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© COPYRIGHT–HINWEIS SIEHE S. 3
JUDITH BUTLER / SIMON CRITCHLEY /
ERNESTO LACLAU / SLAVOJ ŸIŸEK U.A.
HERAUSGEGEBEN VON
OLIVER MARCHART
© COPYRIGHT–HINWEIS
TURIA + KANT
Wien
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
OLIVER MARCHART
Einleitung: Undarstellbarkeit und
»ontologische Differenz« ..................................................... 7
SLAVOJ ŸIŸEK
Jenseits der Diskursanalyse ............................................ 123
JELICA ÍUMI”-RIHA
Politik der Treue, Treue der Politik ................................. 132
THANOS LIPOWATZ
Das reine Politische oder Eine (post)moderne Form der
politischen Mystik ........................................................... 158
YANNIS STAVRAKAKIS
Laclau mit Lacan .......................................................... 177
3. Das Unentscheidbare der Politik
SIMON CRITCHLEY
Dekonstruktion – Marxismus – Hegemonie.
Zu Derrida und Laclau ................................................... 193
JUDITH BUTLER
Poststrukturalismus und Postmarxismus ...................... 209
ANNA-MARIE SMITH
Das Unbehagen der Hegemonie. Die politischen
Theorien von Judith Butler, Ernesto Laclau und
Chantal Mouffe .............................................................. 225
JUDITH BUTLER, ERNESTO LACLAU
Verwendungen der Gleichheit.
Eine Diskussion via e-mail ............................................ 238
JUDITH BUTLER
Weitere Reflexionen zu Hegemonie und Gender ............. 254
ERNESTO LACLAU
Konvergenz in offener Suche .......................................... 258
4. Anhang
ERNESTO LACLAU
Von den Namen Gottes ................................................... 265
EINLEITUNG VON
OLIVER MARCHART
ANMERKUNGEN
tion es ist, das Partikulare mit Referenz auf das Ganze zu aktua-
lisieren.
Das Politische als eine ontologische Kategorie indiziert, daß die
Funktion des Politischen nicht auf die spezifische Strukturie-
rung hegemonialer Verhältnisse eingegrenzt werden kann, und
daß sie die tatsächliche Strukturierung dieser Verhältnisse be-
dingt, ohne sie zu determinieren. Die in Laclaus und Mouffes
Werk verwendeten Schlüsselunterscheidungen zwischen dem
Partikularen und dem Universellen, dem Gegebenen und seinen
Möglichkeitsbedingungen, konkreter Ordnung und abstrakter
Ordnung, Diskurs und dem Diskursiven, deuten alle in Richtung
einer Unterscheidung zwischen einer Analyseebene tieferer und
einer höherer Ordnung, obwohl sie diese Terminologie nicht ein-
setzen. Aber diese Unterscheidungen deuten auch auf die Not-
wendigkeit eines »vermittelnden Glieds«, das der Artikulation
zwischen dem Gesetzten und dem Vorausgesetzten oder zwi-
schen der politischen Strukturierung und der politischen Struk-
tur entspricht.
An dieser Stelle treffen wir auf die Begriffe von Subjekt und Ent-
scheidung. Die politische Struktur bedingt aktuale7 hegemoniale
Verhältnisse, ohne sie determinieren zu können, und das bedeu-
tet, daß der Entscheidungsbegriff kapitale Bedeutung als vermit-
telndes Glied zwischen Subjekt und Struktur erhält. Der Mo-
ment der Entscheidung ist, in derridianischen Begriffen, der
Moment der Gewalt (die von Überredung bis zu physischem
Zwang reicht8), welche nicht mit der Struktur versöhnt werden
kann; oder korrekter, sie supplementiert die wesenhaft unent-
scheidbare Struktur. Die Supplementierung vervollständig sie
und kontaminiert sie gleichzeitig, da sie der Struktur ein »exter-
nes« Element einführt. Gerade weil die Struktur unentscheidbar
ist, kann sie das Aktuale nicht determinieren, und das beinhal-
tet, daß (1) das durch die Entscheidung hervorgebrachte Aktuale
notwendigerweise darin kontingent ist, daß der Gang der Aktua-
lisierung unterschiedlich verlaufen könnte. (2) Die Entscheidung
kann nicht vollständig rational motiviert sein, und daher kann
sie in nichts anderem letztgegründet werden als in sich selbst,
was keinesfalls sagt, daß sie nicht vernünftig sein kann. (3) Ent-
scheidungen sind performative Akte, die ipso facto die Unter-
drückung alternativer Optionen beinhalten, was darauf hinaus-
läuft, daß die Aktualisierung oder die Strukturierung des Mögli-
chen ein Machtakt ist, d.h. die Befähigung zu Agieren, die das
Subjekt ist. Und zuletzt ist (4) der hegemoniale Akteur weder ein
28 TORBEN BECH DYRBERG
»Antagonismus ist die Grenze des Sozialen, der Zeuge einer ulti-
mativen Unmöglichkeit von Gesellschaft, der Moment, in dem das
Gefühl der Prekarität seinen Höhepunkt erreicht. Antagonismus
operiert in einem Differenzsystem, indem er Differenzen zusam-
menbrechen läßt. Und Differenzen läßt man zusammenbrechen,
indem man Äquivalenzketten erzeugt.«20
Von einem System von Differenzen zu sprechen, heißt, daß ver-
schiedene Differenzen (z.B. Aktionen, Praktiken, Lebensformen,
Regeln, Entitäten, Entwicklungen) als Teil des Systems konstru-
iert wurden. Von einem System zu sagen, es sei konstruiert, im-
pliziert dreierlei:
(1) Das System kann nicht die gemeinsame Klasse einer extra-
diskursiven Einheit seiner Elemente sein, d.h. das System kann
nicht in Referenz auf eine Realität »wie sie ist« gegeben sein,
wenn wir darunter eine objektiv gegebene Ordnung verstehen.
Es ist vielmehr eine Realitätsreduktion, die es mit einem »Lek-
türeprinzip« ausstattet, welches in Strategien von Macht-Wissen
verwickelt ist. Zu sagen, daß die Verständlichmachung von Rea-
lität deren Reduktion mit sich bringt, beinhaltet, daß Realität
per definitionem über jeden Versuch ihrer Systematisierung hin-
ausschießt. Dieser Überschuß zeigt sich selbst als alternatives
Lektüreprinzip, das in hegemonialen Kämpfen engagiert ist. Die
Kontingenz eines Systems ist daher durch das bedingt, was das
System zuallererst bedingt, nämlich dessen Realitätsreduktion,
dessen Bedeutungsüberschuß und der Kampf zwischen beiden,
die unvermeidlicherweise diese Reduktion begleiten. Durch die
Systematisierung des Aktualisierungsprozesses bindet das Sy-
stem – räumlich wie zeitlich – das Mögliche, aber es ist nicht
fähig, sich selbst einzukreisen, d.h. das zu binden, was es zual-
lererst bedingt.
(2) Die Systematizität des Systems kann nicht von der Struktur
der Realität selbst abgelesen werden, nicht nur weil das bloß
eine weitere Metapher eines bestimmten Lektüreprinzips wäre
36 TORBEN BECH DYRBERG
Das Politische ist eine Schlachtszene oder ein leerer Platz der
Einschreibung, der sich in andauernden hegemonialen Kämpfen
ausdehnt und zusammenzieht. Da es konstitutiv für soziale Ver-
hältnisse ist, kann es keinen bestimmten topographischen Ort in
der Gesellschaft haben oder das Vorrecht von, sagen wir, Eliten
oder dominanten Klassen sein. Es ist vielmehr eine originäre
Öffnung, eine Ontologie von Potentialen. Das Politische kann im
Sinne dieser Potentiale auf mögliche Aktualisierungen gegen-
über Differenzsystemen hin konzeptualisiert werden. Daraus
folgt, daß es ein reduktionistischer Irrtum wäre (welcher politi-
sche Modernität charakterisiert), es mit Ursprung und Telos,
Form und Inhalt auszustatten. Es wäre zum Beispiel ungerecht-
fertigt anzunehmen, dem Politischen sei eine Suche nach Ord-
nung inhärent oder es spiele eine Nebenrolle als ein »notwendi-
ges Übel«. Kein solches Prinzip oder Charakteristikum kann
vom Politischen abgeleitet werden, das eine leere Funktion ist,
die politische Praktiken notwendigerweise setzen und vorausset-
zen.
Politik ist die Praxis der Aktualisierung und strukturiert damit
die politische Funktion, die darin besteht, hegemoniale Kämpfe
mit Richtungen auszustatten; und Hegemonisieren bedeutet die
Aktualisierung des Möglichen durch artikulatorische Prozesse,
wobei systematische Grenzen abgesteckt werden. Diese Prozesse
sind offen und können nicht a priori festgestellt werden (wie
etwa in Ordnungs- oder Fortschrittsdiskursen). Ordnung, Ent-
wicklung und dergleichen sind nichts als Lektüreprinzipien, die
als organisierender Nexus für große Erzählungen operieren.
