dr. Ferris ermutigt fort, »können die Menschen nicht denken, und zweitens wollen sie nicht
denken.«
»Und drittens«, sagte Fred Kinnan, »wollen sie nicht verhungern. Und was schlagen Sie vor, hiergegen zu
tun?«
Es war, als hätte er die Frage ausgesprochen, die alle früheren Äußerungen nur aufschieben wollten. Keiner
antwortete ihm, doch sie zogen die Köpfe ein und drängten sich zusammen, wie erdrückt von dem leeren Raum
des großen Sendesaals. Der Militärmarsch lärmte weiter in dem Schweigen wie die unerschütterliche
Fröhlichkeit eines grinsenden Totenkopfes.
»Stellen Sie das Ding ab!« brüllte Mr. Thompson, auf das Radio zeigend. »Stellen Sie das verdammte Ding
ab!«
Jemand befolgte seinen Befehl. Doch die plötzliche Stille war schlimmer. »Nun?« sagte Mr. Thompson
schließlich, den Blick widerwillig zu Fred Kinnan erhebend. »Was sollen wir tun?«
»Wer? Ich?« kicherte Kinnan. »Ich bin hier nicht kompetent.«
Mr. Thompson schlug sich mit der Faust aufs Knie. »Sagen Sie etwas…« befahl er, doch als er sah, daß
Kinnan sich abwandte, fügte er hinzu, »irgendeiner von Ihnen! « Es meldete sich niemand. »Was sollen wir
tun?« brüllte er, wohl wissend, daß der Mann, der antwortete, ihn später in der Macht ablösen würde. »Was
sollen wir tun? Kann jemand uns sagen, was wir tun sollen?«
»Ich kann es!«
Es war die Stimme einer Frau, doch sie hatte den gleichen Klang wie die Stimme, die sie im Radio gehört
hatten. Sie wandten sich jäh zu Dagny um, bevor sie Zeit hatte, aus dem Dunkel hinter der Gruppe
herauszutreten. Als sie ins Licht trat, erschraken sie über ihr Gesicht – es war frei von Furcht.
»Ich kann es«, sagte sie, zu Mr. Thompson gewandt, »Sie müssen aufgeben.«
»Aufgeben?« wiederholte er verblüfft.
»Sie sind am Ende. Sehen Sie denn nicht, daß Sie am Ende sind? Was brauchen Sie noch nach dem, was Sie
gehört haben? Geben Sie auf, und machen Sie den Weg frei. Lassen Sie die Menschen frei leben.«
Er sah sie an, ohne ein Zeichen oder ein Wort des Widerspruchs.
»Sie sind noch am Leben, Sie benutzen noch die menschliche Sprache, Sie fordern Antworten, Sie zählen auf
Vernunft… Sie zählen immer noch auf die Vernunft. Sie sind fähig zu verstehen! Es ist nicht möglich, daß Sie
nicht verstanden haben. Es gibt nichts, was Sie noch vorgeben können zu erhoffen, zu wünschen, zu erreichen.
Vor Ihnen liegt nichts als Zerstörung, die Zerstörung der Welt und Ihre eigene. Geben Sie auf, und treten Sie
ab!«
Sie lauschten ihr gespannt, doch nicht, als ob sie ihre Worte hörten, sondern als ob sie sich an eine
Eigenschaft klammerten, die sie allein unter ihnen besaß, die Eigenschaft, lebendig zu sein. Es war ein Ton von
frohlockendem Gelächter in der zornigen Heftigkeit ihrer Stimme, ihr Gesicht war erhoben, ihre Augen schienen
ein entfernt sich vollziehendes Schauspiel zu grüßen, so daß der Lichtfleck auf ihrer Stirn nicht von einer der
Studiolampen zu stammen schien, sondern von einem Strahl der aufgehenden Sonne.
»Sie wollen doch weiterleben? Räumen Sie das Feld, wenn Sie noch eine Chance dazu haben wollen. Er weiß,
was er zu tun hat. Sie wissen es nicht. Er ist in der Lage, die Voraussetzungen für ein Überleben der Menschheit
zu schaffen. Sie sind es nicht.«
»Hören Sie nicht auf sie!«
Es war ein Schrei von so wildem Haß, daß sie von Dr. Robert Stadler zurückwichen, als ob er dem
Uneingestandenen in ihnen selbst Stimme gegeben hätte. Sein Gesicht sah aus, wie sie fürchteten, daß ihre im
Schutze der Dunkelheit aussahen.
»Hören Sie nicht auf sie!« schrie er. Er mied ihre Augen, während ihre einen kurzen Moment auf ihm ruhten
mit einem ruhigen Blick, der mit einem Staunen begann und wie ein Nekrolog endete. »Es gilt Ihr Leben oder
seines!«
»Schweigen Sie, Professor«, sagte Mr. Thompson mit einer wegwerfenden Handbewegung. Mr. Thompson
betrachteten Dagny, als ob ein Gedanke sich bemühte, in seinem Kopf Gestalt zu gewinnen.
»Sie kennen die Wahrheit, Sie alle«, sagte sie, »und auch ich kenne sie, und jedermann kennt sie, der John
Galt gehört hat! Worauf warten Sie noch? Auf Beweise? Er hat sie Ihnen gegeben. Auf Tatsachen? Sie sind von
ihnen umgeben. Wieviel Leichen wollen Sie noch aufhäufen, bevor Sie auf Ihre Gewehre, Ihre Macht, Ihre
Gewalt und Ihren ganzen traurigen Glauben verzichten? Geben Sie ihn auf, wenn Sie weiterleben wollen. Geben
Sie ihn auf, wenn in Ihnen noch etwas übriggeblieben ist, das Sie befähigt, den Fortbestand der Menschheit auf
dieser Erde zu wünschen!«
»Aber das ist Verrat!« schrie Eugene Lawson. »Sie predigt Verrat!«
»Aber, aber«, sagte Mr. Thompson. »Sie müssen nicht gleich das Schlimmste annehmen.«
»Wie?« fragte Tinky Holloway
.»Aber… aber ist es denn nicht ungeheuerlich?« fragte Chick Morrison.
»Sie wollen ihr doch nicht zustimmen?« fragte Wesley Mouch.
»Wer hat von Zustimmen gesprochen?« sagte Mr. Thompson in überraschend friedlichem Ton. »Seien Sie
nicht voreilig. Seien Sie alle doch nicht so voreilig. Es ist doch nichts dabei, sich ein Argument anzuhören?«
»Ein solches Argument?« fragte Wesley Mouch, mit dem Finger immer wieder auf Dagny deutend.
»Jedes Argument«, sagte Mr. Thompson besänftigend. »Wir dürfen nicht intolerant sein.«
»Aber es ist doch Verrat, Ruin, Untreue, Egoismus und Unternehmerpropaganda!«
»Oh, ich weiß nicht«, sagte Mr. Thompson. »Wir müssen aufgeschlossen sein. Wir müssen jedermanns
Standpunkt in Erwägung ziehen. Vielleicht hat sie irgendwie recht. Er weiß, was zu tun ist. Wir müssen flexibel
sein.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie bereit sind zurückzutreten?« stöhnte Mouch.
»Aber so ziehen Sie doch keine voreiligen Schlüsse«, fuhr ihn Mr. Thompson ärgerlich an. »Wenn ich etwas
nicht ausstehen kann, dann sind es Menschen, die voreilige Schlüsse ziehen, und ebensowenig kann ich die
Elfenbeinturm-Intellektuellen ausstehen, die an einer Lieblingstheorie hängen und keinen Sinn haben für die
Praxis. In einer Zeit wie dieser müssen wir vor allem flexibel sein.« Er sah Bestürzung auf allen Gesichtern, die
ihn umgaben, auf Dagnys Gesicht und auf denen der anderen, doch diese allgemeine Bestürzung hatte nicht die
gleichen Ursachen. Er lächelte, erhob sich und wandte sich an Dagny.
»Ich danke Ihnen, Miss Taggart«, sagte er. »Ich danke Ihnen, daß Sie mir offen Ihre Meinung gesagt haben.
Sie sollen wissen, daß Sie mir vertrauen und in voller Offenheit zu mir sprechen können. Wir sind nicht Ihre
Feinde, Miss Taggart. Nehmen Sie die Jungs nicht zu ernst. Sie sind ein wenig aus der Fassung.
Aber sie werden wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkommen. Wir sind weder Ihre Feinde noch die
des Landes. Gewiß, wir haben Fehler gemacht, wir sind nur Menschen, doch wir versuchen, das Beste zu tun für
das Volk, das heißt, ich meine für jedermann – in diesen schweren Zeiten. Wir können uns nicht sofort
entscheiden und von einem Augenblick zum anderen Beschlüsse fassen Das sehen Sie doch ein? Wir müssen
alles sorgfältig überlegen und abwägen. Ich möchte Ihnen nur noch einmal versichern, daß wir niemandes Feind
sind. Das glauben Sie mir doch?«
»Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen hatte«, erwiderte sie und wandte sich von ihm ab, ohne einen
Schlüssel zum Sinn seiner Worte und ohne die Kraft, ihn finden zu wollen.
Sie wandte sich Eddie Willers zu, der die Männer um sich herum mit einem Blick so abgrundtiefer
Verachtung beobachtet hatte, daß er wie gelähmt schien als ob sein Gehirn aufschreien wollte vor Empörung.
Mit einer jähen Kopfbewegung deutete sie nach der Tür; er folgte ihr gehorsam.
Dr. Robert Stadler wartete, bis die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte dann stürzte er auf Mr. Thompson
zu. »Sie einfältiger Idiot! Wissen Sie, um was Sie da spielen? Begreifen Sie denn nicht, daß es um Leben oder
Tod geht? Entweder Sie oder er?«
Das dünne Zittern, daß über Mr. Thompsons Lippen lief, war ein Lächeln de Verachtung. »Ein seltsames
Benehmen für einen Professor! Ich hatte gedacht, Professoren könnten nie den Kopf verlieren.«
»Begreifen Sie denn nicht? Sehen Sie denn nicht, daß Sie dran glauben müssen oder er?«
»Und was wollen Sie, daß ich tue?«
»Sie müssen ihn töten.«
Die Tatsache, daß Dr. Stadler es nicht geschrien, sondern mit ruhiger, kalter und sachlicher Stimme gesagt
hatte, ließ alle Anwesenden wortlos erschauern.
»Sie müssen ihn finden«, fuhr Dr. Stadler heiser fort. »Sie dürfen keinen Winkel des Landes undurchsucht
lassen, bis Sie ihn gefunden und vernichtet haben. Wenn er am Leben bleibt, wird er uns alle vernichten! Wenn
er leben bleibt, sind wir verloren!«
»Wie soll ich ihn finden?« sagte Mr. Thompson mit langsamer, bedächtiger Stimme.
»Ich… ich kann es Ihnen sagen. Ich kann Ihnen einen Wink geben. Behalten Sie diese Miss Taggart im Auge.
Lassen Sie von Ihren Leuten jede ihrer Bewegungen überwachen. Sie wird Sie früher oder später zu ihm
führen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ist das nicht offensichtlich? Ist es nicht reiner Zufall, daß sie nicht längst desertiert ist? Sehen Sie denn nicht,
daß sie seines Schlages ist?« Er sagte nicht, welchen Schlages.
»Ja«, sagte Mr. Thompson nachdenklich, »ja, das ist wahr.« Er warf den Kopf zurück mit einem Lächeln der
Genugtuung. »Der Professor hat recht. Lassen Sie Miss Taggart Tag und Nacht beschatten«, befahl er, sich an
Wesley Mouch wendend. »Wir müssen ihn finden.«
»Und wenn Sie ihn gefunden haben«, fragte Dr. Stadler gespannt, »werden Sie ihn dann töten?«
»Ihn töten? Sind Sie verrückt? Wir brauchen ihn!« schrie Mr. Thompson. Mouch wartete; doch niemand
wagte die Frage auszusprechen, die ihnen allen auf den Lippen lag, und so murmelte er nur angestrengt: »Ich
verstehe Sie nicht, Mr. Thompson.«
»Ihr theoretisierenden Intellektuellen!« rief Mr. Thompson verzweifelt aus. »Warum verschlägt euch das den
Atem? Es ist doch so einfach. Wer immer er ist, er ist ein Mann der Tat. Außerdem hat er alle Männer mit
Verstand auf seine Seite gebracht. Er weiß, was zu tun ist. Wir werden ihn finden, und er wird es uns sagen. Er
wird uns sagen, was wir tun sollen. Er wird die Dinge wieder in Fluß bringen. Er wird uns aus der Klemme
helfen.«
»Uns, Mr. Thompson?«
»Gewiß. Vergessen Sie Ihre Theorien. Wir werden einen Handel mit ihm machen.«
»Mit ihm?«
»Gewiß. Natürlich werden wir Kompromisse machen müssen, wir werden einige Konzessionen an die großen
Unternehmer machen, und die Wohlfahrtswächter werden schreien, aber zum Teufel! Wissen Sie einen anderen
Ausweg?«
»Aber seine Ideen?«
»Wer fragt nach Ideen?«
»Mr. Thompson«, sagte Mr. Mouch würgend. »Ich… ich fürchte, er ist ein Mann, der sich nicht auf einen
Handel einläßt.«
»So etwas gibt es nicht«, sagte Mr. Thompson.
Ein kalter Wind rüttelte an den zerbrochenen Schildern über den Schaufenstern der verlassenen Läden in der
Straße vor dem Sendegebäude. Die Stadt schien ungewöhnlich ruhig. Das ferne Brausen des Verkehrs war leiser
als sonst und ließ den Wind lauter heulen. Leere Gehsteige verloren sich in der Dunkelheit; einige wenige
Gestalten standen in flüsternden Gruppen unter den wenigen Laternen.
Eddie Willers sprach nicht, bis sie einige Blocks von der Radiostation entfernt waren. Plötzlich blieb er
stehen. Sie hatten einen verlassenen Platz erreicht, wo aus den öffentlichen Lautsprechern, die abzuschalten
niemand eingefallen war, die schrillen Stimmen eines Ehepaars – man sendete eine Familienkomödie – zwischen
den unbeleuchteten Häuserfronten widerhallten. Jenseits des Platzes ließen einige oberhalb der Fünfundzwanzig-
Stockwerk-Grenze vertikal verstreute Lichtpunkte in der Ferne eine ragende Form erahnen, das Taggart-
Gebäude.
Eddie ging nicht weiter und deutete mit zitternden Fingern auf das Gebäude. »Dagny«, flüsterte er, »ich kenne
ihn. Er… er arbeitet dort… dort…« In hilfloser Ungläubigkeit deutete er immer wieder auf das Gebäude. »Er
arbeitet bei Taggart Transcontinental…«
»Ich weiß«, antwortete sie; ihre Stimme klang leblos.
»Als Streckenarbeiter… als ganz gewöhnlicher Streckenarbeiter.«
»Ich weiß.«
»Ich habe mit ihm gesprochen… ich habe oft mit ihm gesprochen viele Jahre lang… in der Kantine. Er stellte
mir immer Fragen… alle möglichen Fragen über die Eisenbahn, und ich… mein Gott, Dagny! Habe ich die
Eisenbahn beschützt oder habe ich geholfen, sie zu zerstören?«
»Beides. Nichts von beidem. Es ist jetzt gleichgültig.«
»Ich hätte mein Leben gewettet, daß er die Eisenbahn liebt!«
»Er liebt sie.«
»Aber er hat sie zerstört.«
»Ja.«
Sie zog den Kragen ihres Mantels enger und ging weiter, gegen einen Windstoß ankämpfend.
»Ich traf ihn oft«, sagte er nach einer Weile. »Sein Gesicht… Dagny, es sah nicht aus wie die Gesichter der
anderen Arbeiter… es zeigte, daß er vieles begriff… ich freute mich jedesmal, wenn ich ihn traf… in der Kantine
ich redete drauflos… ich weiß nicht, ob ich merkte, daß er mich ausfragte doch er tat es… er stellte mir viele
Fragen über die Eisenbahn und… über dich.«
»Hat er dich je gefragt, wie ich aussehe, wenn ich schlafe?«
»Ja… Ja, das hat er… ich fand dich einmal schlafend im Büro, und als ich es erwähnte…« Er unterbrach sich,
da plötzlich eine Gedankenverbindung in seinem Kopf einschnappte.
Im Schein einer Straßenlampe wandte sie sich ihm zu und hielt ihr erhobenes Gesicht einen Augenblick lang
als Antwort und Bestätigung ins volle Licht.
Er schloß die Augen. »O mein Gott, Dagny!« flüsterte er.
Sie gingen schweigend weiter.
»Jetzt ist er fort, ja?« fragte er. »Von Taggart Transcontinental, meine ich.«
»Eddie«, sagte sie, und ihre Stimme war plötzlich hart, »wenn dir an seinem Leben etwas liegt, dann stelle nie
diese Frage. Du willst doch nicht, daß sie ihn finden? Gib ihnen keinen Fingerzeig. Sage nie jemand ein Wort,
daß du ihn gekannt hast. Versuche nicht herauszufinden, ob er noch im Terminal arbeitet.«
»Du glaubst doch nicht, daß er noch da ist?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es sein kann.«
»Daß er jetzt noch da ist?«
»Ja.«
»Immer noch?«
»Ja. Sprich zu niemand darüber, wenn du nicht willst, daß sie ihn vernichten.«
»Ich glaube, er ist gegangen. Er wird nicht zurückkommen. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit…«
»Seit wann?« fragte sie schnell.
»Seit Ende Mai. Seit jener Nacht, in der du nach Utah flogst… erinnerst du dich?« Er machte eine Pause, da
die Erinnerung an diese Begegnung und ihre Bedeutung ihn gleichzeitig überfielen. Mit Anstrengung sagte er:
»Ich sah ihn in jener Nacht. Seither nicht mehr… ich habe auf ihn gewartet… in der Kantine… er ist nie wieder
zurückgekommen.«
»Ich glaube nicht, daß er sich von dir sehen lassen wird, er wird dir aus dem Wege gehen. Doch suche nicht
nach ihm. Frage nicht nach ihm.«
»Es ist seltsam. Ich weiß nicht einmal, welchen Namen er benutzte. Er nannte sich Jonny Soundso oder…«
»Sein Name ist John Galt«, sagte sie mit schwachem Lächeln. »Sieh nicht nach auf der Lohnliste des
Terminals. Sein Name steht immer noch dort.«
»Einfach so? Die ganzen Jahre?«
»Zwölf Jahre lang. Einfach so.«
»Und er steht immer noch dort?«
»Ja.«
Nach einer Weile sagte er: »Es beweist nichts, ich weiß es. Das Personalbüro hat nicht einen einzigen Namen
auf der Lohnliste gestrichen, seit die Verordnung 10-289 erlassen wurde. Wenn ein Mann ausscheidet, geben sie
seinen Namen und seine Stellung eher einem notleidenden Freund, als es dem Koordinierungsausschuß zu
melden.«
»Frage weder das Personalbüro noch sonst jemand nach ihm. Lenke nicht die Aufmerksamkeit auf seinen
Namen. Wenn du oder ich nach ihm forschen, wird sich vielleicht jemand wundern. Schau dich nicht nach ihm
um. Tu nichts, was auf seine Spur führen könnte. Und wenn du ihn je zufällig zu Gesicht bekommst, dann tu so,
als ob du ihn nicht kennst.«
Er nickte. Nach einer Weile sagte er leise mit gepreßter Stimme: »Ich würde ihn nie an die anderen ausliefern,
nicht einmal, um die Eisenbahn zu retten.«
»Eddie…«
»Ja?«
»Wenn du ihn siehst, sag es mir.«
Er nickte. Zwei Straßenkreuzungen weiter fragte er ruhig: »Du wirst aufgeben und verschwinden an einem
der nächsten Tage, nicht wahr?«
»Warum sagst du das?« Es war fast ein Schrei.
»Ist es nicht so?«
Sie antwortete nicht sofort; als sie dann sprach, war ihre Verzweiflung nur an der gewaltsamen Eintönigkeit
ihrer Stimme zu erkennen. »Eddie, wenn ich gehe, was wird dann aus den Taggart-Zügen?«
»Es würde innerhalb einer Woche keine Taggart-Züge mehr geben. Vielleicht schon eher.«
»Es wird innerhalb von zehn Tagen keine Plünderer-Regierung mehr geben. Dann werden Männer wie Cuffy
Meigs die letzten unserer Schienen und Lokomotiven stehlen. Soll ich die Schlacht verlieren, nur weil ich nicht
einen Monat länger warten konnte? Wie kann ich Taggart Transcontinental aufgeben, Eddie, aufgeben für
immer, wenn eine letzte Anstrengung sie noch am Leben erhalten kann? Wenn ich so lange durchgehalten habe,
kann ich auch noch ein wenig länger durchhalten. Nur ein wenig länger noch. Ich helfe damit nicht den
Plünderern. Nichts kann ihnen jetzt noch helfen.«
»Was werden sie tun?«
»Ich weiß es nicht. Was können sie tun? Sie sind am Ende.«
»Ich glaube es auch.«
»Hast du sie nicht gesehen? Sie sind erbärmliche, angstgeschüttelte, um ihr Leben laufende Ratten.«
»Bedeutet es ihnen etwas?«
»Was?«
»Ihr Leben.«
»Sie kämpfen jedenfalls immer noch darum. Doch sie sind erledigt, und sie wissen es.«
»Haben sie je nach dem, was sie wußten, gehandelt?«
»Sie werden es müssen. Sie werden aufgeben. Es kann nicht mehr lange dauern. Und dann werden wir da sein
zu retten, was übriggeblieben ist.«
»Mr. Thompson wünscht bekanntzugeben«, verkündeten die amtlichen Radiosprecher am Morgen des 23.
November, »daß kein Grund zur Beunruhigung besteht. Er ermahnt die Öffentlichkeit, keine voreiligen Schlüsse
zu ziehen. Wir müssen unsere Disziplin bewahren und unsere Moral, unsere Einigkeit und unseren Sinn für
aufgeschlossene Toleranz. Die ungewöhnliche Ansprache, die einige von Ihnen gestern abend vielleicht im
Radio gehört haben, war ein gedankenanregender Beitrag zur Lösung der Weltprobleme. Wir müssen sie
nüchtern betrachten und die Extreme totaler Ablehnung und bedingungsloser Zustimmung vermeiden. Wir
müssen sie als einen der vielen Standpunkte in unserem demokratischen Forum der öffentlichen Meinung
ansehen, das, wie der gestrige Abend bewiesen hat, allen offensteht. Die Wahrheit, sagt Mr. Thompson, hat viele
Facetten. Wir müssen unparteiisch bleiben.«
»Sie schweigen«, schrieb Chick Morrison als Zusammenfassung seines Inhalts auf den Bericht eines seiner
Außenbeamten, den er auf eine »Abhören des öffentlichen Pulses« genannte Mission ausges chickt hatte. »Sie
schweigen«, schrieb er auf den nächsten Bericht und auf alle folgenden. »Schweigen«, schrieb er mit einem
Gefühl des Unbehagens in seinem Sammelbericht an Mr. Thompson. »Das Volk scheint zu schweigen.«
Die Flammen, die an einem Winterabend zum Himmel schlugen und ein Wohnhaus in Wyoming
verschlangen, wurden nicht gesehen von den Menschen in Kansas, die einen zitternden roten Schein am
Horizont beobachteten, der von den Flammen herrührte, die eine Farm einäscherten, und der Feuerschein wurde
nicht reflektiert von den Fenstern einer Straße in Pennsylvania, in denen sich die Flammen widerspiegelten, die
eine Fabrik zerstörten. Niemand erwähnte, daß diese Feuer nicht zufällig ausgebrochen, und daß die Besitzer der
drei Anwesen verschwunden waren. Die Nachbarn nahmen es ohne Erstaunen und ohne Kommentar zur
Kenntnis. In allen Teilen des Landes wurden vereinzelte Häuser verlassen vorgefunden, einige von ihnen
verschlossen, mit herabgelassenen Läden und leer, andere offen und von allen beweglichen Gütern geräumt –
doch die Menschen schwiegen, als sie es sahen, und gingen im Schneetreiben der nebligen Morgendämmerung
nur etwas langsamer als gewöhnlich durch die ungepflegten Straßen zu ihren Arbeitsstätten.
Dann wurde am 27. November ein Redner auf einer politischen Versammlung verprügelt und mußte sich
durch einen dunklen Hinterausgang in Sicherheit bringen. Seine schweigenden Zuhörer waren plötzlich zum
Leben erwacht, als er ihnen zurief, die Ursache all ihrer Schwierigkeiten sei nur ihre eigennützige Sorge um ihre
persönlichen Schwierigkeiten.
Am Morgen des 29. Novembers waren die Arbeiter einer Schuhfabrik erstaunt, als sie beim Betreten ihrer
Arbeitsräume entdeckten, daß der Vorarbeiter sich verspätet hatte. Doch sie gingen an ihre Plätze und nahmen
ihre Tätigkeit auf wie jeden Tag, bewegten Hebel, drückten auf Knöpfe, schoben Leder in automatische
Schneidemaschinen, stapelten Schachteln auf Laufbänder und wunderten sich, während die Stunden vergingen,
warum sie weder den Vorarbeiter, noch den Betriebsleiter, noch den Generaldirektor, noch den
Vorstandsvorsitzenden der Firma zu Gesicht bekamen. Es war Mittag, als sie entdeckten, daß die Büros im
Vordergebäude der Fabrik leer waren.
»Ihr verdammten Kannibalen«, schrie eine Frau mitten während der Vorstellung in einem überfüllten Kino
und brach in hysterisches Schluchzen aus – und das Publikum zeigte kein Erstaunen, als ob sie alle geschrien
hätten.
»Es ist kein Grund zur Beunruhigung vorhanden«, sagten die amtlichen Radiosprecher am 5. Dezember. »Mr.
Thompson wünscht bekanntzugeben, daß er bereit ist, mit John Galt zu verhandeln, um Mittel und Wege zu
einer schnellen Lösung unserer Probleme zu finden. Mr. Thompson bittet die Öffentlichkeit dringend, Geduld zu
haben. Wir dürfen uns nicht sorgen, wir dürfen nicht verzweifeln, wir dürfen den Mut nicht verlieren.«
Das Personal eines Krankenhauses in Illinois zeigte kein Erstaunen, als ein Mann eingeliefert wurde, der von
seinem älteren Bruder, der ihn sein ganzes Leben lang unterhalten hatte, blutig geschlagen worden war: Der
jüngere Mann hatte den älteren beschimpft und ihm Eigennützigkeit vorgeworfen. Auch das Personal eines
Krankenhauses in New York zeigte kein Erstaunen über den Fall einer Frau, die mit zerbrochener Kinnlade
eingeliefert wurde: Sie war von einem vollkommen unbekannten Passanten geohrfeigt worden, als er hörte, wie
sie ihrem fünf Jahre alten Sohn befahl, sein bestes Spielzeug den Kindern des Nachbarn zu schenken.
Chick Morrison trat eine Vortragsreise an, um durch Reden über die Selbstaufopferung für die allgemeine
Wohlfahrt die Moral des Landes zu stärken. In der ersten Stadt wurde er mit Steinen beworfen und mußte nach
Washington zurückkehren.
Niemand hatte ihnen je den Titel »Die besseren Menschen« verliehen oder, wenn er es tat, keinen Augenblick
lang verweilt, die Bedeutung dieses Titels zu begreifen, doch jeder wußte – jeder in seiner Gemeinde, seiner
Nachbarschaft, seinem Büro oder seiner Werkstatt, und jeder auf seine geheime Weise –, wer die Menschen
waren, die als nächste eines Morgens auf ihrer Arbeitsstelle nicht erscheinen und stumm verschwinden würden
auf der Suche nach unbekannten Grenzen, die Menschen, deren Gesichter straffer waren als die ihrer Umgebung,
deren Augen offener blickten, deren Energie ausdauernder und bewußter war, die Menschen, die sich jetzt einer
nach dem anderen in allen Teilen des Landes davonstahlen, des Landes, das nur noch ein Schatten seiner
glorreichen Vergangenheit war und, niedergestreckt von einer tödlichen Krankheit, sein bestes Blut aus einer
Wunde verlor, die nicht geheilt werden konnte.
»Wir sind willens zu verhandeln!« schrie Mr. Thompson seine Assistenten an und befahl, daß die
Bekanntmachung dreimal täglich von allen Sendern des Landes wiederholt werde. »Wir sind willens zu
verhandeln! Er wird es hören! Er wird antworten!«
Techniker wurden beauftragt, Tag und Nacht Empfänger zu überwachen, die auf alle bekannten Wellenlängen
eingestellt waren, um auf eine Antwort von einem unbekannten Sender zu warten. Es kam keine Antwort.
Die Leere, Hoffnungslosigkeit und Unstetigkeit in den Menschengesichtern auf den Straßen der Städte wurde
immer offensichtlicher, doch niemand vermochte in ihren Seelen zu lesen. So wie manche Menschen mit ihrem
Körper im Untergrund unbewohnter Gegenden verschwanden, so konnten andere nur ihre Seelen retten und
verschwanden im Untergrund ihres Denkens – und niemand konnte sagen, ob ihre toten, teilnahmslosen Augen
nur Blenden waren, die verborgene Schätze am Boden nicht länger ausgebeuteter Schächte schützten, oder ob sie
nur die gähnenden Höhlen der unauffüllbaren inneren Leere von Parasiten waren.
»Ich weiß nicht, was ich zu tun habe«, sagte der Assistent des verschwundenen Betriebsleiters einer
Ölraffinerie, als er sich weigerte, dessen Stellung zu übernehmen. Und die Beamten des Amtes für
Vereinheitlichung waren nicht in der Lage zu entscheiden, ob er log oder nicht. Nur ein Ton von Bestimmtheit
und das Fehlen von Entschuldigung oder Scham in seiner Stimme veranlaßten sie sich zu fragen, ob er ein Rebell
oder ein Geisteskranker war. In beiden Fällen war es gefährlich, ihm den Posten aufzuzwingen.
»Gebt uns Leute!« Die Forderung begann immer lauter auf den Schreibtisch des Amtes für Vereinheitlichung
zu hämmern; sie kam aus allen Teilen des Landes, in dem die Arbeitslosigkeit ständig wuchs, doch weder die
Fordernden noch der Ausschuß wagten die gefährlichen Worte hinzuzufügen, die der Ruf meinte. »Gebt uns
Leute mit Erfahrung!« Es gab endlos lange Anwärterlisten für Stellungen als Pförtner, Hilfsarbeiter, Träger und
Laufburschen; doch niemand bewarb sich um eine Stellung als Manager, Aufseher, Techniker oder Ingenieur.
Die Explosionen in Ölraffinerien, die Abstürze von Flugzeugen, das Platzen von Hochöfen, die
Zusammenstöße von Eisenbahnzügen und die Gerüchte über Trunkenheitsorgien in den Büros von neu
eingestellten Beamten flößten den Mitgliedern des Ausschusses Mißtrauen ein gegenüber Männern, die sich
freiwillig um verantwortliche Stellungen bewarben.
»Verzweifelt nicht! Gebt nicht auf!« mahnten die Lautsprecher am 15. Dezember und an allen folgenden
Tagen wieder. »Wir werden ein Übereinkommen mit John Galt treffen. Wir werden ihn veranlassen, uns zu
führen. Er wird alle unsere Probleme lösen. Er wird alles wieder in Gang bringen. Gebt nicht auf! Wir werden
John Galt für unsere Sache gewinnen!«
Belohnungen und Ehrungen wurden den Bewerbern um leitende Stellungen angeboten, dann den
Vorarbeitern, dann erfahrenen Mechanikern, dann jedermann, der sich um eine Beförderung bemühte,
Gehaltserhöhungen, Gratifikationen, Steuerbefreiungen und eine von Wesley Mouch entworfene Medaille, die
»Orden für öffentliche Wohltäter« hieß. Die Aktion brachte kein Resultat. Zerlumpte Menschen hörten sich die
Angebote materiellen Komforts an und wandten sich in lethargischer Indifferenz ab, als hätten sie jeden Sinn für
»Werte« verloren. Das, dachten die Überwacher des öffentlichen Pulses mit Entsetzen, waren Menschen, die
keinen Wert darauf legten, weiterzuleben – oder Menschen, die keinen Wert darauf legten, unter den gegebenen
Umständen zu leben.
»Ve rzweifelt nicht! Gebt nicht auf! John Galt wird unsere Probleme lösen!« riefen die Stimmen der amtlichen
Radiomeldungen, und ihre Worte wurden durch das Schweigen des fallenden Schnees in das Schweigen
ungeheizter Wohnungen getragen.
»Sagt ihnen nicht, daß wir ihn noch nicht haben!«schrie Mr. Thompson seine Assistenten an. »Aber sagt
ihnen, zum Teufel, daß sie ihn finden sollen!« Gruppen von Chick Morrisons Helfern wurden beauftragt,
Gerüchte zu fabrizieren: Die Hälfte von ihnen verbreitete die Nachricht, John Galt befände sich in Washington
und verhandle mit Regierungsvertretern, während die andere Hälfte das Gerücht streute, die Regierung würde
fünfhunderttausend Dollar Belohnung für zweckdienliche Informationen zur Auffindung John Galts zahlen.
»Nein, nicht die geringste Spur«, sagte Wesley Mouch, als er die Berichte der Spezialagenten auswertete, die
ausgeschickt worden waren, jeden Menschen im Land, der den Namen John Galt trug, zu überprüfen. »Es gibt
nur Wenige. Da ist ein Professor der Ornithologie John Galt, achtzig Jahre alt, dann ein bankrotter
Gemüsehändler mit Frau und neun Kindern und ein ungelernter Eisenbahnarbeiter, der seit zwölf Jahren in der
gleichen Stellung ist – und lauter solches Gesindel.«
»Verzweifelt nicht! Wir werden John Galt für uns gewinnen!« verkündeten die amtlichen Radiomeldungen
während des Tages. Doch in der Nacht strahlten auf geheimen Befehl Kurzwellensender einen Aufruf in den
leeren Raum: »Wir suchen John Galt! – Wir rufen John Galt! – Hören Sie uns, John Galt? – Wir wollen
verhandeln! – wir wollen mit Ihnen verhandeln! Geben Sie uns Nachricht, wo wir Sie erreichen können! – Hören
Sie uns, John Galt?« Er kam keine Antwort.
Die Bündel wertlosen Papiergelds wurden dicker in den Taschen der Nation, doch es gab immer weniger für
das Geld zu kaufen. Im September hatte ein Zentner Weizen elf Dollar gekostet, im Dezember einhundert Dollar.
Jetzt war der Preis nahe bei zweihundert Dollar, während die staatlichen Notenpressen ein Wettrennen mit
Hungersnot und weiterer Entwertung liefen.
Als die Arbeiter einer Fabrik in einem Anfall von Verzweiflung ihre Vorgesetzten niederschlugen und die
Maschinen zertrümmerten, wurde nichts gegen sie unternommen. Verhaftungen waren zwecklos, die
Gefängnisse waren überfüllt, die Polizeibeamten gaben ihren Arrestanten einen Wink und ließen sie auf dem
Weg zum Gefängnis entkommen, die Menschen vollführten die Bewegungen, die ihnen für den Augenblick
vorgeschrieben waren, ohne an den nächsten zu denken. Nichts wurde unternommen, als Horden von
hungernden Menschen die Warenhäuser in den Außenbezirken der Städte plünderten – nichts, als die
Strafkommandos sich auf die Seite des Pöbels schlugen, den zu bestrafen sie ausgeschickt worden waren.
»Hören Sie uns, John Galt? – Wir sind bereit zu verhandeln! Vielleicht können wir auf Ihre Bedingungen
eingehen! – Hören Sie uns, John Galt?«
Gerüchte gingen um von geheimen Eisenbahntransporten, die bei Nacht auf verlassenen Strecken fuhren, und
von verborgenen Ansiedlungen, die bewaffnet waren, um die Angriffe derjenigen abzuschlagen, die sie die
»Indianer« nannten – die Angriffe von plündernden Wilden, die entweder obdachlose Horden oder
Regierungstruppen waren. Hin und wieder wurden am fernen Horizont einer Prärie, in den Gebirgen und in
einsamen Tälern, die bisher unbewohnt waren, Lichter beobachtet. Doch kein Soldat konnte dazu überredet
werden, den Ursprung dieser Lichter zu erkunden.
An den Türen verlassener Häuser, an den Toren zerfallender Fabriken und an den Mauern von
Regierungsgebäuden erschien immer häufiger, mit Kreide, mit Farbe oder mit Blut, das Dollarzeichen.
»Können Sie uns hören, John Galt? – Geben Sie uns Nachricht. Wir werden auf Ihre Bedingungen eingehen.
Können Sie uns hören?«
Es kam keine Antwort.
Die Säule roten Rauches, die in der Nacht zu m 22. Januar gen Himmel schoß und für eine Weile unnatürlich
stillstand wie ein feierlicher Gedenkobelisk, dann im Himmel hin- und herflackerte wie ein Suchlicht, das eine
nicht dechiffrierbare Botschaft aussandte, und dann ebenso plötzlich verschwand wie sie entstanden war,
bedeutete das Ende von Rearden Steel. Doch die Bewohner dieser Gegend wußten es nicht. Sie erfuhren es erst
in den folgenden Nächten, als sie, die sie die Stätten des Rauchs, des Rußes und des Lärms verflucht hatten,
hinausschauten und statt des vertrauten, lebendig pulsierenden Feuerscheins am Horizont eine schwarze Leere
erblickten.
Das Werk war als Eigentum eines Deserteurs nationalisiert worden. Der erste Träger des Titels
»Volksdirektor«, der die Werke leiten sollte, war ein Mann der Orren Boyle-Clique gewesen, ein feister
Schmarotzer der metallurgischen Industrie, der nichts anderes gewünscht hatte, als seinen Angestellten zu
gehorchen, während er so tun wollte, als führte er sie. Doch am Ende eines Monats nach zu vielen
Zusammenstößen mit den Arbeitern, nach zu vielen Zwischenfällen, bei denen er sagen mußte, daß er nicht
helfen konnte, nach zu vielen unausgeführten Bestellungen und nach zu vielen dringenden Telefonanrufen seiner
Kumpane hatte er gebeten, auf einen anderen Posten versetzt zu werden. Die Orren-Boyle-Clique hatte sich
aufgelöst, seit Mr. Boyle aus gesundheitlichen Gründen zu Hause bleiben mußte, wo sein Arzt ihm jeden
Kontakt mit Geschäften verbot und ihn aus beschäftigungstherapeutischen Gründen Körbe flechten ließ. Der
zweite »Volksdirektor«, der in die Rearden-Stahlwerke geschickt worden war, hatte zur Bande Cuffy Meigs’
gehört. Die einzige Maßnahme, die er getroffen hatte, war sein Verbot gewesen, Fragen zu stellen. Nach Wochen
einer fieberhaften Tätigkeit von Versicherungsgesellschaften, Ambulanzen und Erste-Hilfe-Trupps, die sich mit
einer Serie von unerklärlichen Unfällen beschäftigen mußten, war der »Volksdirektor« eines Morgens
verschwunden, nachdem er an verschiedene Gangsterbanden Europas und Lateinamerikas den größten Teil der
Krane, der Förderbänder, der Hilfsgeneratoren und den Teppich des Raums, der einst Hank Reardens Büro
gewesen war, verkauft hatte.
Niemand war in der Lage gewesen, die Hintergründe des wilden Chaos der nächsten Tage zu entwirren.
Niemand hatte sie je beim Namen genannt, doch jedermann hatte gewußt, daß die blutigen Zusammenstöße
zwischen den alten und den neuen Arbeitern nicht zu solcher Wildheit angefacht worden waren durch die
trivialen Anlässe, die sie ausgelöst hatten. Weder die Werkswache noch die Polizei noch die Regierungstruppen
waren in der Lage gewesen, die Ordnung auch nur für einen Tag aufrechtzuerhalten. Und keine der Cliquen
konnte einen Kandidaten stellen für den Posten des »Volksdirektors«. Am 22. Januar wurde der Betrieb von
Rearden Steel auf Regierungsbefehl vorübergehend eingestellt.
Die rote Rauchsäule jener Nacht war von einem sechzigjährigen Arbeiter verursacht worden, der auf frischer
Tat ertappt wurde, als er Feuer an eines der Werkgebäude legte und irrsinnig lachend in die Flammen schrie:
»Rache für Hank Rearden!«, während ihm die Tränen über die vom Hochofenfeuer ausgedörrten Wangen liefen.
Laß es dir nicht so weh tun, dachte Dagny, die an ihrem Schreibtisch zusammengesunken war über der Seite
einer Zeitung, auf der eine einzige kurze Notiz das »vorübergehende« Ende von Rearden Steel bekanntgab. Sie
sah vor sich das Gesicht Hank Reardens, wie er am Fenster seines Büros stand und einen Kran ein Bündel
grünblauer Schienen in den Himmel schwingen sah. Laß es ihm nicht so weh tun wie mir, war die Bitte, die sich
ihr, an niemand gerichtet, entrang. Dann sah sie ein anderes Gesicht, ein Gesicht mit unerbittlichen grünen
Augen, zu ihr mit einer durch die Achtung vor den Tatsachen mitleidlos gewordenen Stimme sagen: »Sie werden
alles erfahren. Sie werden von jedem Zusammenstoß hören, von jedem liegengebliebenen Zug… Niemand bleibt
in diesem Tal, der auf irgendeine Weise die Wirklichkeit verfälscht…« Dann saß sie still, nichts sehend und
nichts hörend, allein mit ihrem großen Schmerz – bis sie den vertraut gewordenen Schrei hörte, der alle
Empfindungen in ihr abtötete außer dem Drang zu handeln: »Miss Taggart, wir wissen nicht, was wir tun
sollen!« – und sie sprang auf, um zu antworten.
»Der Volksstaat von Guatemala«, berichteten die Zeitungen am 26. Januar, »lehnt das Ersuchen der
Vereinigten Staaten um Überlassung von tausend Tonnen Stahl ab.«
In der Nacht des 3. Februar flog ein junger Pilot seine übliche Route: den wöchentlichen Flug von Dallas nach
New York City. Als er die leere Dunkelheit hinter Philadelphia erreichte, die Stelle, wo die Flammen von
Rearden-Stahl für Jahre sein vertrauter Wegweiser gewesen waren, ein Gruß in der Einsamkeit der Nacht, das
Wahrzeichen einer lebendigen Erde, sah er eine schneebedeckte Ebene, totenbleich und im Sternenlicht
phosphoreszierend, eine Landschaft von Gipfeln und Kratern, die aussah wie die Oberfläche des Mondes. Am
nächsten Morgen verließ er seine Stellung.
Durch die frostigen Nächte, über die sterbenden Städte, vergeblich an stumme Fenster klopfend und gegen
echolose Wände prallend, sich über die Dächer unbeleuchteter Gebäude und die Skelette von Ruinen erhebend,
ertönte weiter der Ruf durch den Äther: »Hören Sie uns, John Galt? Hören Sie uns?«
»Miss Taggart, wir wissen nicht, was wir tun sollen«, sagte Mr. Thompson; er hatte sie während eines seiner
Eilbesuche in New York zu einer persönlichen Rücksprache zu sich gebeten. »Wir sind bereit, nachzugeben, auf
seine Bedingungen einzugehen, ihn die Macht übernehmen zu lassen – doch wo ist er?«
»Zum dritten Mal«, sagte sie, in ihren Zügen und in ihrer Stimme jede Gefühlsregung unterdrückend, »ich
weiß nicht, wo er ist. Was veranlaßt Sie zu glauben, ich wüßte es?«
»Nun, ich weiß nicht… ich mußte es versuchen – ich dachte, für den Fall, daß… ich dachte, vielleicht kennen
Sie einen Weg, ihn zu erreichen…«
»Ich kenne keinen.«
»Sehen Sie, wir können unmöglich, nicht einmal über Kurzwellensender, bekanntgeben, daß wir bereit sind
zu kapitulieren. Das Volk könnte es hören. Doch wenn Sie eine Möglichkeit hätten, ihn zu erreichen, ihn wissen
zu lassen, daß wir bereit sind aufzugeben, unsere Politik zu ändern, alles zu tun, was er sagt…«
»Ich sagte Ihnen bereits, daß ich diese Möglichkeit nicht habe.«
»Wenn er sich zu einer Besprechung bereit erklären würde, nur zu einer Besprechung; es würde ihn zu nichts
verpflichten. Wir sind bereit, ihm die gesamte Wirtschaft des Landes zu überantworten – wenn er uns nur sagen
würde, wann und wo und wie. Wenn er uns eine Nachricht oder ein Zeichen geben würde… wenn er uns
antworten würde… warum antwortet er nicht?«
»Haben Sie seine Rede gehört?«
»Doch was sollen wir tun? Wir können doch nicht einfach zurücktreten und das Land vollkommen ohne
Regierung lassen. Mich schaudert, wenn ich daran denke, was dann geschehen würde. Miss Taggart, wir müssen
die asozialen Elemente, die sich breitmachen, in Schach halten, um es nicht zu offener Plünderung und blutigem
Mord am hellichten Tag kommen zu lassen. Ich weiß nicht, was in das Volk gefahren ist, aber es scheint alle
Zivilisation verloren zu haben. Wir können in einer Zeit wie dieser nicht einfach abdanken. Wir können weder
abdanken noch weiterregieren wie bisher. Was sollen wir tun, Miss Taggart?«
»Heben Sie die Zwangswirtschaft auf!«
»Wie bitte?«
»Ermäßigen Sie die Steuern, und geben Sie den Handel frei.«
»Nein, um Gottes willen, nein! Das geht nicht!«
»Warum nicht?«
»Ich meine, nicht in einer Zeit wie dieser, Miss Taggart, nicht jetzt. Das Land ist nicht reif dafür. Persönlich
stimme ich Ihnen zu. Ich bin ein freiheitsliebender Mensch, Miss Taggart, ich bin nicht machthungrig. Aber wir
befinden uns in einem Notstand. Die Menschen sind nicht reif für die Freiheit. Wir müssen sie mit starker Hand
regieren. Wir können keine idealistischen Theorien anwenden, die…«
»Dann fragen Sie mich nicht, was Sie tun sollen«, sagte sie und erhob sich.
»Aber, Miss Taggart…«
»Ich bin nicht hierhergekommen, um zu streiten.«
Sie war bereits an der Tür, als er seufzte und sagte: »Ich hoffe, er ist noch am Leben.« Sie blieb stehen. »Ich
hoffe, sie haben nichts Übereiltes getan.«
Ein Augenblick verging, bevor sie fähig war zu fragen: »Wer?«, ohne das Wort zu einem Aufschrei werden
zu lassen.
Er zuckte die Achseln, breitete die Arme aus und ließ sie hilflos fallen. »Ich kann meine eigenen Leute nicht
mehr im Zaum halten. Ich weiß nicht, was sie vielleicht tun werden. Es gibt da eine Clique – die Ferris -Lawson-
Meigs-Leute – die mich seit über einem Jahr drängt, strengere Methoden anzuwenden. Eine härtere Politik,
meinen sie. Offen gestanden, was sie meinen, ist: mit Terror regieren – die Todesstrafe einführen für politische
Verbrecher, für Kritiker, Andersdenkende. Sie argumentieren, wenn das Volk nicht zur Zusammenarbeit mit uns
bereit ist, wenn es nicht freiwillig für das Gemeinwohl eintreten will, dann müssen wir es dazu zwingen. Nichts
wird unser System wirksam machen, sagen sie, außer Terror. Und vielleicht haben sie recht, so wie die Dinge
heute aussehen. Aber Wesley ist nicht für Gewaltmethoden: Wesley ist ein friedfertiger, ein liberaler Mensch,
und das bin ich auch. Wir versuchen, die Ferris -Leute in Schach zu halten, aber… Sehen Sie, sie sind gegen
jedes Nachgeben gegenüber John Galt. Sie wollen nicht, daß wir mit ihm verhandeln. Sie wollen nicht, daß wir
ihn finden. Ich traue ihnen alles zu. Wenn sie ihn als erste finden, dann werden sie… niemand kann sagen, was
sie dann tun werden. Das beunruhigt mich. Warum antwortet er nicht? Warum hat er sich überhaupt nicht
gemeldet? Was soll geschehen, wenn sie ihn gefunden und getötet haben? Ich würde es nicht erfahren. Und so
hoffte ich, daß Sie vielleicht eine Möglichkeit hätten zu erfahren, ob er noch am Leben ist…« Seine Stimme
verebbte zu einem fragenden Ton. Ihr Widerstand gegen den Überfall lähmenden Entsetzens reichte noch dazu
aus, ihre Stimmbänder zu betätigen und zu sagen: »Ich weiß es nicht«, und ihre Knie steif zu halten, um den
Raum zu verlassen.
Zwischen den verfaulenden Pfosten eines früheren Gemüse-Eckladens hindurch warf Dagny einen flüchtigen
Blick hinter sich auf die Straße. Die wenigen Laternen teilten die Straße in getrennte Inseln auf; sie sah eine
Pfandleihe in dem ersten Lichtfleck, eine Bar in dem zweiten, eine Kirche in dem entferntesten, und zwischen
ihnen dunkle Lücken. Die Gehsteige waren verlassen; es war schwer auszumachen… doch die Straße schien
menschenleer.
Sie bog mit absichtlich lauten Schritten um die Ecke und blieb dann plötzlich stehen, um zu horchen. Es war
schwer zu sagen, ob das dumpfe Geräusch in ihrer Brust ihr eigener Herzschlag war, und schwer, es von dem
Lärm ferner Räder und dem Rauschen des nahen East-River zu unterscheiden; doch sie hörte kein Geräusch
menschlicher Schritte hinter sich. Sie warf die Schultern zurück. Es war halb ein Achselzucken und halb ein
Erschauern, und sie ging schneller. Eine rostige Uhr in einer dunklen Fensterhöhle schlug scheppernd die vierte
Morgenstunde.
Die Furcht, verfolgt zu werden, erschien ihr nicht ganz wirklich, so wie keine Furcht jetzt wirklich war für sie.
Sie fragte sich, ob die unnatürliche Leichtigkeit ihres Körpers ein Zustand der Spannung oder der Entspannung
war; ihr Körper schien so stark in sich gestrafft zu sein, daß sie das Gefühl hatte, als wäre er auf eine einzige
Fähigkeit beschränkt: auf die Fähigkeit der Bewegung; ihr Verstand schien souverän entspannt wie ein Motor,
der sich der automatischen Kontrolle einer unbezweifelten Macht unterworfen hat. Wenn eine nackte Kugel
mitten im Flug fühlen könnte, dann wäre, was sie fühlen wollte, dachte sie, nur die Bewegung und das Ziel,
sonst nichts. Sie dachte es vage, fern, als wäre ihre eigene Person unwirklich; nur das Wort nackt schien sie zu
erreichen: nackt, entblößt von allen Gedanken außer dem an das Ziel – an die Nummer 367, die Nummer eines
Hauses am East River, die sie im Geist ständig wiederholte, die Nummer, an die zu denken ihr so lange verboten
gewesen war.
Drei-sechs-sieben, dachte sie, den Blick geradeaus gerichtet auf ein unsichtbares Viereck inmitten der langen
dunklen Gebäudereihe vor ihr. Drei-sechs-sieben, dort wohnt er – wenn er noch lebt. Ihre Ruhe, ihre
Losgelöstheit und die Zuversicht ihrer Schritte entstammten der Gewißheit, daß dies ein »Wenn« war, mit dem
sie nicht länger leben konnte.
Sie hatte zehn Tage mit ihm gelebt. Und die Nächte hinter ihr waren eine einzige Vorwärtsbewegung
gewesen, die sie in diese Nacht geführt hatte, als ob die Kraft, die jetzt ihre Schritte beschleunigte, der Klang
ihrer eigenen Schritte wäre, die noch immer unbeantwortet in den Tunneln der Taggart-Endstation hallten. Sie
hatte ihn in den Tunneln gesucht, war Nacht für Nacht, Stunde um Stunde während der Schicht, in der er früher
gearbeitet hatte, durch die unterirdischen Gänge gewandert, über die unterirdischen Bahnsteige und Strecken und
durch die Werkstätten, ohne jemand Fragen zu stellen, ohne Erklärungen zu geben für ihre Anwesenheit. Sie war
gewandert ohne ein Gefühl der Furcht oder der Hoffnung, bewegt von dem Gefühl verzweifelter Treue, die fast
ein Gefühl des Stolzes war. Die Wurzeln dieses Gefühls waren die Augenblicke, die sie in plötzlichem Erstaunen
in einem dunklen Winkel stehenbleiben und im Geist die halbbewußten Worte hören ließen: Dies ist meine
Eisenbahn, während sie zu einem Gewölbe aufblickte, das unter dem Dröhnen ferner Räder zitterte; dies ist mein
Leben, während sie den Druck der Spannung alles dessen spürte, was in ihr unterdrückt und aufgeschoben war;
dies ist meine Liebe, während sie an den Mann dachte, der vielleicht irgendwo in diesen Tunneln war. Es kann
keinen Konflikt zwischen diesen drei Dingen geben. Warum zweifle ich? – Dann war sie, den vollen Sinn der
Gegenwart wieder fassend, weitergegangen, mit dem gleichen Gefühl unverbrüchlicher Treue, doch mit dem
Klang anderer Worte im Ohr: Du hast mir verboten, nach dir zu suchen. Du magst mich verdammen, du magst
mich verstoßen. Doch beim Recht der Tatsache, daß ich lebe: Ich muß wissen, daß du lebst. Ich muß dich dieses
eine Mal sehen, nicht um stehenzubleiben, nicht um zu dir zu sprechen, dich zu berühren, nur um dich zu
sehen… Sie hatte ihn nicht gesehen. Sie hatte ihre Suche aufgegeben, als sie die neugierigen, fragenden Blicke
der Untergrundarbeiter bemerkt hatte, die sie hinter ihr hersandten.
Sie hatte eine Versammlung der Streckenarbeiter des Terminals einberufen, angeblich, um ihre Moral
aufzupulvern; sie hatte die Versammlung zweimal abgehalten, um alle Männer zu Gesicht zu bekommen. Sie
hatte die gleiche konfuse Ansprache heruntergeleiert und Scham empfunden über die Gemeinplätze, die sie von
sich gab, und zugleich Stolz darüber, daß es ihr nichts mehr ausmachte. Sie hatte in die erschöpften, abgebrühten
Gesichter von Männern geschaut, denen es gleichgültig war, ob sie zur Arbeit befohlen wurden oder zum
Anhören von sinnlosen Lauten. Sie hatte sein Gesicht nicht entdeckt unter ihnen.
»Waren alle anwesend?« hatte sie den Vorarbeiter gefragt.
»Ich denke, ja«, hatte er teilnahmslos geantwortet.
Sie hatte sich in der Nähe der Eingänge zum Terminal aufgestellt, um die Männer zu beobachten, wenn sie
zur Arbeit kamen. Doch es gab zuviel Eingänge und zuwenig Plätze, von denen aus sie beobachten konnte, ohne
selbst gesehen zu werden. Sie hatte im frühen Dämmerzwielicht auf einem regennassen Gehsteig gestanden,
gegen die Mauer eines Warenhauses gepreßt, den Kragen ihres Mantels hochgeschlagen. Sie hatte am Tage in
voller Sicht auf der Straße gestanden und gespürt, daß die Blicke der Männer, die an ihr vorbeigingen, Blicke der
Erkennens und des Erstaunens waren, und verstanden, daß ihre Absicht auf gefährliche Weise offensichtlich war.
Wenn ein John Galt unter ihnen war, konnte jemand den Zweck ihres Hierseins erraten; wenn es keinen John
Galt unter ihnen gab, und wenn es keinen John Galt mehr auf der Welt gab, dachte sie, dann existierte auch keine
Gefahr mehr – und keine Welt.
Keine Gefahr und keine Welt, dachte sie, als sie durch die Straßen der Slums auf das Haus mit der Nummer
367 zuging, das entweder sein Heim war oder nicht. Sie fragte sich, ob man so empfand, wenn man ein
Todesurteil erwartete: keine Furcht, keinen Zorn, keine Sorge, nichts als die eisige Empfindungslosigkeit von
Licht ohne Wärme oder von Wissen ohne Werte.
Dir Fuß stieß eine Blechbüchse beiseite, und der klappernde Lärm war zu laut und dauerte zu lange, als hallte
er wider von den Mauern einer unbewohnten Stadt. Über den Straßen lag die Leere der Erschöpfung, nicht der
Ruhe – als ob die Menschen innerhalb der Häuserwände nicht eingeschlafen, sondern zusammengebrochen
wären. Um diese Stunde würde er von der Arbeit zurück sein, dachte sie, wenn er arbeitete, wenn er noch ein
Heim hier hatte. Ihr Blick glitt über die Fronten der Häuser, den zerbröckelnden Putz, die abblätternde Farbe, die
verblaßten Schilder von armseligen Läden mit Waren, die niemand wollte, hinter ungeputzten
Schaufensterscheiben, die abgetretenen Treppenstufen, die Wäscheleinen mit zerschlissenen Kleidungsstücken,
über die Wahrzeichen eines verlorenen Kampfes gegen die zwei Feinde: keine Zeit und keine Kraft – und sie
dachte daran, daß dies der Ort war, wo er zwölf Jahre lang gelebt hatte, er, der die Macht besaß, das Los der
Menschheit zu erleichtern.
Eine Erinnerung drängte sich ihr auf, stand plötzlich vor ihr: Starnesville! Ein Schauer überfiel sie. Doch dies
ist New York City! schrie es in ihr zur Verteidigung der Größe, die sie geliebt hatte; dann anerkannte sie mit
unerbittlicher Strenge das Urteil, das ihre Gedanken gesprochen hatten: Eine Stadt, die ihn zwölf Jahren in
diesen Slums leben ließ, war verdammt und verurteilt zum Schicksal von Starnesville.
Plötzlich fiel alle vergleichende Erinnerung von ihr ab; sie empfand einen seltsamen Schock, den Schock
eines plötzlichen Schweigens, einer Stille in ihr selbst, eines Gefühls tiefer Ruhe und Gefaßtheit: Sie sah die
Nummer 367 über der Tür eines alten Mietshauses.
Sie war ruhig, dachte sie, nur die Zeit hatte ihre Kontinuität verloren, und ihre Wahrnehmung war in einzelne
Empfindungen zerfallen: Sie empfand den Augenblick, in dem sie die Nummer erkannte; dann den Augenblick,
in dem sie auf die Liste auf einem Brett im Halbdunkel des Hausflurs blickte und die Worte John Galt, 5. Stock,
hinten, mit Ble istift in ungelenken Buchstaben hingekritzelt, las; dann den Augenblick, in dem sie am Fuß der
Treppe haltmachte, mit dem Blick der nach oben im Dunkeln entschwindenden Spirale des Geländers folgte und
sich, zitternd vor der nahen Wahrheit, gegen die Wand lehnte; dann den Augenblick, in dem sie die Bewegung
ihres Fußes spürte, der die erste Stufe betrat; dann eine einzige ununterbrochene Zeitspanne von Leichtigkeit, des
Emporsteigens ohne Zweifel und Furcht, des Gefühls, die Treppenabsätze unter ihren entschlossenen Schritten
zurückzulassen, als ob die Bewegung ihres unwiderstehlichen Aufstiegs der Straffheit ihres Körpers, der stolzen
Haltung ihrer Schultern und ihres Kopfes entspränge und der feierlichen, frohlockenden Gewißheit, daß in
diesem Augenblick el tzter Entscheidung ihres Lebens und am Ende einer Treppe, die zu erklimmen sie
siebenunddreißig Jahre gebraucht hatte, nicht Unglück sie erwartete.
Auf der Höhe der Treppe angelangt, sah sie einen schmalen Gang, dessen Wände auf eine unbeleuchtete Tür
zuliefen. Sie hörte in der Stille die Dielen unter ihren Schritten knarren. Sie fühlte den Druck ihres Fingers auf
einem Klingelknopf und hörte das Läuten in dem unbekannten Raum hinter der Tür. Sie wartete. Sie hörte das
kurze Knarren einer Diele, doch es kam vom unteren Stockwerk. Sie hörte das langgezogene Heulen eines
Schleppbootes irgendwo auf dem Fluß. Dann erkannte sie, daß sie eine ganze Spanne bewußter Zeit versäumt
hatte, denn ihre nächste Wahrnehmung war nicht eine Empfindung des Erwachens, sondern das Gefühl,
neugeboren zu sein: als ob zwei Laute sie aus der Leere herauszögen, der Laut eines Schrittes hinter der Tür und
der Laut eines Schlosses, das aufgeschlossen wurde. Doch sie war sich ihrer selbst nicht bewußt bis zu dem
Augenblick, als plötzlich keine Tür mehr vor ihr war. Und die Gestalt, die auf der Schwelle stand, war John Galt.
Er stand lässig im Türrahmen seiner Wohnung, bekleidet mit Hemd und Hose, und der Bogen seiner Taille
zeichnete sich schwach gegen das Licht hinter ihm ab.
Sie sah, daß seine Augen die Bedeutung ihrer Gegenwart mit einem einzigen Blick erfaßten, daß seine
Gedanken in die Vergangenheit zurück und vorwärts in die Zukunft schossen, daß er in einem Vorgang
blitzschneller Überlegung die Wirklichkeit voll in seine Gewalt brachte. Und während sie eine Falte seines
Hemdes mit seinem Atem sich bewegen sah, erkannte sie das Resultat. Es war ein Lächeln, ein strahlendes
Lächeln der Begrüßung. Sie war unfähig sich zu bewegen. Er packte sie beim Arm, riß sie ins Zimmer – sie
fühlte den Druck seines Mundes auf ihrem Mund, die Schlankheit seines Körpers durch die plötzlich
befremdende Starrheit ihres Mantels. Sie sah das Lachen in seinen Augen, sie fühlte immer wieder die
Berührung seines Mundes, sie sank in seinen Armen zusammen, sie atmete keuchend, als hätte sie nicht mehr
geatmet, seit sie den Fuß auf die erste Treppenstufe gesetzt hatte. Sie preßte ihr Gesicht in die Höhlung zwischen
seinem Hals und seiner Schulter, um ihn zu halten, ihn zu halten mit ihren Armen, ihren Händen und der Haut
ihrer Wange.
»John… du lebst…« war alles, was sie sagen konnte.
Er nickte, als ob er wüßte, was die Worte erklären sollten.
Er hob ihren Hut auf, der auf den Boden gefallen war, zog ihr den Mantel aus und legte ihn beiseite,
betrachtete, den Glanz der Zustimmung in den Augen, ihren schlanken, bebenden Körper, während seine Hand
über den engen, hochkragigen, dunkelblauen Pullover strich, der ihrem Körper die Zerbrechlichkeit eines
Schulmädchens und die Spannung einer Fechterin verlieh.
»Das nächste Mal, wenn ich dich sehe«, sagte er, »trage einen weißen. Auch er wird dir wunderbar stehen.«
Ihr fiel ein, daß sie gekleidet war, wie sie sich sonst nie in der Öffentlichkeit zeigte, daß sie das gleiche trag
wie zu Hause in den schlaflosen Stunden der letzten Nächte. Sie lachte, froh darüber zu entdecken, daß sie
wieder lachen konnte; sie hatte nicht erwartet, daß dies seine ersten Worte sein könnten.
»Wenn es ein nächstes Mal gibt«, fügte er ruhig hinzu.
»Wie… wie meinst du das?«
Er ging zur Tür und schloß sie. »Setz dich«, sagte er.
Sie blieb stehen und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, den sie bis jetzt nicht beachtet hatte: eine
lange kahle Dachkammer mit einem Bett in der einen Ecke und einem Gasofen in der anderen, einige wenige
hölzerne Möbelstücke, eine brennende Lampe auf dem Tisch, eine geschlossene Tür jenseits des Lichtkegels der
Lampe – und hinter einem riesigen Fenster New York, eine Landschaft von kantigen Gebäuden und verstreuten
Lichtern, und weit im Hintergrund die Säule des Taggart-Gebäudes.
»Jetzt hör mir aufmerksam zu«, sagte er. »Wir haben ungefähr eine halbe Stunde, denke ich. Ich weiß, warum
du hergekommen bist. Ich hatte dir gesagt, daß es schwer sein würde durchzuhalten, und daß du wahrscheinlich
dein Versprechen brechen würdest. Bereue es nicht. Schau mich an! Ich bereue es auch nicht. Doch jetzt müssen
wir wissen, wie wir von nun an handeln müssen. In etwa einer halben Stunde werden die Schergen der Plünderer
hier sein, die dir gefolgt sind, um mich zu verhaften.«
»O nein!« stöhnte sie.
»Dagny, jeder von ihnen, der noch einen Rest menschlichen Begriffsvermögens besaß, mußte erkennen, daß
du nicht eine der ihren, daß du ihr Bindeglied zu mir bist, und er hat dich nicht außer Sicht oder der Sicht seiner
Spione entkommen lassen.«
»Ich wurde nicht verfolgt! Ich habe aufgepaßt, ich…«
»Du konntest es nicht bemerken. Schleichen ist eine Kunst, die sie beherrschen. Wer dir gefolgt ist, berichtet
in diesem Augenblick seinen Vorgesetzten.
Deine Anwesenheit in diesem Viertel, zu dieser Stunde, mein Name auf der Tafel im Treppenhaus, die
Tatsache, daß ich bei deiner Eisenbahn arbeite – das genügt sogar für sie, um den richtigen Schluß zu ziehen.«
»Dann laß uns von hier verschwinden!«
Er schüttelte den Kopf »Sie haben den Häuserblock jetzt bereits umzingelt. Dein Verfolger hat jeden
Polizisten des Bezirks sofort alarmiert. Doch jetzt sollst du wissen, was du zu tun hast, wenn sie kommen.
Dagny, du hast nur eine einzige Möglichkeit, mich zu retten. Wenn du nicht ganz verstanden hast, was ich im
Radio über den Mann in der Mitte gesagt habe, dann wirst du es jetzt verstehen. Es gibt keine Mitte für dich.
Und du kannst nicht meine Partei ergreifen, solange wir in ihrer Hand sind. Und deshalb mußt du jetzt auf ihre
Seite treten.«
»Wie?«
»Du mußt ihre Partei ergreifen, so gut, so eindringlich und so laut, wie deine Fähigkeit zur Täuschung es dir
erlaubt. Du mußt handeln, als würdest du zu ihnen gehören. Du mußt handeln wie mein ärgster Feind. Wenn du
es tust, habe ich die Chance, lebend zu entkommen. Sie brauchen mich so dringend, daß sie alles andere zuvor
versuchen werden, bevor sie sich dazu bringen lassen, mich zu töten. Was immer sie von den Menschen
erpressen wollen, sie können es nur erpressen durch die Werte ihrer Opfer – und sie wissen nichts von mir,
womit sie mich erpressen, womit sie mich bedrohen können. Doch wenn ihnen auch nur der leiseste Verdacht
kommt, was wir einander sind, werden sie dich binnen einer Woche vor meinen Augen foltern – ich meine,
physisch foltern. Ich werde es nicht soweit kommen lassen. Bei der ersten Erwähnung einer Drohung gegen dich
werde ich mich töten und ihrem Spiel ein Ende bereiten.«
Er sagte es ohne Emphase, im gleichen Ton praktischer Überlegungen wie alles Weitere. Sie wußte, daß es
ihm ernst war, und daß er recht hatte: Sie sah, warum sie allein die Macht hatte, ihn zu vernichten, wo alle Macht
seiner Feinde versagen würde. Er sah den ruhigen Blick in ihren Augen, einen Blick des Verstehens und des
Entsetzens. Er nickte mit einem schwachen Lächeln.
»Ich brauche dir nicht zu sagen«, fuhr er fort, »daß es, wenn ich es tue, kein Akt der Selbstaufopferung sein
wird. Ich will nicht in ihrer Welt leben, ich will ihnen nicht gehorchen, ich will nicht zusehen, wie sie dich
langsam zu Tode quälen. Es gäbe keine Werte mehr für mich hinterher – und ich kann nicht ohne Werte leben.
Ich brauche dir nicht zu sagen, daß wir denen, die uns die Pistole auf die Brust setzen, keine Moral schulden.
Nutze also alle Fähigkeit der Täuschung, die du aufbringen kannst, doch überzeuge sie, daß du mich haßt. Dann
haben wir eine Chance, am Leben zu bleiben und zu entkommen… ich weiß nicht, wann und wie, doch ich
werde frei sein zu handeln. Hast du mich verstanden?«
Sie zwang sich, den Kopf zu heben und zu nicken.
»Wenn sie kommen«, sagte er, »sage ihnen, daß du versucht hast, mich für sie zu finden, daß du Verdacht
schöpftest, als du meinen Namen auf der Lohnliste sahst, und daß du hierher gekommen bist, um dich zu
vergewissern.«
Sie nickte.
»Ich werde mich sperren, meine Identität zuzugeben… sie werden mich vielleicht an der Stimme erkennen,
doch ich werde versuchen zu leugnen… so daß du diejenige sein wirst, die ihnen sagt, daß ich der John Galt bin,
den sie suchen.«
Sie brauchte einige Sekunden länger, doch sie nickte.
»Später wirst du die fünfhunderttausend Dollar, die sie als Belohnung für meine Ergreifung ausgesetzt haben,
fordern und annehmen.«
Sie schloß die Augen, bevor sie nickte.
»Dagny«, sagte er leise, »es gibt keinen anderen Weg, deinen Werten unter ihrem System zu dienen. Früher
oder später, ob du es willst oder nicht, mußten sie dich zu dem Punkt bringen, wo dir nichts anderes für mich zu
tun übrigblieb, als dich gegen mich zu wenden. Nimm deine ganze Kraft zusammen und tu es. Dann gewinnen
wir diese halbe Stunde und vielleicht die Zukunft.«
»Ich werde es tun«, sagte sie mit fester Stimme und fügte hinzu, »wenn das geschieht, wenn sie…«
»Es wird geschehen. Bedaure es nicht. Du hast die wahre Natur unserer Feinde noch nicht erkannt. Jetzt wirst
du sie kennenlernen. Wenn ich das Pfand in dem Beweis sein muß, der dich überzeugen wird, bin ich bereit, es
zu sein – und dich zu gewinnen, ein für allemal. Du wolltest doch nicht länger warten? Ich auch nicht!«
Es war die Art, wie er sie hielt, die Art, wie er ihren Mund küßte, die sie fühlen ließ, als ob jeder Schritt, den
sie getan hatte, jeder Zweifel, jeder Verrat an ihm, wenn es Verrat gewesen war, als ob alle Gefahr, die sie
heraufbeschworen hatte, ihr nun ein Recht auf diesen Augenblick gäbe. Er sah den Kampf in ihrem Gesicht, die
Spannung eines ungläubigen Protestes gegen sich selbst – und sie hörte den Klang seiner Stimme durch die
Strähnen ihres Haars, an das er seine Lippen preßte: »Denke jetzt nicht an sie. Denke an Schmerzen oder
Gefahren oder Feinde nie einen Augenblick länger als nötig ist, sie zu bekämpfen. Du bist hier. Dies ist unsere
Zeit und unser Leben, nicht das ihre. Kämpfe nicht darum, glücklich zu sein. Du bist es.«
»Mit dem Risiko, dich zu vernichten?« flüsterte sie.
»Du wirst mich nicht vernichten. Doch wenn… auch dann. Du glaubst doch nicht, daß es Gleichgültigkeit ist,
die mich so sprechen läßt? War es Gleichgültigkeit, die dich gegen dein Wort hierher brachte?«
»Ich…« Und die Gewalt der Wahrheit ließ sie seinen Mund zu dem ihren herabziehen und ihm dann die
Worte ins Gesicht schleudern: »Ich habe nicht danach gefragt, ob wir beide hinterher noch leben würden, ich
wollte dich nur dieses eine Mal sehen!«
»Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn du nicht gekommen wärst.«
»Weißt du, was es bedeutet, zu warten, dagegen anzukämpfen, es auf den nächsten Tag zu verschieben, dann
auf den nächsten, dann…«
Er lächelte. »Meinst du nicht, daß ich es weiß?« sagte er sanft.
Sie ließ ihre Hand in hilfloser Geste fallen: Sie dachte an seine zehn Jahre.
»Als ich deine Stimme im Radio hörte«, sagte sie, »als ich das Größte hörte, was ich je… Nein, ich habe kein
Recht, dir zu sagen, was ich dachte.«
»Warum nicht?«
»Du glaubst, ich habe dir nicht zugestimmt.«
»Du wirst mir zustimmen.«
»Hast du von hier aus gesprochen?«
»Nein, vom Tal aus.«
»Und bist dann nach New York zurückgekehrt?«
»Am nächsten Morgen.«
»Und bist seither hier gewesen?«
»Ja.«
»Hast du die Aufforderung gehört, die sie jede Nacht an dich ausstrahlen?«
»Gewiß.«
Sie sah sich langsam im Raum um. Ihre Augen glitten von den Türmen der Stadt zu den Holzsparren der
Decke, zu dem gesprungenen Putz der Wände, zu den eisernen Stäben des Bettes. »Du bist die ganze Zeit hier
gewesen«, sagte sie. »Du hast zwölf Jahre hier gelebt, in diesem Raum…«
»Und in diesem«, sagte er und riß die Tür am Ende des Zimmers auf. Ihr Atem stockte: Der lange,
lichtdurchflutete, fensterlose Raum jenseits der Schwelle, eingeschlossen in eine Hülle von sanft schimmerndem
Metall, ähnlich einem kleinen Tanzsaal an Bord eines Unterseebootes, war das besteingerichtete Laboratorium,
das sie je gesehen hatte.
»Komm rein«, sagte er lächelnd. »Ich brauche meine Geheimnisse nicht länger vor dir zu verbergen.«
Es war ähnlich dem Überschreiten der Grenze in ein anderes Universum. Sie sah die in einem hellen,
gleichmäßigen Lichtschein glänzenden Apparate, das Gewirr von Drähten, die schwarze Tafel bedeckt mit
mathematischen Formeln, die langen Tische mit den in Arbeit befindlichen Werkstücken… und warf dann einen
Blick zurück auf die nackten Bodenbretter und die rissigen Wände der Dachkammer. Entweder – oder, dachte
sie; dies war die Wahl, vor der die Welt stand: eine menschliche Seele nach dem Ebenbild des einen oder des
anderen.
»Du wolltest wissen, wo ich elf Monate des Jahres gearbeitet habe«, sagte er.
»All dies«, fragte sie, und zeigte auf die Laboratoriumseinrichtung, »stammt aus dem Lohn eines« – sie
deutete in die Dachkammer – »eines ungelernten Arbeiters?«
»O nein! Aus den Vergütungen, die Midas Mulligan mir zahlt für das Kraftwerk, für den Strahlenschirm, für
den Radiosender und für einige andere ähnliche Dinge.«
»Aber… aber warum mußtest du dann als Streckenarbeiter arbeiten?«
»Weil kein Geld, das im Tal verdient wird, draußen ausgegeben werden darf.«
»Wo hast du diese Einrichtung her?«
»Ich habe sie entworfen. Andrew Stockton hat sie hergestellt.« Er zeigte auf einen unauffälligen Gegenstand
von der Größe eines Radios in einer Ecke des Zimmers: »Dort steht der Motor, den du haben wolltest«, und
lachte, als ihr der Atem stockte und sie dann unwillkürlich nach vorn schoß.
»Bemühe dich nicht, ihn zu studieren, dann kommst du nicht in Gefahr, ihn an die anderen zu verraten.«
Sie starrte auf den schimmernden Metallzylinder und die glitzernden Drahtspulen, die an das verrostete
Gebilde erinnerten, das wie eine heilige Reliquie in einem Glassarg im Gewölbe des Taggart Terminals ruhte.
»Er liefert mir den elektrischen Strom für das Laboratorium«, sagte er. »Es sollte sich niemand wundern,
warum ein Streckenarbeiter so gewaltige Mengen Strom verbraucht.«
»Doch wenn sie ihn je finden…«
»Sie werden ihn nicht finden.« Er lächelte seltsam.
»Wie lange hast du…?«
Sie unterbrach sich, hielt den Atem an; der Anblick, der sich ihr bot, konnte nicht anders begrüßt werden als
durch einen Augenblick vollkommener innerer Stille: An der Wand, über einer Reihe von Apparaten, sah sie ein
aus einer Zeitung herausgeschnittenes Bild – ein Bild von ihr in Hemd und langen Hosen, neben der Lokomotive
stehend, auf der sie die John-Galt-Linie eröffnet hatte, mit erhobenem Kopf, ein Lächeln auf dem Gesicht, das
den Sinn und das Sonnenlicht jenes Tages widerspiegelte.
Ein Stöhnen war ihre einzige Reaktion, als sie sich ihm zuwandte; der Ausdruck seines Gesichts glich dem
ihren auf dem Bild.
»Ich war das Symbol dessen, was du zerstören wolltest in der Welt«, sagte er. »Doch du warst das Symbol
dessen, was ich erreichen wollte.« Er zeigte auf das Bild. »So erwarten Männer, ein- oder zweimal in ihrem
Leben, als Ausnahmen, ihr Dasein zu empfinden. Doch ich… für mich war es das Stetige und Normale.«
Der Ausdruck seines Gesichts, die tiefe Heiterkeit seiner Augen und seines Geistes ließen es für sie jetzt, in
diesem Augenblick, in dieser Stadt, in diesem Raum zur Wirklichkeit werden.
Als er sie küßte, wußte sie, daß ihre Arme, mit denen sie sich hielten, ihren größten Triumph umarmten, daß
dies die von Schmerz und Furcht unberührte Wirklichkeit war, die Wirklichkeit von Halleys Fünftem Konzert,
der Lohn, den sie erstrebt, für den sie gekämpft und den sie gewonnen hatten.
Die Türglocke läutete.
Ihre erste Reaktion war, zurückzuweichen, seine, sie noch fester an sich zu drücken.
Als er den Kopf hob, lächelte er. Er sagte nur: »Jetzt ist die Zeit gekommen, sich nicht zu fürchten.«
Sie folgte ihm in die Dachkammer. Sie hörte die Tür des Laboratoriums hinter ihnen ins Schloß fallen.
Er hielt ihr schweigend den Mantel, wartete, bis sie ihren Gürtel umgebunden und ihren Hut aufgesetzt hatte.
Dann ging er zur Tür und öffnete…
Drei der vier Männer, die eintraten, waren muskulöse Gestalten in Militäruniformen, mit je zwei Pistolen an
den breiten Hüften, ausdruckslosen Gesichtern und leeren Augen.
Der vierte, ihr Vorgesetzter, war ein schwächlicher Zivilist, mit einem teuren Mantel, einem schmalen
Oberlippenbart, hellblauen Augen und dem Benehmen eines Intellektuellen aus der PR-Branche. Er sah Galt,
warf einen Blick in das Zimmer, sah Galt wieder an, trat einen Schritt vor, blieb stehen, machte einen weiteren
Schritt, blieb wieder stehen.
»Ja?« sagte Galt.
»Sind… sind Sie John Galt?« fragte er, etwas zu laut.
»So heiße ich.«
»Sind Sie der John Galt?«
»Welcher?«
»Haben Sie im Radio gesprochen?«
»Wann?«
»Lassen Sie sich von ihm nicht zum Narren halten.« Die schneidende Stimme war Dagnys Stimme, und sie
hatte zu dem Vorgesetzten gesprochen. »Er ist John Galt. Ich werde dem Hauptquartier den Beweis liefern. Tun
Sie Ihre Pflicht.« Galt wandte sich an sie wie an eine Fremde. »Wollen Sie mir jetzt endlich sagen, wer Sie sind
und was Sie hier wollten?«
Ihr Gesicht war leer wie die Gesichter der Soldaten. »Mein Name ist Dagny Taggart. Ich wollte mich selbst
davon überzeugen, daß Sie der Mann sind, den das Land sucht.«
Er wandte sich an den Vorgesetzten. »Gut«, sagte er. »Ich bin John Galt, doch wenn Sie wollen, daß ich Ihnen
antworte, dann schaffen Sie Ihren Lockvogel« – er zeigte auf Dagny – »aus meinen Augen.«
»Mr. Galt!« rief der Vorgesetzte im Ton großer Jovialität. »Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, eine
Ehre und ein Vorzug! Bitte, Mr. Galt, mißverstehen Sie uns nicht. Wir sind bereit, Ihren Wünschen zu
entsprechen. Sie brauchen nichts mit Miss Taggart zu tun zu haben, wenn Sie es nicht wünschen. Miss Taggart
hat nur versucht, ihre patriotische Pflicht zu erfüllen, doch…«
»Ich habe gesagt, schaffen Sie sie mir aus den Augen.«
»Wir sind nicht Ihre Feinde, Mr. Galt, ich versichere Ihnen, wir sind nicht Ihre Feinde.« Er wandte sich an
Dagny. »Miss Taggart, Sie haben dem Volk einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Sie haben die höchste Form
der öffentlichen Dankbarkeit verdient. Erlauben Sie uns, von nun an die Angelegenheit selbst in die Hand zu
nehmen.« Die besänftigenden Bewegungen seiner Hände forderten sie auf, zurückzutreten, sich aus der Sicht
Galts zu halten.
»Nun, was wünschen Sie von mir?« fragte Galt.
»Die Nation wartet auf Sie, Mr. Galt. Alles was wir wünschen ist, Mißverständnisse zu zerstreuen. Wir
wünschen nur eine Chance, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.« Seine behandschuhte Hand gab den drei Männern
ein Zeichen; die Bodendielen knarrten, als die Männer sich schweigend daranmachten Schränke zu öffnen und
Schubladen herauszuziehen; sie durchsuchten den ganzen Raum. »Die Nation wird wieder aufleben morgen früh,
Mr. Galt, wenn sie hört, daß Sie gefunden worden sind.«
»Was wollen Sie von mir?«
»Sie im Namen des Volkes begrüßen.«
»Bin ich verhaftet?«
»Warum in so altmodischen Begriffen denken? Unsere Aufgabe ist es nur, Sie sicher vor den höchsten Rat der
nationalen Führer zu bringen, wo Ihre Anwesenheit dringend erwünscht ist.« Er machte eine Pause, erhielt aber
keine Antwort. »Die höchsten Führer des Landes wünschen, mit Ihnen zu verhandeln… nur zu verhandeln und
ein freundschaftliches Abkommen mit Ihnen zu treffen.«
Die Soldaten fanden nichts als Kleidungsstücke und Küchengerät; sie fanden keine Briefe, keine Bücher,
nicht einmal eine Zeitung, als wäre der Raum die Behausung eines Analphabeten.
»Unser Ziel ist nur, Ihnen zu helfen, den Ihnen rechtmäßig zustehenden Platz in der Gesellschaft
einzunehmen, Mr. Galt. Sie scheinen Ihren eigenen öffentlichen Wert nicht zu kennen.«
»Ich kenne ihn.«
»Wir sind hier, um Sie zu schützen.«
»Verschlossen!« erklärte ein Soldat und schlug mit der Faust gegen die Tür des Laboratoriums.
Der Führer setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Was befindet sich hinter dieser Tür, Mr. Galt?«
»Privateigentum.«
»Würden Sie bitte öffnen?«
»Nein.«
Der Führer spreizte die Hände in einer Geste schmerzlicher Hilflosigkeit. »Leider sind mir die Hände
gebunden. Befehl, Sie verstehen. Wir müssen in diesen Raum hinein.«
»Gehen Sie hinein.«
»Es ist nur eine Formalität, eine reine Formalität. Es gibt keinen Grund, weshalb die Dinge nicht im Guten
geregelt werden sollten. Wollen Sie bitte die Tür öffnen?«
»Ich sagte, nein.«
»Ich bin sicher, Sie wünschen nicht, daß wir zu unnötigen Maßnahmen greifen.« Er bekam keine Antwort.
»Wir haben die Vollmacht, diese Tür aufzubrechen, müssen Sie wissen – aber das wollen wir natürlich nicht.« Er
wartete, erhielt aber keine Antwort. » Brechen Sie das Schloß auf!« befahl er den Soldaten.
Dagny warf einen Blick in Galts Gesicht. Er stand da wie teilnahmslos. Sie sah die klaren Linien seines
Profils, seine auf die Tür gerichteten Augen. Das Schloß war eine kleine, viereckige Kupferplatte, ohne
Öffnungen und ohne Befestigung.
Das Schweigen und die plötzliche Bewegungslosigkeit der drei Männer waren unfreiwillig, als das
Einbrecherwerkzeug in den Händen des vierten vorsichtig an dem Holz der Tür zu schaben begann.