Einen leeren Platz der Identität auszufüllen, muß im Verhältnis
zur Tatsache verstanden werden, daß es immer einen Moment
der Blockade in der Aktualisierung des Möglichen gibt. Der
Grund dafür ist natürlich darin zu suchen, daß der Aktualisie-
rungsprozeß um Negativität als systematische Grenze kreist, die
den selbstreferentiellen Prozeß auslöst, in dem Differenzsyteme
ihre Identität erreichen.
Politik versucht, das Politische zu domestizieren, aber es kann
nicht domestizieren, was es in erster Linie bedingt. Politik ist,
wie Haar Nietzsches Wille zur Macht beschreibt, »nichts als eine
Richtung, die immer neu bestimmt werden muß«36. Über das
46 TORBEN BECH DYRBERG
ANMERKUNGEN
kratie, sowie Claude Lefort, The Political Forms of Modern Society, Cam-
bridge: Polity Press, 1986: 220, 303–305
25 Ernesto Laclau, »Subject of Politics, Poiltics of the Subject«: 151-152
26 In einem Artikel aus dem Jahr 1979 lenkt Laclau die Aufmerksamkeit auf
die Verwendung von »Differenz« als einer übergreifenden Kategorie, die
alle Arten von Relationen – unter anderem antagonistische Relationen –
beinhaltet, wenn er von »antagonistischen Relationen« spricht. Ernesto
Laclau, »Populistischer Bruch und Diskurs«, »Anhang« in seiner Politik
und Ideologie im Marxismus: Kapitalismus – Faschismus – Populismus,
Berlin: Argument-Verlag, 1981: 177.
27 Es ist gleichgültig, ob A und B Individuen, Gruppen oder irgendwelche
anderen Typen von Entitäten sind, so wie es gleichültig ist, ob sie in der
öffentlichen oder in der privaten Sphäre lokalisiert sind, im Staat oder in
der Zivilgesellschaft. Der Grund dafür ist natürlich, daß Politik nicht von
diesen Unterscheidungen abhängt.
28 Vergleiche Ernesto Laclau, »Was haben leere Signifikanten mit Politik
zu tun?« in Mesotes 2/1994
29 Ernesto Laclau, »Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun« 158.
Vergleiche ebenso »Jenseits von Emanzipation« und »Universalismus,
Partikularismus und die Frage der Identität«. Den Signifikationsprozeß
zu blockieren, ist notwendig, um die Desintegration eines Systems zu
verhindern. Diese Blockierung nimmt Form an, indem sie eine Unter-
scheidung zwischen Inklusion/Exklusion, akzeptabel/nicht-akzeptabel,
vernünftig/unvernünftig, etc. evoziert.
30 Das ist Rückgrat von Theorien universaler Emanzipation, d.h. Emanzi-
pation vom Politischen. Etwas in dieser Richtung wird durch die Unter-
scheidung von »Macht zu« und »Macht über« angesprochen, insofern als
sie die Fähigkeit zu agieren resp. Herrschaft konnotiert. Vergleiche z.B.
Jeffrey C. Isaac, Power and Marxist Theory: A Realist View, Ithaca und
London: Cornell University Press, 1987: 83–87
31 Vergleiche Niccolò Machiavelli, The Prince, Cambridge: Cambridge Uni-
versity Press, 1988: 62, 85–87
32 Ernesto Laclau diskutiert drei Dimensionen von Dislokation, nämlich
Temporalität, Möglichkeit und Freiheit. New Reflections on the Revolu-
tion of Our Time: 41–45. Das Verhältnis von Zeit und Verräumlichung
wir von Rudolph Gasché diskutiert, The Tain of the Mirror, Cambridge,
Mass.: Harvard University Press, 1986: 198–202. Zu einer Kritik des kan-
tischen Zeit/Raum-Dualismus sh. Henrik Paul Bang und Torben Bech
Dyrberg, »Hegemony and Democracy«, Working Paper, Departmentof
Economics, Politics and Public Administration, Aalborg University,
1993: 17. Sh. außerdem Anthony Giddens, Contemporary Critique of Hi-
storical Materialism, London: Macmillan, 1981: 17, 29–34.
33 Eine ähnliche Sicht wird vom neuen Institutionalismus vertreten, etwa
Johan P. Olsen und James G. March, Rediscovering Institutions: The Or-
ganizational Basis of Politics, New York: The Free Press, 1989: z.B. 16,
159, 162. Sh. ebenfalls Johan P. Olsen, Demokrati pa svenska, Stockholm:
Carlsson Bokförlag, 1990: 118-119 und »Analyzing Institutional Dyna-
mics«, Working Paper, University of Bergen and Norwegian research
Centre in Organization and Management, 1992: 15.
DISKURSANALYSE 51
URS STÄHELI
ANMERKUNGEN
LITERATUR
RADO RIHA
nicht zwischen der Moral von Kant und einer anderen Moral
wählen, sondern sind gezwungen, uns entweder für die Moral,
d.h. für Kants allgemeingültige Moral, oder aber für eine Ethik,
d.h. für eine bestimmte, immer partikularen Zielsetzungen ver-
schriebene Kunst des Lebenskönnens, zu entscheiden.5
In Lardreaus Bemerkung ist unserer Meinung nach mehr ent-
halten als ein bloßer Verweis auf die bekannt/erkannte Tatsache,
daß in Kants praktischer Philosophie die Grundlegung einer all-
gemeingültigen, d.h. für keinen Fall, wenn nicht für alle Fälle gel-
tenden Moral zu finden ist.6 Das Mehr liegt im Hinweis, daß es
die allgemeine, d.h. von jeder partikularen Einstellung abstrahie-
rende Grundlegung der Moral nur darum gibt, weil sie von einer
partikularen Philosophie, von der Philosophie Kants, als solche
geäußert wurde. Dieser Hinweis ist nun alles andere als trivial. Er
stellt uns vielmehr in ihrer Elementarform die Struktur des sin-
gulären Universellen vor, jenes Problems also, mit dem sich, wie
wir gesagt haben, Kants dritte Kritik befaßt. Wenn wir uns hier
des Begriffspaares Subjekt der Aussage – Subjekt der Äußerung
bedienen, dann kann diese Elementarform auch so gelesen wer-
den: Das universelle Subjekt der moralischen Aussage ist nur
deshalb möglich, weil es als solches geäußert wurde, also von
einem Subjekt der Äußerung konstituiert und getragen wird.
Funktion und Sinn des Äußerungssubjekts als Ort, an dem das
Universelle konstituiert wird, können wir hier in drei Schritten
bestimmen. Zunächst einmal läßt sich vom Subjekt der Äuße-
rung sagen, daß es nicht mit Kants Philosophie zusammenfällt,
obwohl erst von ihr das Universelle ausgesagt und damit konsti-
tuiert wird. Kants Philosophie als Äußerungsort des Universellen
fällt nicht mit ihr selbst als einem spezifischen Philosophem aus
dem Ende des 18. Jhdt. zusammen, so wie »Kant« als Subjekt
der Äußerung der universellen moralischen Aussage nicht mit
dem empirischen Philosophen Kant identisch sein kann. Würde
Kant selbst dieses Äußerungssubjekt sein, dann wäre seine
Grundlegung einer allgemeinen Moral ja nur eine verallgemei-
nerte individuelle Erfahrung, würde das Äußerungssubjekt seine
Philosophie sein, dann hätten wir es mit einer unter vielen mög-
lichen moralischen Einstellungen zu tun. Mit anderen Worten,
Kant kann als empirisches Individuum bzw. als Repräsentant
einer besonderen Philosophie nur vom Allgemeinen her verstan-
den werden. Dies ist eine notwendige Folge der Struktur des
Kantschen Universellen, das, sobald es einmal gegeben ist, den
70 RADO RIHA
mögen, oder reine Vernunft muß für sich allein praktisch sein,
d.i. ohne Voraussetzung irgend eines Gefühls [ … ] durch die
bloße Form der praktischen Regel den Willen bestimmen kön-
nen«7. Monique David-Ménard weist in ihrem Artikel »L’univer-
sel chez Sade et chez Kant«8 überzeugend nach, wie Kant seine
eigene Hypothese von der möglichen Unmöglichkeit des oberen
Begehrungsvermögens durch eine »Rhetorik des Unbedingten«,
einem Verfahren, in dem er Beispiele der Unbeständigkeit, Zu-
fälligkeit und Unberechenbarkeit des empirischen Handelns an-
führt und dann diese Unbeständigkeit stillschweigend als Recht-
fertigung der streng prinzipiellen moralischen Gesinnung fun-
gieren läßt, wieder verdrängt.