Das Holz war weich, und kleine Späne fielen zu Boden mit einem Geräusch, das in der Stille wie das ferne
Knattern von Gewehren klang. Als das Brecheisen auf die Kupferplatte stieß, hörten sie ein schwaches Rascheln
hinter der Tür, nicht lauter als das Seufzen eines müden Menschen. Nach wenigen Sekunden fiel das Schloß
heraus, und die Tür öffnete sich einen schmalen Spalt weit.
Der Soldat sprang zurück. Der Führer näherte sich mit unsicheren Schritten und stieß die Tür ganz auf. Sie
sahen in ein dunkles Loch von unerkennbarer Größe und unbekanntem Inhalt. Sie blickten einander an und dann
auf Galt; er bewegte sich nicht; er stand da und starrte in die Dunkelheit.
Dagny folgte ihnen, als sie die Schwelle hinter den Lichtkegeln ihrer Lampen überschritten. Der Raum war
ein leeres Metallgehäuse, leer bis auf dicke Schwaden von Staub auf dem Fußboden, einem seltsamen,
grauweißen Staub, wie man ihn in Ruinen vorzufinden erwartet, die seit Jahrhunderten nicht mehr betreten
wurden. Der Raum wirkte tot wie ein leerer Totenschädel. Sie wandte sich ab, um sie in ihrem Gesicht nicht das
Wissen um das lesen zu lassen, was dieser Staub noch vor wenigen Minuten gewesen war. Versuchen Sie nicht,
diese Tür zu öffnen, hatte er zu ihr am Eingang des Kraftwerks gesagt. Wenn Sie versuchen würden, sie
aufzubrechen, wäre die Maschine im Innern längst zu Staub zerfallen, bevor die Tür nachgibt. Versuche nicht,
diese Tür zu öffnen, dachte sie, doch sie erkannte, daß das, was sie sah, die sichtbare Form des Satzes war:
Versuche nicht, einen Verstand zu vergewaltigen.
Schweigend gingen die Männer rückwärts hinaus, bewegten sich auch rückwärts auf die Ausgangstür zu und
blieben dann, einer nach dem anderen, unsicher stehen, als hätte eine zurückweichende Flut sie abgesetzt.
»Gehen wir«, sagte Galt zu dem Vorgesetzten und griff nach seinem Mantel.
Drei Etagen des Wayne-Falkland-Hotels waren geräumt und in eine Festung verwandelt worden. Posten mit
Maschinenpistolen standen an jeder Ecke der langen, mit Veloursteppichen belegten Korridore. Wachen mit
aufgepflanzten Bajonetten standen auf den Absätzen der Feuertreppen. Die Fahrstuhltüren des
neunundfünfzigsten, sechzigsten und einundsechzigsten Stockwerks waren mit Vorhängeschlössern
verschlossen; eine Tür und ein Fahrstuhl waren als einzige Zugangsmöglichkeiten belassen, und sie wurden
bewacht von Soldaten in voller Kampfausrüstung. Seltsam aussehende Männer lungerten in den Hallen, den
Restaurants und den Läden des Erdgeschosses herum; ihre Kleidung war zu neu und zu teuer in ihrem Bemühen,
den normalen Gästen des Hotels ähnlich zu
sein, und die angestrebte Tarnung wurde vereitelt durch die Tatsache, daß die Anzüge den ungeschlachten
Trägern schlecht paßten und außerdem zusätzlich entstellt waren durch Wölbungen an Stellen, an denen die
Kleider von Geschäftsleuten keine Wölbungen haben, wohl aber die von Geheimpolizisten. Wachtrupps mit
Maschinengewehren waren an allen Ein- und Ausgängen des Hotels postiert und auch an allen strategisch
wichtigen Fenstern der angrenzenden Straßen. Im Zentrum dieser Festung, auf der sechzigsten Etage, in den
Räumen, die als die Fürstenzimmer des Wayne-Falkland-Hotels bekannt waren, inmitten von Samtvorhängen,
Kristallkandelabern und Blumenstuckgirlanden, saß in einem mit Brokat überzogenen Sessel John Galt,
bekleidet mit Hemd und Hose, ein Bein auf ein Samtfußkissen gestützt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt,
und starrte gegen die Decke.
Dies war die Stellung, in der ihn Mr. Thompson fand, als die vier Wachposten, die seit fünf Uhr morgens vor
der Tür der Fürstensuite standen, diese um elf Uhr öffneten, um Mr. Thompson einzulassen, und sie wieder
verschlossen. Mr. Thompson empfand ein kurzes Unbehagen beim Klicken des Schlosses, das ihm den Rückzug
abschnitt und ihn mit dem Gefangenen allein ließ. Doch er erinnerte sich an die Schlagzeilen der Zeitungen und
an die Radiostimmen, die dem Volk seit dem Morgengrauen verkündeten: »John Galt ist gefunden! – John Galt
ist in New York! – John Galt hat sich der Sache des Volkes zur Verfügung gestellt! – John Galt konferie rt mit
den Führern des Landes, um eine schnelle Lösung all unserer Probleme auszuarbeiten!« Er zwang sich, es zu
glauben.
»So, so, so!« sagte er strahlend, auf den Sessel zuschreitend. »Sie sind also der junge Mann, der dieses ganze
Theater angezettelt hat. – Oh«, sagte er plötzlich, als er die dunklen grünen Augen, die ihn beobachteten, aus der
Nähe sah. »Ich… ich bin höchst erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Galt, höchst erfreut.« Er fügte hinzu: »Ich bin
nämlich Mr. Thompson.«
»Angenehm«, sagte Galt.
Mr. Thompson ließ sich in einen Sessel fallen mit einem Plumps, der offensichtlich die zwanglose Haltung
eines aufgeräumten Geschäftsmannes vortäuschen sollte. »Ich hoffe, Sie lassen es sich nicht einfallen zu denken,
Sie seien verhaftet – oder irgend so einen Unsinn.« Er deutete auf die Einrichtung des Zimmers. »Dies ist kein
Gefängnis, wie Sie sehen können. Sie sehen, daß wir Sie gut behandeln. Sie sind eine wichtige Persönlichkeit,
eine sehr wichtige Persönlichkeit – und wir wissen das. Fühlen Sie sich hier wie zu Hause. Verlangen Sie alles,
was Sie wünschen. Entlassen Sie jeden Lümmel, der Ihnen nicht gehorcht. Und wenn Ihnen einer von den Jungs
draußen vor der Tür nicht sympathisch ist, sagen Sie nur einen Ton, und wir schicken einen anderen.«
Er machte eine erwartungsvolle Pause. Doch er erhielt keine Antwort. »Der einzige Grund, weshalb wir Sie
hierher gebracht haben, ist der, daß wir mit Ihnen sprechen wollen. Wir hätten es nicht auf diese Weise getan,
aber Sie haben uns ja keine andere Wahl gelassen. Sie haben sich versteckt. Alles, was wir wollten, war eine
Gelegenheit, Ihnen sagen zu können, daß Sie uns vollkommen mißverstanden haben.«
Er spreizte mit einem entwaffnenden Lächeln die Hände. Galts Augen beobachteten ihn ausdruckslos.
»Das war eine Rede, die Sie da gehalten haben! Mann, Sie sind ein Redner! Sie haben es dem Volk angetan.
Ich weiß nicht, wie und warum, aber es ist so. Die Leute scheinen etwas zu wollen, was Sie haben. Aber Sie
dachten, wir seien gegen Sie. Und das ist der Punkt, wo Sie sich geirrt haben. Wir sind es nicht. Ich persönlich
finde, es waren eine ganze Menge vernünftige Gedanken in dem, was Sie gesagt haben. Ja, das finde ich.
Natürlich stimme ich nicht allem zu. Aber, zum Teufel, Sie erwarten doch nicht, daß wir mit Ihnen in allem
übereinstimmen? Meinungsverschiedenheiten… machen die Pferde laufen. Ich bin jederzeit bereit, meine
Meinung zu ändern. Ich bin aufgeschlossen für jedes Argument.« Er lehnte sich einladend nach vorn. Er erhielt
keine Antwort.
»Die Welt ist in einem furchtbaren Durcheinander. Das ist ein Punkt, in dem wir übereinstimmen. Von diesem
Punkt können wir ausgehen. Irgend etwas muß dagegen getan werden. Alles, was ich wollte, war… aber«, rief er
plötzlich aus, »warum hören Sie mir nicht zu?«
»Ich höre Ihnen zu.«
»Ich… nun dann… Sie verstehen also, was ich meine?«
»Vollkommen.«
»Und was haben Sie dazu zu sagen?«
»Nichts.«
»Wie?«
»Nichts.«
»Ach was. So reden Sie doch schon!«
»Ich habe nicht darum gebeten, mit Ihnen zu sprechen.«
»Aber… aber schauen Sie doch… wir haben eine Menge Dinge miteinander zu bereden.«
»Ich nicht.«
»Hören Sie«, sagte Mr. Thompson nach einer Weile, »Sie sind ein Mann der Tat, ein Mann, der mit beiden
Beinen im Leben steht. Ja, das sind Sie, weiß Gott! Wenn ich Sie auch sonst nicht ganz verstehe, aber dessen bin
ich sicher.«
»Im Leben? Ja.«
»Nun, das bin ich auch. Wir können offen miteinander reden. Wir können die Karten auf den Tisch legen.
Worauf Sie auch aus sind, ich schlage Ihnen einen Handel vor.«
»Ich bin immer für einen Handel zu haben.«
»Ich habe es gewußt!« rief Mr. Thompson triumphierend aus, sich mit der Faust aufs Knie schlagend. »Ich
hatte es ihnen gesagt, diesen verrückten intellektuellen Theoretikern, wie diesem Wesley!«
»Ich bin immer für einen Handel zu haben – mit jemand, der mir einen Wert zu bieten hat.«
Mr. Thompson wußte nicht, was ihn zögern ließ, bevor er antwortete. »Nun, so sagen Sie, was Sie wollen,
was auch immer es sei!«
»Was haben Sie mir zu bieten?«
»Ja, nun… alles.«
»Zum Beispiel?«
»Was Sie verlangen. Haben Sie unsere Kurzwellenrufe an Sie gehört?«
»Ja.«
»Wir haben gesagt, daß wir auf Ihre Bedingungen eingehen wollen, auf jede Bedingung. Wir haben es ernst
gemeint.«
»Haben Sie gehört, wie ich im Radio sagte, daß ich keine Bedingungen auszuhandeln habe? Ich meinte es
ernst.«
»Aber sehen Sie, Sie haben uns mißverstanden! Sie dachten, wir wollten Sie bekämpfen. Aber das wollen wir
nicht. Wir sind nicht starrsinnig. Wir sind willens, jeden Gedanken zu erwägen. Warum haben Sie unsere Rufe
nicht beantwortet und sind nicht zu einer Besprechung gekommen?«
»Warum sollte ich?«
»Weil… weil wir mit Ihnen sprechen wollten im Namen des Volkes.«
»Ich erkenne Ihr Recht, im Namen des Volkes zu sprechen, nicht an.«
»Aber warum wollen Sie mich dann nicht wenigstens anhören?«
»Ich höre.«
»Das Land ist in einer fürchterlichen Lage. Die Menschen hungern und verzweifeln. Die Wirtschaft bricht
zusammen. Niemand produziert mehr. Wir wissen nicht, was wir dagegen tun sollen. Sie wissen es. Sie wissen,
wie man die Dinge wieder in Gang bringt. Wir sind bereit, nachzugeben. Wir wünschen, daß Sie uns sagen, was
wir tun sollen.«
»Ich habe gesagt, was Sie tun sollen.«
»Was?«
»Räumen Sie das Feld.«
»Das ist unmöglich! Das ist ungeheuerlich! Das kommt überhaupt nicht in Frage!«
»Sehen Sie? Ich habe Ihnen ja gesagt, daß wir nichts zu besprechen haben.«
»Nein, warten Sie! Warten Sie! Verfallen Sie nicht in Extreme! Es gibt immer einen Mittelweg. Sie können
nicht alles haben wollen. Wir sind… das Volk ist dazu nicht reif. Sie können von uns nicht verlangen, daß wir
den Staatsapparat zum alten Eisen werfen. Wir müssen das System erhalten. Doch wir sind willens, es zu
verbessern. Wir wollen es ändern, wie Sie es verlangen. Wir sind keine sturen, theoretischen Dogmatiker. Wir
sind flexibel. Wir werden alles tun, was Sie sagen. Wir geben Ihnen freie Hand. Wir werden mit Ihnen
zusammenarbeiten. Wir werden mit Ihnen jeden Kompromiß schließen. Wir werden Halbe-Halbe machen. Wir
behalten uns die Kontrolle der politischen Sphäre vor und geben Ihnen totale Macht über die wirtschaftliche
Sphäre. Wir unterstellen Ihnen die gesamte Produktion des Landes, wir machen Ihnen die ganze Wirtschaft zum
Geschenk. Sie können sie betreiben, wie Sie es wünschen. Sie geben die Befehle, Sie erlassen die Gesetze – und
Sie haben die organisierte Macht des Staates zur Verfügung, Ihre Entscheidungen durchzusetzen. Wir sind
bereit, Ihnen zu gehorchen, wir alle, von mir abwärts. Auf dem Gebiet der Wirtschaft werden wir alles tun, was
Sie befehlen. Sie werden… Sie werden der Wirtschaftsdiktator der Nation sein!«
Galt brach in schallendes Lachen aus.
Es war die unbeschwerte Heiterkeit dieses Lachens, die Mr. Thompson empörte. »Was ist los mit Ihnen?«
»Das also ist Ihre Vorstellung von einem Kompromiß?«
»Was ist? Was gibt es da zu lachen? Sie scheinen mich nicht verstanden zu haben. Ich biete Ihnen den Posten
Wesley Mouchs an – und es gibt keinen höheren, den Ihnen jemand anbieten könnte! Sie werden die Freiheit
haben, alles zu tun, was Sie wollen. Wenn Sie gegen Kontrollen sind, heben Sie sie auf. Wenn Sie höhere Profite
und niedrigere Löhne wollen, setzen Sie sie fest – nach Ihrem Gutdünken. Wenn Sie besondere Privilegien
wünschen für die großen Unternehmer, gewähren Sie sie ihnen. Wenn Ihnen die Gewerkschaften nicht gefallen,
lösen Sie sie auf. Wenn Sie eine freie Wirtschaft haben wollen, befehlen Sie dem Volk, frei zu sein! Regieren
Sie, wie es Ihnen gefällt. Doch bringen Sie die Dinge wieder in Gang. Bringen Sie Ordnung ins Land. Bringen
Sie die Leute dazu, daß sie arbeiten, daß sie produzieren. Holen Sie Ihre eigenen Leute zurück, die
Verstandesmenschen. Führen Sie uns einem friedlichen, wissenschaftlichen, industriellen Zeitalter und der
Prosperität entgegen!«
»Mit vorgehaltener Pistole?«
»Aber sehen Sie doch mal, ich… Was ist denn daran so Komisches?«
»Sagen Sie mir nur eines: Wenn Sie fähig sind, so zu tun, als hätten Sie kein Wort von dem gehört, was ich
im Radio gesagt habe, was veranlaßt Sie zu glauben, daß ich so tun will, als hätte ich es nicht gesagt?«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen! Ich…«
»Schon gut. Es war nur eine rhetorische Frage. Ihr erster Teil beantwortet den zweiten.«
»Wie?«
»Ich spiele Ihr Spiel nicht mit – wenn Sie eine Übersetzung in Ihre Sprache wünschen.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie mein Angebot ablehnen?«
»Ich lehne es ab.«
»Aber warum?«
»Ich habe im Radio drei Stunden dazu verwandt, es Ihnen zu erklären.«
»Ach, das war ja nur Theorie! Ich rede von Geschäften! Ich biete Ihnen die beste Stellung der Welt an.
Würden Sie mir sagen, was Ihnen an dieser Aufgabe nicht gefällt?«
»Ich habe drei Stunden lang erklärt, warum sie sich so nicht lösen läßt.«
»Sie können sie lösen.«
»Wie?«
Mr. Thompson spreizte die Hände. »Ich weiß es nicht. Wenn ich es wüßte, würde ich mich nicht an Sie
wenden. Es ist Ihre Sache, sich das auszudenken. Sie sind das industrielle Genie. Sie werden für alles eine
Lösung finden.«
»Ich sagte Ihnen, es ist unmöglich.«
»Sie können es möglich machen.«
»Wie?«
»Irgendwie.« Er hörte Galts Lachen und fügte hinzu: »Warum nicht? Sagen Sie mir, warum nicht?«
»Gut, ich will es Ihnen sagen. Sie wollen mich zum Wirtschaftsdiktator machen?«
»Ja.«
»Und Sie werden jedem Befehl gehorchen, den ich gebe?«
»Bedingungslos!«
»Dann beginnen Sie damit, die Einkommensteuer aufzuheben.«
»O nein!« rief Mr. Thompson aufspringend. »Das können wir nicht! Das… das gehört nicht in den Bereich
der Produktion. Das gehört in den Bereich der Verteilung. Wie sollten wir dann die Regierungsangestellten
bezahlen?«
»Entlassen Sie Ihre Regierungsangestellten.«
»O nein! Das ist Politik! Das hat nichts mit der Wirtschaft zu tun! Sie dürfen sich nicht in die Politik mischen!
Sie können nicht alles haben!«
Galt kreuzte die Beine auf dem Fußkissen, streckte sich bequemer aus in dem Brokatsessel. »Wollen Sie die
Diskussion fortsetzen? Oder haben Sie mich begriffen?«
»Ich wollte nur…« Mr. Thompson unterbrach sich.
»Sind Sie damit zufrieden, daß ich Sie begriffen habe?«
»Hören Sie«, sagte Mr. Thompson beschwichtigend und setzte sich auf den Rand seines Sessels. »Ich will
nicht mit Ihnen streiten. Ich bin kein Mann des Worts. Ich bin ein Mann der Tat. Die Zeit ist knapp. Alles, was
ich weiß, ist, daß Sie Verstand haben. Genau den Verstand, den wir brauchen. Sie können alles. Sie könnten alle
Probleme lösen, wenn Sie wollten.«
»Schön. Nehmen wir’s so: Ich will nicht. Ich will nicht Wirtschaftsdiktator werden, nicht einmal um nur das
Gesetz zu erlassen, daß die Menschen frei sein sollen – ein Gesetz, das kein vernünftiger Mensch ernst nehmen
würde, weil er wüßte, daß seine Rechte nichts wert sind, wenn sie auf Ihren oder auf meinen Befehl gewährt
werden.«
»Sagen Sie mir«, fragte Mr. Thompson, ihn nachdenklich anschauend, »worauf wollen Sie hinaus?«
»Das habe ich im Radio gesagt.«
»Sie sagten, Sie wollten nur Ihren persönlichen Vorteil… Und das verstehe ich nicht: Was können Sie sich
von der Zukunft erhoffen, das Sie nicht jetzt sofort bekommen können, auf dem Präsentierteller serviert? Ich
dachte, Sie seien ein Egoist – und ein Mann der Praxis. Ich biete Ihnen einen Blankoscheck an auf alles, was Sie
wollen – und Sie antworten mir, Sie wollen ihn nicht. Warum?«
»Weil Ihr Blankoscheck nicht gedeckt ist.«
»Wieso?«
»Weil Sie mir keine Werte anzubieten haben.«
»Ich kann Ihnen alles anbieten, was Sie wünschen. Sie brauchen es nur zu sagen.«
»Sagen Sie es.«
»Nun, Sie haben viel von Reichtum geredet. Wenn es Geld ist, was Sie wollen… Sie können in drei Leben
nicht soviel verdienen, wie ich Ihnen in einer Minute, in dieser Minute bar auf den Tisch legen kann. Wollen Sie
eine Milliarde Dollar haben, eine runde, saubere Milliarde Dollar, eine runde, saubere Milliarde?«
»Die ich produzieren müßte, damit Sie sie mir geben könnten.«
»Nein. Ich meine direkt aus der Staatskasse, in neuen Noten… oder… oder in Gold, wenn Sie das
vorziehen?«
»Was kann ich damit kaufen?«
»Oh, wenn die Wirtschaft wieder in Gang gekommen ist…«
»Wenn ich sie in Gang gebracht habe.«
»Nun, wenn Sie darauf aus sind, alles auf Ihre Weise zu machen… wenn es Macht ist, was Sie wollen… ich
garantiere Ihnen, daß jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in diesem Land Ihren Befehlen gehorchen und tun
wird, was Sie wünschen.«
»Nachdem ich sie gelehrt habe, es zu tun?«
»Wenn Sie etwas für Ihre eigene Clique haben wollen… für die Männer, die verschwunden sind…
Stellungen, Macht, Steuererleichterungen, irgendwelche besonderen Vergünstigungen… Sie bekommen es.«
»Nachdem ich sie zurückgebracht habe?«
»Nun, was auf der Welt wollen Sie?«
»Wozu auf der Welt brauche ich Sie?«
»Wie?«
»Was können Sie mir bieten, das ich ohne Sie nicht bekommen könnte?«
Es war ein veränderter Ausdruck in Mr. Thompsons Augen, als er sich jetzt wie in die Enge getrieben
zurücklehnte, aber er blickte Galt zum ersten Mal offen an und sprach langsam: »Ohne mich könnten Sie diesen
Raum nicht verlassen, in diesem Augenblick.«
Galt lächelte. »Das ist wahr.«
»Sie wären nicht fähig, etwas zu produzieren. Man könnte Sie hier verhungern lassen.«
»Das ist wahr.«
»Nun, begreifen Sie jetzt?« In Mr. Thompsons Stimme trat wieder der laute joviale Ton. »Ich habe Ihnen Ihr
Leben zu bieten.«
»Es gehört nicht Ihnen, Mr. Thompson, Sie können es mir nicht anbieten.« Etwas in Galts Stimme ließ Mr.
Thompson den Kopf herumwerfen, um ihn nähe zu betrachten, doch im gleichen Augenblick sah er wieder weg:
Galts Lächeln war beinahe liebenswürdig.
»Sehen Sie jetzt«, sagte Galt, »was ich meinte, als ich sagte, daß man für nichts keine Hypothek auf ein Leben
bekommt? Ich könnte Ihnen eine Hypothek geben. Aber ich tue es nicht. Die Zurücknahme einer Drohung ist
keine Bezahlung, die Negation eines Negativums ist keine Belohnung, die Zurückziehung Ihre bewaffneten
Wachposten ist kein Anreiz, das Angebot, mich nicht zu ermorden, ist kein Wert.«
»Wer… wer hat davon gesprochen, Sie zu ermorden?«
»Wer hat von irgend etwas anderem gesprochen? Wenn man mich nicht mit vorgehaltener Pistole, also unter
Todesdrohungen, hierhergebracht hätte, hätten Sie nie die Möglichkeit gehabt, mit mir zu sprechen. Und das ist
alles, was Ihr Pistolen vollbringen können. Ich zahle nicht für die Aufhebung von Bedrohungen. Ich kaufe mein
Leben nicht von einem anderen.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Mr. Thompson strahlend. »Wenn Sie ein gebrochenes Bein hätten, würden Sie
einen Arzt bezahlen, es zu heilen.«
»Nicht, wenn er derjenige wäre, der es mir gebrochen hat.« Er lächelte über Mr. Thompsons Schweigen. »Ich
bin ein vernünftiger Mensch, Mr. Thompson. Ich glaube, es ist nicht vernünftig, einen Menschen zu unterstützen,
dessen einziges Mittel, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, darin besteht, daß er mir die Knochen zerbricht.«
Mr. Thompson blickte gedankenvoll vor sich hin und schüttelte dann den Kopf. »Ich glaube nicht, daß Sie
vernünftig sind«, sagte er. »Ein vernünftiger Mensch ignoriert nicht die Tatsachen der Wirklichkeit. Er
verschwendet seine Zeit nicht damit, zu wünschen, daß die Dinge anders werden, oder zu versuchen, sie zu
ändern. Er nimmt die Dinge, wie sie sind. Wir haben Sie. Das ist eine Tatsache. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, es
ist eine Tatsache. Sie sollten dieser Tatsache entsprechend handeln.«
»Ich tue es.«
»Ich meine, Sie sollten mit uns zusammenarbeiten. Sie sollten eine bestehende Situation erkennen,
anerkennen und sich ihr anpassen.«
»Wenn Sie eine Blutvergiftung hätten, würden Sie sich ihr anpassen oder würden Sie versuchen, sie
loszuwerden.«
»Oh, das ist etwas anderes! Das ist physisch!«
»Sie meinen also, physische Tatsachen können verändert werden, geistige aber nicht?«
»Was?«
»Sie meinen, die physische Natur kann dem Menschen angepaßt werden, Ihre Wünsche jedoch stehen über
den Gesetzen der Natur, und die Menschen müssen sich Ihnen anpassen?«
»Ich meine, daß ich die Oberhand habe!«
»Mit einer Pistole darin?«
»Ach, vergessen Sie Ihre Pistolen! Ich…«
»Ich kann eine Tatsache der Wirklichkeit nicht vergessen, Mr. Thompson. Das wäre unvernünftig.«
»Gut also: Ich habe eine Pistole in der Hand. Was werden Sie dagegen tun?«
»Ich werde vernünftig handeln. Ich werde Ihnen gehorchen.«
»Was?!«
»Ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen.«
»Meinen Sie das ernst?«
»Völlig ernst. Wörtlich.« Er sah den Eifer in Mr. Thompsons Gesicht langsam zurückweichen vor einem
Ausdruck der Bestürzung. »Ich werde jede Bewegung vollführen, die Sie mir befehlen. Wenn Sie mir befehlen,
in das Büro eines Wirtschaftsdiktators zu ziehen, werde ich es tun. Wenn Sie mir befehlen, mich an einen
Schreibtisch zu setzen, werde ich es tun. Wenn Sie mir befehlen, eine Verordnung zu erlassen, werde ich die
Verordnung erlassen, die zu erlassen Sie mir befehlen.«
»Aber ich weiß nicht, welche Verordnungen erlassen werden müssen!«
»Ich auch nicht.« Eine längere Pause trat ein.
»Nun?« sagte Galt schließlich. »Welches sind Ihre Befehle?«
»Ich will, daß Sie die Wirtschaft des Landes retten!«
»Ich weiß nicht, wie ich sie retten kann.«
»Ich will, daß Sie einen Weg finden.«
»Ich weiß nicht, wie man ihn findet.«
»Ich will, daß Sie darüber nachdenken!«
»Wie will Ihre Pistole mich zwingen, das zu tun, Mr. Thompson?«
Mr. Thompson sah ihn schweigend an, und Galt erkannte in den zusammengepreßten Lippen, dem
vorgeschobenen Kinn und den verkniffenen Augen die Miene eines jugendlichen Schlägers, der gerade dem
philosophischen Argument Ausdruck verleihen will, das in dem Satz enthalten ist: Ich schlage dir die Zähne ein.
Galt lächelte, blickte ihn offen an, als würde er den unausgesprochenen Satz hören und unterstreichen. Mr.
Thompson wandte den Blick zur Seite.
»Nein«, sagte Galt, »Sie wollen nicht, daß ich denke. Wenn Sie einen Menschen zwingen, gegen seinen
Willen und sein Urteil zu handeln, dann wollen Sie, daß er sein Denken aufgibt. Sie wollen, daß er ein Roboter
wird. Ich gehorche.«
Mr. Thompson seufzte. »Ich verstehe Sie nicht«, sagte er in einem Ton echter Hilflosigkeit. »Irgend etwas
stimmt nicht mit Ihnen, aber ich weiß nicht, was es ist. Warum wollen Sie Schwierigkeiten haben? Mit einem
Gehirn wie dem Ihren sind Sie jedermann überlegen. Ich bin Ihnen nicht gewachsen, und Sie wissen es. Warum
tun Sie nicht so, als ob Sie auf unsere Seite träten, und versuchen mich zu überspielen?«
»Aus dem gleichen Grund, aus dem Sie mir dieses Angebot machen: weil Sie gewinnen würden.«
»Wieso?«
»Weil es der Versuch Ihrer Gegner, Sie auf Ihrem Boden zu schlagen, war, der es Leuten wie Ihnen seit
Jahrhunderten möglich gemacht hat, sich an der Macht zu halten. Wer von uns beiden würde siegen, wenn ich
mit Ihnen in Wettbewerb treten würde um die Kontrolle über Ihre Muskelmänner? Gewiß, ich könnte so tun, als
ob. Aber ich würde Ihre Wirtschaft und Ihr System nicht retten, weil nichts mehr sie retten kann. Ich würde
zugrunde gehen, und Sie würden gewinnen, was Sie in der Vergangenheit immer gewonnen haben: einen
Aufschub, eine Verlängerung Ihrer Herrschaft, für ein weiteres Jahr, für einen Monat – um den Preis dessen, was
Sie an Hoffnung und Anstrengung aus dem Besten herauspressen könnten, was von den Menschen noch übrig
ist. Einen Monat? Sie würden sich mit einer Woche begnügen – in der unbestrittenen Annahme, daß sich dann
wieder ein anderes Opfer findet. Doch Sie haben Ihr letztes Opfer gefunden – das erste, das sich weigert, seine
traditionelle Rolle zu spielen. Das Spiel ist aus, Mr. Thompson.«
»Ach, das sind nur Theorien!« rief Mr. Thompson etwas zu heftig aus; seine Augen durchstreiften den Raum,
als wäre das ein Ersatz für ein erleichterndes Hin- und Hergehen; er blickte zur Tür, als verlangte ihn danach, zu
entfliehen. »Sie sagen, wenn wir unser System aufgeben, gehen wir unter?« fragte er.
»Ja.«
»Nun, da wir Sie haben, werden Sie doch mit uns untergehen?«
»Das ist möglich.«
»Wollen Sie denn nicht leben?«
»Leidenschaftlich gern.« Er sah das Funkeln in Mr. Thompsons Augen und lächelte. »Ich will Ihnen noch
mehr sagen: Ich weiß, daß mein Wille zu leben, stärker ist als Ihrer. Ich weiß, daß Sie darauf zählen. Ich weiß,
daß Sie überhaupt nicht leben wollen. Ich will es. Und weil ich es so sehr will, werde ich keinen Ersatz
annehmen.«
Mr. Thompson sprang auf die Füße. »Das ist nicht wahr!« schrie er. »Daß ich nicht leben will, das ist nicht
wahr! Warum sagen Sie so etwas?« Er stand da, in sich zusammengekauert, als wehrte er sich gegen einen
Kälteschauer. »Warum reden Sie solchen Unsinn? Ich weiß nicht, was Sie meinen?« Er trat einige Schritte
zurück. »Und es ist nicht wahr, daß ich ein Mörder bin. Ich bin keiner. Ich habe nicht die Absicht, Ihnen etwas
anzutun. Ich habe nie jemand etwas antun wollen. Ich will, daß die Menschen mich lieben!« schrie er.
Galts Augen beobachteten ihn ausdruckslos, ohne ihm zu verraten, was sie sahen, außer, daß sie es sahen.
Mr. Thompson begann hastige, überflüssige Bewegungen zu machen, als hätte er es eilig. »Ich muß gehen.
Ich habe eine Menge Verabredungen. Wir werden uns weiter unterhalten. Überdenken Sie alles. Lassen Sie sich
Zeit. Ich will Sie nicht unter Druck setzen. Ruhen Sie sich aus. Machen Sie sich’s gemütlich hier, als wären Sie
zu Hause. Verlangen Sie alles, was Sie brauchen: Essen, Getränke, Zigaretten, von allem das Beste.« Er zeigte
auf Galts Kleidung. »Ich werde den teuersten Schneider in der Stadt bestellen, damit er Ihnen einige gute
Anzüge macht. Ich will, daß Sie sich an das Beste gewöhnen. Ich wünsche, daß Sie sich wohl fühlen… Sagen
Sie«, fragte er, ein wenig zu beiläufig, »haben Sie keine Familie? Verwandte, die Sie sehen möchten?«
»Nein.«
»Freunde?«
»Nein.«
»Aber eine Freundin haben Sie doch?«
»Nein.«
»Es ist nur, weil ich nicht möchte, daß Sie sich einsam fühlen. Sie können Besucher empfangen, jeden
Besucher, den Sie zu sehen wünschen, wenn es jemand gibt, auf den Sie Wert legen.«
»Es gibt niemand.«
Mr. Thompson zögerte an der Tür, wandte sich um, sah Galt an und schüttelte den Kopf: »Ich begreife Sie
nicht.«
Galt lächelte, zuckte die Achseln und antwortete: »Wer ist John Galt?«
Ein wirbelnder Hagelschauer ging vor dem Eingang des Wayne-Falkland-Hotels nieder, und die bewaffneten
Posten sahen seltsam hilflos und verlassen aus in dem Lichtkegel; sie standen da, zusammengekauert mit
hängenden Köpfen und drückten ihre Gewehre an sich, als wollten sie sich an ihnen wärmen.
Von der anderen Seite der Straße bemerkte Chick Morrison, Leiter des Amtes für öffentliche Meinung, der zu
einer Konferenz in der neunundfünfzigsten Etage unterwegs war, daß die wenigen Passanten die Wachposten
ebensowenig beachteten wie die Schlagzeilen der durchnäßten, unverkauften Zeitungen in dem Stand eines
zerlumpten, vor Kälte zitternden Händlers: »John Galt verspricht Wohlstand.«
Langsam, unbehaglich bewegte Chick Morisson den Kopf hin und her: Sechs Tage lang erschienen nun auf
den ersten Seiten der Zeitungen Artikel über die vereinigten Bemühungen der Führer des Landes, die zusammen
mit John Galt eine neue Politik ausarbeiteten – doch ohne Erfolg. Die Menschen bewegten sich, stellte er fest, als
ob nichts um sie herum sie interessierte. Niemand nahm Notiz von ihm, mit Ausnahme einer zerlumpten alten
Frau, die ihm schweigend die offene Hand entgegenstreckte, als er sich dem beleuchteten Eingang des Hotels
näherte; er eilte an ihr vorbei, und nur einige Hagelkörner fielen in die knorrige, nackte Hand.
Es war die Erinnerung an das Bild der Straßen, die Chick Morrisons Stimme einen schartigen Klang gab,
während er in der neunundfünfzigsten Etage in Mr. Thompsons Zimmer zu einem Halbkreis von Gesichtern
sprach. Der Ausdruck der Gesichter paßte zum Klang seiner Stimme.
»Es scheint nicht zu wirken«, sagte er, auf einen Stapel von Berichten seiner Überwacher des öffentlichen
Pulses deutend. »Alle Presseveröffentlichungen über unsere Zusammenarbeit mit John Galt lassen die Menschen
gleichgültig. Niemand scheint sich darum zu kümmern. Sie glauben kein Wort davon. Einige sagen, daß er nie
mit uns zusammenarbeiten wird. Die meisten glauben nicht einmal, daß wir ihn haben. Ich weiß nicht, was in das
Volk gefahren ist. Es glaubt überhaupt nichts mehr.« Er seufzte. »Drei Fabriken in Cleveland haben vorgestern
zugemacht, gestern fünf in Chicago, und in San Francisco…«
»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach ihn Mr. Thompson, den Schal um seinen Hals enger ziehend; die
Zentralheizung des Gebäudes funktionierte nicht mehr.
»Es gibt keine andere Wahl: Er muß nachgeben und die Macht übernehmen. Er muß!«
Wesley Mouch sah zur Decke. »Verlangen Sie von mir nicht, daß ich noch einmal mit ihm spreche«, sagte er
und erschauerte. »Ich habe es versucht. Ich kann mit diesem Menschen nicht sprechen.«
»Ich… ich kann nicht, Mr. Thompson!« rief Chick Morrison, als Mr. Thompsons schweifender Blick bei ihm
haltmachte. »Ich trete zurück, wenn Sie es von mir verlangen! Ich kann nicht noch einmal mit ihm sprechen!«
»Niemand kann mit ihm sprechen«, sagte Dr. Floyd Ferris. »Es ist Zeitverschwendung. Er hört nicht ein Wort
von dem, was man zu ihm sagt.«
Fred Kinnan grinste. »Sie meinen, er hört zuviel! Und was schlimmer ist, er beantwortet es.«
»Nun, warum versuchen Sie es nicht noch einmal?« fragte Mouch. »Ihnen scheint es Spaß gemacht zu haben.
Warum versuchen Sie nicht, ihn zu überreden?«
»Nein, danke«, erwiderte Kinnan. »Machen wir uns doch nichts vor. Niemand wird ihn überreden. Ich möchte
es nicht ein zweites Mal versuchen. – Ob es mir Spaß gemacht hat?« fügte er mit einem Ausdruck der
Verwunderung hinzu. »Ja, ich glaube, ja.«
»Was ist los mit Ihnen? Haben Sie sich von ihm einfangen lassen?«
»Ich?« Kinnan lächelte freudlos. »Was würde es mir nützen? Ich werde der erste sein, der dran glauben muß,
wenn er gewinnt. Er ist einer, der sagt, was er denkt.«
»Er kann nicht gewinnen!« schnarrte Mr. Thompson. »Das kommt nicht in Frage!«
Eine längere Pause trat ein.
»Aus West-Virginia werden Hungerrevolten gemeldet«, sagte Wesley Mouch. »Und die Farmer in Texas
haben…«
»Mr. Thompson! « rief Chick Morrison verzweifelt aus. »Vielleicht… vielleicht könnten wir das Volk ihn
sehen lassen… auf einer Massenversammlung… oder vielleicht im Fernsehen… ihn nur sehen lassen, damit sie
glauben, daß wir ihn wirklich haben… Es würde dem Volk Hoffnung geben, für eine Weile… es würde uns ein
wenig Zeit geben…«
»Zu gefährlich«, sagte Dr. Ferris. »Laßt ihn nirgendwo dem Volk zu nahe kommen. Es gibt nichts, wozu er
nicht fähig ist.«
»Er muß nachgeben«, sagte Mr. Thompson störrisch. »Er muß auf unsere Seite treten. Einer von uns muß…«
»Nein!« schrie Eugene Lawson. »Nicht ich! Ich will ihn überhaupt nicht sehen! Nicht ein einziges Mal! Ich
will es nicht glauben müssen!«
»Was?« fragte James Taggart; seine Stimme hatte einen drohenden, spöttischen Klang. Lawson antwortete
nicht. »Vor was fürchten Sie sich?« Die Verachtung in Taggarts Stimme war unnatürlich überbetont, als ob der
Anblick eines Menschen, der sich mehr fürchtete als er selbst, ihn dazu verleitete, seine eigene Furcht zu
verleugnen. »Was fürchten Sie, glauben zu müssen, Gene?«
»Ich will es nicht glauben! Ich will nicht!« Lawsons Stimme war halb Knurren, halb Wimmern. »Sie können
mich nicht dazu bringen, meinen Glauben an die Menschheit zu verlieren! Sie sollten nicht erlauben, daß ein
solcher Mensch möglich ist! Ein gewissenloser Egoist, der…«
»Sie sind eine traurige Bande von Intellektuellen, alle miteinander«, sagte Mr. Thompson wütend. »Ich
dachte, Sie könnten mit ihm in seiner Sprache sprechen. Doch Sie haben alle Angst vor ihm. Ideen? Wo sind
Ihre Ideen? Tun Sie was! Bringen Sie ihn auf unsere Seite! Überzeugen Sie ihn!«
»Das Dumme ist, er will nichts haben«, sagte Mouch. »Was können wir einem Mann anbieten, der nichts
will?«
»Sie meinen«, sagte Kinnan, »was können wir einem Mann anbieten, der leben will?«
»Schweigen Sie!« schrie James Taggart. »Warum sagen Sie das? Was veranlaßt Sie, das zu sagen?«
»Was veranlaßt Sie, zu schreien?« fragte Kinnan.
»Ruhe… alle miteinander!« befahl Mr. Thompson. »Sie sind groß darin, einer den anderen zu bekämpfen,
doch wenn es gilt, einen richtigen Mann…«
»Hat er Sie auch weich gemacht?« höhnte Lawson.
»Ach, Unsinn«, sagte Mr. Thompson müde. »Er ist der härteste Bursche, mit dem ich je zu tun hatte. Das
werden Sie nie verstehen. Er ist so hart wie…« Ein schwacher Unterton von Bewunderung kam in seine
Stimme… »so hart wie…«
»Es gibt Mittel, harte Burschen zu überreden«, sagte Dr. Ferris lässig, »wie ich Ihnen bereits erklärt habe.«
»Nein!« schrie Mr. Thompson. »Nein! Schweigen Sie! Ich will davon nichts hören!« Seine Hände bewegten
sich erregt, als wollte er etwas verscheuchen, das er nicht benennen konnte. »Ich habe ihm gesagt, daß es nicht
wahr ist, daß wir keine… daß ich kein…« Er schüttelte heftig den Kopf, als ob seine eigenen Worte eine
unerträgliche Gefahr bedeuteten. »Nein, sehen Sie, ich meine, wir müssen vernünftig vorgehen und vorsichtig.
Verdammt vorsichtig. Wir müssen die Angelegenheit friedlich behandeln. Wir können es uns nicht leisten, ihn
uns zum Feind zu machen oder ihm etwas anzutun. Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, daß… daß ihm etwas
zustößt; denn… denn, wenn er nicht mehr ist, sind wir erledigt. Er ist unsere letzte Hoffnung. Geben Sie sich
keinen Illusionen darüber hin. Wenn er uns nicht hilft, sind wir verloren. Das wissen Sie alle.« Sein Blick glitt
über die Gesichter, die ihn umgaben: Sie wußten es.
Der Regen des nächsten Tages fiel auf die Titelseiten-Artikel der Zeitungen, die berichteten, daß eine
konstruktive, harmonische Konferenz zwischen John Galt und den Führern des Landes am vorangegangenen
Nachmittag den »John Galt-Plan« geboren habe, der bald verkündet werden sollte. Die Schneeflocken des
Abends fielen auf die Möbel eines Wohnhauses, dessen Vorderwand eingestürzt war… und auf eine
Menschenmenge, die stumm vor dem geschlossenen Kassenschalter einer Fabrik wartete, deren Besitzer
verschwunden war.