Was aber Kant durch die »Rhetorik des Unbedingten« systema-
tisch ausklammert, ist unserer Meinung nach weniger die für
einen Augenblick erwähnte Möglichkeit der Inexistenz des obe-
ren Begehrungsvermögens, d.h. die Tatsache, daß Kant, wie Da-
vid-Ménard hervorhebt, die Notwendigkeit seiner Existenz nie
wirklich nachweist – Kant selbst versucht ja diesen ausbleiben-
den Nachweis im Begriff des Faktums des Moralgesetzes zu den-
ken. Kants Äußerung von der möglichen Unmöglichkeit des ver-
nunftbestimmten Willens stellt nicht den Augenblick dar, in dem
Kant für einen Augenblick eine Unzulänglichkeit, etwas Unbe-
gründetes in seinem Beweisgang sehen läßt. Ganz im Gegenteil,
es stellt vielmehr den Augenblick dar, in dem der wahre Begrün-
dungsakt des unbedingten Moralgesetzes sichtbar wird. Begrün-
dend ist aber die Äußerung von der Unmöglichkeit des oberen
Begehrungsvermögen insofern, als von ihr die Operation ihrer
eigenen Ausschließung in Gang gesetzt wird, diese Aussch-
ließungsoperation aber, in ihrer positiven Bestimmung betrach-
tet, nichts anderes ist als die Grundlegung der universellen Mo-
ral. Durch den Äußerungsakt wird die Inexistenz des vernunftbe-
stimmten Willens nicht nur als eine Möglichkeit gesetzt, sie ist
vielmehr im Äußerungsakt selbst wirklich da, d.h. sie wird durch
ihn als konstitutiver Bestandteil des reinen Willens gesetzt.
Durch den Äußerungsakt wird das unbedingte Moralgesetz ei-
nerseits zwar möglich, andererseits wird aber damit in das Un-
bedingte eine radikale Kontingenz eingeführt. Es ist diese radi-
kale Kontingenz des Unbedingten, die der Äußerungsakt ver-
gegenwärtigt, die von Kant nicht gesehen werden kann und des-
halb durch die »Rhetorik des Unbedingten« verdeckt wird.
Kehren wir nun zur Lardreaus Bemerkung zurück, aus ihr fol-
gende Schlußfolgerung ziehend: Kants praktische Philosophie
72 RADO RIHA
jekts. Die dritte Kritik weicht endgültig der Falle einer Endlich-
keitskonzeption aus, bei der eine in sich selbst prinzipiell unbe-
grenzte Subjektivität durch äußere empirische Schranken einge-
grenzt wird. In ihr wird die Rezeptivität als der undarstellbare,
auf immer verlorene »erste« Akt der Spontaneität entwickelt.
Damit bringt die dritte Kritik ein Subjekt zur Erscheinung, das
weder das jedes Inhaltes entleerte transzendentale Subjekt = X
noch ein empirisches, als Objekt unter Objekten erscheinendes
Subjekt ist, sondern als paradoxale Vergegenwärtigung einer
transzendentalen, d.h. leeren »Inhaltlichkeit« fungiert.
Indem die Urteilskraft die Vorstellung »gänzlich auf das Sub-
jekt« bezieht, erscheint dieses also im Modus einer bloßen Emp-
fänglichkeit für das eigene Bestimmtsein. Wie Kant sagt, es fühlt
»sich selbst [ … ], wie es durch die Vorstellung affiziert wird«. 16
Wie ist nun dieses Beziehen der Vorstellung bloß aufs Subjekt zu
verstehen? Mit anderen Worten, was fühlt das Subjekt, wenn es
im Gefühl der Lust/Unlust »sich selbst« wahrnimmt, wie es
durch das Spiel der Erkenntnisvermögen in der Vorstellung affi-
ziert wird?
Die Antwort auf diese Frage ist in Kants Begriff des Gemütszu-
standes zu suchen17. Bei diesem Begriff, dessen Bedeutung bei
Kant zwischen einer logischen Einheit des Bewußtseins und der
»substantiellen« Einheit der Seele schwankt,18 ist für uns folgen-
des interessant: Das Gemüt ist einerseits das System dreier sog.
apriorischer Gemütsvermögen, des Erkenntnisvermögens, des
Begehrungsvermögens und des Gefühls der Lust/Unlust.19 Ande-
rerseits ist der Zustand des Gemüts, in den das Gemüt jeweils
durch das Zusammenspiel seiner Erkenntniskräfte anläßlich
einer gegebenen Vorstellung versetzt wird,20 immer mit dem Ge-
fühl der Lust/Unlust identisch, fällt mit ihm zusammen, wie
Kant sagt. Der springende Punkt hier liegt jetzt darin, daß erst
im Augenblick dieses Zusammenfallens des Gemüts mit dem Ge-
fühl, im Augenblick, in dem das Subjekt »sich selbst« empfindet,
wie es durch die Vorstellung affiziert wird, überhaupt vom
Gemüt als System dreier Gemütsvermögen, also auch von einem
Subjekt in seinem »Selbst« gesprochen werden kann.
In seinem Zustand ist das Gemüt eigentlich nicht so sehr bei
sich. Der Gemütszustand ist vielmehr die Bewegung, in der das
Gemüt zu sich selbst kommt, »sich« sozusagen als Gemüt erst
setzt. Das Spezifische dieser Bewegung des Zu-sich-Selbst-Kom-
mens des Gemüts liegt nun unserer Meinung nach darin, daß
von Kant kein irgendwie schon präexistentes »Selbst« des
76 RADO RIHA
selles, kein Begriff und keine Regel zur Verfügung, es kann viel-
mehr nur so urteilen, daß es in der Benennung eines Partikula-
ren als Fall die ihm entsprechende Regel erst herstellt, erfindet.
Die zustandegekommene Artikulation von Partikularem und
Universellem bringt gleichzeitig als ihren auf immer verlorenen
»Ursprung« den Knoten eines singulären Universellen hervor. Es
läßt sozusagen als seine eigene Spur ein Universelles zurück, das
erst durch den abgründigen, singulären Urteilsakt, der es her-
stellt, zu seiner allumfassenden Universalität kommt, in sich
selbst also der Ort eines Unmöglichen, Realen ist. Der reflektie-
rende Urteilsakt kann insofern als eine Operation verstanden
werden, in der das im Urteilsakt selbst lozierte Reale vergegen-
wärtigt, d.h. als unmögliches Reales möglich gemacht, sozusa-
gen in seinem Unmöglichen »amortisiert« wird. In der Form des
reflektierenden Urteils interessiert deshalb, weit mehr als die je-
weilige Bestimmung von Partikularem und Universellem selbst,
vor allem die Frage, auf welche Weise und wo in ihm die Spur
des Realen geortet werden könnte.
Jetzt ist es wahrscheinlich schon klarer geworden, warum wir
argumentieren können, daß Laclaus Affirmation einer innerlich
gespaltenen politischen Identität schon ein reflektierendes Urteil
ist und nur in der Form der reflektierenden Urteilskraft aufge-
stellt werden kann. Laclaus Behauptung ist nämlich, wie wir
oben festgestellt haben, keine deskriptive Feststellung, sondern
ist schon begrifflich strukturiert. Kurz, sie ist schon eine »nor-
mative«, eine philosophische Behauptung über das Politische.
Innerhalb des metaphysikkritischen dekonstruktivistischen Den-
kansatzes, in den sich auch Laclaus Argumentation bewegt,
kann das aber nur eines bedeutet: sie stellt den Anspruch auf,
daß es eine philosophische Aussage über das Politische geben
soll, die imstande ist, dem klassischen normativen, als Relation
der Herrschaft aufgebauten Verhältnis zwischen der Philosophie
und dem Politischen auszuweichen37. Dieser Anspruch ist aber
dem Kerneinsatz der reflektierenden Urteilskraft analog, einen
neuen Typ des Universellen, d.h. ein dezentriertes, von einem ir-
reduziblen Singulären supplementiertes Universelles aufzu-
bauen. Und wegen dieser Analogie muß unserer Meinung nach
aus der Aussage von innerlich gespaltenen politischen Identitä-
ten folgende Schlußfolgerung gezogen werden: diese Aussage ist
erst dann gerechtfertigt – d.h. die in der Aussage anvisierten po-
litischen Identitäten gibt es wirklich auf dem Terrain des Politi-
schen, ohne daß es sich dabei um ein philosophisch gebotenes
86 RADO RIHA
ANMERKUNGEN
der dritten Kritik zunächst fest, daß in der zweiten Kritik das Gefühl der
Achtung »von allgemeinen sittlichen Begriffen a priori abgeleitet«
wurde, und korrigiert dann diese Aussage sofort: »Allein selbst da leite-
ten wir eigentlich nicht dieses Gefühl von der Idee der Sittlichkeit als Ur-
sache her, sondern bloß die Willensbestimmung wurde davon abgeleitet.
Der Gemütszustand aber eines irgend wodurch bestimmten Willens ist
an sich schon ein Gefühl der Lust und mit ihm identisch [ … ]« KdU,
Par, 12, A/B 36.
18 Cf dazu Louis Guillermit, L’eludicidation critique du jugement de gout se-
lon Kant, Editions du CNRS, Paris 1986, S. 148 f.
19 Für den Unterschied des Gemüts als »System« und als bloßes »Aggregat«
cf. KdU, 1. Einleitung, III.
20 Etwa des Verstandes und der Einbildungskraft, wie etwa bei der reflek-
tierenden Beurteilung des Schönen.
21 Wenigstens auf der Ebene der transzendentalen Ästhetik, auf der wir uns
hier bewegen.
22 Wir wollen damit nicht andeuten, daß die irreduzible Zweiheit der Er-
kenntnisquellen in einer »ursprünglichen« Einheit verbunden werden
sollte. Ganz im Gegenteil, was in der ersten Kritik fehlt – und in der dit-
ten »nachgeholt« wir – das ist gerade die Artikulation der Zweiheit als ir-
reduziblen Zweiheit.
23 Cf. KrV, B 118/A 86.
24 Durch diese Konstitutionsleistungen wird ja die Welt der empirischen
Erfahrung gerade konstituiert.
25 »Also kann jene subjektive Einheit des Verhältnisses /der Erkenntnisver-
mögen – RR/ sich nur durch Empfindung kenntlich machen«, KdU, Par.
9, A/B 31.
26 KrV, A 86/B 118.
27 Das Anliegen der reflektierenden Urteilskraft ist es, die Möglichkeit einer
Erkenntnis des Besonderen in seiner irreduziblen Besonderheit zu be-
gründen, d.h. die prinzipiell unendliche empirische Mannigfaltigkeit der
Naturformen in ein System der Erfahrung zu bringen. Im Unterschied
zur bestimmenden Urteilskraft besitzt dabei, wie wir wissen, die reflek-
tierende Urteilskraft kein Allgemeines, keine Norm, vermittels deren sie
urteilen könnte. Sie stellt vielmehr in der Beurteilung eines Besonderen
als »Falls einer Regel« mit dem besonderen Fall gleichzeitig auch die
ihm entsprechende Regel auf.
28 Cf. Joachim Peter, Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft. Eine Un-
tersuchung zur Funktion und Struktur der reflektierenden Urteilskraft bei
Kant, Kantstudien-Ergänzungsheft, Bd. 126, de Gruyter, Berlin 1992. In
diesem Werk wird die These von der Begründung der Idee der systemati-
schen Einheit durch das Prinzip der Zweckmäßigeit überzeugend und
detailliert nachgewiesen.
29 Cf. KdU, Einleitung, 1. Fassung, IX, Einleitung, 2. Fassung, VII.
30 KdU, Par. 9, B/A 29.
31 KdU, Einleitung, 2. Fassung, V, BXXXIV/A XXXII.
32 Das im Gefühl empfundene »Selbst« ist also der Ort eines »dritten«, rea-
len Subjekts, das weder das leere transzendentale (symbolische) Subjekt
noch das empirische »objektivierte« (imaginäre) Subjekt ist. Sein Exi-
PLURALE SUBJEKTE 89
OLIVER MARCHART
Gibt es eine Politik des Politischen, bzw. sollte es sie geben? Eine
seltsame Frage. Offenbar setzt sie eine Differenz zwischen den
zwei Begriffen der Politik und des Politischen voraus – sowie
eine gewisse Unsicherheit bezüglich ihrer Vereinbarkeit. Nach
einem kurzen Überblick über entsprechende Theorisierungen
dieses Unterschieds (Nancy, Ÿiÿek, Lefort, Foucault, immer wie-
der mit Rückgriff auf Laclau) werde ich auf verschiedene Vor-
schläge eingehen, das Politische in einer Politik zu aktualisieren
(Badiou, Derrida und wiederum Laclau/Mouffe). Damit hoffe
ich, in diesem zweiten Schritt zeigen zu können, wie eine reine
Politik des Politischen keine Politik sein kann, sondern im be-
sten Fall eine Ethik.
Im französischen Theorieraum ist mit der einschlägigen Unter-
scheidung zwischen Politik und dem Politischen vor allem das
Projekt von Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe ver-
bunden. Ausgehend von der »Les fins de l’homme«-Konferenz
1980 in Céresy entwickelte sich über die damaligen Teilnehmer
das Projekt, die Dekonstruktion auf ihr politisches Potential hin
abzuklopfen. Zu diesem Zweck gründeten Nancy und Lacoue-
Labarthe ein Zentrum für philosophische Forschung zum Politi-
schen an der Ecole Normale Supérieure, das bis 1984 existieren
sollte1. In diesem Zeitraum wurde programmatisch eine Unter-
scheidung zwischen der Politik und dem Wesen des Politischen
herausgearbeitet, wobei letzteres koextensiv mit dem Philo-
sophischen gefaßt war. Die Unterscheidung scheint sich aus den
Problemen einer damals zur Verhandlung gestandenen konkre-
ten Politik der Dekonstruktion (Engagement, Stellung beziehen,
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 91
Auf die Frage, was von Karl Marx bleibe, antwortet Chantal
Mouffe: »Eine nach wie vor wichtige Einsicht – die wir aber
nach dem Verschwinden des Marximus auf eigene Gefahr igno-
rieren – ist die Idee des Antagonismus. Der Fehler von Marx und
später des Marxismus lag darin, Antagonismus nur im Sinne von
Klassen-Antagonismus zu denken« (Mouffe 1993b, 408). Mit der
Einführung des Konflikts in Form einer grundlegenden gesell-
schaftlichen Teilung bricht Karl Marx mit der klassischen Vor-
stellung einer Gesellschaft als Einheit. Mit dem Kapitalismus
gibt sich der Klassenkampf, der nach Marx in jeder Gesellschaft
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 93
Identität von Staat und Volk, von Staat und Gesellschaft. Und
auch der faschistische Diskurs leugnet die Konfliktualität der
Gesellschaft, indem er die angebliche Identität der Interessen
von Kapital und Arbeit behauptet. Die demokratische Gesell-
schaft dagegen pflegt – zumindest auf den ersten Blick – ein sa-
voir vivre mit den ihr immanenten Konfrontationen und verzich-
tet auf die Illusion eines einheitlichen Volkswillens.
Was der Totalitarismus jedenfalls gezeigt hat – und der Zusam-
menbruch des Ostblocks bestätigt hierin Lefort und Gauchet
nachträglich –, war gerade das Scheitern einer bloß dekretierten
Einheit der Gesellschaft. Deren Teilung bleibt nämlich in ande-
rer Form bestehen: der Staat übernimmt jetzt mithilfe seiner
Verwaltungsbürokratie die Funktion des Ausbeuters. Wenn es
dem Totalitarismus somit nicht gelingt, die gesellschaftliche Tei-
lung qua Kollektivierung der Produktionsmittel auszulöschen,
dann drängt sich der Verdacht auf, daß die gesellschaftliche Dif-
ferenz Arbeiter/Kapitalisten nicht die politische Differenz
Staat/Gesellschaft erzeugt. An diesem Punkt stülpt Gauchet
Marx vollkommen um und behauptet das Gegenteil, nämlich die
logische Priorität des Politischen. Die politische Teilung bringt
die gesellschaftliche hervor, die Abtrennung des Staates die Klas-
senherrschaft. Doch ist die gesellschaftliche Teilung einmal als
Ursprung der politischen ausgeschlossen, schließt sich sofort die
nächste Frage an, die Frage nach dem Ursprung der politischen
Teilung.
Gauchet löst das Problem mit einem radikalen »Interpretations-
sprung«5, indem er die Kausalordnung verläßt und behauptet,
die politische Teilung sei weder ableitbar noch auflösbar, son-
dern ursprünglich:
»Ursprünglich in dem Sinne, daß der antagonistische Gegensatz
der Gesellschaft zu sich selbst auf keine vorgängig konstituierte
Grundlage in der Gesellschaft bezogen werden kann. Umgekehrt
ist es eben jener antagonistische Gegensatz der Gesellschaft zu
sich selbst, der die Gesellschaft als solche begründet, ihr zu exi-
stieren erlaubt, sie zusammenhält. Die Gesellschaft ist wesent-
lich gegensätzlich verfaßt, sie setzt sich nur im Gegensatz zu
sich selbst, d.h., indem sie sich zum Anderen ihrer selbst macht.