»Die Farmer von South Dakota«, berichtete Wesley Mouch Mr. Thompson am nächsten Morgen,
»marschieren auf die Hauptstadt des Staates zu und zünden unterwegs jedes Regierungsgebäude an und jedes
Wohnhaus, das mehr wert ist als zehntausend Dollar.«
»In Kalifornien geht alles drunter und drüber«, berichtete er am Abend. »Dort ist ein Bürgerkrieg im Gange –
wenn es einer ist, wessen niemand ganz sicher zu sein scheint. Sie haben erklärt, sie wollen von der Union
abfallen, doch niemand weiß, wer jetzt an der Macht ist. Überall im Staat toben Kämpfe zwischen einer
‘Volkspartei’, geführt von Ma Chalmers und ihren Sojabohnenkult-Anhängern, und einer Bande, die sich
‘Zurück zu Gott’ nennt und von einigen früheren Ölfeld-Besitzern geführt wird.«
»Miss Taggart!« stöhnte Mr. Thompson, als sie am nächsten Morgen, von ihm zu einer Besprechung gebeten,
sein Hotelzimmer betrat. »Was sollen wir tun?«
Er fragte sich, warum er einmal geglaubt hatte, sie besäße eine beruhigende Energie. Er sah ein leeres Gesicht,
das gefaßt schien, doch diese Fassung wirkte beunruhigend, wenn man bemerkte, daß sie Minute um Minute
anhielt, ohne einen Wechsel des Ausdrucks, ohne Anzeichen eines Gefühls. Ihr Gesicht hat den gleichen
Ausdruck wie alle anderen, dachte er, mit Ausnahme eines Zuges um ihren Mund, der Ausdauer verriet.
»Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Miss Taggart, Sie haben mehr Verstand als alle meine Leute«, sagte er. »Sie
haben mehr für das Land getan als irgendeiner von denen. Sie haben ihn ausfindig gemacht für uns. Was sollen
wir jetzt tun? Jetzt, da alles zusammenbricht, ist er der einzige, der uns aus diesem Chaos heraufführen kann.
Doch er will nicht. Er weigert sich. Er weigert sich einfach, uns zu führen. Ich habe nie so etwas erlebt: ein
Mensch, der nicht den Wunsch hat, zu befehlen. Wir flehen ihn an, Befehle zu geben. Und er antwortet uns, daß
er gehorchen will! Es ist ungeheuerlich!«
»Ja, das ist es.«
»Was halten Sie davon? Können Sie so etwas verstehen?«
»Er ist ein anmaßender Egoist«, sagte sie. »Er ist ein ehrgeiziger Abenteurer. Er ist ein Mann von
unbegrenzter Kühnheit, der um den höchsten Einsatz der Welt spielt.«
Es war leicht, dachte sie. Es wäre schwer gewesen in einer früheren Zeit, als sie die Sprache noch als ein
Werkzeug der Ehre betrachtet hatte, immer nur zu gebrauchen, als ob man unter Eid stünde – einem Eid der
Treue zur Wirklichkeit und der Achtung vor den Menschen. Jetzt brauchte sie nur Laute von sich zu geben,
unartikulierte Laute, gerichtet an leblose Objekte, die in keinerlei Beziehungen standen zu Begriffen wie
Wirklichkeit, Menschlichkeit oder Ehre.
Es war leicht gewesen, Mr. Thompson an jenem ersten Morgen zu berichten, wie sie John Galt in seinem
Heim aufgespürt hatte. Es war leicht gewesen, Mr. Thompsons immer breiter werdendes Lächeln zu sehen und
seine Ausrufe anzuhören: »Das ist eine Frau! Das ist eine Frau!«, mit denen er sich immer wieder an seine
Assistenten wandte, Triumph in den Augen, den Triumph eines Mannes, dessen Vertrauen in sie gerechtfertigt
worden war. Es war leicht gewesen, einen wütenden Haß gegen John Galt zu bekunden: »Ich habe früher seine
Ideen geteilt, doch ich kann nicht zulassen, daß er meine Eisenbahn zerstört!« – und Mr. Thompson sagen zu
hören: »Seien Sie beruhigt, Miss Taggart! Wir werden Sie vor ihm beschützen!«
Es war leicht gewesen, einen Ausdruck kalter Berechnung aufzusetzen und Mr. Thompson mit klarer und
schneidender Stimme, wie eine Addiermaschine, die eine Endsumme auswirft, an die fünfhunderttausend Dollar
Belohnung zu erinnern. Sie hatte das kurze Erstarren von Mr. Thompsons Gesichtsmuskeln gesehen, dann sein
strahlendes, noch breiteres Lächeln, mit dem er stumm auszudrücken schien, daß er es nicht erwartet hatte, doch
entzückt war zu erfahren, was ihre Schwäche war, und daß er Verständnis hatte für diese Schwäche.
»Selbstverständlich, Miss Taggart! Gewiß! Die Belohnung gehört ganz Ihnen! Der Scheck wird Ihnen
zugeschickt – in voller Höhe!«
Es war leicht gewesen, denn ihr war zumute, als befände sie sich in einer öden Nicht-Welt, in der Worte und
Handlungen keine Tatsachen mehr waren, keine Äußerungen der Wirklichkeit, sondern nur ihre Verfälschungen,
ähnlich den Mißbildungen, die einem aus den Zerrspiegeln eines Lachkabinetts auf einem Jahrmarkt
entgegengrinsen. Dünn und spitz und heiß, wie ein glühender Draht in ihrem Innern, wie eine bohrende Nadel,
war ihre einzige Sorge: der Gedanke an seine Sicherheit. Der Rest war Auflösung, eine konturenlose, teils
ätzende, teils nur trübe Wolke.
Doch dies, dachte sie erschauernd, war der Zustand, in dem sie lebten, alle die Menschen, die sie nie
verstanden hatte; dies war der Zustand, den sie sich wünschten, dieses Verstellen, Täuschen und Lügen mit dem
leichtgläubigen Blick aus den angstgeblendeten Augen eines Mr. Thompson als einzigem Ziel und einzigem
Lohn. Diejenigen, die diesen Zustand wünschen, fragte sie sich, wollen sie wirklich leben?
»Der größte Einsatz der Welt, Miss Taggart?« fragte Mr. Thompson sie ängstlich. »Um was spielt er? Was
will er?«
»Die Wirklichkeit. Diese Erde.«
»Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen, aber… Miss Taggart, wenn Sie glauben, daß Sie ihn verstehen,
würden Sie… würden Sie noch einmal versuchen, mit ihm zu sprechen?«
Ihr war, als hörte sie ihre eigene Stimme viele Lichtjahre weit entfernt schreien, daß sie ihr Leben darum
geben würde, ihn zu sehen, doch in diesem Raum hörte sie die Stimme einer Fremden kalt antworten: »Nein, Mr.
Thompson, das werde ich nicht tun.«
»Ich weiß, daß Sie ihn nicht ausstehen können, und ich kann Sie dafür nicht tadeln, aber könnten Sie nicht
doch versuchen…«
»Ich habe versucht, vernünftig mit ihm zu reden in der Nacht, als ich ihn fand. Als Antwort habe ich nur
Beleidigungen zu hören bekommen. Ich glaube, er haßt mich mehr als irgendeinen anderen Menschen. Er kann
es mir nie verzeihen, daß ich es war, die ihn gefunden hat. Ich bin der letzte Mensch, dem er sich ergeben
würde.«
»Ja… Ja, das ist wahr… Glauben Sie, daß er sich überhaupt je ergeben wird?«
Die Nadel in ihrem Innern zitterte für einen Augenblick, während sie ihren schmerzhaften Weg zwischen
zwei Wegen suchte: Sollte sie sagen, daß er sich nie ergeben wird, und zusehen, wie sie ihn töteten? Oder sollte
sie sagen, er würde sich ergeben, und erleben, daß sie sich an ihre Macht klammerten, bis die Erde zerstört war?
»Er wird«, sagte sie mit fester Stimme, »er wird nachgeben, wenn Sie ihn richtig behandeln. Er ist zu
ehrgeizig, um Macht zurückweisen zu können. Lassen Sie ihn nicht entkommen, doch drohen Sie ihm nicht –
und tun Sie ihm keine Gewalt an. Furcht kann ihm nichts anhaben. Er ist unempfindlich gegen Furcht.«
»Was aber, wenn… ich meine, angesichts des allgemeinen Zusammenbruchs… was aber, wenn er zu lange
durchhält?«
»Das wird er nicht tun. Dazu ist er zu realistisch. Übrigens, lassen Sie ihn erfahren, wie es um das Land
steht?«
»Bewahre… nein.«
»Ich würde vorschlagen, daß Sie ihn Ihre vertraulichen Berichte lesen lassen. Dann wird er erkennen, daß es
nicht mehr lange dauert.«
»Das ist eine gute Idee! Eine sehr gute Idee! – Wissen Sie, Miss Taggart«, sagte er plötzlich mit einem Ton
verzweifelten Anklammerns in der Stimme, »es tut mir gut, mit Ihnen zu sprechen. Das liegt daran, daß ich
Ihnen vertraue. Ich traue niemand in meiner Umgebung. Doch Sie … Sie sind anders. Sie sind zuverlässig.«
Sie sah ihn mit festem Blick offen an. »Ich danke Ihnen, Mr. Thompson«, sagte sie.
Es war leicht gewesen, dachte sie – bis sie durch die Straßen ging und spürte, daß ihre Bluse unter ihrem
Mantel feucht an ihren Schulterblättern klebte.
Wenn sie fähig wäre, zu fühlen, dachte sie, als sie durch die Halle des Taggart Terminals ging, würde sie
erkennen, daß die große Gleichgültigkeit, die sie jetzt ihrer Eisenbahn gegenüber empfand, Haß war. Es war ihr,
als ob sie nur Güterzüge laufen ließe: Die Passagiere waren für sie weder lebendig noch menschlich. Es schien
ihr sinnlos, übermenschliche Anstrengungen zu vergeuden, um Katastrophen zu verhüten, um die Sicherheit von
Zügen zu garantieren, die nichts anderes beförderten als leblose Objekte. Sie blickte in die Gesichter, die ihr auf
den Bahnsteigen begegneten: Wenn er sterben mußte, dachte sie, gemordet von den Machthabern ihres Systems,
damit diese fortfahren könnten zu essen, zu reisen und zu schlafen – würde sie weiter Züge für sie laufen lassen?
Wenn sie diese Menschen um Hilfe anflehen würde, würde einer von ihnen aufstehen zu seiner Verteidigung?
Wollten sie, daß er lebte, sie, die ihn gehört hatten?
Der Scheck über fünfhunderttausend Dollar wurde ihr an diesem Nachmittag in ihr Büro zugestellt; er wurde
abgegeben mit einem Blumenstrauß von Mr. Thompson. Sie warf einen Blick auf den Scheck und ließ ihn auf
ihren Schreibtisch flattern: Er bedeutete ihr nichts und ließ sie nichts empfinden, nicht einmal eine Anwandlung
von Schuld. Es war ein Fetzen Papier, nicht wertvoller als der Inhalt des Papierkorbs in ihrem Büro. Ob sie
damit ein Brillanthalsband oder ihr letztes Essen kaufen konnte, es war ihr gleichgültig. Sie würde das Geld nie
ausgeben. Es besaß keinen Wert, und nichts, was sie dagegen eintauschen konnte, konnte von Wert sein. Doch
dies, dachte sie, diese tote Gleichgültigkeit war der Dauerzustand der Menschen, die sie umgaben, von
Menschen, die kein Ziel und keine Leidenschaft kannten. Dies war der Zustand einer Seele ohne Wertgefühl;
diejenigen, die ihn wählten, fragte sie sich, wollten sie wirklich leben?
Die Lichter brannten nicht in der Halle des Apartmenthauses, als sie an diesem Abend, stumpf vor
Erschöpfung, nach Hause kam, und sie bemerkte den Umschlag zu ihren Füßen nicht, bis sie das Licht in ihrer
Diele anknipste. Es war ein unbeschriebener, versiegelter Umschlag, der unter der Tür hindurchgeschoben
worden war. Sie hob ihn auf – und im nächsten Augenblick lachte sie lautlos, halb sitzend, halb kniend am
Boden hockend, um sich nicht von diesem Fleck zu bewegen, um nichts anderes zu tun, als auf die Nachricht zu
starren, die von einer vertrauten Handschrift geschrieben war, von der Hand, deren letzte Botschaft auf dem
Kalender über der Stadt gestanden hatte. Die Nachricht lautete:
Dagny:
Halte durch. Paß auf. Wenn er unsere Hilfe braucht, ruf mich an unter
OR 6-5693.
F.
Die Zeitungen des nächsten Morgens ermahnten die Öffentlichkeit, nicht den Gerüchten zu glauben, daß es in
den Südstaaten zu Unruhen gekommen war. Die vertraulichen Berichte, die Mr. Thompson zugingen, meldeten,
daß Kämpfe ausgebrochen waren zwischen Georgia und Alabama um den Besitz einer Fabrik für elektrische
Geräte… einer Fabrik, die durch die Kämpfe und durch gesprengte Eisenbahnstrecken von jeder
Rohmaterialzufuhr abgeschnitten war.
»Haben Sie die vertraulichen Berichte gelesen, die ich Ihnen geschickt habe?« stöhnte Mr. Thompson, als er
an diesem Abend wieder vor Galt stand. Er war begleitet von James Taggart, der sich freiwillig erboten hatte,
den Gefangenen zum ersten Mal zu treffen.
Galt saß mit übergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl mit senkrechter Rückenlehne und rauchte eine
Zigarette. Er erschien gefaßt und entspannt zugleich. Sie konnten den Ausdruck seines Gesichtes nicht
entziffern, außer daß es keinerlei Besorgnis verriet.
»Ja«, antwortete er.
»Es bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte Mr. Thompson.
»Nein.«
»Wollen Sie die Dinge weiter geschehen lassen?«
»Wollen Sie es?«
»Wie können Sie so sicher sein, daß Sie recht haben?« rief James Taggart aus. Seine Stimme war nicht laut,
doch sie hatte die Eindringlichkeit eines Schreis. »Wie können Sie es in einer furchtbaren Zeit wie dieser auf
sich nehmen, auf die Gefahr, die ganze Welt zu zerstören, an Ihren eigenen Ideen festzuhalten?«
»Wessen Ideen soll ich als sicherer betrachten?«
»Wie können Sie sicher sein, daß Sie recht haben? Woher wollen Sie es wissen? Niemand kann seines
Wissens sicher sein! Niemand! Sie sind nicht besser als alle anderen.«
»Warum brauchen Sie mich dann?«
»Wie können Sie sich den egoistischen Luxus gestatten durchzuhalten, wenn die Menschen Sie brauchen?«
»Sie meinen: wenn sie meine Ideen brauchen?«
»Niemand hat ganz recht oder ganz unrecht! Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß! Sie haben kein Monopol
auf die Wahrheit!«
Etwas stimmte nicht in Taggarts Benehmen, dachte Mr. Thompson stirnrunzelnd. Es sprach ein
befremdendes, zu persönliches Ressentiment aus ihm, als wäre es nicht ein politisches Problem, das zu lösen er
hierher gekommen war.
»Wenn Sie ein Gefühl für Verantwortlichkeit hätten«, sagte Taggart, »würden Sie es nicht wagen, ein solches
Risiko einzugehen, nur auf Ihr eigenes Urteil hin! Sie würden sich uns anschließen und andere Ideen in
Erwägung ziehen als nur Ihre eigenen, und zugeben, daß wir auch recht haben können! Sie würden uns helfen
mit ihren Plänen! Sie würden…«
Taggart sprach mit fieberhaftem Eifer weiter, doch Mr. Thompson konnte nicht erkennen, ob Galt zuhörte:
Galt hatte sich erhoben und ging im Zimmer auf und ab, nicht als ob er von Unruhe getrieben wäre, sondern wie
ein Mensch, der die Bewegung seines eigenen Körpers genoß. Mr. Thompson fiel die Leichtigkeit seines Ganges
auf, das aufrechte Rückgrat, der flache Bauch, die entspannten Schultern. Galt ging, als wäre es sich seines
Körpers nicht bewußt, aber ungeheuer stolz auf ihn. Mr. Thompson warf einen Blick auf Taggart, auf die
schlaffe Haltung seines großen Körpers, wie er in plumper Verrenkung dasaß und Galts Bewegungen mit
solchem Haß verfolgte, daß Mr. Thompson sich erhob, aus Furcht, dieser Haß könnte in diesem Zimmer zum
Ausbruch kommen. Doch Galt sah Taggart nicht an.
»Ihr Gewissen!« sagte Taggart. »Ich bin hierher gekommen, um an Ihr Gewissen zu appellieren! Wie können
Sie Ihren eigenen Wert über Tausende von Menschenleben stellen? Menschen sterben und… Zum Teufel«,
schrie er, »hören Sie auf, hin- und herzurennen!«
Galt blieb stehen. »Ist das ein Befehl?«
»Nein, nein!« sagte Mr. Thompson schnell. »Es ist kein Befehl. Wir legen Wert darauf, Ihnen keine Befehle
zu geben… Beruhigen Sie sich, Jim.«
Galt ging wieder auf und ab.
»Die Welt stürzt zusammen«, sagte Taggart und ließ Galt nicht aus den Augen. »Die Menschen verzweifeln…
und Sie könnten sie retten! Spielt es da eine Rolle, wer recht hat und wer unrecht hat? Sie sollten sich uns
anschließen, selbst wenn Sie glauben, daß wir unrecht haben. Sie sollten Ihre Ideen opfern, um die Menschen zu
retten!«
»Mit was soll ich sie retten?«
»Wer glauben Sie, daß Sie sind?« schrie Taggart.
Galt blieb stehen. »Sie wissen es.«
»Sie sind ein Egoist!«
»Das bin ich.«
»Wissen Sie, was für ein Egoist Sie sind?«
»Wissen Sie es?« fragte Galt und sah ihn offen an. Es war das langsame Zurücksinken von Taggarts Körper in
die Tiefe seines Sessels, während seine Augen den Blick Galts festhielten, das Mr. Thompson eine unerklärliche
Angst vor dem nächsten Augenblick einflößte.
»Sagen Sie«, warf Mr. Thompson in einem aufgeräumten, beiläufigen Ton ein, »was ist das für eine Zigarette,
die Sie da rauchen?« Galt wandte sich ihm zu und lächelte. »Ich weiß es nicht.«
»Woher haben Sie sie?«
»Einer Ihrer Wachposten brachte mir ein Päckchen davon. Er sagte, ein Mann hätte ihn gebeten, es mir als
Geschenk zu übergeben. – Keine Angst«, fügte er hinzu, »Ihre Leute haben es gründlich untersucht. Es war
keine geheime Nachricht darin. Es war nur das Geschenk eines anonymen Bewunderers.«
Die Zigarette in Galts Fingern trug das Dollarzeichen. James Taggart war kein großer Überredungskünstler,
schloß Mr. Thompson. Aber Chick Morrison, den er am nächsten Tag mitbrachte, taugte auch nicht mehr.
»Ich… ich unterwerfe mich ganz Ihrer Gnade, Mr. Galt«, sagte Chick Morrison mit einem verzerrten Lächeln.
»Sie haben recht. Ich räume ein, daß Sie recht haben… und ich kann nur an Ihr Mitleid appellieren. Tief in
meinem Herzen kann ich nicht glauben, daß Sie ein totaler Egoist sind, der kein Mitleid mit den Menschen
empfindet.« Er deutete auf Papiere, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte. »Hier ist eine Bittschrift,
unterzeichnet von zehntausend Schulkindern, die Sie anflehen, uns zu helfen, sie zu retten. Hier ist eine
Bittschrift aus einem Pflegeheim. Hier ist eine Bittschrift der Geistlichen von zweihundert
Religionsgemeinschaften. Hier ist eine Bittschrift der Mütter des Landes. Lesen Sie sie.«
»Ist das ein Befehl?«
»Nein!« sagte Mr. Thompson. »Es ist kein Befehl.«
Galt blieb bewegungslos sitzen, streckte seine Hand nicht nach den Papieren aus.
»Es sind nur einfache, schlichte Menschen, Mr. Galt«, fuhr Chick Morrison fort. »Sie können Ihnen nicht
sagen, was Sie tun sollen. Sie wissen es nicht. Sie bitten Sie nur. Sie mögen schwach, hilflos, blind und
unwissend sein. Aber Sie, der Sie so klug und so stark sind, können Sie sich ihrer nicht erbarmen? Können Sie
ihnen nicht helfen?«
»Indem ich meine Intelligenz verleugne und ihrer Blindheit folge?«
»Sie mögen unrecht haben, aber sie wissen es nicht besser.«
»Aber ich, der ich es besser weiß, ich soll ihnen gehorchen?«
»Ich kann nicht mit Ihnen reden, Mr. Galt, ich bitte Sie nur um Ihr Mitleid. Das Volk leidet. Ich bitte Sie, sich
derer zu erbarmen, die leiden. Ich bin… Mr. Galt«, fragte er und bemerkte, daß Galt in die Ferne jenseits des
Fensters blickte und daß seine Augen plötzlich hart wurden, »was ist mit Ihnen? An was denken Sie?«
»An Hank Rearden.«
»Oh… Warum?«
»Hat man Mitleid gehabt mit Hank Rearden?«
»Aber das ist doch etwas ganz anderes! Er…«
»Schweigen Sie«, sagte Galt ruhig.
»Ich wollte nur…«
»Schweigen Sie!« fuhr ihn Mr. Thompson an. »Nehmen Sie es ihm nicht übel, Mr. Galt. Er hat zwei Nächte
nicht geschlafen. Er ist übermüdet.«
Dr. Floyd Ferris, der am nächsten Tag mitkam, schien nicht übermüdet zu sein. Aber es war schlimmer,
dachte Mr. Thompson. Er bemerkte, daß Galt stumm blieb und Ferris überhaupt nicht antwortete.
»Vielleicht haben Sie der Frage der moralischen Verantwortung nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet,
Mr. Galt«, sagte Dr. Ferris in einem zu leichten, zu nachdrücklich ungezwungenen Plauderton. »Sie scheinen im
Radio nur von Begehungssünden gesprochen zu haben. Doch es gibt auch Unterlassungssünden. Ein Leben nicht
zu retten, ist ebenso unmoralisch wie Morden. Die Konsequenz ist die gleiche. Und da wir die Handlungen nach
ihren Konsequenzen beurteilen müssen, ist die moralische Verantwortung in beiden Fällen die gleiche. So ist
zum Beispiel in Anbetracht der verzweifelten Lebensmittelknappheit erwogen worden, daß es notwendig werden
könnte, ein Gesetz zu erlassen, daß jedes dritte Kind unter zehn und alle Erwachsenen über sechzig Jahren
getötet werden, um das Überleben der anderen zu sichern. Sie können es verhüten. Ein Wort von Ihnen würde es
verhüten. Wenn Sie sich weigern, und alle diese Menschen werden liquidiert, dann wird es Ihre Schuld sein und
Ihre moralische Verantwortung!«
»Sind Sie wahnsinnig?« schrie Mr. Thompson, nach einem kurzen Schock auf die Füße springend. »Niemand
hat je einen solchen Irrsinn erwogen! Niemand hat je an so etwas gedacht! Bitte, Mr. Galt, glauben Sie ihm
nicht! Er meint es nicht ernst!«
»O doch, er meinst es ernst«, sagte Galt. »Sagen Sie diesem Schwein, es soll mich anschauen, dann in den
Spiegel schauen und sich dann fragen, ob ich je glauben werde, daß meine Moral von seinen Handlungen
abhängt.«
»Scheren Sie sich raus!« schrie Mr. Thompson, Ferris aus dem Sessel zerrend. »Hinaus! Und lassen Sie mich
ja nicht noch einmal solchen Blödsinn aus Ihrem Mund hören!« Er riß die Tür auf und stieß Ferris einem
bestürzten Wachposten in die Arme.
Dann wandte er sich Galt zu, hob die Arme und ließ sie in müder Hoffnungslosigkeit fallen. Galts Gesicht war
ausdruckslos.
»Hören Sie«, sagte Mr. Thompson in flehendem Ton, »gibt es niemand, der mit Ihnen sprechen könnte?«
»Es gibt nichts, worüber zu sprechen wäre.«
»Wir müssen mit Ihnen sprechen. Wir müssen Sie überzeugen. Gibt es jemand, mit dem Sie selbst sprechen
möchten?«
»Nein.«
»Ich dachte, vielleicht… weil sie wie Sie spricht… gesprochen hat… früher… könnte ich Miss Taggart
schicken, um Ihnen zu sagen…«
»Die? Gewiß, sie hat einmal wie ich gesprochen. Sie ist mein einziger Fehlschlag. Ich dachte, sie sei einer der
Menschen, die auf meine Seite gehören. Doch sie hat mich verraten, um ihre Eisenbahn zu behalten. Sie würde
ihre Seele verkaufen für ihre Eisenbahn. Schicken Sie sie her, wenn Sie wollen, daß ich sie ohrfeige.«
»Nein, nein, nein! Sie brauchen sie nicht zu empfangen, wenn Sie so denken. Ich möchte nicht noch mehr Zeit
verschwenden mit Leuten, die Sie falsch behandeln… Nur… nur wenn es nicht Miss Taggart sein darf, dann
weiß ich nicht, wen ich sonst nehmen soll… Wenn… wenn ich jemand finden könnte, der Ihnen unter
Umständen… «
»Ich habe meine Meinung geändert«, sagt Galt. »Es gibt jemand, den ich gern
sprechen würde.«
»Wer ist es?« fragte Mr. Thompson begierig.
»Dr. Robert Stadler.«
Mr. Thompson gab einen langen Pfiff von sich und schüttelte bedenklich den Kopf. »Der ist kein Freund von
Ihnen«, sagte er in einem Ton ehrlicher Warnung.
»Er ist der, den ich sehen will.«
»Gut, wenn Sie es wünschen. Ich tue alles, was Sie sagen. Ich werde ihn morgen früh mitbringen.«
An diesem Abend warf Mr. Thompson, als er sich mit Wesley Mouch in seinem Hotelapartment zu Tisch
setzte, einen wütenden Blick auf ein Glas Tomatensaft, das vor ihm stand. »Was? Kein Grapefruitsaft?«
schnarrte er; sein Arzt hatte ihm Grapefruitsaft als Vorbeugungsmittel gegen eine Erkältungsepidemie verordnet.
»Kein Grapefruitsaft«, sagte der Kellner mit einer seltsam nachdrücklichen Betonung.
»Der Grund ist«, sagte Mouch ruhig, »daß eine Bande von Räubern einen Zug auf der Taggart-Brücke über
den Mississippi überfallen hat. Sie haben die Strecke gesprengt und die Brücke beschädigt. Nicht ernsthaft. Sie
wird repariert. Doch aller Verkehr ist unterbrochen, und die Züge von Arizona kommen nicht durch.«
»Das ist lächerlich! Gibt es denn keine anderen…?« Mr. Thompson unterbrach sich; er wußte, daß es keine
anderen Brücken über den Mississippi gab. Nach einer Weile sagte er mit einer abgehackten Stimme: »Lassen
Sie die Brücke durch Truppen überwachen. Tag und Nacht. Sagen Sie ihnen, sie sollen ihre besten Leute dazu
nehmen. Wenn mit dieser Brücke irgend etwas geschieht…«
Er beendete den Satz nicht; er saß geduckt am Tisch und starrte auf das kostbare chinesische Porzellan und
die üppigen Hors d’oeuvres vor sich. Das Fehlen einer so einfachen Sache wie Grapefruit hatte ihm zum ersten
Mal klargemacht, was New York widerfahren würde, wenn die Taggart-Brücke ausfiel.
»Dagny«, sagte Eddie Willers an diesem Abend, »die Brücke ist nicht unser einziges Problem.« Er knipste
ihre Schreibtischlampe an, die sie, in ihre Arbeit vertieft, bei Einbruch der Dunkelheit einzuschalten vergessen
hatte. »Kein transkontinentaler Zug kann San Francisco verlassen. Eine der kämpfenden Parteien dort – ich weiß
nicht, welche – hat unsere Endstation besetzt und erhebt eine ‘Abfahrtssteuer’ auf die Züge. Das heißt, sie halten
die Züge zurück und geben sie nur frei gegen Lösegeld. Unser Bahnhofsvorsteher ist gegangen. Niemand weiß
dort unten, was er tun soll.«
»Ich kann New York nicht verlassen«, antwortete sie mit steinernem Gesicht.
»Ich weiß«, sagte er sanft. »Deshalb will ich gehen, um die Sache in Ordnung zu bringen. Zum mindesten, um
jemand zu finden, der die Leitung der Endstation übernimmt.«
»Nein! Das will ich nicht. Es ist zu gefährlich. Und wozu? Es ist alles gleich jetzt. Es ist nichts mehr zu
retten.«
»Noch existiert Taggart Transcontinental. Ich gebe nicht auf. Dagny, wo immer du hingehst, du wirst in der
Lage sein, eine neue Eisenbahn zu bauen. Ich könnte es nicht. Ich würde nicht einmal wieder von vorn anfangen
wollen. Nicht nach dem, was ich gesehen habe. Ich kann nicht. Laß mich versuchen, was ich in San Francisco
ausrichten kann.«
»Eddie! Willst du nicht…« Sie unterbrach sich, denn sie wußte, daß es zwecklos war. »Gut, Eddie. Wenn du
willst.«
»Ich fliege heute nacht nach Kalifornien. Ich habe mir einen Platz in einer Militärmaschine besorgt… Ich
weiß, daß du gehen wirst, sobald… du New York verlassen kannst. Vielleicht bist du schon fort, wenn ich
zurückkomme. Wenn du bereit bist, gehe nur. Kümmere dich nicht um mich. Warte nicht, um es mir zu sagen.
Gehe so schnell du kannst. Ich… ich will dir jetzt Lebewohl sagen.«
Sie erhob sich. Sie sahen einander an. Zwischen ihnen an der Wand hing im Halbdunkel des Büros das Bild
Nathaniel Taggarts. Sie sahen beide die Jahre vor sich, die vergangen waren, seit sie gelernt hatten, auf einer
Eisenbahnstrecke zu laufen. Er beugte den Kopf und hielt ihn einen Moment lang gesenkt.
Sie streckte die Hand aus. »Leb wohl, Eddie.«
Er griff nach ihrer Hand, umschloß sie fest, ohne auf ihre Finger hinabzusehen; er sah ihr ins Gesicht.
Er wandte sich zum Gehen, machte jedoch wieder halt, drehte sich um und fragte mit leiser Stimme, nicht
bittend oder verzweifelnd, sondern in einem Ton, der mit bewußter Klarheit einen Schlußstrich unter ein langes
Kapitel zog: »Dagny… hast du gewußt… was ich für dich empfand?«
»Ja«, sagte sie leise und begriff in diesem Augenblick, daß sie es seit Jahren unbewußt gefühlt hatte, »ich
wußte es.«
»Lebe wohl, Dagny.«
Das ferne dumpfe Rattern eines unterirdischen Zuges ging durch die Wände des Gebäudes und verschlang das
Geräusch der Tür, die sich hinter ihm schloß.
Es schneite am nächsten Morgen, und die schmelzenden Flocken auf den Schläfen Dr. Robert Stadlers waren
wie die Berührung einer eisigen Hand, als er den langen Korridor des Wayne-Falkland-Hotels entlang auf die
Tür der Fürstensuite zuging. Zwei stämmige Männer gingen zu seinen beiden Seiten; sie waren vom Amt für
öffentliche Meinung, doch sie gaben sich keine Mühe, zu verbergen, welche Methoden sie anzuwenden bereit
waren, um ihre Auffassung von Meinung durchzusetzen.
»Denken Sie an Mr. Thompsons Anweisungen«, sagte einer von ihnen verächtlich zu ihm. »Ein falscher
Ton… und Sie werden es bereuen, Doktor.«
Es war nicht der Schnee an seinen Schläfen, dachte Dr. Stadler, es war ein brennender Druck, den er seit
gestern abend fühlte, als er Mr. Thompson zugeschrien hatte, daß er nicht zu John Galt gehen könnte. Er hatte es
herausgeschrien in blindem Entsetzen und einen Kreis von ausdruckslosen Gesichtern angefleht, ihn nicht dazu
zu zwingen, schluchzend beteuert, er wolle alles andere tun, nur das nicht. Die Gesichter hatten sich nicht
herabgelassen, mit ihm zu argumentieren oder ihn zu bedrohen. Sie hatten ihm nur Befehle erteilt. Er hatte eine
schlaflose Nacht verbracht und sich geschworen, nicht zu gehorchen. Doch jetzt ging er auf diese Tür zu. Der
brennende Druck auf seinen Schläfen und das schwache schwindelnde Gefühl der Unwirklichkeit hatten ihre
Ursache in der Tatsache, daß es ihm unmöglich war, die Vorstellung wiederzugewinnen, er sei Dr. Robert
Stadler. Er bemerkte den metallischen Glanz der Bajonette der Wachposten an der Tür und das Geräusch eines
Schlüssels, der im Schloß umgedreht wurde. Er trat ein und hörte das Schloß sich hinter ihm schließen.
Am anderen Ende des langen Raumes sah er John Galt auf dem Fenstersims sitzen, eine große schlanke
Gestalt in Hose und Hemd, das eine Bein herabhängen lassend, das andere gebeugt, die Hände über dem Knie
gefaltet, den Kopf mit dem goldglänzenden Haar vor einem Stück grauen Himmel nach hinten geneigt. Und
plötzlich sah Dr. Stadler die Gestalt eines Jungen, der auf dem Verandageländer seines Hauses in der Nähe des
Campus der Patrick-Henry-Universität saß, die Sonne auf dem kastanienbraunen Haar seines vor einem blauen
Sommerhimmel nach hinten geneigten Kopfes, und er hörte seine eigene Stimme, die vor zweiundzwanzig
Jahren mit leidenschaftlicher Eindringlichkeit sagte: »Der einzige heilige Wert der Welt, John, ist der
menschliche Verstand, der unverletzliche menschliche Verstand.« Und er schrie diesem Jungen durch die Jahre
zu: »Ich konnte nicht anders, John! Ich konnte nicht anders!«
Er packte die Kante eines Tisches, der zwischen ihnen stand, als Stütze und als schützende Barriere, obwohl
die Gestalt auf dem Fenstersims sich nicht gerührt hatte.
»Ich bin nicht schuld!« schrie er. »Ich habe das nicht gewollt! Ich konnte nicht anders! Es war nicht meine
Idee, John! Du darfst mir keinen Vorwurf machen! Nicht mir! Ich hatte nie eine Chance gegen sie! Sie regieren
die Welt! Sie haben mir keinen Platz mehr gelassen! Was ist ihnen Vernunft? Was Wissenschaft? Du weißt
nicht, wie niedrig sie sind! Du kennst sie nicht! Sie denken nicht! Sie sind vernunftlose Tiere, beherrscht von
unvernünftigen Gefühlen – von ihren gie rigen, raffigen, blinden, unberechenbaren Gefühlen! Sie nehmen alles,
alles, was sie brauchen. Das ist alles, was sie wissen: daß sie es brauchen und haben wollen, ohne Rücksicht auf
Ursache, Wirkung oder Logik. Und sie nehmen es sich, diese gefräßigen Schweine. Der Verstand? Weiß du
nicht, wie ohnmächtig er ist gegen diese verstandeslosen Horden? Unsere Waffen sind so hilflos, so lächerlich
kindlich: Wahrheit, Wissen, Vernunft, Werte, Rechte! Gewalt ist alles, was sie kennen, Gewalt, Betrug und
Plünderung und Raub! – John! Schau mich nicht so an! Was konnte ich gegen ihre Fäuste tun? Ich mußte leben!
Nicht für mich, für die Zukunft der Wissenschaft! Ich brauchte Ruhe, ich brauchte Schutz, ich mußte auf ihre
Bedingungen eingehen. Es gibt keine Möglichkeit zu leben außer unter ihren Bedingungen. Es gibt sie nicht!
Verstehst du mich? Es gibt keine! Was, meinst du, hätte ich tun sollen? Mein Leben damit verbringen, um
Stellungen zu betteln? Um Geld und Aufträge? Hätte meine Arbeit abhängen sollen von der Gnade der
Kreaturen, die nichts anderes kannten und konnten als Geld machen? Ich hatte keine Zeit, mit ihnen in
Wettbewerb zu treten um Geld oder Märkte oder andere materielle Güter! War das unser Begriff von
Gerechtigkeit, daß sie ihr Geld ausgeben sollten für Whisky, Segeljachten und Frauen, während die
unbezahlbaren Stunden meines Lebens nutzlos vergeudet wurden aus Mangel an wissenschaftlichen
Instrumenten? Überredung? Wie hätte ich sie überreden sollen? In welcher Sprache hätte ich zu Menschen
sprechen sollen, die nicht denken? Du weißt nicht, wie einsam ich war, wie ausgehungert nach einem Funken
Intelligenz! Wie einsam und müde und hilflos! Warum hätte ein Verstand wie der meine mit unwissenden
Idioten feilschen sollen? Sie hätten nie einen Cent für die Wissenschaft hergegeben! Warum sollten sie nicht
dazu gezwungen werden? Ich wollte nicht dich persönlich zwingen! Diese Pistole war nicht gegen die Intelligenz
gerichtet! Sie war nicht gerichtet gegen Menschen wie du und ich, nur gegen verstandeslose Materialisten! –
Warum siehst du mich so an? Ich hatte keine andere Wahl! Es gibt keine andere Möglichkeit, als sie in ihrem
eigenen Spiel zu schlagen! O ja, es ist ihr Spiel. Sie haben die Regeln festgesetzt! Was zählen wir, die wenigen,
die denken können? Wir können nur hoffen, unbemerkt durchzukommen und sie dazu zu überlisten, unseren
Zwecken zu dienen! Weißt du, welch ein erhabenes Ziel sie war, meine Vision von der Zukunft der
Wissenschaft? Das menschliche Erkennen, befreit von materiellen Bindungen! Ein unbegrenztes Endziel und
unbeschränkte Mittel! Ich bin kein Verräter, John! Nein, ich bin keiner! Ich habe der Sache des Verstandes
gedient! Was ich vor mir sah, was ich wollte, was ich fühlte, konnte nicht nach ihren elenden Dollars bemessen
werden! Ich wollte ein Laboratorium haben! Ich brauchte es! Ich konnte Großes vollbringen damit! Hast du denn
kein Mitleid mit mir? Ich brauchte es! Was war schon dabei, wenn sie gezwungen wurden? Warum hast du sie
gelehrt, sich zu widersetzen? Mein Werk wäre gelungen, wenn du sie nicht verführt hättest! Es wäre gelungen,
glaube es mir! Es wäre nicht so gekommen, wie es jetzt ist! Klage mich nicht an! Wir können nicht schuldig
sein… wir alle seit Jahrhunderten! Wir können nicht so vollkommen unrecht haben! Man kann uns nicht
verdammen! Wir hatten keine andere Wahl! Es gibt keine andere Möglichkeit, auf der Erde zu leben! Warum
antwortest du mir nicht? Was siehst du? Wo starrst du hin? Denkst du an deine Rede im Radio? Ich will nicht
daran denken! Sie war nur Logik! Man kann nicht von der Logik leben! Hörst du mir zu? – Schau mich nicht an!
Du verlangst das Unmögliche! Der Mensch kann nicht nach deiner Moral leben! Du erlaubst keinen Moment der
Schwäche, du kennst keine Nachsicht mit menschlichen Schwächen oder menschlichen Gefühlen! Was willst du
von uns? Vierundzwanzig Stunden Vernunft am Tag, ohne Pause, ohne Schlupfloch, ohne Gnade? – Sieh mich
nicht so an, verdammt noch einmal! Ich habe keine Angst mehr vor dir! Verstehst du mich? Ich habe keine Angst
vor dir! Wer bist du, daß du mich verdammen willst? Wohin hat dich denn dein Weg geführt? Hier sitzt du jetzt,
gefangen, hilflos, bewacht, um von diesen Untieren jederzeit umgebracht werden zu können. Und du wagst es,
mir vorzuwerfen, ich sei unvernünftig? O ja, sie werden dich umbringen! Du bist der Mann, der vernichtet
werden muß!«
Dr. Stadlers Stöhnen war ein erstickter Aufschrei, als ob die unbewegte Gestalt auf dem Fenstersims ihm als
stummer Schallreflektor gedient hätte und ihn plötzlich seine eigenen Worte in ihrer vollen Bedeutung erkennen
ließ.
»Nein!« stöhnte Dr. Stadler, den Kopf von einer Seite zur anderen bewegend, um dem Blick der grünen
Augen zu entgehen. »Nein!«
Galts Stimme hatte die gleiche unbeugsame Strenge wie seine Augen: »Sie haben alles gesagt, was ich von
Ihnen hören wollte.«
Dr. Stadler trommelte mit den Fäusten gegen die Tür; als sie geöffnet wurde, stürzte er aus dem Zimmer.
Drei Tage lang betrat niemand Galts Zimmer außer den Wachposten, die ihm sein Essen brachten. Am frühen
Abend des vierten Tages wurde die Tür geöffnet, um Chick Morrison mit zwei Begleitern einzulassen. Chick
Morrison war im Abendanzug. Er lächelte gezwungen, doch mit etwas mehr Selbstvertrauen als gewöhnlich. Der
eine seiner Begleiter war ein Hausdiener. Der andere war ein muskulöser Mann, dessen Gesicht nicht zu seinem
Smoking paßte; es war ein steinernes Gesicht mit schläfrigen Lidern, hellen, scharfen Augen und einer
Boxernase; sein Schädel war kahlgeschoren bis auf ein Büschel blaßblonder Locken in der Mitte; seine rechte
Hand steckte in der Hosentasche.
»Würden Sie sich bitte anziehen, Mr. Galt«, sagte Chick Morrison mit gewinnender Stimme und deutete auf
die Tür des Schlafzimmers, in dem ein Schrank stand voll teurer Anzüge, die Galt bisher nicht getragen hatte.
»Ziehen Sie bitte Ihren Abendanzug an«, sagte er und fügte hinzu: »Dies ist ein Befehl, Mr. Galt.«
Galt ging schweigend in das Schlafzimmer. Die drei Männer folgten ihm. Chick Morrison setzte sich auf die
Kante eines Stuhls, zündete eine Zigarette nach der anderen an, um sie sogleich wieder wegzuwerfen. Der
Hausdiener vollführte zu viele und zu höfliche Bewegungen, während er Galt beim Ankleiden half, ihm seine
Hemdknöpfe reichte und die Smokingjacke hielt. Der Muskelmann stand in einer Ecke des Zimmers, die Hand
in der Tasche.
»Würden Sie bitte vorausgehen, Mr. Galt«, sagte Chick Morrison, als Galt fertig war, und deutete mit einer
höflich einladenden Geste auf die Tür.
So schnell, daß niemand die Bewegung seiner Hand beobachten konnte, packte der Muskelmann Galts Arm
und drückte eine unsichtbare Pistolenmündung gegen seine Rippen. »Machen Sie keine falsche Bewegung«,
sagte er mit ausdrucksloser Stimme.