Ursprünglich ist die Teilung also, weil die Existenz der Gesell-
schaft ohne die politische Teilung nicht zu begreifen ist. Die
Möglichkeit von Gesellschaft hängt von der Tatsache ihrer Tei-
lung ab. Diese steht am Ursprung der Gesellschaft« (Gauchet
1990, 224f.).
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 97
»In Bezug auf die Zeit enthält der Begriff Revolution zwei gänz-
lich verschiedene Tatsachen: Den Anfang, die Zeit der Zer-
störung der vorhandenen sozialen Formen, und das Ende, den
Aufbau, das heißt die Bildung vollkommen neuer Formen, aus
diesem Amorphismus. ( … ) Wir sagen: Eine unvollständige Zer-
störung ist unvereinbar mit dem Aufbau und daher muß sie abso-
lut und ausschließlich sein. Die jetzige Generation muß mit der
echten Revolution beginnen. Sie muß mit der völligen Verände-
rung aller sozialen Lebensbedingungen beginnen, das heißt, die
jetzige Generation muß alles Bestehende ohne Unterschied
blindlings zerstören in dem einzigen Gedanken: möglichst rasch
und möglichst viel. Und da die jetzige Generation selbst unter
dem Einfluß jener verabscheuungswürdigen Lebensbedingun-
gen stand, welche sie jetzt zu zerstören hat, so darf der Aufbau
nicht ihre Sache sein, sondern die Sache jener reinen Kräfte, die
in den Tagen der Erneuerung entstehen« (Netschajew 1984, 19).
Die neue Ordnung kann nur als »das dem bestehenden ekelhaf-
ten Zeug Entgegengesetzte« gedacht werden. Darüber hinaus-
führende Gedanken zum Neuen sind »verbrecherisch, da sie nur
der Sache der Zerstörung hinderlich sind« (Netschajew 1984,
22). Der soviel beschworene Machiavellismus und Jesuitismus
Netschajews, dem der Zweck jedes Mittel heiligt, ist deshalb in
seinem Innersten ethisch: »Wir müssen uns also aufgrund des
Gesetzes der Notwendigkeit und strengen Gerechtigkeit ganz der
beständigen, unaufhaltsamen, unablässigen Zerstörung weihen,
die so lange crescendo wachsen muß, bis nichts von den beste-
henden sozialen Formen zu zerstören bleibt« (Netschajew 1984,
22f.). Und doch, was Netschajews Auge weiß erschien, das hielt
er für schwarz, wenn es der Sache der allumfassenden Zer-
störung nützen sollte. Netschajews Machiavellismus führte also
umgekehrt eine strategische Komponente in seinen moralischen
Rigorismus ein. Die Beziehung zum leeren Universalismus, zum
X à venir, ist in der jakobinischen Tendenz einer Politik des Poli-
tischen (im Unterschied zur noch zu betrachtenden zweiten Ten-
denz) bis in ihr Innerstes praktisch – entgegen allem Anschein
nicht auf Deklamation, sondern auf Umsetzung bedacht.
»Ethisch« – im Lacanschen Sinn – kann sie genannt werden, ge-
rade weil sie nicht moralisch ist, d.h. weil sie ohne moralische
Skrupel9 das Verbrechen akzeptiert.
Gerade weil die revolutionäre Assoziation kein anderes Ziel hat
als die »vollständige Befreiung und das Glück des Volkes ( … )«,
so Netschajew die aktive Verelendungstheorie des Leninschen
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 107
Nun, wie der letzte Ausdruck verrät: all diese Eigenschaften sind
die Ermöglichungsbedingungen radikaler Demokratie, aber sind
sie schon deren enactment? Obwohl kein Zweifel darüber be-
steht, daß keine Politik wirklich demokratisch genannt werden
kann, die diese Bedingungen verkleistern, verleugnen oder ab-
schaffen will, so ist eine reine Politik des – wenn wir es nochmal
durchgehen – Künftigen oder Kommenden, des Differentiellen,
des Verschwindenden, des Unerreichbaren, des Unbestimmten,
des Unvollständigen, des zugleich Endlichen, des Begrenzten,
des Ziellosen, kurz des Unmöglichen kaum mehr als die Phanta-
sie einer schönen Seele. Wir würden Laclau und die Hegemonie-
theorie falsch verstehen, wenn wir nicht eine notwendige Konta-
mination dieser Logik durch die Praxis miteinrechnen würden.
Genau darin liegt die von Laclau herausgearbeitete Dialektik
von Universalismus und Partikularismus: es ist kein – noch so
leerer und aufgeschoben-verschobener – Universalismus zu ha-
ben ohne irgendeinen schmutzigen Partikularismus, der erste-
ren inkarniert. »Schmutzig« ist in diesem Zusammenhang nicht
im Sinne des truism zu verstehen, daß Politik eben ein schmutzi-
ges Geschäft sei, sondern im dekonstruktiven Sinn der notwen-
digen gegenseitigen Verunreinigung beider Pole einer binären
Opposition. Das gilt auch für die Opposition Partikularismus /
Universalismus. Das universelle unmögliche Gut existiert nur,
insofern es teilweise auch möglich ist bzw. gemacht wird. Ge-
nauso trägt jedes partikulare/mögliche Gut die Referenz auf ein
universelles/unmögliches an seinem Körper, ohne welches es
sich als Gut gar nicht legitimieren könnte. Das unmögliche Gut
kann, sobald es zur Politik kommt, nicht selbst das Gut sein, es
muß durch mögliche Güter supplementiert werden, alles andere
wäre nicht Politik, sondern Existenzphilosophie.
Für Laclau ist das Universelle der immer zurückweichende Ho-
rizont, der keiner partikularen Identität entspricht, ja sogar mit
jeder Partikularität unvereinbar ist, und doch nicht unabhängig
vom Partikularen existieren kann. Nur durch eine jeweilige, im-
mer mangelhafte und vorübergehende konkrete Inkarnation
kann Universalität überhaupt bestehen. Das führt Laclau zu dem
Schluß, daß »wenn nur partikulare Akteure oder Konstellationen
partikularer Akteure zu einem beliebigen Moment das Univer-
selle aktualisieren können, dann hängt die Möglichkeit der
Sichtbarmachung der einer post-dominierten Gesellschaft – d.h.
einer Gesellschaft, die versucht, die eigentliche Form der Herr-
schaft zu überschreiten – inhärenten Nicht-Schließung davon
114 OLIVER MARCHART
ANMERKUNGEN
eine neue Sicht der Wahrheit. Die essentialistische Sicht der Wahrheit
wird angeklagt, sie selbst wird zu Waffe: »Es ist ein Diskurs, in dem die
Wahrheit ausdrücklich als Waffe fungiert, für einen Sieg, der ausdrück-
lich parteiisch ist«. Foucault ist sich darüber klar, daß dieser Diskurs völ-
lig disqualifiziert ist: »Er muß eliminiert werden; denn er muß annuliert
werden, damit endlich zwischen den Gegnern und über ihnen als Gesetz
der gerechte und wahre Diskurs anfangen kann« (Foucault 1986, 21 f.).
Es scheint, als hätte man es hier mit der anti-habermasianischen Theorie
schlechthin zu tun. Das illustriert auch eine anderer Stelle:
»Die Zugehörigkeit der Wahrheit zum Frieden, die Zugehörigkeit der
Wahrheit zur Neutralität, die Zugehörigkeit der Wahrheit zu den Ver-
mittlungen, von der wir gesehen haben, wie sie für die griechische Philo-
sophie – jedenfalls von einem bestimmten Zeitpunkt an – konstitutiv
war, sie löst sich auf. In einem Diskurs wie dem da wird man einerseits
die Wahrheit um so besser sagen, wenn man in einem Lager steht; es ist
die Zugehörigkeit zu einem Lager, es ist die entmittete Stellung, die es
ermöglicht, die Wahrheit zu entziffern, die Illusionen und die Irrtümer
aufzukündigen, mit denen man glauben macht, mit denen einem die
Feinde glauben machen, daß man in einer geordneten und befriedeten
Welt ist. Je mehr ich micht aus der Mitte entferne, um so mehr sehe ich
die Wahrheit. ( … ) Die wesenhafte Zugehörigkeit der Wahrheit zu den
Kräfteverhältnissen, zur Asymmetrie, zur Dezentrierung, zum Kampf,
zum Krieg ist in diesen Typen von Diskurs fest eingeschrieben« (Fou-
cault 1986, 14f.).
5 Gauchet dazu und zum Primat des Politischen, d.i. der gesellschaftlichen
Teilung: »Erforderlich ist ein radikaler Interpretationssprung. Man muß
die Unmöglichkeit, den zentralen politischen Antagonismus abzuleiten,
zu Protokoll nehmen und die Begrifflichkeit, von der wir mit Marx aus-
gegangen waren, vollständig umkehren. Die Teilung ist weder ableitbar
nach auflösbar. Zu Ende gedacht, besagt die Lehre des totalitären Phäno-
mens, daß es keinen Sinn hat, eine Ableitung des Staates, des Politi-
schen, der Spaltung der Gesellschaft zu versuchen. Letztendlich bringen
sie nichts zum Ausdruck, was ihnen vorausginge; d.h., sie verweisen
nicht auf etwas anderes, das ihnen ihre Begründung lieferte« (Gauchet
1990, 224).