»Die mache ich nie«, sagte Galt. Chick Morrison öffnete die Tür. Der Hausdiener blieb zurück. Die drei
Männer im Abendanzug gingen schweigend den Korridor hinunter zum Fahrstuhl.
Sie schwiegen auch im Fahrstuhl, während die aufleuchtenden Nummern über der Tür ihre Abwärtsbewegung
anzeigten. Der Fahrstuhl hielt im Mezzanin. Zwei bewaffnete Soldaten gingen ihnen voran und zwei andere
folgten ihnen, als sie durch die langen, düsteren Korridore gingen. Die Korridore waren leer bis auf die
bewaffneten Posten an den Ecken. Der rechte Arm des Muskelmannes war in Galts linken Arm eingehängt; die
Pistole blieb unsichtbar für jeden möglichen Beobachter. Galt spürte den Druck der Mündung gegen seine
Rippen. Der Druck war fachmännisch, nicht zu stark, um als unangenehm empfunden werden zu können, und
nicht zu schwach, um auch nur für einen Augenblick in Vergessenheit zu geraten.
Der Korridor führte zu einer breiten, geschlossenen Tür. Die Soldaten schienen wie Schatten
wegzuschmelzen, als Chick Morrisons Hand den Türgriff berührte. Es war seine Hand, die die Tür öffnete, doch
der plötzliche Kontrast von Licht und Geräusch erweckte den Eindruck, als sei die Tür unter der Wirkung einer
Explosion aufgeflogen: Das Licht stammte von den dreihundert Glühbirnen in den Kronleuchtern des Festsaals
des Wayne-Falkland-Hotels, das Geräusch war der Applaus von fünfhundert Menschen. Chick Morris on ging
voran zum Tisch des Sprechers, der auf einer Plattform des mit Tischen angefüllten Saales stand. Die Menschen
an den Tischen schienen ohne Ankündigung zu wissen, daß von den zwei Männern, die ihm folgten, der große,
schlanke mit dem goldschimmernden Haar es war, dem sie applaudierten. Sein Gesicht entsprach der Stimme,
die sie im Radio gehört hatten: Er war ruhig, selbstsicher – und unerreichbar.
Der für Galt reservierte Sitz war der Ehrenplatz in der Mitte des langen Tisches. Mr. Thompson saß zu seiner
Rechten, und der Muskelmann schlüpfte geschickt auf den Stuhl zu seiner Linken, ohne seinen Arm loszulassen
oder den Druck der Pistolenmündung zu lockern. Die Juwelen auf den nackten Frauenschultern trugen das
Glitzern der Kronleuchter bis zu den entfernten Tischen an den Wänden des Saals; das strenge Schwarz-Weiß
der männlichen Gestalten rettete den feierlichen, luxuriösen Stil der Versammlung vor dem störenden Gewirr der
Kameras, Mikrophone, Lampen und Kabel. Die Menge applaudierte stehend. Mr. Thomp son lächelte und
beobachtete Galts Gesicht mit dem neugierig ängstlichen Blick eines Erwachsenen, der auf die Reaktion eines
Rindes auf ein prächtiges, großzügiges Geschenk wartet. Galt nahm die Ovation sitzend entgegen, ohne sie zu
ignorieren oder zu beantworten.
»Der Applaus, den Sie hören«, rief ein Radioansager in einer Ecke des Saales in ein Mikrophon, »ist die
Begrüßung John Galts, der soeben seinen Platz an dem Tisch der Redner eingenommen hat! Jawohl, meine
Freunde, John Galt persönlich – wie diejenigen unter Ihnen, die einen Fernseher in der Nähe haben, in wenigen
Minuten selbst sehen können!«
Ich muß mich daran erinnern, wo ich bin, dachte Dagny und ballte die Fäuste unter dem Tischtuch. Sie saß im
Halbdunkel eines Tisches am Rand des Saals. Es war schwer, das Gefühl einer doppelten Wirklichkeit in der
Gegenwart Galts aufrechtzuerhalten, der etwa dreißig Schritte von ihr entfernt war. Sie fühlte, daß keine Gefahr
und kein Schmerz in der Welt sein konnten, solange sie sein Gesicht sah. Und gleichzeitig empfand sie eisiges
Entsetzen, wenn sie die ansah, die ihn in ihrer Gewalt hatten, und wenn sie an die blinde Vernunftwidrigkeit der
Schaustellung dachte, die sie hier veranstalteten. Sie kämpfte darum, ihre Gesichtsmuskeln unbeweglich zu
halten und sich nicht zu verraten durch ein glückliches Lächeln oder einen Angstschrei.
Sie fragte sich, wie es seinen Augen möglich gewesen war, sie in dieser Menge zu entdecken. Sie hatte das
kurze Verweilen seines Blickes bemerkt, das kein anderer hatte beobachten können; dieser Blick war mehr
gewesen als ein Kuß, er war ein Händedruck der Zustimmung und des Beistands gewesen.
Er blickte nicht wieder in ihre Richtung. Sie selbst konnte sich nicht zwingen wegzuschauen. Es war
verblüffend, ihn im Abendanzug zu sehen, und noch verblüffender, daß er ihn mit solcher Natürlichkeit trug. Er
sah an ihm aus wie eine Ehrenuniform. Seine Erscheinung erinnerte an eines jener Bankette in den Tagen einer
fernen Vergangenheit, auf dem er einen Industriepreis hätte in Empfang nehmen können. Feiern – mit einem
Gefühl schmerzlicher Sehnsucht erinnerte sie sich ihrer eigenen Worte – waren nur für diejenigen, die etwas zu
feiern hatten.
Sie wandte sich ab. Sie zwang sich, nicht zu oft zu ihm hinzuschauen, nicht die Aufmerksamkeit ihrer
Umg ebung zu erregen. Man hatte sie an einen Tisch gesetzt, der exponiert genug war, sie der Versammlung zu
zeigen, aber auch genügend abseits stand, um sie aus der Blickrichtung Galts zu halten, zusammen mit jenen, die
sich Galts Ungnade zugezogen hatten, mit Dr. Ferris und Eugene Lawson.
Sie bemerkte, daß ihr Bruder Jim näher an der Plattform saß; sie konnte sein mürrisches Gesicht zwischen den
Köpfen von Tinky Holloway, Fred Kinnan und Dr. Simon Pritchett erkennen. Den Männern am Rednertisch
gelang es nicht, zu verbergen, daß sie wie Menschen aussahen, die sich widerwillig einer verhaßten Prozedur
unterzogen; die Ruhe in Galts Gesicht erschien wie ein Lächeln zwischen ihren Grimassen. Sie fragte sich, wer
hier Gefangener und wer Wächter war. Ihr Blick glitt langsam über die Gesichterreihe dieses Tisches: Mr.
Thompson, Wesley Mouch, Chick Morrison, einige Generale, einige Mitglieder des Parlaments und Mr. Mowen,
als grotesker Vertreter der Großunternehmen, als eine Art Bestechungsgeld für Galt. Sie sah sich im Saal um,
suchte das Gesicht Dr. Stadlers; er war nicht anwesend.
Die Stimmen, die den Raum füllten, waren wie eine Fieberkurve, dachte sie. Sie stiegen immer wieder viel zu
hoch, um anschließend sofort in Schweigepausen abzufallen. Gelegentliche Ausbrüche von Lachen brachen jäh
ab und ließen die Köpfe an den benachbarten Tischen erschreckt herumfahren. Die Gesichter waren verzerrt und
verkrampft durch die widerliche Spannung eines offensichtlich gezwungenen Lächelns. Diese Menschen, dachte
sie, wußten, nicht durch ihren Verstand, sondern auf dem Umweg über ihre panische Angst, daß dieses Bankett
der letzte Höhepunkt und die Entlarvung der Welt war. Sie wußten, daß weder ihr Gott noch ihre Gewehre diese
Feier zu dem machen konnten, was sie vorzugeben versuchten. Sie konnte das Essen nicht schlucken, das ihr
vorgesetzt wurde; ihre Kehle schien durch einen hartnäckigen Krampf verschlossen zu sein. Sie bemerkte, daß
die anderen Personen an ihrem Tisch ebenfalls nur so taten, als würden sie essen.
Als sie das zerschmolzene Eis in einer Kristallschale vor sich sah, überfiel sie gleichzeitig die plötzliche Stille
im Saal, und sie hörte das Knirschen der Fernsehkameras, die nach vorn gezogen wurden. Jetzt! dachte sie mit
einem schwindelnden Gefühl der Erwartung und wußte, daß die gleiche Frage vor jedem im Saal aufflammte.
Alle starrten auf John Galt. Der Ausdruck seines Gesichts veränderte sich nicht.
Niemand brauchte um Ruhe zu bitten, als Mr. Thompson einem Ansager zuwinkte. Die Versammlung schien
den Atem anzuhalten.
»Mitbürger«, rief der Ansager in ein Mikrophon, »dieses Landes und aller Länder, die uns hören können: Aus
dem großen Festsaal des Wayne-Falkland-Hotels in New York übertragen wir die feierliche Verkündigung des
John Galt-Planes!«
Ein Rechteck von grellem, bläulichem Licht erschien an der Wand hinter dem Rednertisch: ein
Fernsehschirm, auf dem den Gästen die Bilder gezeigt werden sollten, die das Land jetzt sehen würde.
»Der John Galt -Plan für Frieden, Wohlstand und Profit!« rief der Ansager, während ein zitterndes Bild des
Festsaales auf dem Schirm erschien. »Die Morgendämmerung eines neuen Zeitalters! Das Resultat einer
harmonischen Zusammenarbeit des humanitären Geistes unserer Führer und des wissenschaftlichen Genies John
Galts! Wenn Ihr Glaube an die Zukunft durch böswillige Gerüchte erschüttert worden sein sollte, so werden Sie
jetzt Gelegenheit haben, die glücklich vereinte Familie unserer Führer mit eigenen Augen zu sehen! – Meine
Damen und Herren!« fuhr der Sprecher mit erhobener Stimme fort, während die Fernsehkamera auf den
Rednertisch schwenkte und das bestürzte Gesicht Mr. Mowens den Bildschirm füllte… »Mr. Horace Busby
Mowen, der amerikanische Industrielle!« Die Kamera schwenkte auf eine gefrorene Ansammlung von
Gesichtsmuskeln, die ein Lächeln nachzuahmen versuchten: »General des Heeres Whittington S. Thorpe!« Die
Kamera wanderte wie der Scheinwerferstrahl bei einer Verbrechervorführung durch die Polizei von einem
verzerrten Gesicht zum anderen – verzerrt durch Furcht, Verzweiflung, Unsicherheit, Selbstverachtung, Schuld.
»Führer der Parlamentsmehrheit, Mr. Lucian Phelps! – Mr. Wesley Mouch! – Mr. Thompson!« Das Auge der
Kamera verweilte auf Mr. Thompson; er zeigte der Nation ein breites Grinsen, wandte dann den Kopf und
schaute mit einem Blick triumphierender Erwartung nach links aus dem Bildschirm heraus. »Meine Damen und
Herren«, verkündete der Ansager feierlich, »John Galt!«
Großer Gott! dachte Dagny, was tun sie? Von dem Bildschirm blickte das Gesicht John Galts auf die Nation,
das Gesicht ohne Furcht und Schuld, unversöhnlich in seinem Ernst, unverletzlich in seiner Selbstachtung.
Dieses Gesicht, dachte sie, inmitten der anderen? Was immer sie vorhaben, dachte sie, es ist gescheitert. Nichts
kann oder braucht noch gesagt zu werden. Hier ist das Produkt der einen Moral und dort das der anderen. Hier
sind sie zur Schau gestellt, und wer Mensch ist, weiß, wie er zu wählen hat.
»Mr. Galts persönlicher Sekretär«, sprach der Ansager, während die Kamera hastig über die nächsten
Gesichter hinweghuschte: »Mr. Clarence Chick Morrison – Admiral Homer Dawley – Mr.…« Sie blickte in die
Gesichter um sich herum und fragte sich: Sahen sie den Kontrast? Erkannten sie ihn? Erkannten sie, wer und was
John Galt war? Wollten sie, daß er wirklich existierte?
»Dieses Bankett«, sagte Chick Morrison, der als Zeremonienmeister jetzt das Wort ergriffen hatte, »findet
statt zu Ehren der größten Gestalt unserer Zeit, des fähigsten Produzenten, des Mannes der Praxis, des neuen
Führers unserer Wirtschaft – John Galt! Wenn Sie seine außerordentliche Radioansprache gehört haben, dann
können Sie nicht daran zweifeln, daß er in der Lage ist, die Dinge wieder in Gang zu bringen. Er ist hier, um
Ihnen zu sagen, daß er es tun wird – für Sie. Wenn Sie irregeführt wurden durch jene altmodischen Extremisten,
die behaupteten, daß er sich uns nie anschließen würde, daß keine Brücke möglich ist zwischen seiner
Lebensphilosophie und unserer, daß nur entweder die eine oder die andere richtig sein kann: Der heutige Abend
wird Ihnen beweisen, daß sich alles versöhnen und vereinen läßt.« Wenn sie ihn einmal gesehen haben, dachte
Dagny, können sie dann noch wünschen, irgend jemand anders anzusehen? Wenn sie einmal erkannt haben, daß
er möglich ist, daß er das ist, was der Mensch sein kann, können sie dann noch nach etwas anderem streben?
Können sie jetzt einen anderen Wunsch empfinden als den, in ihren Seelen das zu verwirklichen, was er in seiner
verwirklicht hat? Oder werden sie über die Tatsache nicht hinwegkommen, daß die Mouchs, die Morrisons, die
Thompsons dieser Welt sich nicht bemüht hatten, es zu verwirklichen? Würden sie die Mouchs als das
Menschliche und ihn als das Unmögliche betrachten?
Die Kamera bewegte sich über der Versammlung hin und her und zeigte den Anwesenden im Saal und dem
Land die aufmerksam gespannten Gesichter der Führer und – von Zeit zu Zeit – das Gesicht John Galts. Der
durchdringende Blick seiner unbeweglichen Augen schien die Menschen außerhalb dieses Raumes, die
Menschen, die ihn draußen im Land sahen, zu studieren. Niemand konnte sagen, ob er zuhörte. In seinen
Gesichtszügen zeigte sich keine Reaktion.
»Ich bin stolz«, sagte der Führer der Parlamentsmehrheit, der nächste Redner, »dem größten wirtschaftlichen
Organisator, den die Welt je entdeckt hat, dem begabtesten Verwaltungsfachmann, dem großartigsten Planer,
heute abend meinen Tribut zu zollen – John Galt, dem Mann, der uns retten wird! Ich bin hier, um ihm im
Namen des Volkes zu danken!«
Dies, dachte Dagny mit einem Gefühl des Ekels und der Belustigung, war das Schauspiel der Ehrlichkeit des
Unehrlichen. Der betrügerischste Aspekt ihres Betruges war, daß sie es ehrlich meinten. Sie boten Galt das Beste
an, was ihre Lebensauffassung bieten konnte, sie suchten ihn zu locken mit dem, was ihr Ideal der höchsten
Lebenserfüllung war: dieser Schwall leerer Lobhudelei, die Unwirklichkeit dieser ungeheuerlichen Täuschung
und Selbsttäuschung: Zustimmung ohne Maßstab, Tribut ohne Inhalt, Ehre ohne Ursache, Bewunderung ohne
Grund, Liebe ohne einen Wertekodex.
»Wir haben alle unsere kleinen Meinungsverschiedenheiten begraben«, fuhr Wesley Mouch fort, »alle unsere
parteilichen Ansichten, unsere persönlichen Interessen und eigennützigen Standpunkte, um unter der selbstlosen
Führerschaft John Galts allein der Nation zu dienen.«
Warum hören sie zu? dachte Dagny. Sehen sie nicht das Zeichen des Todes in diesen Gesichtern und das
Zeichen des Lebens in seinem? Welchen Zustand werden sie wählen? Welchen Zustand werden sie für die
Menschheit erstreben? – Sie betrachtete die Gesichter im Saal. Sie waren gespannt, aber leer; sie verrieten nichts
anderes als die Stumpfheit und Schalheit einer ewigen Angst. Sie sahen Galt und Mouch an, als wären sie
unfähig, einen Unterschied zwischen den beiden wahrzunehmen oder sich zu fragen, ob ein Unterschied bestand;
ihre leeren, kritiklosen, wertblinden Blicke schienen zu sagen: »Was zählt mein Urteil schon?« Sie erschauerte,
als sie sich des Satzes erinnerte: »Wenn ein Mensch erklärt ‘Was zählt mein Urteil schon?’ erklärt er ‘Was zählt
mein Leben schon?’« Wollten sie überhaupt leben? dachte sie. Sie schienen nicht einmal die Frage stellen zu
wollen. Nur wenige Gesichter sah sie, die es vielleicht wollten. Sie schauten auf Galt mit verzweifelter
Sehnsucht, mit melancholischer Bewunderung – und ihre Hände lagen schlaff vor ihnen auf dem Tisch. Diese
waren die Menschen, die sahen, wer er war, die in vergeblicher Hoffnung auf seine Welt lebten. Doch morgen,
wenn sie sähen, daß er ermordet wurde, würden ihre Hände genauso schlaff und untätig bleiben, ihre Augen
würden wegblicken und sagen: »Was habe ich damit zu tun?«
»Einheit der Tat und des Vorsatzes«, sagte Mouch, »wird eine glücklichere Welt schaffen…«
Mr. Thompson lehnte sich zu Galt hinüber und flüsterte mit einem liebenswürdigen Lächeln: »Sie werden
einige Worte zur Nation sprechen, später, nach mir. Nein, nein, keine lange Rede, nur einen Satz oder zwei, nicht
mehr. Nur ‘Hallo, Leute!’ oder etwas Ähnliches, damit sie Ihre Stimme erkennen können.« Der leicht verstärkte
Druck der Pistolenmündung des »Sekretärs« gegen Galts Rippen fügte eine stumme Ergänzung hinzu. Galt
antwortete nicht.
»Der John Galt-Plan«, sagte Wesley Mouch, »wird alle Konflikte beilegen. Er wird das Eigentum der Reichen
schützen und den Armen einen größeren Anteil sichern. Er wird die Steuerlast verringern und die staatlichen
Zuwendungen steigern. Er wird die Preise senken und die Löhne erhöhen. Er wird dem Individuum mehr
Freiheit geben und die Bande der gemeinsamen Verpflichtungen stärken. Er wird die Wirksamkeit des freien
Unternehmertums mit der Großzügigkeit einer geplanten Wirtschaft vereinen.«
Dagny bemerkte einige Gesichter – es kostete sie Anstrengung, es wirklich zu glauben –, die Galt mit Haß
betrachteten. Jim war einer von ihnen, wie sie feststellte. Wenn das Gesicht von Mouch auf dem Bildschirm
erschien, entspannten sich diese Gesichter in gelangweilter Zufriedenheit, die keine echte Freude verriet, sondern
nur den Trost, daß nichts von ihnen verlangt wurde, daß nichts feststand oder sicher war. Wenn die Kamera das
Gesicht Galts übertrug, preßten sich ihre Lippen zusammen, und ihre Züge wurden scharf durch einen Ausdruck
erhöhter Wachsamkeit. Sie fühlte mit plötzlicher Gewißheit, daß sie die Offenheit seines Gesichts fürchteten, die
Klarheit seiner Züge, den Blick einer Entität, den Blick selbstgewisser Existenz. Sie haßten ihn dafür, daß er er
selber war, dachte sie und empfand einen Schauer kalten Schreckens, als ihr die wahre Abgründigkeit ihrer
Seelen offenbar wurde. Sie haßten ihn für seine Fähigkeit zu leben. Wollten sie leben? dachte sie und mußte über
diese Frage lächeln. Durch die Taubheit ihres perplexen Verstands hörte sie ihn sagen: Nicht zu wünschen, etwas
zu sein, ist der Wunsch, nicht zu sein.
Es war Mr. Thompson, der jetzt in seiner flottesten und leutseligsten Art ins Mikrophon rief: »Und ich sage
Ihnen: Schlagen Sie ihnen die Zähne ein, diesen Zweiflern, die Uneinigkeit und Furcht verbreiten! Sie haben
gesagt, John Galt werde nie auf unsere Seite treten… das haben sie doch? Nun, hier sitzt er, persönlich und
freiwillig, an diesem Tisch und an der Spitze unseres Staates! Bereit, willens und fähig, der Sache des Volkes zu
dienen! Niemand von Ihnen soll es wieder wagen, zu zweifeln, davonzulaufen oder aufzugeben! Morgen ist hier
und heute – und was für ein Morgen! Mit drei Mahlzeiten am Tag für jedermann auf der Erde, mit einem Wagen
in jeder Garage und mit freiem elektrischem Strom, erzeugt von einem Motor, wie wir ihn bis heute noch nicht
gesehen haben! Und alles, was Sie zu tun haben, ist nur, geduldig zu sein und noch ein bißchen zu warten!
Geduld, Vertrauen und Einigkeit, das ist das Rezept für den Fortschritt! Wir müssen vereint zusammenstehen,
einig untereinander und einig mit dem Rest der Erde, als eine große glückliche Familie, vereint in der Arbeit zum
Wohl aller! Wir haben einen Führer gefunden, der alle Rekorde unserer reichsten und tüchtigsten Vergangenheit
schlagen wird! Es ist seine Liebe zur Menschheit, die ihn veranlaßt hat, hierher zu kommen, Ihnen zu dienen, Sie
zu schützen und für Sie zu sorgen! Er hat Ihre Bitten gehört und ist dem Ruf unserer gemeinsamen menschlichen
Pflicht gefolgt! Jeder Mensch ist seines Bruders Hüter! Kein Mensch ist eine Insel für sich selbst! Und jetzt
werden Sie seine Stimme hören. Jetzt werden Sie seine eigene Botschaft hören! – Meine Damen und Herren«,
rief er feierlich, »John Galt spricht zur Kollektivfamilie der Menschheit!«
Die Kamera schwenkte auf Galt. Einen Augenblick lang verharrte er unbeweglich. Dann sprang er mit einer
so schnellen und geschickten Bewegung auf die Beine, daß die Hand seines »Sekretärs« ihm nicht zuvorkommen
konnte, und lehnte sich zur Seite, so daß die auf ihn zielende Pistole den Blicken der Welt ausgesetzt war. In
aufrechter Haltung sagte er dann, das Gesicht den Kameras und seinem unsichtbaren Publikum zugewandt:
»Verdammt noch mal, geht mir aus dem Weg!«

IX. Der Generator


»Verdammt noch mal, geht mir aus dem Weg!«
Dr. Robert Stadler hörte es im Radio seines Wagens. Er wußte nicht, ob das nächste Geräusch, bestehend aus
Stöhnen, Schreien und Gelächter, von ihm stammte oder aus dem Radio. Doch er hörte das Klicken, das alles
zum Schweigen brachte. Das Radio war tot.
Sein Finger drückte Taste auf Taste unter der beleuchteten Senderskala. Nichts war zu hören, keine
Erklärungen, keine Entschuldigung wegen technischer Störungen, keine das Schweigen verdeckende Musik.
Alle Sender waren abgeschaltet. Er erschauerte, umkrampfte das Steuerrad, beugte sich weit vor, wie ein Jockey
im Finish eines Rennens, und trat das Gaspedal durch. Der schmale Streifen des Highways, den er vor sich sah,
schien mit dem tanzenden Licht der Scheinwerfer auf- und abzuspringen. Jenseits der erleuchteten Fahrbahn war
nichts als die Leere der Prärien von Iowa.
Er wußte nicht, warum er die Sendung angehört hatte. Er wußte nicht, was ihn jetzt zittern ließ. Plötzlich
lachte er heiser auf; es klang wie ein bösartiges Anbellen des Radios oder der Menschen in der Stadt oder des
Himmels.
Er achtete auf die seltenen Schilder der Straßennummern. Er brauchte keine Straßenkarte. Seit vier Tagen war
diese Karte wie mit Säure in sein Hirn eingebrannt. Sie konnten sie ihm nicht wegnehmen, dachte er; sie konnten
ihn nicht aufhalten. Er fühlte sich verfolgt; doch meilenweit war nichts hinter ihm außer den beiden roten
Lichtern am Heck seines Wagens – zwei kleine Warnsignale, die durch die Dunkelheit der Ebene von Iowa
flüchteten.
Das Motiv, das seine Hände und Füße in Bewegung hielt , lag vier Tage hinter ihm. Es war das Gesicht des
Mannes auf dem Fenstersims und die Gesichter der Männer, denen er sich gegenübersah, als er aus dessen
Zimmer entkommen war. Er hatte ihnen zugerufen, daß er nicht mit John Galt verhandeln konnte und daß auch
sie es nicht könnten, daß Galt sie alle vernichten würde, wenn sie ihn nicht vorher vernichteten. »Werden Sie
nicht witzig, Professor«, hatte Mr. Thompson ihm kalt geantwortet. »Sie haben uns eine Menge erzählt, wie sehr
Sie ihn hassen, doch jetzt, wo es darauf ankommt zu handeln, haben Sie uns überhaupt nicht geholfen. Ich weiß
nicht, auf welcher Seite Sie stehen. Wenn er nicht friedlich nachgibt, werden wir vielleicht zu Druckmitteln
greifen müssen, wie zum Beispiel zu Geiseln, die er nicht gerne in Gefahr sehen würde – und Sie sind der erste
auf der Liste, Professor.«
»Ich?« hatte er geschrien, geschüttelt von Entsetzen und verzweifeltem Lachen. »Ich? Aber er verdammt mich
mehr als alles andere auf der Welt!«
»Woher wollen Sie das wissen? Ich weiß nur, daß Sie sein Lehrer waren. Und vergessen Sie es nicht: Sie
waren der einzige, nach dem er verlangt hat.«
Ihm war gewesen, als löste sich sein Hirn in Flüssigkeit auf und er würde zwischen zwei Wänden, die sich auf
ihn zubewegten, zerdrückt; er hatte keine Chance, wenn Galt sich weigerte nachzugeben, und er hatte erst recht
keine Chance, wenn Galt zu diesen Männern überging. Und dann hatte ein ferner, verschwommener Gedanke am
Rande seines Bewußtseins begonnen, Gestalt anzunehmen: das Bild eines pilzförmigen Kuppelhauses inmitten
einer Ebene Iowas.
Und alle Bilder seines Denkens waren später in dieses eine verschmolzen. Projekt X, hatte er gedacht, ohne zu
wissen, ob es die Vision jenes Gebäudes oder die eines das Land beherrschenden, feudalen Schlosses war, die
ihm das Gefühl eines Zeitalters und einer Welt gab, in die er gehörte. Ich bin Robert Stadler, hatte er gedacht. Es
ist mein Eigentum. Es verdankt seine Entstehung meinen Entdeckungen. Sie sagen, ich hätte es erfunden. Ich
werde es ihnen zeigen! hatte er gedacht, ohne zu wissen, ob er den Mann auf dem Fenstersims meinte oder die
anderen oder die gesamte Menschheit. Seine Gedanken waren zu Trümmern geworden, die zusammenhanglos in
einer Flüssigkeit trieben: Die Macht übernehmen… Ich werde es ihnen zeigen! – Die Macht übernehmen,
herrschen… Es gibt keine andere Möglichkeit, auf dieser Erde zu leben…
Dies waren die einzigen Worte gewesen, in denen sich der Plan in seinem Gehirn ausdrückte. Er hatte gefühlt,
daß der Rest ihm klar war – klar in der Form eines wilden Aufbegehrens gegen den Zwang, nach den
Hintergründen zu fragen. Er würde Projekt X in seine Hand bringen und einen Teil des Landes als sein
Privatreich beherrschen. Wie? Sein Gefühl hatte geantwortet, daß sein Motiv die Angst vor der Bande
Thompsons war, daß er nicht länger sicher war unter ihnen, daß sein Plan eine praktische Notwendigkeit war. In
der Tiefe seines aufgelösten Hirns hatte eine andere Angst gelauert, versunken mit den Bindegliedern seiner
Gedankenfetzen. Diese Gedankenfetzen waren der einzige Kompaß gewesen, der seinen Kurs während der
letzten vier Tage und Nächte bestimmt hatte – während er über verlassene Straßen fuhr, durch ein Land, das im
Chaos versank, während er eine monomanische Schläue entwickelte, sich auf illegalem Weg Benzin zu
besorgen, während der zufälligen Stunden unruhigen Schlafes in obskuren Hotels, unter falschem Namen… Ich
bin Robert Stadler, hatte er gedacht und die Worte im Geist wiederholt wie eine allmächtige
Beschwörungsformel. Die Macht übernehmen, hatte er gedacht, während er, die Verkehrszeichen mißachtend,
durch halbverlassene Städte raste, über die vibrierende Mississippi-Brücke von Taggart Transcontinental, vorbei
an den Ruinen von Farmen in der leeren Landschaft Iowas… Ich werde es ihnen zeigen, hatte er gedacht. Sollen
sie mich verfolgen, dieses Mal werden sie mich nicht einholen. Er hatte es gedacht, obwohl niemand ihm gefolgt
war, so wie ihm auch jetzt niemand folgte außer den Schlußlichtern seines Wagens und den ihn
vorwärtstreibenden Bildern seines Unterbewußtseins.
Er blickte auf das schweigende Radio und lachte; es war das Lachen verzweifelter Herausforderung. Ich bin
es jetzt, der lebensnah denkt und handelt, dachte er. Ich habe keine Wahl. Ich habe keine andere Möglichkeit. Ich
werde es ihnen zeigen, diesen unverschämten Gangstern, die vergessen haben, daß ich Robert Stadler bin. Sie
werden zugrunde gehen, nicht ich! Ich werde überleben! Ich werde es ihnen zeigen!
Die Worte waren wie Inseln festen Grundes im schweigenden Sumpf seines Bewußtseins; die Bindeglieder
lagen versunken in der Tiefe. In logischen Zusammenhang gebracht, hätten seine Worte gelautet: Ich werde ihm
zeigen, daß es keine Möglichkeit gibt, auf dieser Erde zu leben…
Die verstreuten Lichter vor ihm waren die Kasernen, die auf dem Gelände von Projekt X, das jetzt Harmony
City hieß, errichtet worden waren. Als er näherkam, merkte er, daß etwas Ungewöhnliches im Gange war. Die
Stacheldrahtzäune waren niedergerissen, und am Tor standen keine Posten. Doch er beobachtete eine aufgeregte
Geschäftigkeit in der von unruhigen Scheinwerferkegeln durchbrochenen Dunkelheit; er sah Panzerwagen,
laufende Gestalten, blitzende Bajonette, hörte Kommandorufe. Niemand hielt seinen Wagen an. An der Ecke
einer Baracke sah er den bewegungslosen Körper eines Soldaten am Boden liegen. Betrunken, dachte er – wollte
er denken –, und fragte sich, was ihn unsicher machte.
Der Pilzbau kauerte vor ihm auf einem Hügel; die schmalen Schlitze seiner Fenster waren erleuchtet, und die
unregelmäßigen Röhren, die unter seinem Dach hervorragten, zielten in die dunkle Landschaft. Ein Soldat
versperrte ihm den Weg, als er am Eingang aus seinem Wagen stieg. Der Soldat war vorschriftsmäßig bewaffnet,
doch er trug weder Mütze noch Helm, und seine Uniform schien zu weit für ihn zu sein.
»Wo willst du hin, Kumpel?« fragte er.
»Lassen Sie mich hinein!« befahl Dr. Stadler mit verächtlicher Stimme.
»Was willst du hier?«
»Ich bin Dr. Stadler.«
»Ich bin Joe Blow. Ich habe dich gefragt, was du hier willst. Bist du einer von den Neuen oder einer von den
Alten?«
»Laß mich rein, du Idiot! Ich bin Dr. Robert Stadler!«
Es war nicht der Name, sondern der Ton seiner Stimme und die Form der Anrede, die den Soldaten zu
überzeugen schienen. »Einer der Neuen also«, sagte er, öffnete die Tür, rief jemand im Innern zu: »He, Mac,
kümmere dich mal um den Opa hier! Sieh zu, was er will!«
In der fahlen, düsteren Halle aus Stahlbeton trat ihm ein Mann entgegen, der ein Offizier hätte sein können,
wenn nicht seine Jacke am Hals offen gewesen wäre und ein Zigarettenstummel lässig in seinem Mundwinkel
gehangen hätte.
»Wer sind Sie?« schnarrte er, während seine Hand zu schnell nach dem Halfter an seiner Hüfte griff.
»Ich bin Dr. Robert Stadler.«
Der Name erzielte keine Wirkung. »Wer hat Ihnen die Erlaubnis gegeben, hierher zu kommen?«
»Ich brauche keine Erlaubnis.«
Dies schien zu wirken; der Mann nahm die Zigarette aus dem Mund. »Wer hat nach Ihnen geschickt?« fragte
er, leicht unsicher.
»Wollen Sie mich bitte zum Kommandanten führen?« fragte Dr. Stadler ungeduldig.
»Zum Kommandanten? Da kommen Sie zu spät, Mann.«
»Dann zum Chefingenieur!«
»Zum Chef – was? Ach, Willy ist in Ordnung. Er ist einer der unsern, doch er ist unterwegs im Augenblick.«
Es waren andere Gestalten in der Halle, die mit ängstlicher Neugier zuhörten. Der Offizier winkte einen der
Männer heran, einen unrasierten Zivilisten, der einen schäbigen Mantel lose über den Schultern trug.
»Was wollen Sie?« fragte er Stadler barsch.
»Würde mir jemand sagen, wo die Herren vom wissenschaftlichen Stab sind?« fragte Dr. Stadler in dem
höflich bestimmten Ton eines Befehls.
Die beiden Männer sahen einander an, als wäre eine solche Frage unwirklich an diesem Platz. »Kommen Sie
aus Washington?« fragte der Zivilist argwöhnisch.
»Nein. Ich bin fertig mit diesen Banditen in Washington.«
»Oh?« der Mann schien erfreut. »Dann sind Sie also ein Freund des Volkes?«
»Ich möchte sagen, daß ich der beste Freund bin, den das Volk je gehabt hat. Ich bin der Mann, der ihm alles
das geschenkt hat.« Er zeigte mit einer schweifenden Armbewegung um sich.
»Haben Sie?« sagte der Mann beeindruckt. »Sind Sie einer von denen, die sich mit dem Boß geeinigt haben?«
»Ich bin hier der Boß, von jetzt an.«
Die Männer sahen einander an, traten einige Schritte zurück. Der Offizier fragte: »Sagten Sie nicht, daß Ihr
Name Stadler sei?«
»Robert Stadler. Und wenn Sie nicht wissen, was das bedeutet, dann werden Sie es noch erfahren!«
»Wollen Sie mir bitte folgen«, sagte der Offizier mit unsicherer Höflichkeit.
Was dann geschah, drang nicht in das Bewußtsein Dr. Stadlers, denn er weigerte sich, die Wirklichkeit
dessen, was er sah, anzuerkennen. Er sah fragwürdige, mit Pistolen behangene Typen in unordentlichen,
halberleuchteten Büros herumlungern, hörte sinnlose Fragen roher Stimmen, die zwischen Unverschämtheit und
Furcht schwankten. Er wußte nicht, ob eine von ihnen versuchte, ihm eine Erklärung zu geben für das, was er
sah; er wollte nicht zuhören; er konnte nicht zulassen, daß es wirklich war. Er wiederholte ständig in dem Ton
eines feudalen Herrschers: »Ich bin der Boß hier von nun an… Ich habe hier zu befehlen… Ich bin gekommen,
die Leitung zu übernehmen… Dieser Betrieb gehört mir… Ich bin Dr. Stadler… und wenn Sie nicht wissen, was
dieser Name an diesem Ort bedeutet, dann haben Sie kein Recht, hier zu sein, Sie erbärmlicher Ignorant! Sie
werden sich alle miteinander in die Luft jagen, wenn Sie nicht wissen, wo Sie sich befinden. Hat einer von Ihnen
je etwas von höherer Physik gehört? Sie sehen mir nicht so aus! Was tun Sie hier? Wer sind Sie?«
Er brauchte lange, bis er begriff, bis sein Verstand die Erkenntnis zuließ, daß ein anderer ihm in seinem Plan
zuvorgekommen war: Jemand hatte die gleiche Auffassung vom Leben gehabt wie er und es unternommen, die
gleiche Zukunft zu verwirklichen. Er begriff, daß diese Männer, die sich Freunde des Volkes nannten, in dieser
Nacht, vor wenigen Stunden, von Projekt X Besitz ergriffen hatten, um ein eigenes Regiment zu errichten. Er
lachte ihnen ins Gesicht mit bitterer, ungläubiger Verachtung.
»Ihr wißt nicht, was ihr tut, ihr selbstmörderischen Dummköpfe! Glaubt ihr, ihr – ihr! – könntet mit einem
wissenschaftlichen Apparat von solch hoher Präzision umgehen? Wer ist euer Anführer? Ich verlange, euren
Anführer zu sprechen!«
Es war sein Ton überwältigender Autorität, seine Verachtung und ihre eigene Angst – die blinde Angst von
Menschen zügelloser Gewalttätigkeit, die keinen Begriff mehr von Sicherheit und Gefahr haben –, die sie
unsicher machten und sie veranlaßten, sich zu fragen, ob er vielleicht ein geheimer hoher Führer ihrer
Organisation war. Sie waren bereit, jeder Autorität zu gehorchen oder zu trotzen. Nachdem er von einem
unschlüssigen Vorgesetzten zum anderen weitergeschoben worden war, wurde er schließlich eine eiserne Treppe
hinunter und durch lange, widerhallende unterirdische Gänge zu einer »Audienz beim Boß persönlich« geführt.
Der »Boß« residierte in dem unterirdischen Kontrollraum. Zwischen den komplizierten wissenschaftlichen
Apparaten und Maschinen, die die Schallstrahlen erzeugten, vor der Wandtafel mit den glänzenden Hebeln,
Skalen, Knöpfen und Tasten, dem ‘Xylophon’, sah sich Robert Stadler dem neuen Herrn von Projekt X
gegenüber. Es war Cuffy Meigs.
Er trug eine enganliegende, halbmilitärische Jacke und Ledergamaschen; sein feister Nacken quoll über den
Rand seines Kragens; seine schwarzen Locken glänzten vor Schweiß. Er lief unruhig vor dem Xylophon hin und
her, schrie Männern, die eilig kamen und gingen, Befehle zu.
»Schickt Boten in jede Stadt innerhalb unserer Reichweite! Sagt ihnen, daß die Freunde des Volkes gesiegt
haben! Sagt ihnen, daß sie keine Befehle mehr von Washington entgegennehmen dürfen! Die neue Hauptstadt
des Volksstaates ist Harmony City – von nun an Meigsville! Sagt ihnen, daß ich fünfhunderttausend Dollar für je
fünftausend Köpfe der Bevölkerung erwarte, und zwar morgen früh, sonst…!«
Es dauerte eine Weile, bevor Cuffy Meigs braune, wäßrige Augen von der Person Dr. Stadlers Notiz
nahmen… »Nun, was gibt’s? Was ist los?« bellte er ihn an.
»Ich bin Dr. Robert Stadler.«
»Wer? – O ja! Ja! Sie sind doch der tolle Kerl aus dem Weltraum, der Atome fängt oder so was Ähnliches?
Was in aller Welt tun Sie hier?«
»Ich bin es, der Ihnen diese Frage stellen sollte.«
»Hören Sie, Professor, ich bin nicht in der Stimmung für Witze.«
»Ich bin hierher gekommen, um die Macht zu übernehmen.«
»Die Macht? Über was?«
»Über diese Maschinen. Über dieses Gebäude. Über das Land innerhalb seines Operationsradius.«
Meigs starrte ihn einen Augenblick verdutzt an und fragte dann sanft: »Sagen Sie, wie sind Sie hierher
gekommen?«
»Im Wagen.«
»Ich meine, wen haben Sie mitgebracht?«
»Niemand.«
»Was für Waffen haben Sie?«
»Keine. Mein Name genügt.«
»Sie sind also allein gekommen, nur mit Ihre m Namen und mit Ihrem Wagen?«
»Allerdings.«
Cuffy Meigs brach in schallendes Gelächter aus.
»Glauben Sie«, fragte Dr. Stadler, »daß Sie eine Anlage wie diese bedienen können?«
»Hauen Sie ab, Professor, hauen Sie ab! Verschwinden Sie, bevor ich Sie erschießen lasse! Wir haben hier
keine Verwendung für Intellektuelle!«
»Wieviel wissen Sie hiervon?« Dr. Stadler zeigte auf das Xylophon.
»Wer fragt danach? Techniker gibt’s heute wie Sand am Meer! Verschwinden Sie! Hier ist nicht Washington!
Ich bin fertig mit diesen lebensfernen Träumern in Washington! Sie werden nichts erreichen, wenn sie mit
diesem Radiogeist verhandeln und Reden halten! Handeln muß man, entschlossen handeln! Verschwinden Sie,
Professor! Ihre Zeit ist um!« Er taumelte unsicher vor und zurück, griff von Zeit zu Zeit nach einem der Hebel
des Xylophons. Dr. Stadler erkannte, daß Meigs betrunken war.
»Berühren Sie diese Hebel nicht, Sie Wahnsinniger!«
Meigs zog die Hand unwillkürlich zurück, zeigte dann aber mit einer schweifenden Armbewegung auf die
Schalttafel. »Ich berühre, was mir gefällt! Sie haben mir nichts zu verbieten hier!«
»Gehen Sie weg von dieser Schalttafel. Verlassen Sie diesen Raum! Diese Maschine gehört mir! Verstehen
Sie? Sie ist mein Eigentum!«
»Eigentum? Haha!« Meigs gab ein bellendes Lachen von sich.