6 Historisch wird die symbolische Entleerung des Ortes der Macht – des-
sen emptying out – bei Lefort bekanntlich mit dem Argument abgeleitet,
daß mit der französischen Revolution und der damit erfolgenden Guillo-
tinierung von Ludwig XVI. die Macht »dekorporiert« wurde und nun
nicht mehr im Körper des Königs symbolisiert wird. Der Ort der Macht
bleibt fortan leer. Wird seine Okkupation versucht, also der Anspruch
auf dauerhaften Besitz der Macht, führt das zum Totalitarismus. Tota-
litär heißt hier, daß die Macht nicht auf ein Außen des Gesellschaftlichen
verweist, sondern ein solches Außen der Gesellschaft verleugnet wird:
»Indem sich die Vorstellung einer homogenen und für sich selbst durch-
sichtigen Gesellschaft, des einen Volkes ausbreitet, wird die gesellschaft-
liche Teilung in allen Formen geleugnet, werden alle Zeichen des Unter-
schiedes zwischen Glaubensansichten, Meinungen und Sitten bestritten«
(in Rödel 1990, 287).
Zur Unterscheidung der Demokratie vom Totalitarismus muß man wei-
116 OLIVER MARCHART
ction ( … ). But, second and most important, from the fact that there is
the impossibility of ultimate closure and presence, it does not follow that
there is an ethical imperative to ›cultivate‹ that openness or even less to
be necessarily committed to a democratic society. I think that the later
can certainly be defended from a deconstructionist perspective, but that
defence cannot be logically derived from constitutive openness – some-
thing more has to be added to the argument.« (Laclau 1995a, 93)
13 Badiou macht klar, daß sein Modell nichts mit dieser Tradition zu schaf-
fen hat. Nicht Kräftespiele lägen der Politik zugrunde, sondern die Inter-
ventionen des Denkens: »Dans la conception de la politique où je me ti-
ens, ce ne sont pas les rapports de force qui comptent, mais les processus
pratiques de la pensée. Remarquons à quel point les politiques mortes,
de quelque bord qu’elles soient, ont militarisé leur concepts: stratégie,
tactique, mobilisation, ordre du jour, offensive et défensive, mouvement
et position, conquête, troupes, état-major, alliances … « (Badiou 1985,
104). So gerechtfertigt die Kritik am militärischen Phantasma der Politik
(Clausewitz!) sein mag, sie ist natürlich nicht durch ein Phantasma der
großen denkerischen Intervention abzulösen.
14 Das ähnelt der »intellektualistischen« Lösung Ÿiÿeks. Dieser bemerkte
einmal anläßlich der rumänischen »Revolutionäre«, die aus der rumäni-
schen Fahne das Symbol des Kommunismus herausgeschnitten hatten,
sodaß in der Mitte ein rundes Loch klaffte, die oberste Pflicht des Intel-
lektuellen sei es, »an der Stelle dieses Lochs zu verweilen, um eine Distanz
zum herrschenden Symbol zu halten« (Ÿiÿek 1992b, 105). Nun, wenn er
damit eine jakobinische Strategie meint, die den leeren Platz der Macht
selbst besetzt, dann widerspricht das seiner Kritik des Jakobinismus an
anderer Stelle. Wenn er andererseits damit einfach eine »Politik des
Lochs« meint, dann stellt sich die Frage, wie das die Intellektuellen lei-
sten sollen, ohne durch eine hegemoniale Anstrengung andere leere Sig-
nifikanten (Symbole der abwesenden Fülle) an dieser Stelle zu installie-
ren.
15 In einem Interview spricht Laclau die passivierenden Effekte eines sol-
chen adornitischen Fatalismus an, eines ökonomistischen Marxismus in
der Phase der Verzweiflung, sozusagen: »Can you imagine what would
have happened if, in South Africa, the militants of the ANC had adopted
in the mid-sixties an Adornian view of the future of capitalism?« (Laclau
1994, 48)
16 »[T]o be intolerant of some things is the very condition to be tolerant of
others« (Laclau 1995b, 10)
LITERATUR
SLAVOJ ŸIŸEK
che« Verhältnis zwischen den zwei Termen: jeder von ihnen hin-
dert den anderen, seine Selbstidentität zu erreichen, zu werden,
was er wirklich ist. Sobald ich mich selbst – in einer ideologi-
schen Anrufung – als ein »Proletarier« anerkenne, bin ich an der
sozialen Realität beteiligt, kämpfe gegen den »Kapitalisten«, der
mich daran hindert, mein menschliches Potential voll zu reali-
sieren, der meine volle Entwicklung blockiert. Wo liegt hier die
der Subjektposition eigene ideologische Illusion? Sie liegt genau
in der Tatsache, daß es der »Kapitalist« ist, dieser externe Feind,
der mich daran hindert, meine Selbstidentität zu erreichen: die
Illusion ist, daß ich nach der eventuellen Vernichtung des anta-
gonistischen Feindes endlich den Antagonismus loswerden und
eine Identität mit mir selbst erreichen werde. Es ist dasselbe mit
dem sexuellen Antagonismus: der feministische Kampf gegen
patriarchale, männlich chauvinistische Unterdrückung ist not-
wendigerweise von der Illusion erfüllt, daß später, sobald patri-
archale Unterdrückung abgeschafft ist, Frauen ihre volle Selbsti-
dentität erreichen werden, ihre menschlichen Potentiale realisie-
ren, etc.
Und doch, um den Antagonismusbegriff in seiner radikalsten Di-
mension zu fassen, sollten wir das Verhältnis der beiden Terme
invertieren: es ist nicht der externe Feind, der mich daran hin-
dert, meine Selbstidentität zu erreichen, sondern jede Identität
ist bereits in sich selbst blockiert, von einer Unmöglichkeit mar-
kiert, und der externe Feind ist einfach das kleine Stück, der
Rest an Realität, auf den wir diese intrinsische, immanente Un-
möglichkeit »projizieren« oder »externalisieren«. Das wäre die
letzte Lektion der berühmten Hegelschen Dialektik von Herr
und Knecht3, die üblicherweise von der marxistischen Lektüre
übersehen wird: der Herr ist letzten Endes eine Erfindung des
Knechts, eine Möglichkeit für den Knecht, »seinem Begehren
nachzugeben«, die Blockade seines eigenen Begehrens durch
Projektion seines Grundes auf die äußere Repression des Herrn
zu umgehen. Das ist auch der wahre Grund für Freuds Insistie-
ren, daß die Verdrängung nicht auf eine Internalisierung der Un-
terdrückung (der externen Repression) reduziert werden kann: es
gibt ein bestimmtes fundamentales, radikales, konstitutives,
selbst-beigebrachtes Hindernis, eine Behinderung des Triebs,
und die Rolle der faszinierenden Figur externer Autorität, ihrer
repressiven Kraft, ist es, uns blind gegenüber dieser Selbst-Be-
hinderung des Triebs zu machen. Deshalb könnten wir sagen,
daß genau in dem Moment, wo wir im antagonistischen Kampf
JENSEITS DER DISKURSANALYSE 127
in der sozialen Realität den Sieg über den Feind erringen, wir
den Antagonismus in seiner radikalsten Dimension erfahren –
als ein Selbst-Hindernis: weit davon entfernt, uns zum endgülti-
gen Erreichen unserer vollen Selbstidentität zu befähigen, ist
der Augenblick des Sieges der Augenblick des größten Verlusts.
Der Knecht befreit sich vom Herrn nur, wenn er erfährt, wie der
Herr bloß die Auto-Blockade seines eigenen Begehrens verkör-
perte: was der Herr ihm durch seine externe Repression angeb-
lich enteignen wollte, ihn nicht realisieren lassen wollte, das
hatte er – der Knecht – nie besessen. Das ist der Augenblick, der
bei Hegel »der Verlust des Verlusts« heißt: die Erfahrung, daß
wir niemals hatten, was wir verloren haben sollen. Wir können
diese Erfahrung des »Verlusts des Verlusts« auch in der Erfah-
rung der »Negation der Negation« erkennen – d.h. im puren An-
tagonismus, wo die Negation zum Punkt der Selbstreferenz ge-
bracht ist.