»Ich habe sie erfunden! Ich habe sie geschaffen! Ich habe sie möglich gemacht!«
»Wirklich? Nun denn, vielen Dank dafür, Doktor! Vielen Dank, aber wir brauchen Sie nicht länger. Wir
haben unsere eigenen Mechaniker.«
»Haben Sie eine Ahnung, was ich wissen mußte, um sie möglich zu machen? Sie wissen ja nicht einmal, was
eine einzelne Röhre in ihr bedeutet, oder eine Schraube!«
Meigs zuckte die Achseln. »Mag sein.«
»Wie können Sie dann wagen zu behaupten, daß sie Ihnen gehört? Wie können Sie es wagen, hierher zu
kommen? Welches Recht haben Sie, es zu tun?«
Meigs schlug mit der flachen Hand auf seine Pistolentasche. »Dieses hier!«
»Hören Sie, Sie betrunkenes Schwein«, schrie Dr. Stadler. »Wissen Sie, mit was Sie da spielen?«
»He, wie redest du mit mir, du alter Esel? Was fällt dir ein, so mit mir zu reden? Ich kann dich zerquetschen
wie eine Laus! Weißt du nicht, wer ich bin?«
»Sie sind ein Unmensch, der vor Angst den Verstand verloren hat!«
»Was bin ich? Ich bin der Boß! Der Boß bin ich und lasse mir von einer alten Vogelscheuche wie dir keine
Vorschriften machen! Raus mit dir, sage ich!«
Sie standen vor der Schalttafel des Xylophons und starrten einander an, wie gelähmt vor Angst. Die
uneingestandene Wurzel von Dr. Stadlers Angst war sein verzweifelter Kampf, nicht anzuerkennen, daß er sein
Endprodukt ansah, daß dies sein geistiger Sohn war. Cuffy Meigs’ Angst hatte tiefere Wurzeln, sie war die
Quintessenz seiner Existenz. Er hatte sein ganzes Leben in Angst gelebt, doch jetzt wehrte er sich dagegen,
anzuerkennen, daß eingetreten war, was er gefürchtet hatte: In diesem Augenblick seines Triumphes, da er
glaubte, endlich sicher zu sein, weigerte sich diese verhaßte Kreatur eines Intellektuellen, ihn zu furchten, und
widersetzte sich seiner Macht.
»Raus!« brüllte Cuffy Meigs. »Sonst rufe ich meine Leute und lasse dich erschießen!«
»Aus dem Weg, du elendes, hirnloses Tier!« zischte Dr. Stadler. »Glaubst du, ich lasse mich von dir um den
Sinn meines Lebens bringen? Glaubst du, für dich verkaufe ich…« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Laß die
Finger von den Hebeln, du…«
»Halt’s Maul! Du hast mir nichts zu befehlen! Mich machst du nicht bange mit deinen geschraubten
Redensarten! Ich tue, was mir gefällt! Wofür soll ich gekämpft haben, wenn ich nicht tun kann, was mir gefällt?«
Er kicherte und griff nach einem Hebel.
»He, Cuffy, Mach keinen Scheiß!« schrie eine Gestalt, die aus dem Hintergrund des Raumes heranstürzte.
»Zurück!« brüllte Cuffy Meigs. »Zurück, ihr alle! Ich soll Angst haben? Ich werde euch zeigen, wer hier der
Boß ist!«
Dr. Stadler sprang vor, um ihn zurückzuhalten… doch Meigs schob ihn mit einem Arm zur Seite, stieß ein
höhnisches Lachen aus, als er sah, daß Dr. Stadler zu Boden fiel, und warf mit der anderen Hand einen Hebel des
Xylophons herum.
Das Geräusch – das Knirschen zerreißenden Metalls und das Knistern und Zischen durchschmorender
Hochspannungsleitungen, das Ächzen eines sich aufbäumenden technischen Ungeheuers – war nur innerhalb des
Kuppelbaus hörbar. Draußen war kein Laut zu hören. Das ganze Gebäude erhob sich plötzlich lautlos, brach in
wenige Stücke auseinander, zwischen denen Blitze eines blauen Lichtes in den Himmel schossen, und fiel als
Trümmerhaufen auf die Erde zurück. In einem Umkreis von hundert Meilen, auf dem Gebiet von vier Staaten,
zerbrachen Telegraphenmasten wie Streichhölzer, zerfielen Farmen zu Staub, stürzten die Gebäude in Städten
zusammen, wie getroffen von dem Schlag eines riesigen Hammers – und an der Peripherie des Kreises, mitten
über dem Mississippi, regneten die Lokomotive und die ersten sechs Wagen eines Personenzuges als ein Schauer
von Metall und Fleisch in das Wasser des Flusses, zusammen mit den Trümmern der westlichen Hälfte der
Taggart-Brücke.
An der Stelle, an der einst Projekt X gestanden hatte, blieb zwischen den Trümmern nichts Lebendes übrig
außer – für die Dauer weniger endloser Sekunden – einem zerfetzten Leib und dem zuckenden Schmerz, der
einst ein großer Verstand gewesen war.
Es lag ein Gefühl von schwereloser Freiheit, dachte Dagny, in dem Gedanken, daß eine Telefonzelle ihr
einziges, unmittelbares, absolutes Ziel war, ein Ziel, das sie die Straßenpassanten, an denen sie vorübereilte,
vergessen ließ. Dieses Gefühl entfremdete sie jedoch nicht der Stadt, es ließ sie zum ersten Mal empfinden, daß
sie ihr gehörte, daß sie sie liebte, daß sie sie nie zuvor so geliebt hatte wie in diesem Augenblick, nie mit einem
so persönlichen, feierlichen und sicheren Besitzgefühl. Die Nacht war still und klar. Sie blickte zum Himmel
hinauf. So wie ihre Stimmung mehr feierlich als freudig war, doch eine Ahnung künftiger Freude enthielt – so
war die Luft mehr windstill als warm, doch von dem Hauch eines fernen Frühlings erfüllt.
Verdammt noch mal, geht mir aus dem Weg! dachte sie, nicht zornig, sondern fast belustigt, mit einem Gefühl
der Losgelöstheit und Erleichterung; sie rief es im Geiste den Fußgängern zu und den Fahrzeugen, die sie in ihrer
Eile behinderten, und aller Furcht, die sie in der Vergangenheit empfunden hatte. Vo r weniger als einer Stunde
hatte sie ihn diese Worte aussprechen hören, und seine Stimme schien immer noch in den Straßen widerzuhallen,
um in einem fernen Gelächter unterzugehen.
Sie hatte triumphierend gelacht im Festsaal des Wayne-Falkland-Hotels, als sie ihn diesen Satz ausrufen
hörte; sie hatte gelacht und die Hand vor den Mund gepreßt, so daß das Lachen nur in ihren Augen war – und in
seinen, als er offen zu ihr hinüberschaute und sie erkannte, daß er es gehört hatte. Für den Bruchteil einer
Sekunde hatten sie sich über die Köpfe der bestürzten, schreienden Menge hinweg angeschaut, hinweg über das
Krachen der zerschmetterten Mikrophone, über das Poltern umstürzender Tische und das Klirren zerbrechender
Gläser.
Dann hatte sie in dem Lärm Mr. Thompson mit einem Handzeichen auf Galt schreien hören: »Führt ihn
zurück auf sein Zimmer, doch schützt ihn mit eurem Leben!« – und die Menge war auseinander gewichen, als
drei Männer ihn hinausführten. Mr. Thompson schien zusammenzubrechen. Er ließ den Kopf auf die
verschränkten Arme fallen, faßte sich aber wieder, sprang auf, winkte seinen Begleitern, ihm zu folgen, und
verließ eiligst durch einen Seitenausgang den Saal. Niemand kümmerte sich um die Gäste oder gab ihnen eine
Erklärung; einige stürzten in wilder Flucht zu den Türen, andere blieben sitzen, wagten nicht, sich zu bewegen.
Der Festsaal glich einem Schiff ohne Kapitän. Sie bahnte sich einen Weg durch das Gedränge und folgte Mr.
Thompson und seinen Leuten. Niemand versuchte sie aufzuhalten.
Sie fand sie in einem kleinen Privatbüro. Mr. Thompson saß zusammengekauert in einem Sessel, mit beiden
Händen das Gesicht bedeckend. Wesley Mouch stöhnte wie unter einem Magenkrampf. Eugene Lawson
schluchzte wie eine bestraftes, unartiges Kind. Jim beobachtete die anderen mit seltsam gespannten Blicken.
»Ich habe es Ihnen gesagt!« rief Dr. Ferris. »Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Das haben Sie jetzt von Ihrem
freundlichen Zureden!«
Sie blieb an der Tür stehen. Sie schienen ihre Anwesenheit zu bemerken, sich jedoch nicht daran zu stören.
»Ich demissioniere!« schrie Chick Morrison. »Ich lege mein Amt nieder! Ich bin erledigt! Ich weiß nicht, was
ich dem Volk sagen soll! Ich kann nicht mehr denken! Ich brauche es gar nicht erst zu versuchen! Es hat keinen
Zweck! Ich bin fertig! Ich konnte nicht anders! Ihr könnt mir nicht die Schuld geben! Ich habe mein Amt
niedergelegt!« Er schwenkte die Arme in einer unbestimmten Geste der Hilflosigkeit oder des Lebewohls und
rannte aus dem Zimmer.
»Er hat ein Versteck mit allen Vorräten in Tennessee«, sagte Tinky Holloway nachdenklich, als ob auch er die
gleiche Vorsichtsmaßnahme getroffen hätte und nun überlegte, ob die Zeit gekommen war.
»Er wird nicht lange sicher sein dort, wenn er überhaupt hinkommt«, sagte Mouch. »Mit den
Aufrührerbanden und bei dem Verkehrschaos…« Er spreizte die Hände und sprach nicht weiter.
Sie wußte, welche Gedanken das Schweigen füllten; sie spürte, daß diese Männer, gleichgültig, welchen
geheimen Rückzug jeder von ihnen für sich vorbereitet hatte, jetzt begriffen, daß sie alle zusammen in der Falle
saßen.
Sie bemerkte, daß keine Angst in ihren Gesichtern war; sie sah Anzeichen von Angst, doch sie schienen nur
oberflächlich zu sein. Der Ausdruck ihrer Gesichter reichte von vollkommener Apathie bis zur Erleichterung von
Betrügern, die geahnt hatten, daß ihr Spiel nicht anders enden würde, und jetzt keine Anstrengungen machten, es
zu leugnen oder zu bedauern, bis zur störrischen Blindheit Lawsons, der sich weigerte, überhaupt etwas zu
empfinden, bis zur seltsamen Gespanntheit Jims, dessen Gesicht ein Lächeln zu verbergen schien.
»Nun?« fragte Dr. Ferris ungeduldig mit der knisternden Energie eines Mannes, der sich in einer Welt der
Hysterie zu Hause fühlt. »Was werden Sie jetzt mit ihm machen? Ihm weiter gut zureden? Mit ihm debattieren?
Ihm Vorträge halten?«
»Er… muß – uns… retten«, sagte Mouch langsam, als entleerte er sein Hirn des letzten Gedankens und stellte
der Wirklichkeit ein Ultimatum. »Er muß – die Regierung übernehmen – und das System retten.«
»Warum schreiben Sie ihm nicht einen Liebesbrief, daß er es tun soll?« höhnte Ferris.
»Wir müssen… ihn dazu bringen… daß er es tut… Wir müssen ihn zwingen, daß er uns regiert«, sagte Mouch
im Ton eines Schlafwandlers.
»Endlich«, sagte Ferris, plötzlich die Stimme senkend. »Sehen Sie nun ein, welch wertvolle Einrichtung das
State Science Institute ist?«
Mouch antwortete nicht, doch sie sah, daß alle zu wissen schienen, was er meinte.
»Sie haben mein privates Forschungsprogramm als ‘lebensfern’ ablehnen wollen«, sagte Ferris lauernd.
»Doch was habe ich Ihnen gesagt?«
Mouch antwortete nicht. Er ließ seine Fingergelenke knacken.
»Jetzt ist nicht der Moment, zimperlich zu sein«, stieß James Taggart mit unerwarteter Heftigkeit hervor, doch
auch seine Stimme war seltsam leise. »Wir dürfen nicht länger zögern.«
»Mir scheint…« sagte Mouch finster, »daß… daß der Zweck die Mittel heiligt…«
»Es ist zu spät für Skrupel und Prinzipien«, sagte Ferris. »Nur entschlossenes Handeln kann jetzt noch
helfen.«
Keiner antwortete; sie benahmen sich, als wünschten sie, daß ihre Schweigepausen und nicht ihre Worte
ausdrückten, worüber sie sprachen.
»Es wird nichts nützen«, sagte Tinky Holloway. »Er wird nicht nachgeben.«
»Das glauben Sie!« sagte Ferris grinsend. »Sie haben unser Experimentiermodell nicht in Betrieb gesehen. Im
letzten Monat hatten wir drei Geständnisse in drei ungelösten Mordfällen.«
»Wenn…« begann Mr. Thompson, und seine Stimme verebbte in einem Stöhnen, »wenn er stirbt, sind wir
verloren.«
»Keine Angst«, sagte Ferris. »Er wird nicht sterben. Der Ferris Persuader ist sorgfältig gesichert gegen diese
Möglichkeit.«
Mr. Thompson antwortete nicht.
»Mir scheint, wir haben keine andere Wahl…« flüsterte Mouch.
Sie schwiegen; Mr. Thompson bemühte sich, nicht zu sehen, daß sie ihn alle anschauten. Dann schrie er
plötzlich: »Machen Sie, was Sie wollen! Ich kann nichts daran ändern! Tun Sie, was Sie wollen!«
Dr. Ferris wandte sich an Lawson. »Gene«, sagte er eindringlich, immer noch flüsternd, »laufen Sie zum
Radio-Kontrolldienst. Ordnen Sie an, daß alle Sender sich bereit halten. Sagen Sie ihnen, in drei Stunden werde
ich Mr. Galt sprechen lassen.«
Lawson sprang mit einem plötzlichen Grinsen auf die Füße und rannte aus dem Zimmer.
Sie wußte. Sie wußte, was sie tun wollten, und was in ihnen es möglich machte. Sie glaubten nicht daran, daß
sie Erfolg haben würden. Sie glaubten nicht daran, daß Galt aufgeben würde; sie wollten nicht, daß er aufgab.
Sie glaubten nicht, daß jetzt irgend etwas sie noch retten konnte; sie wollten nicht gerettet werden. Getrieben von
der Angst ihrer namenlosen Gefühle hatten sie ihr ganzes Leben lang gegen die Wirklichkeit angekämpft – und
jetzt hatten sie den Augenblick erreicht, da sie sich zu Hause fühlten. Sie brauchten nicht zu wissen, warum sie
es fühlten. Sie empfanden nur ein Gefühl des Erkennens, weil sie gefunden hatten, wonach sie so lange auf der
Suche gewesen waren. Dies war die Art der Wirklichkeit, die sie in all ihren Gedanken, ihren Handlungen, ihren
Wünschen, ihren Entscheidungen, ihren Träumen verwirklichen wollten. Dies war das Wesen und die Methode
der Rebellion gegen die Existenz und des unbestimmten Verlangens nach einem unbenannten Nirwana. Sie
wollten nicht leben; sie wollten, daß er starb.
Der Schreck, den sie empfand, war nur kurz, wie bei einem plötzlichen Wechsel der Perspektive: Sie begriff,
daß die Dinge, die sie für menschlich gehalten hatte, es nicht waren. Sie war erfüllt von einer letzten Klarheit,
einer endgültigen Gewißheit und einem zwingenden Bedürfnis zu handeln. Er war in Gefahr; in ihrem
Bewußtsein waren weder Zeit noch Raum, Gefühle an das Tun der Unmenschen zu verschwenden.
»Wir müssen dafür sorgen«, flüsterte Wesley Mouch, »daß nie jemand davor erfährt…«
»Niemand wird davon erfahren«, sagte Ferris. Ihre Stimmen hatten den gedämpften Klang von
Verschwörerstimmen. »Es ist ein geheimes, abgelegenes Gebäude auf dem Institutsgelände. Schalldicht und in
sicherer Entfernung von den übrigen Gebäuden. Nur wenige unserer Leute haben es je betreten…«
»Wenn wir fliegen würden…« sagte Mouch und brach ab, als hätte er in Ferris’ Gesicht eine Warnung
gelesen.
Sie sah Ferris’ Blick zu ihr herüberschweifen, als hätte er sich plötzlich ihrer Anwesenheit erinnert. Sie hielt
seinem Blick stand, zwang ihr Gesicht zu einem gleichgültigen Ausdruck, als hätte sie weder zuhören wollen
noch etwas verstanden. Dann drehte sie sich langsam um, als folgte sie der stummen Aufforderung, eine private
Unterhaltung nicht zu stören, und verließ das Zimmer. Sie wußte, daß sie längst über den Punkt hinaus waren,
sich ihretwegen Gedanken zu machen.
Sie ging mit der gleichen Gelassenheit durch die Gänge und den Ausgang des Hotels. Doch als sie bei der
ersten Kreuzung um die Ecke gebogen war, flog ihr Kopf zurück, und ihr Abendkleid klatschte wie ein Segel
gegen ihre Beine unter der Heftigkeit ihres plötzlich beschleunigten Schrittes.
Und während sie jetzt durch die Dunkelheit eilte, ihre Gedanken nur darauf gerichtet, eine Telefonzelle zu
finden, fühlte sie nach der Spannung unmittelbarer Gefahr und Angst ein neues, unwiderstehliches Gefühl in sich
aufsteigen: es war das Gefühl der Freiheit einer Welt, die ohne Hindernis und Grenzen war.
Sie sah auf dem Gehsteig den Lichtstreifen, der aus dem Fenster einer Bar fiel. Niemand schaute ihr nach, als
sie den halbleeren Raum durchschnitt: Die wenigen Gäste warteten immer noch gespannt und flüsternd vor dem
flimmernden Blau eines leeren Fernsehschirms.
In dem engen Raum der Telefonzelle stehend wie in der Kabine einer Rakete, die im Begriff war, nach einem
anderen Planeten zu starten, wählte sie die Nummer OR 6-5693.
Die Stimme, die sofort antwortete, war Franciscos Stimme. »Hallo?«
»Francisco?«
»Hallo, Dagny. Ich habe deinen Anruf erwartet.«
»Hast du die Sendung gehört?«
»Ja.«
»Sie wollen ihn jetzt zwingen mitzumachen.« Sie hielt ihre Stimme im Ton eines sachlichen Berichtes. »Sie
wollen ihn foltern. Sie haben einen Apparat, den sie Ferris Persuader nennen, in einem isolierten Gebäude auf
dem Gelände des State Science Institute. Sie sagen, sie wollen ihn innerhalb von drei Stunden wieder vor das
Mikrophon bringen.«
»Ich verstehe. Rufst du von einer öffentlichen Fernsprechzelle an?«
»Ja.«
»Bist du noch im Abendkleid?«
»Ja.«
»Höre aufmerksam zu. Geh nach Hause, zieh dich um, packe einige Dinge, die du dringend brauchst, deinen
Schmuck und alle Wertgegenstände, die du tragen kannst. Nimm warme Kleidung mit. Wir werden später keine
Zeit dazu haben. Sei in vierzig Minuten an der nordwestlichen Ecke der zweiten Straßenkreuzung östlich vom
Haupteingang des Taggart Terminals.«
»Gut.«
»Bis dann, Slug.«
»Bis dann, Frisco.«
In weniger als fünf Minuten stand sie im Schlafzimmer ihrer Wohnung und riß sich das Abendkleid vom
Leib. Sie ließ es am Boden liegen wie die Uniform einer Armee, der sie nicht länger dienen wollte. Sie zog ein
dunkelblaues Kostüm an und – in Erinnerung an Galts Worte – einen weißen Rollkragenpullover. Sie packte
einen Koffer und eine Handtasche mit Schulterriemen. Sie legte ihre Schmucksachen in eine Ecke der Tasche
einschließlich des Armbands aus Rearden Metal, das sie in der Welt draußen, und des Fünfdollar-Goldstücks,
das sie im Tal verdient hatte.
Es war leicht, die Wohnung zu verlassen und die Tür abzuschließen, obwohl sie wußte, daß sie sie
wahrscheinlich nie wieder öffnen würde. Es erschien ihr schwerer für einen Augenblick, als sie ihr Büro betrat.
Das Vorzimmer ihres Büros war leer. Das große Taggart-Gebäude erschien ungewöhnlich ruhig. Einige
Sekunden blieb sie in der Tür stehen und betrachtete den Raum und die Jahre, die er enthielt. Dann lächelte sie –
nein, es war nicht zu schwer, dachte sie. Sie öffnete ihren Safe und entnahm ihm die Dokumente, die zu holen sie
hergekommen war. Es gab sonst nichts hier, was sie gerne mitgenommen hätte – außer dem Bild Nathaniel
Taggarts und der Karte des Taggart-Netzes. Sie zerbrach die beiden Rahmen, rollte die Bilder zusammen und
schob sie in ihren Koffer.
Als sie den Koffer schloß, hörte sie das Geräusch eiliger Schritte. Die Tür flog auf, und der Chefingenieur
stürzte herein. Er zitterte.»Miss Taggart!« keuchte er. »Oh, Gott sei Dank, Miss Taggart, daß Sie gekommen
sind! Wir haben Sie überall suchen lassen!«Sie antwortete nicht. Sie sah ihn forschend an. »Miss Taggart, haben
Sie es gehört?«
»Was?«
»Dann haben Sie es nicht gehört! O mein Gott, Miss Taggart, es ist… ich kann es nicht glauben, ich kann es
immer noch nicht glauben, aber… Mein Gott, was sollen wir tun? Die Taggart-Brücke ist nicht mehr!« Sie
starrte ihn an, unfähig sich zu bewegen. »Sie ist weg! In die Luft geflogen! In die Luft geflogen, anscheinend
innerhalb einer Sekunde! Niemand weiß genau, was geschehen ist… doch es sieht so aus – man glaubt, daß
etwas in Projekt X schiefgegangen ist und – es sieht nach diesen Schallstrahlen aus, Miss Taggart! Wir kommen
nicht durch in einem Umkreis von hundert Meilen! Es ist nicht möglich, es kann nicht möglich sein, doch es
sieht aus, als ob innerhalb dieses Kreises alles weggefegt worden wäre! – Wir bekommen keine Antwort!
Niemand kann etwas erfahren… auch die Zeitungen nicht, die Radiosender, die Polizei! Wir versuchen es immer
noch, doch die Nachrichten, die vom Rande dieses Gebietes kommen, sind…« Er erschauerte. »Nur eines ist
sicher: Die Brücke ist hin! Miss Taggart! Wir wissen nicht, was wir tun sollen!«
Sie stürzte zu ihrem Schreibtisch und ergriff den Telefonhörer. Ihre Hand hielt in halber Höhe inne. Dann
begann sie, langsam, mit der größten Anstrengung, die je von ihr gefordert worden war, ihren Arm abwärts zu
bewegen, um den Hörer zurückzulegen. Es schien ihr, als brauchte sie eine Ewigkeit dazu, als bewegte sich ihr
Arm gegen einen atmosphärischen Druck, gegen den Menschenkraft nicht ankam – und in der Spanne dieser
wenigen Sekunden, in der Stille eines blinden Schmerzes erkannte sie, was Francisco in jener Nacht vor zwölf
Jahren und was ein junger Mann von sechsundzwanzig Jahren, als er seinen Motor zum letzten Mal betrachtete,
empfunden hatten.
»Miss Taggart!« rief der Chefingenieur. »Wir wissen nicht, was wir tun sollen!«
Der Hörer fiel klirrend zurück in die Gabel. »Ich auch nicht«, erwiderte sie.
Im nächsten Augenblick wußte sie, daß sie es überstanden hatte. Sie hörte ihre Stimme zu dem Mann sagen,
er solle weiter die Lage erkunden und ihr später berichten. Und dann wartete sie, bis seine Schritte in der
widerhallenden Stille des Korridors verklungen waren. Als sie die Halle des Taggart Terminals durchschnitt,
warf sie einen Blick auf die Statue Nathaniel Taggarts und erinnerte sich eines Versprechens, das sie gegeben
hatte. Es würde jetzt nur noch ein Symbol sein, dachte sie, doch es sollte ein Abschiedsgruß von der Art sein,
wie ihn Nathaniel Taggart verdiente. Sie hatte nichts zum Schreiben bei sich, und deshalb nahm sie ihren
Lippenstift aus der Handtasche und, zu dem Marmorgesicht des Mannes hinauflächelnd, der sie verstanden hätte,
zeichnete sie ein großes Dollarzeichen auf den Sockel unter seinen Füßen.
Sie erreichte als erste die Ecke an der zweiten Straßenkreuzung östlich der Taggart-Endstation. Während sie
wartete, bemerkte sie die ersten Wellen der Panik, die bald die Stadt überschwemmen sollte: Sie sah Autos, die
zu schnell fuhren, einige von ihnen beladen mit Hausrat. Es rasten zu viele Polizeiwagen vorbei, und zu viele
Sirenen heulten in der Ferne. Die Nachricht von der Zerstörung der Brücke verbreitete sich offensichtlich in der
Stadt. Die Menschen würden erkennen, daß die Stadt verloren war, und sie würden versuchen, in wilder Flucht
zu entkommen. Doch sie hatten nichts, wohin sie gehen konnten – und Dagny interessierte sich auch nicht mehr
dafür.
Sie sah Franciscos Gestalt sich in einiger Entfernung nähern. Sie erkannte seinen schnellen federnden Gang,
bevor sein Gesicht unter der Mütze, die er über die Augen gezogen hatte, Konturen annahm. Sie sah ihn im
gleichen Augenblick, als auch er sie entdeckte. Er hob winkend den Arm, ein grüßendes Lächeln in den Augen.
Seine ruhige, selbstbewußte Sicherheit machte die Bewegung zur Geste eines d’Anconia, der einen lang
erwarteten Reisenden am Tor seiner Besitzung begrüßt.
Als er vor sie trat, reckte sie sich feierlich, umfaßte mit ihrem Blick sein Gesicht und die Gebäude der
großartigsten Stadt der Welt hinter ihm als die Zeugen, die sie sich wünschte, und sprach mit langsamer, fester
Stimme:
»Ich schwöre bei meinem Leben und bei meiner Liebe zum Leben: Ich werde nie für andere leben, und ich
werde nie von anderen verlangen, daß sie für mich leben.«
Er nickte wie zum Zeichen der Zulassung. Sein Lächeln war jetzt ein Salut.
Dann nahm er ihren Koffer mit der einen Hand, ihren Arm mit der anderen und sagte: »Komm mit.«
»Projekt F« – so genannt zu Ehren seines Begründers Dr. Ferris – war ein kleines Stahlbetongebäude am Fuße
des Hügels, auf dem das State Science Institute stand. Nur ein kleiner grauer Fleck des Daches war von den
Fenstern des Instituts aus sichtbar; der Rest des Baus war verdeckt von dichten, alten Bäumen.
Das Gebäude besaß zwei Stockwerke. Seine äußere Form bot sich dar als ein kleiner Würfel, der
unsymmetrisch auf einen größeren gesetzt war. Das untere Stockwerk hatte keine Fenster, nur eine mit
Eisenspitzen gespickte Tür; das zweite Stockwerk hatte nur ein Fenster, als ließe es nur widerwillig das
Tageslicht in sein Inneres ein, wie ein Gesicht mit einem Auge. Die Mitarbeiter des Instituts empfanden keine
Neugier nach dem Zweck dieses Gebäudes und mieden die Wege, die zu ihm hinunterführten. Doch sie hatten
den Eindruck, daß in ihm mit den Bazillen tödlicher Krankheiten experimentiert wurde. In den beiden
Stockwerken befanden sich Laboratorien. Hier waren in zahlreichen Käfigen Versuchstiere – Meerschweinchen,
Hunde, Ratten und Mäuse – untergebracht. Doch das Herz und der Sinn des Gebäudes war ein Raum in seinem
Keller, tief unter der Erde; der Raum war unsachgemäß mit porösen Platten eines schalldämpfenden Materials
ausgeschlagen worden; die Platten hatten begonnen zu zerspringen, und der nackte Fels einer Höhle schimmerte
durch die Risse.
Das Gebäude wurde ständig bewacht durch eine Abteilung von vier Soldaten. In dieser Nacht war die Wache
auf sechzehn Mann verstärkt worden. Die Wachposten, wie auch alle anderen Angestellten von Projekt F, waren
sorgfältig ausgesucht worden; sie mußten sich auszeichnen durch die Fähigkeit zu blindem Gehorsam.
Die sechzehn Wachposten hielten sich in dieser Nacht in der näheren Umgebung des Gebäudes und in den
verlassenen Laboratorien der oberen Stockwerke auf. Sie wußten nicht und fragten nicht danach, was unter ihnen
vorging.
In dem unterirdischen Kellerraum saßen in Sesseln, die vor einer Wand aufgereiht waren, Dr. Ferris, Wesley
Mouch und James Taggart. Ihnen gegenüber, in einer Ecke des Raumes, stand ein Apparat, der wie ein kleiner,
aus ungleich großen Teilen zusammengebauter Schrank aussah. An der Vorderseite waren Reihen von
Meßskalen mit roten Segmenten sichtbar, ein viereckiger Schirm, der wie ein Lautsprecher aussah, Reihen von
Zahlen, von Holzgriffen und von Plastikknöpfen, an der einen Seite ein einzelner Hebel und auf der anderen ein
roter Glasknopf. Das Gesicht des Apparates zeigte mehr Ausdruck als das Gesicht des Mechanikers, der ihn
bediente; er war ein vierschrötiger junger Mann in einem durchgeschwitzten Hemd mit hochgekrempelten
Ärmeln; seine Augen glänzten in angespannter Konzentration auf seine Arbeit; von Zeit zu Zeit bewegte er die
Lippen, als zitierte er einen auswendig gelernten Text . Ein kurzer Draht führte von dem Apparat zu einer
elektrischen Batterie auf seiner Rückseite. Mehrere lange Drähte, gewunden wie die Arme eines Polypen, liefen
von dem Apparat über den steinernen Fußboden zu einer Ledermatratze, die in der Mitte des Raumes unter
einem grellen Lichtkegel ausgebreitet war. Auf dieser Matratze lag John Galt angeschnallt. Er war nackt. Die
kleinen Metallscheiben der Elektroden an den Enden der Drähte waren an seine Hand- und Fußgelenke, seine
Schultern und seine Hüften geklebt. Auf seiner Brust war ein Gegenstand befestigt, der einem Stethoskop glich
und durch einen Draht mit dem Lautsprecher verbunden war.
»Merken Sie sich«, sprach Dr. Ferris als erster zu ihm, »wir wollen, daß Sie die volle Macht über die
Wirtschaft des Landes übernehmen. Wir wollen, daß Sie wie ein Diktator regieren. Haben Sie verstanden? Wir
wollen, daß Sie befehlen und daß Sie selbst die Befehle formulieren. Wir sind entschlossen, zu erreichen, was
wir uns vorgenommen haben. Reden, Logik, Argumente oder passive Resistenz oder passiver Gehorsam werden
Ihnen jetzt nicht mehr helfen. Wir wollen Ideen… oder aber…! Wir werden Sie nicht eher hier raus lassen, bis
Sie uns die genauen Maßnahmen genannt haben, die Sie ergreifen werden, um unser System zu retten. Dann
werden wir Sie diese Maßnahmen über das Radio dem Land verkünden lassen.« Er hob den Arm, ließ eine
Stoppuhr sehen. »Ich gebe Ihnen dreißig Sekunden, zu entscheiden, ob Sie sofort beginnen wollen zu sprechen.
Wenn nicht, werden wir anfangen. Haben Sie verstanden?«
Galt sah sie mit ausdruckslosem Gesicht an, als verstünde er sie nur zu gut. Er antwortete nicht.
Sie hörten in der Stille das Ticken der Stoppuhr, die die Sekunden zählte, und das Geräusch von Mouchs
stoßendem Atem.
Ferris gab dem Mechaniker an dem Apparat ein Zeichen mit der Hand. Der Mechaniker legte einen Hebel um.
Der rote Glasknopf leuchtete auf, und zwei Geräusche setzten ein: das eine war das leise Summen eines
Generators, das andere ein eigenartiger Taktschlag, regelmäßig wie das Ticken einer Uhr, doch mit einem
seltsam gedämpften Widerhall. Sie brauchten einige Sekunden, bis sie begriffen, daß dieses Geräusch aus dem
Lautsprecher kam und daß sie das Schlagen von Galts Herz hörten.
»Nummer drei«, sagte Ferris und hob einen Finger. Der Mechaniker drückte auf einen Knopf unter einem der
Zifferblätter. Ein anhaltender Schauer lief durch Galts Körper. Sein rechter Arm zuckte in heftigen Krämpfen,
verursacht durch den elektrischen Strom, der zwischen seinem Handgelenk und seiner Schulter zirkulierte. Sein
Kopf fiel zurück, seine Lippen preßten sich aufeinander. Er gab keinen Laut von sich.
Als der Mechaniker seinen Finger von dem Knopf nahm, hörte Galts Arm auf zu zucken. Er bewegte sich
nicht.
Die drei Männer sahen einander mit fragenden Blicken an. Ferris’ Augen waren leer, Mouchs Augen weit
geöffnet vor Entsetzen, und Taggarts Augen grau vor Enttäuschung. Der dumpfe Herzschlag Galts hämmerte
weiter in der Stille.
»Nummer zwei«, sagte Ferris.
Es war Galts rechtes Bein, das sich jetzt unter dem Strom, der zwischen Hüfte und Fußgelenk zirkulierte, in
Zuckungen wand. Seine Hände umkrampften die Ränder der Matratze. Sein Kopf rollte von einer Seite auf die
andere und blieb dann still liegen. Das Schlagen seines Herzens wurde schneller.
Mouch saß steif aufrecht, den Rücken gegen die Lehne seines Sessels gepreßt. Taggart war auf den vorderen
Rand seines Sessels gerutscht, er beugte sich vor.
»Nummer eins, gradweise«, sagte Ferris. Galts Oberkörper bäumte sich auf, fiel zurück und wand sich in
anhaltendem Krampf, während der Strom jetzt von einem Handgelenk zum anderen durch die Lungen raste. Der
Mechaniker drehte langsam an einem Knopf, die Spannung des Stromes erhöhend. Die Nadel des
Meßinstrumentes bewegte sich auf den roten Strich zu, der Gefahr anzeigte. Galts Atem kam in unregelmäßigen,
keuchenden Stößen aus den sich verkrampfenden Lungen.
»Haben Sie jetzt genug?« fragte Ferris, als der Mechaniker auf seinen Wink hin den Strom abgestellt hatte.
Galt antwortete nicht. Seine Lippen bewegten sich schwach. Sein von dem Stethoskop auf den Lautverstärker
übertragener Herzschlag hämmerte wild. Doch sein Atem, sichtlich durch bewußte Anstrengung beherrscht,
kehrte zum normalen Rhythmus zurück.
»Sie gehen zu sanft mit ihm um!« zischte Taggart, den nackten Körper auf der Matratze anstarrend. Galt
öffnete die Augen und sah die Männer kurz an. Sein Blick war klar und fest, doch stumm. Dann ließ er den Kopf
wieder sinken und lag still, als hätte er sie vergessen.
Sein nackter Körper sah auf seltsame Art fehl am Platze aus in diesem Keller. Sie spürten es, doch keiner von
ihnen hätte dieses Gefühl erklären können. Die langen Linien seines Körpers, ebenmäßig von den Fußgelenken
über die schmalen Hüften und den Winkel der Taille zu den breiten Schultern verlaufend, erweckten den
Eindruck einer Statue des klassischen Griechenland, waren jedoch stilisiert zu einer längeren, leichteren,
aktiveren Form von dynamischer Kraft und vergeistigter Energie – weniger der Körper eines Wagenlenkers als
der eines Flugzeugbauers. Und wie der Sinn einer Statue des alten Griechenland – ein Gott in Menschengestalt –
unvereinbar war mit dem Geist der Kunsthallen dieses Jahrhunderts, so kontrastierte sein Körper mit einem
Keller, der prähistorischen Verrichtungen diente. Der Kontrast war noch grotesker und stärker durch die
elektrischen Drähte, die Präzisionsinstrumente und die Knöpfe und Hebel der Schalttafel. Vielleicht – und dies
war der Gedanke, dem die Betrachter am hartnäckigsten widerstanden, der Gedanke, den sie nur als blinden Haß
und dumpfe Angst empfanden –, vielleicht war es das Fehlen solcher Statuen in der modernen Welt, das den
Generator in einen Polypen verwandelt und einen Körper wie diesen seinen Fangarmen preisgegeben hatte.
»Ich habe gehört, Sie seien Fachmann auf dem Gebiet der Elektrizität«, sagte Ferris grinsend. »Finden Sie
nicht, daß wir das auch sind?«
Zwei Geräusche antworteten ihm in der Stille: das Summen des Generators und Galts Herzschlag.
»Die gemischte Serie!« befahl Ferris dem Mechaniker und wedelte mit dem Zeigefinger. Die Stromstöße
kamen jetzt in unregelmäßigen Abständen, kurz hintereinander oder durch längere Pausen unterbrochen. Nur die
Konvulsionen von Galts Beinen, Armen, seines Oberkörpers oder seiner ganzen Gestalt zeigten an, ob der Strom
zwischen zwei bestimmten Elektroden oder durch alle zugleich zirkulierte. Die Nadeln der Skalen näherten sich
immer wieder den roten Markierungen, um dann automatisch zurückzufallen. Der Apparat war so konstruiert,
daß er dem Opfer das Höchstmaß an Schmerz verursachte, ohne seinen Körper zu schädigen.
Den drei Zuschauern begannen die nur von dem hämmernden Herzschlag erfüllten Pausen unerträglich zu
werden. Das Herz schlug jetzt in einem hetzenden, unregelmäßigen Rhythmus. Die Pausen waren so berechnet,
daß sie dem Herzschlag Zeit ließen, sich zu verlangsamen, jedoch dem Opfer, das jeden Augenblick einen neuen
Schock erwarten mußte, keine Erleichterung verschafften.
Galt lag entspannt da, als würde er nicht gegen den Schmerz ankämpfen, sondern sich ihm ergeben, als würde
er nicht versuchen, ihn zu ignorieren, sondern ihn zu ertragen. Wenn seine Lippen sich öffneten, um zu atmen,
und ein plötzlicher Stromstoß sie ihm wieder schloß, widerstand er dem Zittern seines Körpers nicht, sondern
ließ es erst abklingen, wenn der Strom ihn verließ. Nur die Haut seines Gesichtes war straff, und seine
Mundwinkel zuckten von Zeit zu Zeit. Wenn ein Stromstoß durch seine Brust jagte, flatterten die goldenen
Strähnen seines Haars mit dem Aufbäumen seines Kopfes wie unter einem Windstoß hoch und schlugen ihm ins
Gesicht, bedeckten seine Augen. Die Zuschauer wunderten sich, weshalb seine Haare dunkler zu werden
schienen, bis sie begriffen, daß sie naß waren von Schweiß.
Das Grauen, das eigene Herz schlagen zu hören, als ob es jeden Augenblick zerspringen könnte, sollte von
dem Opfer empfunden werden. Es waren die Peiniger, die es als erste empfanden, während sie dem jagenden,
zerbrochenen Rhythmus lauschten und jedesmal zu atmen vergaßen, wenn er aussetzte. Es klang jetzt, als ob das
Herz hüpfte und verzweifelt gegen das Gefängnis der Rippen stieße. Das Herz protestierte. Der Mann
protestierte nicht. Er lag still, mit geschlossenen Augen, entspannten Händen und lauschte seinem Herzen,
während es um sein Leben kämpfte.
Wesley Mouch brach als erster zusammen. »O Gott, Floyd!« schrie er. »Töte ihn nicht! Riskiere es nicht, ihn
zu töten! Wenn er stirbt, sind wir verloren! «
»Er wird nicht sterben«, höhnte Ferris. »Er möchte es gern, aber er wird nicht! Der Apparat läßt es nicht zu!
Er ist genau berechnet! Er ist sicher!«
»Mein Gott, ist es noch nicht genug? Er wird uns jetzt gehorchen! Ich bin sicher, daß er gehorchen wird!«
»Nein! Es ist nicht genug: Ich will nicht, daß er gehorcht! Ich will nicht, daß er schwach wird! Daß er
nachgibt! Daß er nachgeben will! Wir müssen ihn dazu bringen, daß er freiwillig für uns arbeitet!«
»Weiter!« schrie Taggart. »Worauf warten Sie! Können Sie den Strom nicht verstärken? Er hat noch nicht
einmal geschrien!«
»Was haben Sie?« stöhnte Mouch, als er, während Galts Körper von einem neuen Stromstoß geschüttelt
wurde, einen Blick in Taggarts Gesicht warf: Taggart starrte auf Galt mit Augen, die glasig und tot erschienen,
doch um diesen leblosen Blick hatten sich die Gesichtsmuskeln zu einem obszönen Grinsen verzerrt.
»Na, genug?« rief Ferris Galt wieder zu. »Sind Sie bereit zu wollen, was wir wollen?«
Sie hörten keine Antwort. Galt hob den Kopf von Zeit zu Zeit und sah sie an. Unter seinen Augen waren
dunkle Ringe, doch die Augen selbst waren klar und wach. In ihrer wachsenden Panik verloren die drei Männer
ihre Selbstbeherrschung, und ihre Stimmen schrien, kreischend und sich überschlagend, hemmungslos auf Galt
ein: »Wir wollen, daß Sie die Regierung übernehmen! – Wir wollen, daß Sie allein regieren!… Wir befehlen
Ihnen, zu befehlen!… fordern von ihnen, daß Sie uns vorschreiben, was wir tun sollen!… Wir befehlen Ihnen,
uns zu retten!… Wir befehlen Ihnen zu denken… für uns zu denken!…«
Sie hörten als Antwort nur das Schlagen des Herzens, von dem ihr Leben abhing.
Der Strom schoß durch Galts Brust, und die Herzschläge wurden immer unregelmäßiger und schneller, als
wären sie ins Stolpern gekommen. Und plötzlich fiel sein Körper zurück und entspannte sich. Das Schlagen hatte
aufgehört.
Die unvermittelte Stille war wie ein betäubender Schlag, und bevor sie Zeit fanden aufzuschreien, wurde ihr
Schreck von einem neuen übertrumpft: Galt öffnete die Augen und hob den Kopf.
Dann begriffen sie, daß das Summen des Generators ebenfalls aufgehört hatte und daß das rote Licht an der
Schalttafel erloschen war: Der Strom hatte ausgesetzt, der Generator war tot.
Der Mechaniker drückte immer wieder auf den Knopf, doch ohne Erfolg. Er warf den Hebel des Schalters
immer wieder herum. Er trat mit dem Fuß gegen den Apparat. Das rote Licht wollte nicht wieder aufleuchten.
Das Summen kehrte nicht zurück.
»Was ist los?« brüllte Ferris ihn an.
»Der Generator ist tot«, stammelte der Mechaniker hilflos.