Diese Bezugnahme auf Hegel mag seltsam scheinen: ist nicht
Hegel der »absolute Idealist« par excellence, der Philosoph, der
alle Antagonismen auf ein untergeordnetes Moment der selbst-
vermittelnden Identität reduziert? Doch vielleicht wird so eine
Lesart Hegels selbst Opfer der »Metaphysik der Präsenz«: viel-
leicht ist eine andere Lesart möglich, wo die Referenz auf Hegel
uns ermöglicht, den puren Antagonismus vom antagonistischen
Kampf in der Realität zu unterscheiden. Worum es sich beim
puren Antagonismus dreht, ist nicht länger die Tatsache, daß –
wie im antagonistischen Kampf mit dem externen Gegner – die
ganze Positivität, die ganze Konsistenz unserer Position in der
Negation der gegnerischen Position und vice versa liegt; worum
es sich dreht, ist die Tatsache, daß die Negativität des anderen,
der mich am Erreichen meiner vollen Selbstidentität hindert,
nur eine Externalisierung meiner eigenen Auto-Negativität ist,
meiner Selbst-Behinderung. Die Frage hier ist, wie die zentrale
These von Laclau und Mouffe, daß im Antagonismus die Negati-
vität als solche eine positive Existenz annimmt, genau zu lesen
ist, welcher Akzent auf sie zu legen ist. Wir können diese These
so lesen, daß in einem antagonistischen Verhältnis die Positivität
»unserer« Position nur in der Positivierung unserer negativen
Relation zum anderen, zum antagonistischen Gegner, besteht:
die ganze Konsistenz besteht in der Tatsache, daß wir den ande-
ren negieren, »wir« sind nichts als dieser Trieb, unseren Gegner
zu vernichten, zu annihilieren. In diesem Fall ist das antagonisti-
sche Verhältnis auf gewisse Weise symmetrisch: jede Position ist
128 SLAVOJ ŸIŸEK
nur ihr negatives Verhältnis zur anderen (der Herr hindert den
Knecht daran, seine volle Selbstidentität zu erreichen und vice
versa). Aber wenn wir den antagonistischen Kampf in der Rea-
lität zum Punkt des puren Antagonismus radikalisieren, muß die
These, daß im Antagonismus die Negativität als solche eine posi-
tive Existenz annimmt, auf andere Weise gelesen werden: der
andere (sagen wir der Herr) ist selbst in seiner Positivität, in sei-
ner faszinierenden Präsenz nur die Positivierung unseres eige-
nen – des Knechts – negativen Selbstverhältnisses, die positive
Verkörperung unserer eigenen Selbstblockade. Der Punkt ist,
daß hier das Verhältnis nicht länger symmetrisch ist: wir können
nicht sagen, auch der Knecht wäre auf dieselbe Weise nur die
Positivierung des negativen Verhältnisses des Herrn. Was wir
vielleicht sagen können, ist, daß er das Symptom des Herrn ist.
Wenn wir den antagonistischen Kampf bis zum Punkt des puren
Antagonismus radikalisieren, ist es immer eines der zwei Mo-
mente, die durch die Positivität des anderen ein negatives
Selbstverhältnis behält: dieses andere Element funktioniert, um
einen hegelianischen Begriff zu verwenden, als »Reflexionsbe-
stimmung« des ersten – der Herr etwa ist nur eine Reflexionsbe-
stimmung des Knechts. Oder um die sexuelle Differenz/den se-
xuellen Antagonismus zu nehmen: Mann ist eine Reflexionsbe-
stimmung der weiblichen Unmöglichkeit, eine Selbstidentität zu
erreichen (weshalb die Frau ein Symptom des Mannes ist).
Wir müssen dann die Erfahrung des Antagonismus in seiner ra-
dikalen Form als Grenze des Sozialen unterscheiden vom Anta-
gonismus als der Relation von antagonistischen Subjektpo-
sitionen: wir müssen, in lacanianischen Worten, Antagonismus
als das Reale von der sozialen Realität des antagonistischen
Kampfes unterscheiden. Und der lacanianische Begriff des Sub-
jekts zielt genau auf die Erfahrung des »puren« Antagonismus
als Selbst-Behinderung, Selbst-Blockade, diese interne Grenze,
die das symbolische Feld davon abhält, seine volle Identität zu
realisieren: im ganzen Prozeß der Subjektivierung, der Ein-
nahme verschiedener Subjektpositionen, geht es letztlich
darum, uns zu befähigen, diese traumatische Erfahrung zu ver-
meiden. Die Grenze des Sozialen, wie sie von Laclau und Mouffe
definiert ist, diese paradoxe Grenze, die bedeutet, daß »die Ge-
sellschaft nicht existiert«, ist nicht einfach etwas, das jede Sub-
jektposition, jede definierte Identität des Subjekt subvertiert; im
Gegenteil, es ist gleichzeitig das, was das Subjekt in seiner radi-
kalsten Dimension trägt: »das Subjekt« im lacanianischen Sinn
JENSEITS DER DISKURSANALYSE 129
ist der Name für diese interne Grenze, diese interne Unmöglich-
keit des Anderen, der »Substanz«. Das Subjekt ist eine paradoxe
Identität, die sozusagen ihr eigenes Negativ ist, d.h., die nur in-
soweit persistiert, als ihre volle Realisierung blockiert ist – das
voll realisierte Subjekt wäre kein Subjekt mehr, sondern Sub-
stanz. In genau diesem Sinn liegt Subjekt jenseits oder vor Sub-
jektivierung: Subjektivierung bezeichnet die Bewegung, durch
welche das Subjekt das ihm in das Bedeutungsuniversum Gege-
bene integriert – diese Integration scheitert in letzter Instanz im-
mer, es gibt einen bestimmten Überrest, der nicht in das symbo-
lische Universum integriert werden kann, ein Objekt, das der
Subjektivierung widersteht, und das Subjekt ist diesem Objekt
genau korrelativ. Mit anderen Worten, das Subjekt ist seiner ei-
genen Grenze korrelativ, dem Element, das nicht subjektiviert
werden kann, es ist der Name der Leere, die nicht mit Subjekti-
vierung ausgefüllt werden kann: das Subjekt ist der Punkt des
Scheiterns von Subjektivierung (darum ist das lacanianische
Zeichen dafür fi).
Das »unmögliche« Verhältnis des Subjekts zu seinem Objekt,
dessen Verlust das Subjekt konstituiert, wird durch die lacani-
anische Formel des Phantasmas bezeichnet: fi £ a. Phantasma
muß dann als ein imaginäres Szenario verstanden werden, des-
sen Funktion ist, eine Art positive Stütze bereitzustellen, die die
konstitutive Leere des Subjekts ausfüllt. Dasselbe gilt mutatis
mutandis für das soziale Phantasma: es ist ein notwendiges
Gegenstück zum Konzept des Antagonismus, ein Szenario, das
die Leerstellen der sozialen Struktur ausfüllt, deren konstituti-
ven Antagonismus mit der Fülle des Genießens (des rassisti-
schen Genießens, z.B.) maskiert. Das ist die im althusseriani-
schen Ansatz von Anrufung übersehene Dimension: bevor es in
der Identifizierung, in der symbolischen An(V-)erkennung ge-
fangen ist, wird das Subjekt vom Anderen durch einen parado-
xen Objekt-Grund des Begehrens, der Genießen verkörpert,
durch dieses angeblich im Anderen verborgene Ereignis in der
Mitte des Anderen gefangen.
Nun sollte es klar sein, wie die zwei Begriffe, mit denen wir ver-
sucht haben, den theoretischen Apparat von Hegemonie zu er-
gänzen – das Subjekt als ein leerer, dem Antagonismus korrelie-
130 SLAVOJ ŸIŸEK
ANMERKUNGEN
1 Für eine Erläuterung der Paradoxa des lacanianischen Realen vergl. Sla-
voj Ÿiÿek, The Sublime Object of Ideology, London 1989, S. 161–73
2 Ernesto Laclau, Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus – Fa-
schismus – Populismus, Berlin 1981
3 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, FfM. 1986, S. 145-155
Politik der Treue, Treue der Politik
JELICA ÍUMI”-RIHA
den sind, schlagen wir hier eine andere Problemlösung vor. Wir
werden argumentieren, daß es sich beim Verhältnis zwischen
der Dekonstruktion und der Emanzipation um eine Artikulation
handelt, die nicht notwendig, sondern kontingent ist. Wir wer-
den auch zu zeigen versuchen, daß Dekonstruktion, als Bedin-
gung der Emanzipation verstanden, der Entfaltung radikaler Im-
plikationen von Laclaus Thematisierung der Emanzipation, also
auch des Politischen, im Weg steht.