»Was ist los damit?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dann finden Sie es raus und bringen Sie ihn in Ordnung!«
Der Mann war kein ausgebildeter Elektriker; er war nicht wegen seiner Fachkenntnisse ausgewählt worden,
sondern wegen seiner Fähigkeit, kritiklos auf jeden Knopf zu drücken. Die Anstrengung, die er benötigte, seine
Aufgabe zu erledigen, war von der Art, daß in seinem Bewußtsein kein Raum blieb für andere Gedanken. Er
öffnete die rückwärtige Wand des Apparates und glotzte bestürzt in das Gewirr von Drähten: Er konnte keinen
sichtbaren Schaden entdecken. Er zog seine Gummihandschuhe über, nahm eine Zange, zog wahllos einige
Schrauben an und kratzte sich am Kopf.
»Ich weiß nicht, woran es liegt«, sagte er. Seine Stimme hatte den Klang hilfloser Fügsamkeit. »Woher soll
ich das wissen?«
Die drei Männer waren aufgesprungen, drängten sich hinter den Apparat und starrten in sein widerspenstiges
Inneres. Sie handelten nur reflexhaft. Sie wußten, daß sie nichts verstanden von dem, was sie sahen.
»Aber Sie müssen den Apparat in Ordnung bringen!« schrie Ferris. »Er muß funktionieren! Wir brauchen
Strom!«
»Wir müssen weitermachen!« schrie Taggart. Er zitterte. »Es ist lächerlich! Ich dulde es nicht! Wir dürfen
nicht unterbrechen! Wir dürfen ihm keine Pause lassen!« Er deutete auf die Matratze.
»Tun Sie etwas!« bellte Ferris den Mechaniker an. »Bringen Sie den Apparat in Ordnung! Ich befehle Ihnen,
ihn in Ordnung zu bringen!«
»Aber ich weiß doch nicht, was nicht in Ordnung ist mit ihm«, erwiderte der Mann blinzelnd.
»Dann finden Sie es heraus!«
»Wie soll ich es herausfinden?«
»Ich befehle es Ihnen! Verstehen Sie mich! Machen Sie, daß der Apparat wieder funktioniert, oder ich
entlasse Sie und bringe Sie ins Gefängnis!«
»Aber ich weiß doch nicht, warum er nicht funktioniert«, stöhnte der Mann. »Ich weiß nicht, was ich tun
soll!«
»Der Oszillator ist nicht in Ordnung«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Sie fuhren herum. Galt kämpfte um
Atem, aber er sprach mit der harten, wissenden Stimme eines Ingenieurs. »Nehmen Sie ihn heraus und heben Sie
den Aluminiumdeckel ab. Sie werden zwei Kontakte sehen, die zusammengeschmolzen sind. Biegen Sie sie
auseinander, nehmen Sie eine kleine Feile und säubern Sie die verbrannten Enden. Schließen Sie dann den
Deckel wieder, schieben Sie den Oszillator in den Apparat zurück, und der Generator wird wieder arbeiten.«
Eine ganze Weile herrschte vollkommene Stille in dem Kellerraum.
Der Mechaniker starrte auf Galt. Er hielt Galts Blick stand – und selbst er war fähig, den Sinn des Funkeins in
den dunklen, grünen Augen zu erkennen: Es war das Funkeln verächtlichen Spotts.
Er trat einen Schritt zurück. In der Dumpfheit seines Bewußtseins begriff er plötzlich blitzartig die Bedeutung
dessen, was hier vorging.
Er sah Galt an, sah die drei Männer an, sah den Apparat an. Er erschauerte, ließ seine Zange fallen und rannte
aus dem Raum. Galt brach in Lachen aus.
Die drei Männer wichen langsam von dem Apparat zurück. Sie wehrten sich dagegen, zu verstehen, was der
Mechaniker verstanden hatte.
»Nein!« schrie Taggart plötzlich, sah Galt an und sprang wieder nach vorn. »Nein! Ich werde ihn nicht so
davonkommen lassen!« Er fiel auf die Knie nieder, griff in den Apparat, suchte verzweifelt nach dem
Aluminiumzylinder des Oszillators. »Ich werde ihn in Ordnung bringen! Ich werde ihn selbst bedienen! Wir
müssen weitermachen! Wir müssen ihn zerbrechen!«
»Beruhigen Sie sich, Jim«, sagte Ferris ärgerlich und riß ihn wieder auf die Füße.
»Sollen wir nicht… sollen wir nicht besser aufhören für heute abend?« sagte Mouch. Er sah mit einem Blick,
aus dem zugleich Angst und Neid sprachen, nach der Tür, durch die der Mechaniker entflohen war.
»Nein!« schrie Taggart.
»Jim, hat er nicht genug gehabt? Wir müssen vorsichtig sein… vergiß es nicht.«
»Nein! Er hat nicht genug gehabt! Er hat nicht einmal geschrien.«
»Jim!« stöhnte Mouch, plötzlich erschreckt durch einen Ausdruck in Taggarts Gesicht. »Wir dürfen ihn nicht
töten! Sie wissen es!«
»Ich frage nicht danach! Ich will ihn zerbrechen! Ich will ihn schreien hören! Ich will…«
Und dann schrie Taggart. Es war ein langer, durchdringender Schrei wie bei einem plötzlichen, grauenvollen
Anblick, obwohl seine Augen wie blind ins Leere starrten. Was er sah, war in ihm. Die schützenden Wände von
Gefühlen, Ausflüchten, Selbsttäuschungen, halben Gedanken und falschen Worten, die er in sich errichtet hatte,
waren im Bruchteil einer Sekunde zusammengestürzt… im gleichen Augenblick, da er erkannte, daß er Galt
sterben lassen wollte, obwohl er wußte, daß er ihm in den Tod folgen würde. Er sah plötzlich das Motiv, das alle
Handlungen seines Lebens bestimmt hatte. Es war nicht seine unmittelbare Seele oder seine Liebe zu anderen
oder sein soziales Pflichtbewußtsein oder irgendein anderes seiner falschen Gefühle gewesen, durch die er seine
Selbstachtung aufrechterhalten hatte: es war die Lust gewesen, zu zerstören, was lebte, um dessentwillen, was
nicht existierte. Es war der Zwang gewesen, der Wirklichkeit zu trotzen durch die Zerstörung aller lebendigen
Werte, um sich selbst zu beweisen, daß er der Wirklichkeit zum Trotz leben konnte und nie gebunden war an
harte, unverfälschbare Tatsachen. Vor einem Augenblick noch war er fähig gewesen, zu fühlen, daß er Galt über
alles haßte, daß dieser Haß ein Beweis für Galts Schuld war, die er nicht näher zu definieren brauchte, daß er
Galt vernichten wollte, um selbst überleben zu können. Jetzt wußte er, daß er Galts Vernichtung um den Preis
seiner eigenen Vernichtung wollte, wußte, daß er nie hatte überleben wollen, daß es Galts Größe gewesen war,
die er hatte demütigen und zerstören wollen. Er sah diese Größe als etwas, das er selbst anerkennen mußte, als
eine Größe nach einem Maßstab, der galt, ob man ihn anerkannte oder nicht: die Größe eines Menschen, der
Herr der Wirklichkeit war in einem Maße und auf eine Weise, wie niemand es bisher erreicht hatte. In dem
Augenblick, da er, James Taggart, sich vor die Alternative gestellt sah, die Wirklichkeit anzuerkennen oder zu
sterben, hatten seine dunklen Triebe den Tod gewählt, den Tod anstelle der Hingabe an jenes Reich, dessen
leuchtender Sohn Galt war. In der Person Galts – er wußte es jetzt – hatte er alle Existenz zu zerstören gesucht.
Diese Erkenntnis offenbarte sich seinem Bewußtsein nicht in klaren, in Worte faßbaren Begriffen; wie sein
Bewußtsein immer aus Gefühlen bestanden hatte, so wurde er auch jetzt beherrscht von einem Gefühl und einer
Vision, die zu bannen er nicht die Macht besaß. Er war nicht länger fähig, den Nebel zu beschwören, um den
Blick auf jene Sackgassen zu verhüllen, die zu sehen er sich immer gewehrt hatte: Jetzt sah er am Ende aller
dieser Sackgassen seinen Haß auf das Leben; er sah das Gesicht Cherryl Taggarts und ihre freudige
Lebensbejahung, und daß es diese Lebensbejahung gewesen war, die er in ihr zerstören wollte; er sah sein
eigenes Gesicht als das Gesicht eines Mörders, den alle Menschen mit Recht hassen mußten, der Werte zerstörte,
weil sie Werte waren, der tötete, um seinen eigenen Unwert nicht zu erkennen.
»Nein!« ächzte er im Banne dieser Vision, bewegte den Kopf hin und her, ihr zu entfliehen. »Nein! Nein!«
»Ja«, sagte Galt.
Er sah Galts Augen, die ihn anblickten, als sähe Galt, was er selbst sah. »Habe ich es Ihnen nicht gesagt im
Radio?« sagte Galt.
Dies war der Schlag, den James Taggart gefürchtet hatte, der Schlag, vor dem es kein Entrinnen gab: der
letzte Beweis der objektiven Wirklichkeit. »Nein…« hauchte er noch einmal schwach, doch es war nicht mehr
die Stimme eines seiner selbst mächtigen Bewußtseins.
Einen Augenblick stand er da, wie gelähmt ins Leere starrend, dann gaben seine Beine nach, knickten ein, und
er saß am Boden, starrte weiter vor sich hin, seiner selbst und seiner Umgebung nicht bewußt.
»Jim!« rief Mouch ihn an. Er gab keine Antwort.
Mouch und Ferris fragten sich nicht, was mit Taggart geschehen war: Sie spürten, daß sie nie versuchen
durften, es zu entdecken, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, sein Schicksal zu teilen. Sie wußten, wer in
dieser Nacht zerbrochen worden war. Sie wußten, daß dies das Ende von James Taggart war, gleich, ob sein
Körper überlebte oder nicht.
»Lassen Sie… lassen Sie uns Jim hier herausbringen«, sagte Ferris schlotternd, »zu einem Arzt… oder
sonstwohin…«
Sie stellten Taggart auf die Beine. Er leistete keinen Widerstand. Er gehorchte lethargisch und bewegte die
Beine wie ein Automat, als sie ihn wegführten. Er hatte jetzt den Zustand erreicht, zu dem er Galt hatte
erniedrigen wollen. Ihn bei den Armen haltend, schleppten seine beiden Freunde ihn aus dem Kellerraum.
Er bewahrte sie vor der Notwendigkeit, zugeben zu müssen, daß sie selbst den Augen Galts entkommen
wollten. Galt sah ihnen hinterher. Sein Blick war kalt und ohne Haß.
»Wir kommen wieder«, sagte Ferris zu dem Führer der Wachposten. »Bleibt hier und laßt niemand hinein.
Verstanden? Niemand.«
Sie hoben Taggart in ihren Wagen, der unter den Bäumen neben dem Eingang parkte. »Wir kommen wieder«,
sagte Ferris zu niemand, zu den Bäumen und dem dunklen Himmel.
Ihre einzige Gewißheit dieses Augenblickes war, daß sie aus diesem Keller entfliehen mußten… dem Keller,
in dem der lebendige Generator gefesselt neben dem toten lag.
X. Im Namen des Besten in uns
Dagny ging geradewegs auf den Wachposten zu, der an der Tür von »Projekt F« stand. Ihre Schritte klangen
gleichmäßig, offen und absichtsvoll in der Stille des Weges unter den Bäumen. Sie hob den Kopf in das Licht
eines Mondstrahls, um ihn ihr Gesicht erkennen zu lassen.
»Lassen Sie mich rein«, sagte sie.
»Eintritt verboten«, antwortete er roboterhaft. »Befehl von Dr. Ferris.«
»Ich komme im Auftrag von Mr. Thompson.«
»Wie? – Ich… davon weiß ich nichts.«
»Aber ich weiß es.«
»Ich meine, Dr. Ferris hat mir nichts davon gesagt.«
»Ich sage es Ihnen.«
»Aber ich soll von niemand Befehle annehmen, außer von Dr. Ferris.«
»Wollen Sie sich einem Befehl Mr. Thompsons widersetzen?«
»Nein, nein! Aber… aber wenn Dr. Ferris befohlen hat, niemand einzulassen, dann heißt das doch
niemand…« Er fügte unsicher und Hilfe heischend hinzu: »… nicht wahr?«
»Sie wissen doch, daß ich Dagny Taggart bin, und Sie haben mein Bild in den Zeitungen gesehen, zusammen
mit Mr. Thompson und den obersten Führern des Landes?«
»Jawohl.«
»Dann überlegen Sie, ob Sie sich den Befehlen dieser Männer widersetzen wollen.«
»Nein, nein, das will ich nicht.«
»Dann lassen Sie mich rein.«
»Aber ich muß auch Dr. Ferris gehorchen.«
»Dann entscheiden Sie sich.«
»Aber ich kann nichts entscheiden! Wer bin ich, daß ich Entscheidungen treffen könnte?«
»Sie werden es müssen.«
»Hören Sie«, sagte er hastig, »ich werde den Chef fragen. Er…«
»Nein«, sagte sie.
Der Ton ihrer Stimme ließ ihn herumfahren: Sie hielt eine Pistole auf sein Herz gerichtet.
»Hören Sie genau zu«, sagte sie. »Entweder lassen Sie mich rein oder ich erschieße Sie. Sie können
versuchen, zuerst zu schießen, wenn Sie wollen. Diese Wahl haben Sie… aber keine andere. Jetzt entscheiden
Sie sich.«
Sein Mund öffnete sich lautlos, und der Schlüssel fiel aus seiner Hand.
»Gehen Sie mir aus dem Weg«, sagte sie.
Er schüttelte heftig den Kopf, stemmte sich mit dem Rücken gegen die Tür. »O Gott!« wimmerte er ratlos.
»Ich kann doch nicht auf Sie schießen, wenn Sie von Mr. Thompson kommen! Und ich kann Sie nicht reinlassen
gegen den Befehl von Dr. Ferris! Was soll ich tun? Ich bin nur ein kleiner Mann! Ich führe nur Befehle aus! Ich
kann über nichts entscheiden!«
»Es geht um Ihr Leben«, sagte sie.
»Wenn Sie mich den Chef fragen lassen, wird er mir sagen…«
»Ich lasse Sie niemand fragen.«
»Aber wie soll ich dann wissen, ob Sie wirklich einen Befehl von Mr. Thompson haben?«
»Das ist gleichgültig. Vielleicht habe ich keinen. Vielleicht handele ich auf eigene Rechnung – und Sie
werden bestraft, weil Sie mir gehorcht haben. Vielleicht habe ich einen – und Sie werden eingesperrt werden,
weil Sie nicht gehorcht haben. Vielleicht sind Dr. Ferris und Mr. Thompson einverstanden. Vielleicht auch nicht
– und Sie müssen den Befehl des einen oder des anderen mißachten. Das sind Dinge, die Sie selbst entscheiden
müssen. Es ist niemand da, den Sie zu Hilfe rufen können, der Ihnen die Entscheidung abnehmen kann. Sie
müssen allein entscheiden, was Sie tun wollen.«
»Aber ich kann nicht entscheiden! Warum ich?«
»Weil es Ihr Körper ist, der mir den Weg versperrt.«
»Aber ich kann nicht entscheiden! Ich bin nicht dazu da zu entscheiden! Ich darf es nicht!«
»Ich zähle bis drei«, sagte sie. »Dann werde ich schießen.«
»Warten Sie! Warten Sie! Ich habe noch nicht ja oder nein gesagt!« jammerte er und preßte sich noch dichter
an die Tür, als wäre die Unbeweglichkeit von Verstand und Körper sein einziger Schutz. »Eins…«, zählte sie; sie
sah seine Augen sich mit Grauen füllen… »Zwei…«, sie sah, daß ihm weniger vor ihrer Pistole graute als vor
der Entscheidung, die sie ihm gelassen hatte… »Drei.«
Ruhig und unpersönlich drückte sie ab, sie, die gezögert haben würde, auf ein Tier zu schießen, und feuerte
auf das Herz eines Mannes, der hatte leben wollen ohne die Verantwortung seines Bewußtseins.
Ihre Pistole war mit einem Schalldämpfer versehen; es war kein Laut zu hören, der jemandes Aufmerksamkeit
erregen konnte, nur der dumpfe Aufschlag eines Körpers, der ihr vor die Füße fiel.
Sie las den Schlüssel vom Boden auf und wartete einige Sekunden, wie es verabredet worden war.
Francisco tauchte hinter einer Ecke des Gebäudes auf. Er war der erste, der sich zu ihr gesellte; ihm folgten
Hank Rearden und dann Ragnar Danneskjöld. Vier Posten waren unter den Bäumen in Abständen um das
Gebäude herum aufgestellt worden. Sie waren jetzt unschädlich gemacht: Einer war tot, die drei anderen lagen
gefesselt und geknebelt im Gebüsch.
Wortlos übergab sie Francisco den Schlüssel. Er schloß die Tür auf und ging hinein, allein, die Tür einen
schmalen Spalt weit offen lassend. Die drei anderen blieben draußen, beobachteten ihn durch den Spalt.
Die Vorhalle war durch eine nackte Glühbirne erleuchtet, die von der Decke herabhing. Am Fuß der Treppe,
die zum oberen Stockwerk führte, stand ein Wachposten.
»Wer sind Sie?« rief er, als er Francisco eintreten sah wie jemand, der hier zu Hause war. »Niemand sollte
hier hereinkommen heute nacht!«
»Ich bin hereingekommen«, sagte Francisco.
»Warum hat Rusty Sie hereingelassen?«
»Er wird seine Gründe dafür gehabt haben.«
»Er sollte es aber nicht tun.«
»Jemand hat ihn eines Besseren belehrt.« Franciscos Augen umfaßten mit einem schnellen Blick den Raum.
Ein zweiter Wachposten stand auf dem Absatz in halber Höhe der Treppe, sah zu ihnen hinunter und hörte zu.
»Was sind Sie?«
»Kupferbergwerksbesitzer.«
»Was? – Ich meine, wer Sie sind?«
»Mein Name ist zu lang, um ihn jetzt zu nennen. Ich werde ihn Ihrem Chef sagen. Wo ist er?«
»Ich bin es, der hier Fragen zu stellen hat!« Doch er wich einen Schritt zurück. »Tun Sie nicht so, als… als
wären Sie ein großes Tier, oder…«
»Pete, er ist ein großes Tier!« rief der zweite Wachposten, beeindruckt durch Franciscos Auftreten. Der erste
Posten versuchte gegen diesen Eindruck anzukämpfen; seine Stimme wurde lauter, je mehr seine Angst wuchs.
Er brüllte Francisco an: »Was wollen Sie hier?«
»Ich habe Ihnen bereits erklärt, das werde ich Ihrem Chef sagen. Wo ist er?«
»Und ich habe Ihnen erklärt, daß ich hier die Fragen stelle!«
»Ich werde Ihnen nicht antworten.«
»So? Wirklich nicht?« zischte Pete, der nur einen Ausweg kannte, wenn er im Zweifel war: Seine Hand flog
an die Pistole an seiner Hüfte. Franciscos Hand war zu schnell, als daß die beiden Männer ihre Bewegung hätten
sehen können, und seine Pistole war zu leis e. Was sie als nächstes sahen und hörten, war, daß die Pistole aus
Petes Hand flog und Blut von seinen zerschmetterten Fingern tropfte, und daß er einen Schmerzensschrei
ausstieß. Er brach stöhnend zusammen. Im gleichen Augenblick, als der zweite Wachposten begriff, was
geschehen war, sah er Franciscos Pistole auf sich gerichtet.
»Nicht schießen, bitte!« rief er.
»Kommen Sie herunter mit erhobenen Händen«, befahl ihm Francisco, mit der auf ihn gerichteten Pistole in
der einen Hand, während die andere auf den Türspalt deutete.
Bis der Mann die Treppe heruntergekommen war, war Rearden zur Stelle, um ihn zu entwaffnen und ihn an
Händen und Füßen zu fesseln.
Der Anblick Dagnys schien ihn mehr zu entsetzen als alles andere; er konnte es nicht begreifen: Die drei
Männer trugen Mützen und Windjacken und konnten, nach ihrem Benehmen zu urteilen, für Gangster gehalten
werden; die Anwesenheit einer Dame aber war unerklärlich.
»Nun«, sagte Francisco, »wo ist Ihr Chef?«
Der Mann deutete mit einer Kopfbewegung zur Treppe. »Oben.«
»Wieviel Männer befinden sich hier im Gebäude?«
»Neun.«
»Wo sind sie?«
»Einer ist auf der Kellertreppe. Die anderen sind alle oben.«
»Wo?«
»In dem großen Laboratorium. In dem mit dem Fenster.«
»Alle?«
»Ja.«
»Was sind das für Räume?« Er zeigte auf die Türen in der Halle.
»Das sind auch Laboratorien. Sie sind nachts verschlossen.«
»Wer hat die Schlüssel?«
»Er.« Er deutete mit dem Kopf auf Pete.
Rearden und Danneskjöld nahmen die Schlüssel aus Petes Tasche, um lautlos die Räume zu durchsuchen,
während Francisco fortfuhr: »Ist noch jemand anderes im Gebäude?«
»Nein.«
»Ist kein Gefangener hier?«
»Hm… Ja, ich glaube. Es muß einer hier sein, sonst müßten wir nicht alle Wache halten.«
»Ist er noch hier?«
»Das… das weiß ich nicht. Sie sagen uns nie etwas.«
»Ist Dr. Ferris hier?«
»Nein. Er ist vor einer Viertelstunde gegangen.«
»Mündet die Tür des Laboratoriums oben direkt auf den Treppenabsatz?«
»Ja.«
»Wieviel Türen sind es im ganzen?«
»Drei. Es ist die mittlere.«
»Was ist in den anderen Räumen?«
»Der eine ist ein Laboratorium, der andere ist Dr. Ferris’ Büro.«
»Haben die drei Räume Verbindungstüren?«
»Ja.«
Francisco wollte sich seinen Begleitern zuwenden, als der Wachposten sagte: »Darf ich Sie etwas fragen?«
»Bitte.«
»Wer sind Sie?«
Francisco antwortete im Ton einer feierlichen Vorstellung in einem Salon: »Francisco Domingo Carlos
Andres Sebastián d’Anconia.«
Dann ließ er den Mann mit offenem Mund stehen, um sich flüsternd mit seinen Begleitern zu unterhalten.
Kurz darauf ging Rearden die Treppe hinauf, er ging allein.
Käfige mit Ratten und Meerschweinchen waren an den Wänden des Laboratoriums aufeinandergestapelt; die
Wachmänner hatten sie dort hingestellt, um auf dem langen Tisch in der Mitte des Raumes Poker spielen zu
können. Sechs von ihnen saßen an diesem Tisch und spielten; zwei standen in den rückwärtigen Ecken des
Raumes und bewachten, Pistolen in den Händen, die Eingangstür. Es war Reardens Gesicht, das ihn davor
rettete, erschossen zu werden, als er eintrat: Sein Gesicht war ihnen zu bekannt und zu unerwartet an diesem Ort.
Er sah acht Augenpaare ihn anstarren, ihn erkennen und gleichzeitig nicht glauben, was sie erkannten.
Er stand an der Tür, die Hände in den Hosentaschen, in der ungezwungenen, selbstsicheren Haltung eines
Geschäftsmannes.
»Wer hat hier das Kommando?« fragte er in dem höflichen, aber knappen Ton eines Mannes, der keine Zeit
verschwendet.
»Sind Sie… sind Sie nicht…« stammelte ein hagerer, finster aussehender Mann am Kartentisch.
»Ich bin Hank Rearden. Sind Sie der Chef?«
»Ja! Aber in Dreiteufelsnamen, wo kommen Sie her?«
»Aus New York.«
»Was wollen Sie hier?«
»Dann… muß ich annehmen, sind Sie nicht unterrichtet worden.«
»Sollte ich… ich meine, über was?« In seiner Stimme klangen deutlich Ärger und Argwohn mit, daß seine
Vorgesetzten seine Autorität mißachtet hatten. Er war ein großer, ausgemergelter Mann mit den fahrigen
Bewegungen und den unruhigen Augen eines Rauschgiftsüchtigen.
»Über meinen Auftrag hier.«
»Sie… Sie können keinen Auftrag hier haben«, sagte er, unsicher, ob Rearden nur bluffte, oder ob er bei einer
wichtigen Entscheidung an höchster Stelle übergangen worden war. »Sind Sie nicht ein Verräter und ein
Deserteur und ein…«
»Ich sehe, daß Sie noch hinter dem Mond leben, guter Mann.«
Die sieben anderen Männer starrten Rearden an in abergläubischer Furcht. Die beiden in den Ecken des
Raumes hielten ihre Pistolen auf ihn gerichtet wie Automaten. Er schien keine Notiz von ihnen zu nehmen.
»Was soll das für ein Auftrag sein, den Sie hier haben wollen?« fragte der Chef.
»Ich bin hier, um den Gefangenen zu übernehmen, den Sie mir übergeben sollen.«
»Wenn Sie vom Hauptquartier kä men, dann wüßten Sie, daß ich nichts von einem Gefangenen wissen soll –
und daß niemand ihn anrühren darf!«
»Außer mir.«
Der Chef sprang auf, stürzte zum Telefon und griff nach dem Hörer. Er hatte ihn noch nicht ganz bis zu
seinem Ohr gehoben, als er ihn plötzlich mit einer Geste fallen ließ, die sofort eine Stimmung von Panik in dem
Raum verbreitete: Er hatte Zeit gehabt, zu hören, daß die Leitung tot war, und zu erkennen, daß die Drähte
durchgeschnitten waren.
Der anklagende Blick, mit dem er zu Rearden herumfuhr, zerbrach an dem verächtlich tadelnden Klang in
Reardens Stimme: »Das nenne ich ein Gebäude schlecht bewachen, wenn so etwas passieren kann. Überlassen
Sie lieber mir den Gefangenen, bevor ihm etwas zustößt… wenn Sie nicht wollen, daß ich Sie melde wegen
Nachlässigkeit im Dienst und wegen Gehorsamsverweigerung.«
Der Chef ließ sich schwer auf seinen Stuhl zurückfallen, warf die Arme über den Tisch und sah Rearden von
unten an mit einem Blick, der sein Gesicht dem der Tiere ähnlich machte, die sich in ihren Käfigen zu rühren
begannen.
»Wer ist der Gefangene?« fragte er.
»Mein lieber Mann«, sagte Rearden, »wenn Ihre unmittelbaren Vorgesetzten es nicht für nötig hielten, es
Ihnen zu sagen… ich werde es bestimmt nicht tun.«
»Sie hielten es auch nicht für nötig, mir zu sagen, daß Sie hierher kommen würden!« schrie der Chef mit einer
Stimme, die seine hilflose Wut verriet und sein Gefühl der Ohnmacht auf seine Männer übertrug. »Wie soll ich
wissen, ob Sie die Wahrheit sagen? Wer kann es mir sagen, jetzt, wo das Telefon unterbrochen ist? Wie soll ich
erfahren, was ich tun soll?«
»Das ist Ihr Problem, nicht meines.«
»Ich glaube Ihnen nicht!« Seine Stimme war zu schrill, um drohend zu wirken. »Ich glaube nicht, daß die
Regierung Sie mit einem Auftrag hierher schickt – Sie, einen jener verschwundenen Verräter, einen Freund John
Galts, der…«
»Aber haben Sie es denn nicht gehört?«
»Was?«
»John Galt hat sich mit der Regierung geeinigt und uns alle zurückgeholt.«
»Oh, Go tt sei gedankt!« rief einer der Männer aus, der jüngste.
»Halt den Mund! Du hast keine politische Meinung zu haben!« brüllte ihn der Chef an und wandte sich
wieder zu Rearden: »Warum ist es nicht im Radio bekanntgegeben worden?«
»Maßen Sie sich an, eine Meinung darüber zu haben, wann und wie die Regierung ihre Politik bekanntgeben
soll?«
In dem längeren Schweigen, das folgte, konnten sie das Kratzen der Tiere an den Stangen ihrer Käfige hören.
»Ich glaube, ich muß Sie daran erinnern«, sagte Rearden, »daß es nicht Ihre Aufgabe ist, Befehle
anzuzweifeln, sondern ihnen zu gehorchen, daß Sie die Politik Ihrer Vorgesetzten weder zu kennen noch zu
verstehen haben, daß Sie nicht zu urteilen, zu wählen oder zu zweifeln haben.«
»Aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen zu gehorchen habe.«
»Wenn Sie sich weigern, werden Sie die Konsequenzen zu tragen haben.« Über den Tisch gelehnt, ließ der
Chef seinen Blick langsam abschätzend von Reardens Gesicht zu den beiden Posten in den Ecken gehen. Die
sicherten ihr Ziel mit einer kaum merklichen Bewegung. Ein nervöses Rascheln ging durch den Raum. Ein Tier
in einem der Käfige stieß einen schrillen Schrei aus.
»Ich glaube, ich muß Ihnen auch sagen«, fuhr Rearden mit erhobener Stimme fort, »daß ich nicht allein bin.
Draußen warten meine Freunde.«
»Wo?«
»Überall.«
»Wie viele?«
»Das werden Sie sehen… so oder so.«
»Hören Sie, Chef«, ertönte eine heisere Stimme aus der Gruppe der Männer, »wir möchten uns nicht anlegen
mit diesen Leuten, sie sind…«
»Halt’s Maul!« brüllte der Chef, sprang auf und zog seine Pistole. »Habt ihr Feiglinge Angst vor diesen
Schweinen?« Er schrie, um seine eigene Angst zu übertönen. Er war am Rand der Panik, wehrte sich gegen die
Erkenntnis, daß irgend etwas seine Männer entwaffnet hatte. »Ihr braucht keine Angst zu haben!« Er schrie es
sich selbst zu, um die bedrohte Sicherheit seiner Welt wiederzuerlangen, der Welt der Gewalt. »Vor nichts und
vor niemand! Ich werde es euch beweisen!« Er wirbelte herum und schoß mit zitternder Hand auf Rearden.
Einige der Männer sahen Rearden schwanken, sahen seine rechte Hand nach seiner linken Schulter greifen.
Andere sahen im gleichen Augenblick die Pistole aus der Hand ihres Chefs und auf den Boden fallen, hörten ihn
aufschreien und sahen das Blut aus seinem Handgelenk quellen. Dann sahen sie alle Francisco in der offenen Tür
der linken Seitenwand stehen, seine Pistole mit Schalldämpfer auf den Chef gerichtet.
Sie sprangen alle auf, ihre Hände flogen an die Pistolen in ihren Halftern; doch sie wagten nicht, sie
herauszuziehen.
»Ich würde nicht schießen, wenn ich Sie wäre«, sagte Francisco gelassen.
»O mein Gott!« stöhnte einer der Männer, mit irren Augen in seinem Gedächtnis nach einem Namen suchend,
der ihm nicht einfallen wollte. »Das ist… das ist doch der Kerl, der alle Kupferhütten der Welt in die Luft gejagt
hat!«
»Er ist es«, sagte Rearden.
Sie waren vor Francisco zurückgewichen und wandten sich nun um, um zu sehen, daß Rearden immer noch
an der Eingangstür stand, eine Pistole in der rechten Hand, einen dunklen Fleck an der linken Schulter, der sich
schnell ausbreitete.
»Schießt, ihr Hundesöhne!« schrie der Chef seinen zögernden Männern zu. »Worauf wartet ihr? Schießt sie
nieder!« Er stützte sich mit der einen Hand auf den Tisch, von der anderen tropfte Blut auf den Boden. »Ich
werde jeden von euch melden, der nicht schießt! Ich werde ihn zum Tod verurteilen lassen!«
»Lassen Sie Ihre Pistolen fallen«, sagte Rearden.
Die sieben Männer standen wie erstarrt, gehorchten keinem der beiden Befehle.
»Laßt mich hier raus!« schrie der Jüngste und stürzte zu der rechten Seitentür. Er riß die Tür auf und sprang
zurück. Auf der Schwelle stand Dagny Taggart, eine Pistole in der Hand.
Die Männer zogen sich langsam in die Mitte des Raumes zurück, einen unsichtbaren Kampf im Nebel ihrer
Hirne kä mpfend, entwaffnet durch ein Gefühl der Unwirklichkeit angesichts der legendären Gestalten, die sie nie
zu sehen erwartet hatten; ihnen war zumute, als hätte man ihnen befohlen, auf Gespenster zu schießen.
»Werfen Sie Ihre Pistolen weg«, sagte Rearden. »Sie wissen nicht, warum Sie hier sind. Wir wissen es. Sie
wissen nicht, wer Ihr Gefangener ist. Wir wissen es. Sie wissen nicht, warum Ihre Führer wollen, daß Sie ihn
bewachen. Wir wissen, warum wir ihn hier herausholen wollen. Sie kennen nicht den Zweck Ihres Kampfes. Wir
kennen den Sinn des unseren. Wenn Sie sterben, wissen Sie nicht, wofür Sie sterben. Wir wüßten es.«
»Hört nicht auf ihn!« keuchte der Chef. »Schießt! Ich befehle euch, zu schießen!«
Einer der Männer sah den Chef an, ließ seine Pistole fallen, hob die Arme, zog sich von der Gruppe zurück.
»Verdammter Hund!« schrie der Chef, entriß einem seiner Männer mit der linken Hand die Pistole und schoß
auf den Deserteur.
Gleichzeitig mit dem Fall des getroffenen Körpers zersplitterte das Fenster in einem Schauer von Glas – und
von dem Ast eines Baumes flog, wie von einem Katapult geschleudert, die große, schlanke Gestalt eines Mannes
in den Raum, landete auf den Füßen und feuerte auf den nächststehenden Wachposten.
»Wer sind Sie?« stieß eine angstverzerrte Stimme hervor.
»Ragnar Danneskjöld.«
Drei Geräusche antworteten ihm: ein langer, anschwellender Entsetzensschrei, das Poltern von vier Pistolen,
die zu Boden fielen, und das Bellen der fünften, von einem der Männer abgefeuert auf die Stirn des Chefs.
Bevor vier der Überlebenden der Wache Zeit fanden, die Bruchstücke ihres Bewußtseins zusammenzufügen,
lagen sie gefesselt und geknebelt am Boden, der fünfte stand, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden,
vor Francisco.
»Wo ist der Gefangene?« fragte ihn Francisco.
»Im Keller… glaube ich.«
»Wer hat den Schlüssel?«
»Dr. Ferris.«
»Wo ist die Treppe zum Keller?«
»Hinter einer Tür im Büro von Dr. Ferris.«
»Führen Sie uns dorthin.«
Francisco wandte sich an Rearden. »Wie fühlst du dich, Hank?«
»Ausgezeichnet.«
»Willst du nicht lieber etwas ausruhen?«
»Zum Teufel, nein!«
Durch die Tür in Dr. Ferris’ Büro gingen sie eine steile Steintreppe hinunter, an deren Fuß ein Wachposten
stand.
»Kommen Sie herauf mit erhobenen Händen!« befahl ihm Francisco. Der Mann sah einen entschlossenen
Fremden und das glänzende Metall einer Pistole; das genügte. Er gehorchte sofort; er schien erleichtert, die
feuchte Felsengruft verlassen zu können. Sie ließen ihn gefesselt am Boden des Büros zurück, zusammen mit
dem Mann, der sie geführt hatte.
Jetzt eilten die vier Befreier die Treppe hinunter zu der verschlossenen Eisentür. Sie hatten gehandelt und sich
bewegt mit der Präzision beherrschter Disziplin. Jetzt schienen ihre inneren Zügel gerissen zu sein.
Danneskjöld hatte das Werkzeug, die Tür aufzubrechen. Francisco war der erste, der den Keller betrat, und
sein Arm versperrte Dagny für den Bruchteil einer Sekunde den Weg – für die Dauer eines Blickes, der ihm die
Gewißheit gab, daß der Anblick zu ertragen war – dann ließ er sie an sich vorbeistürzen: Durch das Gewirr von
elektrischen Drähten hatte er Galts erhobenen Kopf erblickt und sein grüßendes Lächeln.
Sie fiel neben der Matratze auf die Knie. Galt sah zu ihr auf mit dem gleichen Blick, mit dem er an ihrem
ersten Morgen im Tal auf sie heruntergeschaut hatte. Sein Lächeln war wie der Klang eines Lachens, das nie
durch Schmerz getrübt worden war. Seine Stimme war leise und sanft: »Wir hätten nichts davon ernst zu
nehmen brauchen, nicht?« Tränen liefen über ihr Gesicht, doch ihr Lachen verkündete volle, strahlende
Gewißheit, und sie antwortete: »Nein, nie.«
Rearden und Danneskjöld durchschnitten seine Fesseln. Francisco hielt eine Taschenflasche Cognac an Galts
Lippen. Galt trank und stützte sich auf einen Ellbogen, als seine Arme frei waren.
»Gebt mir eine Zigarette«, sagte er.
Francisco zog ein Päckchen Zigaretten mit dem Dollarzeichen aus der Tasche. Galts Hand zitterte ein wenig,
als er die Zigarette in die Flamme des Feuerzeugs hielt, doch Franciscos Hand zitterte viel stärker.
Über die Flamme hinweg sah Galt ihm in die Augen, lächelte und sagte im Ton einer Antwort auf die Fragen,
die Francisco nicht zu stellen wagte: »Ja, es war ziemlich übel, aber erträglich – und ich glaube, der Strom, den
sie benutzten, hinterläßt keine Schäden.«
»Ich werde sie eines Tages finden, wer immer sie waren…« sagte Francisco; der Ton seiner Stimme, kalt, tot
und kaum hörbar, sagte den Rest.
»Wenn du sie findest, wirst du feststellen, daß nichts von ihnen zum Töten übriggeblieben ist.«
Galt betrachtete die Gesichter über ihm; er sah das Ausmaß ihrer Erleichterung in ihren Augen und die
Heftigkeit ihrer Wut in der Härte ihrer Züge; er wußte, mit welcher Intensität sie jetzt seine Qualen nacherlebten.
»Es ist vorbei«, sagte er. »Macht es für euch nicht schlimmer, als es für mich war.«
Francisco wandte das Gesicht ab. »Es ist nur, weil du es warst…« sagte er leise, »du… Jeder andere hätte es
sein dürfen…«
»Aber ich mußte es sein, wenn sie ihr Letztes versuchen sollten, und sie haben es versucht, und« – er hob die
Hand, deutete mit einer schweifenden Armbewegung auf den Raum und damit zugleich auf die Welt derer, die
ihn geschaffen hatten und in die Wüsteneien der Vergangenheit – »das war’s.«
Francisco nickte mit abgewandtem Gesicht; der heftige Druck seiner Finger, die Galts Handgelenk
umklammert hielten, war seine Antwort.
Galt setzte sich auf, um langsam wieder die Herrschaft über seine Muskeln zu gewinnen. Er blickte in Dagnys
Gesicht, als sie den Arm ausstreckte, um ihm zu helfen; er sah den Kampf ihres Lächelns gegen ihre
zurückgehaltenen Tränen; es war der Kampf ihres Wissens, daß jetzt alles unwichtig war neben dem Anblick
seines nackten Körpers und der Gewißheit, daß er lebte – gegen ihr Wissen um das, was er erlitten hatte. Ihren
Blick festhaltend, hob er die Hand und berührte den Kragen ihres weißen Pullovers mit den Fingerspitzen, in
Erinnerung und Vorahnung dessen, was jetzt allein wert war, gedacht zu werden. Das schwache Beben ihrer
Lippen, das sich zu einem Lächeln entspannte, sagte ihm, daß sie verstanden hatte.
Danneskjöld fand Galts Hemd, Hosen und seine übrige Kleidung, die man in einer Ecke des Zimmers auf den
Boden geworfen hatte.
»Denkst du, daß du gehen kannst, John?« fragte er.
»Sicher.«
Während Francisco und Rearden Galt halfen, sich anzukleiden, zerstörte Danneskjöld systematisch, ohne
sichtbare Erregung, den Folterapparat.
Galt war noch nicht ganz sicher auf den Beinen, doch er konnte, auf Franciscos Schulter gestützt, stehen. Die
ersten Schritte waren beschwerlich, doch als sie vor das Haus traten, war er wieder Herr seiner Gehbewegungen.
Mit einem Arm umfaßte er Franciscos Schultern, um sich zu stützen, mit dem anderen umschlang er Dagny, um
sie zu halten.
Sie sprachen nicht, als sie den Hügel hinuntergingen im Schutz der dunklen Bäume, die sich hinter ihnen
schlossen und den toten Glanz des Mondes und der erleuchteten Fenster des State Science Institute hinter ihnen
verhüllten.
Franciscos Flugzeug stand jenseits des nächsten Hügels am Rande einer Wiese, gedeckt durch Gebüsch.
Meilenweit war in der Umgebung keine menschliche Behausung zu erkennen. Es waren keine Augen in der
Nähe, die Scheinwerferstrahlen der Maschine zu sehen, die plötzlich über dem verlassenen Weidegrund
aufflammten, und keine Ohren, das Aufheulen des Motors zu hören, den Danneskjöld startete.
Als die Tür hinter ihnen zuschlug und die Maschine zu rollen begann, lächelte Francisco zum ersten Mal.
»Dies ist meine einzige Chance, dir Befehle zu erteilen«, sagte er, während er Galt half, sich auf einem nach
hinten heruntergeklappten Sitz auszustrecken. »Bleib still liegen und ruh dich aus – und du auch«, fügte er zu
Dagny gewandt hinzu und zeigte auf den Sitz neben Galt. Die Räder drehten sich schneller, rasten in zitternden
Sprüngen über die Unebenheiten des Geländes hinweg. Als die Bewegung der Maschine zu einem langen, steten
Aufwärtsgleiten wurde, als sie die dunklen Schatten der Bäume hinter den Fenstern versinken sahen, lehnte sich
Galt wortlos zur Seite und preßte seine Lippen auf Dagnys Hand: Er verließ die äußere Welt mit dem einzigen
Wert, den er von ihr hatte gewinnen wollen.
Francisco hatte einen Verbandkasten bereitgestellt und schnitt Reardens Hemd mit einer Schere auf, um seine
Wunde zu verbinden. Galt sah den schmalen roten Streifen, der von seiner Schulter über die Brust rann.
»Ich danke dir, Hank«, sagte er.
Rearden lächelte. »Ich werde wiederholen, was du zu mir gesagt hast, als ich dir bei unserem ersten
Zusammentreffen dankte: Wenn du begreifst, daß ich um meiner selbst willen handelte, weißt du, daß
Dankbarkeit nicht erforderlich ist.«
»Ich werde wiederholen«, sagte Galt, »was du mir darauf geantwortet hast: ‘Dies ist der Grund, weshalb ich
dir danke.’«
Dagny bemerkte, daß sie sich ansahen, als wäre ihr Blick ein Handschlag und die Bekräftigung eines Bundes,
der keiner Worte bedurfte, verkündet zu werden. Rearden sah, daß Dagny sie beobachtete, und das kaum
wahrnehmbare Senken seiner Lider war wie ein zunickendes Lächeln, als ob seine Augen die Botschaft
wiederholten, die er ihr aus dem Tal geschickt hatte.
Sie hörten plötzlich Danneskjölds Stimme, die fröhlich ins Leere zu plaudern schien. Dann merkten sie, daß er
über den Bordfunk sprach: »Ja, heil und gesund, alle. – Ja, er ist unverletzt, nur ein bißchen durchgeschüttelt und
müde. – Nein, keine dauernden Schäden. – Ja, wir sind alle hier. Hank Rearden hat eine Fleischwunde, doch« –
er warf einen Blick über die Schulter – »er grinst mir gerade zu. – Verluste? – Ich glaube, wir hatten ein wenig
die Beherrschung verloren für einige Minuten… dort unten… aber es geht uns schon wieder besser. Versucht
nicht, vor mir in Galt’s Gulch zu sein. Ich werde als erster landen und Kay im Restaurant helfen, das Frühstück
für euch fertig zu machen.«
»Können andere ihn nicht hören?« fragte Dagny.
»Nein«, sagte Francisco. »Er benutzt eine Frequenz, die sie nicht kennen.«
»Mit wem spricht er?« fragte Galt. »Mit ungefähr der Hälfte der männlichen Bevölkerung des Tals«, sagte
Francisco, »mit allen, die wir in unseren Flugzeugen unterbringen konnten. Sie fliegen jetzt hinter uns her. Hast
du geglaubt, einer von ihnen hätte zu Hause bleiben und dich in den Händen der Plünderer lassen wollen? Wir
waren darauf vorbereitet, dich durch einen offenen, bewaffneten Angriff auf das Institut oder auf das Wayne-
Falkland zu holen, wenn es nötig gewesen wäre. Doch wir wußten, daß in diesem Falle die Gefahr bestanden
hätte, daß sie dich töteten, wenn sie gesehen hätten, daß sie geschlagen waren. Deshalb hatten wir beschlossen,
daß wir vier es zuerst einmal allein versuchen sollten. Wenn unser Plan mißlungen wäre, wären die anderen zum
offenen Angriff übergegangen. Sie warteten, eine halbe Meile vom Institut entfernt. Wir hatten Posten unter den
Bäumen auf dem Hügel aufgestellt, die uns herauskommen sahen und die anderen verständigten. Ellis Wyatt war
der Anführer. Nebenbei, er fliegt deine Maschine. Der Grund, weshalb wir nicht so schnell nach New Hampshire
kommen konnten wie Dr. Ferris, lag darin, daß wir unsere Maschinen von weit entfernten, geheimen
Landeplätzen holen mußten, während er die offenen Flughäfen benutzen konnte. Was er, nebenbei, nicht mehr
lange wird tun können.«
»Nein«, sagte Galt, »nicht mehr lange.«
»Das war unser einziges Hindernis. Alles andere war leicht. Wir vier genügten, ihre ganze Wachmannschaft
zu überwältigen.«
»In einem der kommenden Jahrhunderte«, sagte Danneskjöld zu ihnen umgewandt, »werden alle Tyrannen,
öffentliche und private, die glauben, daß sie diejenigen, die ihnen geistig überlegen sind, durch Gewalt
beherrschen können, gelernt haben, was geschieht, wenn brutale Kraft auf Kraft, gepaart mit Verstand, stößt.«
»Sie haben es schon gelernt«, sagte Galt. »Hast du es ihnen nicht beigebracht in den letzten zwölf Jahren?«
»Ich? Ja. Aber dieser Kursus ist zu Ende. Dies war die letzte Gewalttat, die ich begangen habe. Er war meine
Belohnung für die zwölf Jahre. Meine Männer haben angefangen, ihre Heime im Tal zu bauen. Mein Schiff ist
verborgen, wo niemand es finden wird, bis ich es für einen zivilen Zweck verkaufen kann. Es wird zu einem
Transatlantik-Passagierschiff umgebaut – einem erstklassigen, wenn auch von bescheidener Größe. Was mich
betrifft, ich werde beginnen, eine ganze andere Art von Unterricht zu erteilen. Ich glaube, ich werde mich
daranmachen müssen, meine Kenntnis der Werke des ersten Lehrers unserer Lehrer etwas aufzufrischen.«
Rearden lächelte. »Ich möchte bei Ihrer ersten Vorlesung über Philosophie in einem Universitätshörsaal dabei
sein«, sagte er. »Ich möchte sehen, wie Ihre Studenten es fertig bringen, ihre Gedanken auf das Thema zu
konzentrieren, und wie Sie ihre nicht zur Sache gehörenden Fragen beantworten, die sie nicht ganz zu Unrecht
werden stellen wollen.«
»Ich werde ihnen sagen, daß sie die Antworten im Thema finden.« Es waren nicht viele Lichter auf der Erde
unter ihnen zu sehen. Die Landschaft war ein leeres schwarzes Blatt, betupft mit wenigen glitzernden Funken in
den Fenstern von Regierungsgebäuden und dem flackernden Schein von Kerzen in den Fenstern bevorzugter
Privathäuser. Der größte Teil der Landbevölkerung war längst zu dem Leben jenes Zeitalters zurückgekehrt, in
dem künstliches Licht nur ein unerhörter Luxus war und in dem der Sonnenuntergang aller menschlichen
Tätigkeit ein Ende setzte. Die Städte glichen verstreuten Tümpeln, die von einer zurückweichenden Flut
zurückgelassen, von letzten kostbaren Tropfen an Elektrizität zehrten, jedoch zum Austrocknen verurteilt waren
in einer Wüste der Rationierungen, Quoten und Strom-Sparvorschriften.
Doch als der Ort, der einst die Quelle dieser Flut gewesen war – New York – in der Ferne vor ihnen
auftauchte, sahen sie, daß die Stadt, der Urfinsternis trotzend, immer noch erleuchtet in den Himmel ragte, als ob
sie in letzter Anstrengung und verzweifeltem Hilferuf ihre Arme zu dem Flugzeug emporstreckte, das über sie
hinwegflog. Unwillkürlich setzten sie sich achtungsvoll aufrecht, wie am Sterbebett einstiger Größe.
Sie blickten hinunter und sahen die letzten Konvulsionen des Todeskampfes; die Lichter von Wagen schossen
durch die Straßen wie in einem Labyrinth gefangene Tiere, die einen Ausgang suchten; die Brücken waren
verstopft mit Fahrzeugen, die Zufahrten zu den Brücken glichen glitzernden Flaschenhälsen, in denen sich aller
Verkehr staute, und die verzweifelten Schreie von Sirenen stiegen hinauf bis zu dem Flugzeug. Die Nachricht
von der zerstörten Arterie des Kontinents hatte jetzt die Stadt überschwemmt, die Menschen ließen alles im Stich
und suchten in panischer Flucht einen Ausweg aus der verlorenen Stadt, die in sich selbst erstickte.
Die Maschine überflog eben die Gipfel der Wolkenkratzer, als plötzlich, wie von einem jäh sich öffnenden
Abgrund verschlungen, die Stadt von der Erdoberfläche verschwand. Sie brauchten Sekunden, um zu begreifen,
daß die Panik die Kraftwerke erreicht hatte – und daß alle Lichter New Yorks erloschen waren.
Dagny hielt den Atem an. »Guck nicht runter!« befahl ihr Galt.
Sie hob die Augen zu seinem Gesicht. Sein Ge sicht hatte den Ausdruck der unerbittlichen Strenge, mit dem
sie ihn immer Tatsachen hatte gegenübertreten sehen.
Sie erinnerte sich der Worte Franciscos: »Er hatte soeben Twentieth Century verlassen. Er wohnte in einer
Dachkammer in den Slums. Er trat zum Fenster und zeigte auf die Lichter der City. Er sagte uns, wir sollten die
Lichter der Welt auslöschen, und wenn wir die Lichter von New York ausgehen sähen, dann wäre unsere
Aufgabe getan.«
Sie dachte an diese Worte, als sie sah, daß die drei Freunde – John Galt, Francisco d’Anconia und Ragnar
Danneskjöld – sich jetzt schweigend ansahen.
Ihr Blick suchte Rearden; er sah nicht nach unten, er sah geradeaus, so wie sie ihn eine unberührte Landschaft
hatte betrachten sehen: mit einem Blick, der die Möglichkeiten neuen Handelns begrüßte.
Ihre Augen versenkten sich in die Dunkelheit vor ihr und eine andere Erinnerung stieg in ihr auf, die
Erinnerung an den Augenblick, als sie, über dem Flugplatz von Afton kreisend, den silbernen Leib einer
Maschine wie einen Phönix aus der Finsternis der Erde hatte aufsteigen sehen. Sie wußte, daß jetzt, in dieser
Stunde, ihr Flugzeug alles trug, was von New York übriggeblieben war.
Sie sah nach vorn. Die Erde würde so leer sein wie der Raum, durch den ihr Propeller einen unbehinderten
Weg schnitt – so leer und so frei. Sie begriff, was Nat Taggart am Anfang seines Weges empfunden hatte, und
warum sie ihm jetzt, zum ersten Mal, in wahrer Treue folgte, in dem mutigen Bewußtsein, eine Leere vor sich zu
haben und einen Kontinent aufbauen zu müssen.
Sie sah die Kämpfe ihrer Vergangenheit vor sich auftauchen und hinter sich versinken, sie hier zurücklassend
auf der Höhe dieses Augenblicks. Sie lächelte – und die Worte, die sich, die Vergangenheit ermessend und
besiegelnd, in ihrem Bewußtsein formten, waren jene Worte des Mutes, des Stolzes und der Hingabe, die die
meisten Menschen nie verstanden hatten, die Worte der Kaufmannssprache: »Der Preis spielt keine Rolle.«
Sie hielt nicht den Atem an und erschauerte nicht, als sie in der Dunkelheit unter sich eine kurze Kette von
leuchtenden Pünktchen langsam westwärts durch die Leere kriechen sah und an ihrer Spitze den langen hellen
Kegel eines Frontscheinwerfers, der ihren Weg sichern sollte; sie empfand nichts, obwohl sie erkannte, daß es
ein Zug war, und sie wußte, daß er ins Leere fuhr.
Sie wandte sich Galt zu. Er beobachtete ihr Gesicht, als wäre er ihren Gedanken gefolgt. Sie sah die
Widerspiegelung ihres Lächelns in dem seinen. »Das ist das Ende«, sagte sie.
»Es ist der Anfang«, antwortete er fest.
Dann saßen sie still, zurückgelehnt in ihren Sitzen, und sahen einander an. Und einer erfüllte das Bewußtsein
des anderen, als Bedeutung und Summe der Zukunft. Und diese Summe schloß das Wissen um alles ein, was
verdient werden mußte, bevor das Wesen eines anderen Menschen dazu gelangen konnte, Wert und Inhalt der
eigenen Existenz zu verkörpern.
New York lag weit hinter ihnen, als sie Danneskjöld einen Funkspruch beantworten hörten: »Ja, er ist wach.
Ich glaube nicht, daß er heute nacht schlafen wird. – Ja, ich denke, er kann.« Er wandte sich um. »John, Dr.
Akston möchte dich sprechen.«
»Wie? Ist er in einer der Maschinen hinter uns?«
»Gewiß!«
Galt sprang vor, ergriff den Hörer. »Hallo, Dr. Akston«, sagte er; der ruhige, tiefe Ton seiner Stimme war das
hörbare Bild eines durch den Raum übertragenen Lächelns.
»Hallo, John.« Die allzu bewußte Festigkeit in Dr. Akstons Stimme verriet, um welchen Preis er darauf
gewartet hatte, zu erfahren, ob er diese beiden Worte je wieder würde aussprechen können. »Ich wollte nur deine
Stimme hören… nur wissen, daß du in Ordnung bist.«
Galt lachte leise und im Ton eines Studenten, der stolz seine Hausarbeit als Beweis für seine gut gelernte
Lektion präsentiert, antwortete er: »Selbstverständlich bin ich in Ordnung, Professor. Ich mußte es sein. A gleich
A.«
Die Lokomotive des ostwärts fahrenden Comet kam mitten in einer Wüste Arizonas zum Halten. Sie blieb
plötzlich ohne ersichtlichen Grund stehen wie ein Mensch, der nicht hatte zugeben wollen, daß er sich zuviel
zumutete: Irgendeine überanstrengte Verbindung war endgültig gerissen. Als Eddie Willers nach dem Zugführer
verlangte, mußte er lange warten, bis der Mann kam, und er ahnte die Antwort auf seine Frage im voraus, als er
den Gesichtsausdruck des Mannes sah.
»Der Lokomotivführer versucht herauszufinden, woran es liegt, Mr. Willers«, antwortete er in einem Ton, der
besagte, daß es seine Pflicht war zu hoffen, er es aber seit Jahren verlernt hatte.
»Er weiß es nicht?«
»Er tut, was er kann.« Der Zugführer wartete aus Höflichkeit eine Weile, bevor er sich zum Gehen wandte,
aber nach einigen Schritten blieb er wieder stehen, um eine freiwillige zusätzliche Erklärung zu geben, als ob ein
dumpfer Instinkt ihm sagte, daß jeder Versuch der Erklärung eine uneingestandene Angst erträglicher machte.
»Unsere Diesellokomotiven sind nicht mehr geeignet, auf die Strecke zu gehen. Sie waren schon lange das
Reparieren nicht mehr wert.«
»Ich weiß«, sagte Eddie Willers ruhig.
Der Zugführer spürte, daß seine Erklärung schlimmer war als keine: Sie führte zu Fragen, die in diesen Tagen
niemand stellte. Er schüttelte den Kopf und ging hinaus. Eddie Willers starrte in die leere Finsternis jenseits der
Fensterscheibe. Dies war der erste Comet, der seit Tagen San Francisco ostwärts verlassen hatte: Er war die
Frucht einer qualvollen Anstrengung, den transkontinentalen Dienst wiederherzustellen. Er wußte nicht mehr,
was ihn die letzten Tage gekostet hatten und was er getan hatte, um den Bahnhof in San Francisco vor dem
blinden Chaos eines Bürgerkriegs zu retten, den Menschen ohne Wissen um ihr Ziel gegeneinander führten; es
war ihm unmöglich sich zu erinnern, welche Handel er abgeschlossen hatte, um seinen Zweck zu erreichen. Er
wußte nur, daß er von den Führern dreier verschiedener gegnerischer Parteien die Sicherheit des Taggart-
Bahnhofes erkauft hatte, daß er einen Mann gefunden hatte für den Posten des Bahnhofsvorstands, der trotz
allem nicht aufgegeben zu haben schien, daß er einen Taggart-Comet nach Osten auf den Weg gebracht hatte,
ausgerüstet mit den besten verfügbaren Dieselmotoren und bemannt mit dem besten Personal, das er finden
konnte, und daß er den Zug zu seiner Rückreise nach New York bestiegen hatte, ohne zu wissen, wie weit er
kommen würde.
Er hatte nie so verbissen gearbeitet; er hatte seine Aufgabe so gewissenhaft angepackt wie immer, aber ihm
war gewesen, als arbeitete er in einem Vakuum, als fände seine Energie keinen Kanal und verrinne im Sand einer
Wüste – einer Wüste, wie sie sich jetzt vor den Fenstern des Comet ins Endlose erstreckte. Er erschauerte: Er
empfand für einen kurzen Augenblick ein Gefühl der Verwandtschaft mit den toten Motoren der Lokomotive.
Nach einer Weile rief er den Zugführer wieder zu sich. »Wie sieht’s aus?«
Der Zugführer zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf.
»Schicken Sie den Heizer zu einem Streckentelefon. Er soll der Betriebsleitung des Bezirkes sagen, daß sie
uns sofort ihren besten verfügbaren Mechaniker schicken soll.«
»Jawohl, Mr. Willers.«
Es war nichts zu sehen hinter den Scheiben; er schaltete das Licht aus und konnte eine graue Ebene erkennen,
die mit den dunklen Punkten von Kakteen besetzt war und ohne Grenzen zu sein schien. Er fragte sich, wie
Menschen es je gewagt haben konnten, sie zu durchqueren und zu welchem Preis, in jenen Tagen, als es noch
keine Züge gab. Er warf den Kopf herum und schaltete das Licht wieder ein.
Es war nur die Tatsache, daß der Comet im Exil war, dachte er, die ihm das Gefühl bedrückender Sorge gab.
Er war auf einem fremdem Gleis stehengeblieben, auf der geliehenen Strecke von Atlantic Southern, die durch
Arizona lief und die sie ohne Bezahlung benutzten. Er mußte ihn von hier fortbringen, dachte er; er würde nicht
mehr so empfinden, wenn sie erst einmal auf das eigene Gleis zurückgekehrt waren. Doch die Anschlußstation
schien ihm plötzlich unerreichbar weit entfernt: am Ufer des Mississippi, bei der Taggart-Brücke.
Nein, dachte er, das war nicht alles. Er mußte sich eingestehen, welche Bilder ihn mit einem Unbehagen
erfüllten, das er weder erklären noch verscheuchen konnte. Das eine war das Bild einer Station, die sie vor zwei
Stunden ohne Halt durchfahren hatten: Ihm waren die leeren Bahnsteige und die hell erleuchteten Fenster des
kleinen Stationsgebäudes aufgefallen, denn das Licht fiel aus leeren Räumen; er hatte keine menschliche Gestalt
entdecken können, weder im Gebäude noch außerhalb. Das andere Bild war die nächste Station, die sie
durchfahren hatten: Ihr Bahnsteig war überschwemmt von einer erregten Menschenmenge. Jetzt waren sie weit
außer Sicht und Hörweite jeder Station. Er mußte den Comet von hier fortbringen, dachte er. Er wunderte sich,
warum er diese Notwendigkeit als so dringend empfand und es ihm so entscheidend wichtig erschienen war, den
Comet wieder auf die Strecke zu bringen. Nur eine Handvoll Passagiere saß in den leeren Wagen; die Menschen
hatten keine Gründe zu reisen und keine Ziele. Er hatte nicht um ihretwillen gekämpft; er konnte nicht sagen, für
wen. Zwei Sätze standen als Antwort vor seinem geistigen Auge und trieben ihn vorwärts mit der
Unerbittlichkeit eines geleisteten Schwures; der eine lautete: ‘Von Ozean zu Ozean – für immer!’ und der
andere: ‘Nie aufgeben!’
Eine Stunde später kam der Zugführer zurück, begleitet von dem Heizer, der seltsam grimmig dreinschaute.
»Mr. Willers«, sagte der Heizer, »die Bezirksbetriebsleitung antwortet nicht.«
Eddie setzte sich aufrecht. Sein Verstand weigerte sich, es zu glauben, doch plötzlich erkannte er aus einem
unerklärlichen Grunde, daß er dies erwartet hatte.
»Das ist unmöglich«, sagte er leise; der Heizer sah ihn unbeweglich an. »Das Streckentelefon muß gestört
sein.«
»Nein, Mr. Willers. Es war nicht gestört, aber in der Bezirksleitung war niemand da, der antwortete, oder
niemand, der antworten wollte.«
»Aber Sie wissen doch, daß so etwas unmöglich ist!« Der Heizer zuckte die Achseln; die Menschen hielten in
diesen Tagen kein Unglück für unmöglich.
Eddie Willers sprang auf. »Gehen Sie durch den Zug«, befahl er dem Zugführer. »Klopfen Sie an alle
Abteiltüren… das heißt an die der besetzten Abteile… und stellen Sie fest, ob ein Elektroingenieur unter den
Passagieren ist.«
»Jawohl, Mr. Willers.«
Eddie wußte, sie ahnten, wie er es ahnte, daß sie einen solchen Mann nicht finden würden, nicht unter den
apathischen, erloschenen Gesichtern der Passagiere, die sie gesehen hatten. »Kommen Sie mit«, sagte er zu dem
Heizer.
Sie kletterten zusammen auf die Lokomotive. Der grauhaarige Lokomotivführer saß auf seinem Stuhl und
starrte hinaus auf die Kakteen. Der Frontscheinwerfer der Maschine leuchtete noch und strahlte hinaus in die
Nacht, bewegungslos und kalt. In seinem Licht war nichts zu sehen als die verschwimmende Leiter der
Schwellen.
»Versuchen wir, herauszufinden, was nicht in Ordnung ist«, sagte Eddie – halb befehlend, halb bittend – und
zog seinen Mantel aus. »Versuchen wir es nochmal.«
»Jawohl«, sagte der Lokomotivführer ohne Murren und ohne Hoffnung.
Der Lokomotivführer hatte seinen mageren Schatz an Kenntnissen erschöpft; er hatte alle ihm bekannten
Möglichkeiten von Störungen bereits überprüft. Wieder kletterte er auf die Maschine, kroch unter sie, schraubte
Teile los und schraubte sie wieder fest, ersetzte einige, nahm die Motoren wahllos auseinander, wie ein Kind, das
einen Wecker zerlegt, doch ohne die Überzeugung des Kindes, daß es dabei etwas lernen kann.
Der Heizer stand am Kabinenfenster, lehnte sich hinaus, blickte in die schwarze Stille und erschauerte, als
fröre ihn in der Nachtluft, die kälter wurde.
»Keine Angst«, sagte Eddie Willers in einem gezwungenen Ton der Zuversicht. »Wir müssen alles versuchen,
doch wenn wir nichts ausrichten dann werden sie uns bestimmt Hilfe schicken, früher oder später. Sie lassen
keine Lokomotive mitten im Niemandsland stehen.«
»Bis jetzt haben sie es nicht getan«, sagte der Heizer.
Von Zeit zu Zeit hob der Lokomotivführer sein ölverschmiertes Gesicht zu dem ölverschmierten Gesicht und
dem ölverschmierten Hemd Eddie Willers’. »Es hat keinen Zweck, Mr. Willers«, sagte er.
»Wir dürfen nicht aufgeben!« erwiderte Eddie erregt; er wußte, daß er damit mehr meinte als den Comet und
mehr als die Eisenbahn.
Mit blutenden Händen und schweißverklebtem Hemd ging Eddie Willers zwischen der Kabine und den drei
Motorenkammern hin und her und suchte sich an alles zu erinnern, was er je über Motoren im College und später
gelernt hatte: an alles, was er in jenen Tagen aufgeschnappt hatte, als die Stationsangestellten von Rockdale ihn
von den Leitern ihrer Rangiermaschinen jagten. Nichts paßte zusammen; sein Gehirn schien blockiert; er wußte,
daß Motoren nicht sein Fach waren, er wußte, daß er nicht viel von ihnen verstand, aber er wußte, daß es jetzt für
ihn eine Sache auf Leben und Tod war, das Wenige zu versuchen. Er kontrollierte die Zylinder, die Ventile, die
Spulen, die Schalttafel, deren Lichter immer noch brannten. Er kämpfte gegen den Gedanken an, der sich in sein
Bewußtsein drängen wollte: Welches waren seine Chancen, und wie lange würde er nach den Gesetzen der
Wahrscheinlichkeit brauchen, um als Laie, der nur aufs Geratewohl vorging, auf die defekte Stelle zu stoßen und
die richtigen Handgriffe zu tun, um die Motoren wieder in Gang zu bringen?
»Es hat keinen Zweck, Mr. Willers«, seufzte der Lokomotivführer.
»Wir dürfen nicht aufgeben!« schrie Eddie.
Er wußte nicht, wieviel Stunden vergangen waren, als er den Heizer plötzlich rufen hörte: »Mr. Willers,
schauen Sie!«
Der Heizer lehnte sich weit aus dem Fenster und deutete in die Finsternis hinter ihnen.
Eddie blickte hinaus. Ein seltsames kleines Licht bewegte sich hüpfend und schwingend weit in der Ferne; es
schien ganz langsam näher zu kommen, war noch nicht zu identifizieren.
Nach einer Weile glaubte er, große schwarze Formen zu erkennen, die sich langsam vorwärtsbewegten; sie
bewegten sich hintereinander in einer Linie entlang der Strecke; der Lichtpunkt hing tief über dem Boden und
schaukelte; er lauschte gespannt, konnte jedoch nichts hören.
Dann vernahm er ein schwaches, gedämpftes Geräusch, das wie das Klappern von Pferdehufen klang. Die
beiden Männer neben ihm beobachteten die schwarzen Schatten mit Blicken wachsenden Entsetzens, als käme
aus der einsamen Dunkelheit eine übernatürliche Erscheinung auf sie zu. Als sie dann kurz darauf plötzlich
begannen, erleichtert zu lachen, weil sie die Schatten erkannt hatten, war es Eddies Gesicht, das vor Schreck
erstarrte wie beim Anblick eines Geistes, wie er ihn schrecklicher nicht hätte erwarten können: Es war eine
Kolonne von Planwagen.
Die schwingende Laterne hielt neben der Lokomotive. »He, Jungs, kann ich euch ein Stück mitnehmen?« rief
ein Mann, der der Führer zu sein schien; er kicherte. »Ihr seid wohl steckengeblieben, wie?« Die Passagiere des
Comet sahen aus den Fenstern; einige stiegen aus und näherten sich. Frauengesichter tauchten in den Planwagen
zwischen Bergen von Hausrat auf. Ein Kind weinte irgendwo am Ende der Karawane.
»Sind Sie verrückt?« fragte Eddie Willers.
»Nein, ich meine es ernst, Kumpel. Wir haben viel Platz. Wir können euch ein Stück mitnehmen – gegen
Bezahlung –, wenn ihr hier wegwollt.« Er war ein hagerer Mann mit ausholenden Gesten und einer
aufdringlichen Stimme wie ein Jahrmarktschreier.
»Dies ist der Taggart-Comet«, erwiderte Eddie würgend.
»Der Comet, so? Sieht mir eher aus wie eine tote Raupe. Mit dem kämt ihr auch nicht weit, wenn er noch
fahren würde.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ihr wollt doch nicht etwa nach New York?«
»Wir fahren nach New York, jawohl.«
»Dann… dann habt ihr’s also noch nicht gehört?«
»Was?«
»Sagt, wann habt ihr das letzte Mal mit einer eurer Stationen gesprochen?«
»Ich weiß nicht! Was gehört?«
»Daß eure Taggart-Brücke hin ist. Futsch. In die Luft geflogen. Schallstrahlen-Explosion oder sowas
Ähnliches. Niemand weiß etwas Genaues. Nur daß es keine Brücke mehr über den Mississippi gibt. Es gibt auch
kein New York mehr – letzten Endes.«
Eddie Willers wußte nicht, was in den nächsten Minuten geschah; er war gegen den Sitz des
Lokomotivführers zurückgefallen und starrte in die offene Tür der – Motorenkammer; er wußte nicht, wie lange
er hier gestanden hatte, doch als er schließlich den Kopf zur Seite wandte, sah er, daß er allein war. Der
Lokomotivführer und der Heizer hatten die Kabine verlassen. Draußen hörte er Stimmengewirr, Schreie,
Schluchzen, laute Fragen und das Lachen des Jahrmarktschreiers.
Eddie schleppte sich zum Fenster der Kabine: Die Passagiere und das Personal des Comet umdrängten den
Führer der Karawane und seine halbzerlumpten Begleiter; er gab mit ausholenden Gesten Befehle. Einige der
besser gekleideten Frauen des Comet, deren Ehemänner sich anscheinend als erste mit der Karawane
handelseinig geworden waren, kletterten auf die Planwagen. Schluchzend preßten sie ihre luxuriösen
Schminkköfferchen an sich.
»Steigen Sie ein, meine He rrschaften! Steigen Sie ein!« rief der Jahrmarktschreier vergnügt. »Wir haben Platz
genug für alle! Es ist ein bißchen eng, aber wir fahren. Das ist besser, als hier als Coyotenfutter zurückzubleiben!
Die Tage des eisernen Pferdes sind gezählt! Wir sind zurückgekehrt zum braven, altmodischen, richtigen Pferd!
Langsam, aber sicher!«
Eddie Willers kletterte auf der Leiter an der Seite der Maschine bis zur halben Höhe hinunter, so daß die
Menge ihn sehen und hören konnte. Er winkte mit einem Arm, während er sich mit dem anderen festhielt. »Sie
wollen doch nicht fahren?« rief er seinen Passagieren zu. »Sie werden den Comet doch nicht im Stich lassen?«
Sie wichen vor ihm zurück, als wollten sie ihn nicht anschauen oder ihm nicht antworten. Sie wollten keine
Fragen hören, denen ihr Verstand nicht gewachsen war. Er blickte in Gesichter, die von panischer Angst
gezeichnet waren.
»Was ist los mit dem Schmier-Maxen?« fragte der Jahrmarktschreier und deutete auf Eddie.
»Mr. Willers«, sagte der Zugführer besänftigend, »es hat keinen Zweck…«
»Laßt den Comet nicht im Stich!« rief Eddie Willers. »Gebt ihn nicht auf! O mein Gott, gebt ihn nicht auf!«
»Sind Sie verrückt?« rief der Jahrmarktschreier. »Sie haben ja keine Ahnung, was sich auf Ihren Stationen
und in Ihren Büros abspielt! Dort laufen sie rum wie Hühner mit abgeschnittenen Köpfen! Ich glaube, morgen
früh wird auf dieser Seite des Mississippi keine Eisenbahn mehr in Betrieb sein!«
»Sie kommen besser mit, Mr. Willers«, sagte der Zugführer.
»Nein!« schrie Eddie und klammerte sich an die Leitersprosse, als wollte er seine Hand an ihr festwachsen
lassen.
Der Jahrmarktschreier zuckte die Achseln. »Meinetwegen… wenn Sie Selbstmord begehen wollen.«
»Wohin fahren Sie?« fragte der Lokomotivführer, ohne Eddie anzuschauen.
»Immer geradeaus, Mann! Wir suchen einen Platz, wo wir bleiben können – irgendwo. Wir kommen aus
Imperial Valley in Kalifornien. Die Banditen von der ‘Volkspartei’ haben die Ernte und alle Nahrungsmittel in
den Kellern beschlagnahmt. Vorratswirtschaft nennen sie das. Da haben wir uns auf den Weg gemacht. Wir
müssen bei Nacht fahren, wegen der Banditen aus Washington. Wir suchen irgendeinen Platz, wo wir bleiben
können. Sie können mitkommen, wenn Sie kein Zuhause haben, oder wir können Sie in der Nähe einer Stadt
absetzen.«
Die Männer dieser Karawane, dachte Eddie gleichgültig, sahen zu primitiv aus, um eine geheime, freie
Niederlassung zu gründen, und nicht primitiv genug, um eine Räuberbande zu werden; sie hatten ebensowenig
ein Ziel vor Augen wie der Strahl des Frontscheinwerfers der Lokomotive, sie würden sich wie dieser Strahl in
den leeren Weiten des Landes verlieren.
Er blieb auf der Leiter stehen, ließ seinen Blick dem Lichtstrahl folgen. Er sah nicht zu, während die letzten
Menschen, die im Taggart-Comet gefahren waren, in die Planwagen umstiegen. Der Zugführer ging als letzter.
»Mr. Willers!« rief er beschwörend. »Kommen Sie mit!«
»Nein!« sagte Eddie.
Der Jahrmarktschreier winkte zu Eddie hinauf, der an der Seite der Maschine über ihren Köpfen hing. »Ich
hoffe, Sie wissen, was Sie tun!« rief er, halb drohend, halb mitleidig. »Vielleicht kommt jemand vorbei, um Sie
mitzunehmen – nächste Woche oder nächsten Monat! Vielleicht! Wer wird sich schon hierher verlaufen, in
diesen Zeiten?«
»Scheren Sie sich zum Teufel!« sagte Eddie Willers.
Er kletterte zurück in die Kabine, als die Wagen sich in Bewegung setzten und schwankend und knarrend in
der Nacht verschwanden. Er saß auf dem Führersitz einer toten Lokomotive, die Stirn gegen den nutzlosen
Schalthebel gepreßt. Er fühlte sich wie der Kapitän eines Ozeandampfers in Seenot, der lieber mit seinem Schiff
untergehen will, als sich von Wilden retten zu lassen, die ihn mit der Überlegenheit ihres Kanus verhöhnen.
Dann wurde er von einer plötzlichen, blinden Wut befallen. Er sprang auf die Füße, packte den Schalthebel.
Er mußte diesen Zug in Fahrt bringen; im Namen eines Sieges, den er nicht benennen konnte, mußte er diese
Maschine wieder zum Leben erwecken.
Alles Denken, alle Berechnung, alle Furcht vergessend, nur noch bewegt von dickköpfigem Trotz, zog er
wahllos an Hebeln, drückte auf Knöpfe, trat auf Pedale und versuchte eine Vision zu erfassen, die ihm bald nah
und bald fern schien, in dem Bewußtsein, daß sein verzweifelter Kampf nur von dieser Vision genährt wurde,
und daß er ihn nur um ihretwillen kämpfte.
Nicht aufgeben! schrie es in ihm, während er die Straßen New Yorks sah. Nicht aufgeben! während er die
Lichter von Eisenbahnsignalen sah. Nicht aufgeben! Während er den stolzen Rauch von Fabrikschornsteinen
aufsteigen sah, während er sich bemühte, diesen Rauch zu durchdringen und die Vision an der Wurzel dieser
Visionen zu erreichen.
Er zerrte an Drähten, fügte sie zusammen, riß sie wieder auseinander, als plötzlich Bilder von
sonnenbeschienenen Kiefern sich in sein Bewußtsein drängten. Dagny! hörte er sich lautlos rufen, Dagny, im
Namen des Besten in uns! – Er warf sinnlos Hebel herum, die nichts zu bewegen hatten. – Dagny! – Er rief es
einem zwölfjährigen Mädchen zu, das in einer sonnigen Waldlichtung stand – im Namen des Besten in uns muß
ich jetzt diesen Zug in Bewegung bringen! – Dagny, dies war es, und du wußtest es – damals. Doch ich wußte es
nicht! Du wußtest es, als du dich umwandtest, um auf die Schienen zu sehen. Ich sagte: »Nicht nur arbeiten und
Geld verdienen…« Doch, Dagny, arbeiten und Geld verdienen und das, was es möglich macht, das ist das Beste
in uns, ist das, was wir verteidigen müssen, um das zu retten, Dagny, muß ich jetzt diesen Zug in Bewegung
bringen…
Als er entdeckte, daß er auf dem Boden der Kabine zusammengebrochen war, und erkannte, daß es hier nichts
mehr gab, was er tun konnte, erhob er sich und kletterte die Leiter hinunter, irgendwie getrieben von dem
Gedanken an die Räder der Maschine, obwohl er wußte, daß der Lokomotivführer sie überprüft hatte. Er fühlte
das Knirschen des Wüstensands unter den Füßen, als er sich von der Leiter auf den Boden hinunterließ. Er stand
bewegungslos still und hörte in dem ungeheuren Schweigen das Rascheln von Unkraut, das sich in der
Dunkelheit bewegte; es klang wie das Kichern einer Armee, die unterwegs war, während der Comet liegenblieb.
Er hörte ein lauteres Rascheln ganz in der Nähe, und er sah eine kleine graue Ratte, die sich auf die Hinterbeine
gesetzt hatte, um am Trittbrett eines Wagens des Taggart-Comet zu schnüffeln. Mit einem wilden Satz sprang er
auf die Ratte zu, als könnte er den vorrückenden Feind in der Gestalt dieses kleinen grauen Wesens vernichten.
Die Ratte verschwand in der Dunkelheit. Doch er wußte, daß der Feind nicht abgeschlagen war. Er ging zur
Vorderfront der Maschine und blickte hinauf zu den Buchstaben TT. Dann brach er auf den Schienen zusammen
und lag schluchzend vor der Maschine, und über ihn hinweg verlor sich der Strahl eines bewegungslosen
Frontscheinwerfers in der endlosen Nacht.
Die Klänge von Richard Halleys Fünftem Konzert lösten sich von den Saiten seines Flügels, strömten durch
das Fenster hinaus ins Freie und breiteten sich aus über den Lichtern des Tales. Es war eine Symphonie des
Triumphs. Die Töne stiegen empor, sprachen von Aufstieg und waren selbst Aufstieg, sie schienen alle
menschlichen Handlungen und Gedanken zu verkörpern, die Aufstieg zum Motiv hatten. Es war ein Ausbruch
aus der Verborgenheit ins offene Licht. In ihm war die Freiheit der Erlösung und die Spannung des Willens. Er
fegte den Raum klar und ließ nichts übrig als die Freude eines unbehinderten Aufschwungs. Nur ein schwaches
Echo hinter den Tönen sprach von den Dingen, denen die Musik entronnen war, doch es sprach von ihnen in
lachender Verwunderung über die Entdeckung, daß es keine Häßlichkeit und keinen Schmerz mehr gab, und daß
es sie nie mehr geben würde. Es war der Gesang einer ungeheuren Befreiung.
Die Lichter des Tals fielen in schimmernden Flecken auf den Schnee, der noch den Boden bedeckte. Dicke
Schneeschichten lagen auf den Granitfelsen und auf den schwer herabhängenden Ästen der Kiefern. Doch die
kahlen, dünnen Äste der Birken schienen sich leicht zu heben in der Vorahnung ihrer keimenden
Frühlingsblätter.
Das erleuchtete Rechteck in der Flanke eines Hügels war das Fenster von Mulligans Arbeitszimmer. Er saß an
seinem Schreibtisch, eine Landkarte und mit Zahlen bedeckte Blätter vor sich. Er machte eine Aufstellung der
Aktivposten seiner Bank und arbeitete einen Investitionsplan aus. Er schrieb die Namen der Orte auf, die er
wählte: »New York, Cleveland, Chicago, New York, Philadelphia, New York, New York, New York…«
Das erleuchtete Rechteck auf dem Grund des Tales war das Fenster von Danneskjölds Haus. Kay Ludlow saß
vor einem Spiegel und betrachtete prüfend ein Sortiment von Filmschminken in einem verwitterten Kasten.
Ragnar Danneskjöld lag auf einer Couch und las in einem Werk des Aristoteles: »… denn diese Wahrheiten
gelten für alles, was ist, und nicht für gesonderte Dinge. Und alle Menschen benutzen sie, weil sie wahr sind, als
seiend… Denn ein Prinzip, das jeder haben muß, der alles verstehen will, was ist, kann keine Hypothese sein…
Offenbar ist ein solches Prinzip das gewisseste von allen; welches dieses Prinzip ist, wollen wir jetzt sagen. Es
lautet, daß das gleiche Attribut nicht gleichzeitig dem gleichen Subjekt zugehören und nicht zugehören kann…«
Das erleuchtete Rechteck auf dem Gelände einer Farm war das Fenster der Bibliothek von Richter
Narragansett. Er saß an einem Tisch, und das Licht einer Lampe fiel auf die Kopie eines alten Dokuments. Er
hatte in seinen Erklärungen die Widersprüche angekreuzt und durchgestrichen, die einst die Ursache seiner
Zerstörung gewesen waren. Er fügte jetzt eine neue Klausel hinzu: »Der Kongreß soll kein Gesetz erlassen, das
die Freiheit der Produktion und des Handels beschränkt…«
Das erleuchtete Rechteck inmitten eines Waldes war das Fenster von Francisco d’Anconias Hütte. Francisco
lag, über Zeichenblätter gebeugt, vor den tanzenden Flammen eines Feuers lang ausgestreckt auf dem Boden und
vollendete die Zeichnung seines Schmelzofens. Hank Rearden und Ellis Wyatt saßen am Kamin. »John wird die
neuen Lokomotiven entwerfen«, sagte Rearden, »und Dagny wird die erste Eisenbahnlinie zwischen New York
und Philadelphia eröffnen. Sie…« Und plötzlich, während er den nächsten Satz hörte, warf Francisco den Kopf
zurück und brach in lautes Lachen aus, in ein Lachen der Begrüßung, des Triumphes und der Befreiung. Sie
konnten nicht die Klänge von Halleys Fünftem Konzert hören, die jetzt hoch über das Dach hinwegfluteten, doch
Franciscos Lachen war ihnen ebenbürtig. Denn, beschworen durch die Worte, die er gehört hatte, sah Francisco
das Licht der Frühlingssonne auf dem grünen Rasen vor den Häusern des Landes, er sah das Funkeln von
laufenden Motoren, er sah das Glänzen des Stahls in den ragenden Gerüsten neuer Wolkenkratzer, er sah die
Augen einer Jugend, die in eine Zukunft ohne Ungewißheit und Furcht blickte.
Der Satz, den Rearden ausgesprochen hatte, lautete: »Sie wird wahrscheinlich versuchen, mir mit ihren
Frachtraten das Hemd auszuziehen, aber… ich werde in der Lage sein, sie zu bezahlen.«
Der schwache Lichtschein, der auf der höchsten zugänglichen Kuppe eines Berges schimmerte, war das
Sternenlicht auf Galts Haar. Er stand am Rande des Felsens und sah nicht in das Tal hinunter, sondern über seine
Wände hinweg in die Finsternis der Welt. Dagnys Hand lag auf seiner Schulter, und der Wind verwirbelte ihr
Haar mit seinem. Sie wußte, warum er durch die Berge wandern wollte in dieser Nacht und worüber
nachzudenken er stehen geblieben war. Sie wußte, was er sagen mußte und daß sie die erste war, es zu hören.
Sie konnten die Welt jenseits der Berge nicht sehen. Dort war nur eine Leere von Dunkelheit und Fels, doch
diese Dunkelheit verbarg die Ruinen eines Kontinents: die dachlosen Häuser, die rostenden Traktoren, die
lichtlosen Straßen, die toten Gleise. Doch in weiter Ferne, am Rande der Erde, flackerte im Wind eine kleine
Flamme, die herausfordernd störrische Flamme von Wyatts Fackel; sie wand sich, teilte sich, wuchs wieder
zusammen, um nicht entwurzelt oder ausgelöscht zu werden. Sie schien zu winken und auf die Worte zu warten,
die John Galt jetzt aussprach.
»Der Weg ist frei«, sagte Galt. »Wir kehren zurück in die Welt.« Er hob die Hand, und schrieb über der
verödeten Erde das Dollarzeichen in die Luft.

ENDE

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