Daß die Emanzipation im Mittelpunkt von Laclaus Interesse
steht, zeigen nicht zuletzt schon die Titel seiner letzten zwei
Werke an, New Reflections on the Revolution of Our Time und
Emancipation(s). Aber: Revolution? Emanzipation? Haben diese
zwei Begriffe heute noch einen operationellen Wert? Laclau
selbst antwortet auf diese Fragen bejahend, obwohl nicht ohne
Vorbehalt: Die Theorie der radikalen Demokratie, das heißt, eine
positive Alternative zur »postmodernen« Ablehnung der Eman-
zipation, läßt sich seiner Meinung nach nur entwickeln, wenn
zuvor der klassische Begriff der Emanzipation dekonstruiert
wird. Deshalb stellt er in »Beyond Emancipation«, wo er die in-
nere Widersprüchlichkeit des klassischen Emanzipationskon-
zeptes analysiert, folgende Behauptung auf:
»Dies sollte uns nicht dazu verleiten, der Logik der Emanzipa-
tion einfach abzusagen. Ganz im Gegenteil, gerade vermittels
eines Spiels, das innerhalb des Systems der logischen Inkompa-
tibilitäten dieser Logik verbleibt, können wir neuen Befreiungs-
diskursen den Weg bahnen, die nicht mehr von Antinomien und
Sackgassen behindert werden, in die der klassische Emanzipati-
onsbegriff führte«2.
Der Emanzipationskonzept soll also Laclau nach erhalten blei-
ben, aber nur, wenn darunter keine globale Emanzipation ver-
standen wird, d.h. kein Projekt, das »auf die Veränderung der
›Wurzeln‹ des Gesellschaftlichen selbst« 3 abzielte. Darum wirft
Laclau Habermas auch vor, daß dieser, bemüht, die Emanzipa-
tion als Aufklärungsprojekt der Moderne, d.h. als endgültige ver-
nünftige Versöhnung, gegen die »nihilistische« Postmoderne zu
verteidigen, blind für die emanzipatorischen Potentiale sowohl
der postmodernen Gesellschaft als auch der postmodernen Kri-
tik bleibt:
»Unser Standpunkt ist dem genau entgegengesetzt: anstatt in
der ›Krise der Vernunft‹ einen Nihilismus zu sehen, der zur Ab-
lehnung jedes emanzipatorischen Projekts führt, sehen wir in
ihr jenes, was bisher ungeahnte Möglichkeiten für eine radikale
134 JELICA ÍUMI”-RIHA
Was will uns Badiou hier sagen? Es ist wohl klar, daß von keiner
Treue der Treue wegen die Rede ist, daß es sich also im ange-
führten Abschnitt um keinen blinden Dogmatismus handelt.
Ganz im Gegenteil, Badiou zeigt uns, daß ein Bestehen auf der
Politik der Emanzipation, auch wenn dies keineswegs mehr
selbstverständlich ist, auch wenn es eine bloße Utopie zu sein
scheint, viel subversiver sein kann als eine sich noch so radikal
gebende moralische Verurteilung der Politik, als eine noch so ra-
dikal erscheinende Verkündigung des Todes der Politik. Die
Ethik der Treue ist, könnte man sagen, schon deshalb subversiv,
weil sie sich in das Register der Zurückweisung einschreibt. Zu
diesem Kontext gehört unserer Meinung nach auch die Reaffir-
mation der Emanzipation bei Laclau, Balibar und Ranciere.
Schon die bloße Tatsache, daß in der gegenwärtigen Konjunktur
des »Vergessens« der Emanzipation von neuem Geltung ver-
schafft wird, impliziert eine zweifache Zurückweisung der
gegenwärtig vorherrschenden Denktendenzen. Einerseits die
Zurückweisung der Realpolitik und der selbstgefälligen Apologie
der Parlamentardemokratie. Im Rahmen dieser Einstellung ist
Emanzipation nicht nötig, weil »die beste aller möglichen Wel-
ten« schon da ist. Andererseits die Abgrenzung vom postmoder-
nen »Rückzug aus der Politik«, von der »Ethisierung der Poli-
tik«, der Geste, in der die Politik der Bedingung des Ethischen
unterstellt wird10. Für diese Einstellung ist die Emanzipation un-
möglich, weil sie sich – wie jede Politik – notwendigerweise in
Terrorismus verkehrt.
Soll das nun bedeuten, daß die Treue als solche subversiv, eman-
zipatorisch sei? Daß ein solcher Schluß nicht zulässig ist, kann
schon am Beispiel des »revolutionären Konservativismus« ge-
zeigt werden. Das Paradox dieser Einstellung, die man auch
»Hüter der Emanzipation« nennen könnte, liegt darin, daß sie in
ihrer Treue der Emanzipation, Revolution, diese ins agalma, in
den wertvollsten Schatz verwandelt. Der mythischen Vergangen-
heit ein Denkmal aufstellend, gibt sie aber gleichzeitig auch
schon zu, daß dieser Schatz auf immer verloren bzw. die Eman-
zipaton nicht mehr möglich sei.
Wir werden also sagen, daß die Treue erstens nur dann als Be-
dingung der Emanzipation wirkt, wenn sie der Emanzipation als
agalma und dem Pathos des Hüters der Emanzipation absagt.
Und zweitens, daß die Treue der Emanzipation als eine subjek-
tive Maxime verstanden werden muß, von der festgesetzt wird,
daß die Emanzipation immer und überall, ungeachtet der Um-
138 JELICA ÍUMI”-RIHA
Bei Derrida haben wir es also mit der Artikulation von drei Mo-
menten zu tun: Der Demokratie, der Dekonstruktion und des
messianischen Versprechens. Es ist gewiß nicht falsch zu be-
haupten, daß für Derrida Demokratie ohne Dekonstruktion ge-
wissermaßen nicht möglich ist. Die Dekonstruktion macht hin-
ter jedem konkreten emanzipatorischen Projekt die Leere sicht-
bar, die nichts anderes als die Offenheit des messianischen Ver-
sprechens ist. Dieses fungiert als Bedingung der Möglichkeit des
Emanzipationsprojekts, gleichzeitig verhindert es aber auch,
daß sich ein konkretes Projekt als endgültige Emanzipation bzw.
als ihr »Eigentliches« festsetzen würde. Für die Dekonstruktion
gibt es keine »eigentliche« Emanzipation, und umgekehrt, jede
Emanzipation wirkt als Verwirklichung und Verrat des messiani-
schen Versprechens zugleich. Diese Unmöglichkeit der Verwirk-
lichung ist natürlich nicht empirischen Umständen verschuldet:
Das messianische Versprechen ist kein Ideal. Ganz im Gegenteil,
die Unverwirklichbarkeit des messianischen Versprechens fun-
giert als Bedingung der Möglichkeit jeder konkreten Emanzipa-
tion.
Bis zu diesem Punkt scheint Derridas Argumentation stichhaltig
zu sein. Auch Laclau gibt in seiner ansonsten kritischen Bespre-
chung zu, daß Derridas Begriff des messianischen Versprechens
produktiv wirkt, und zwar in dem Maße als es als »existentielle«
Geschichtsform und nicht als Ansage einer endgültigen Versöh-
nung verstanden werden kann. Aber das gilt nur unter der Be-
dingung, daß es »hinsichtlich der Inhalte, die mit ihm in real exi-
stierenden Messianismen verbunden sind, verselbständigt
wird«23.
Nun ist aber bei Derrida das messianische Versprechen nicht
nur ein leerer, in die Dialektik der Inkarnation/Subversion einge-
fangener Signifikant. Derrida versucht nämlich das Versprechen
eng, sozusagen von Innen mit der Emanzipation zu verbinden.
So behauptet er einerseits, das Versprechen sei seiner Offenheit
wegen schon an sich emanzipatorisch und deshalb Bedingung
einer »démocratie à venir«. Andererseits begreift er aber diese
»démocratie à venir«, wie auch Laclau hervorhebt, als eine kon-
tinuierliche Verbundenheit dem Versprechen, der Offenheit dem
Anderen, dem Heterogenen gegenüber.24 Kurz, Emanzipation
und Versprechen setzen bei Derrida einander voraus: Das Ver-
sprechen ist als ursprüngliche Offenheit eine Bedingung der
Emanzipaton, aber nur, wenn die Emanzipation ihrerseits diese
Offenheit gewährleistet und hütet. Das Problem liegt gerade in
146 JELICA ÍUMI”-RIHA
Gebot kann nur unter der Bedingung pertinent sein, daß die Of-
fenheit eine ethische und keine ontologische Kategorie ist. In
diesem Fall müßte aber Derrida seiner »Ontologisierung« des
Versprechens absagen. Das wiederum kann oder will Derrida
nicht tun, da für ihn die Politik nur im Horizont der Ethik denk-
bar ist. Deshalb kann er auch nicht eine Verbindung von Eman-
zipation und ontologischer Offenheit annehmen, die »bloß« kon-
tingent wäre. So stellt Derrida, anstatt die Verbindung von onto-
logischer Offenheit und Emanzipation zu thematisieren, das
»emanzipatorische Begehren«, jenes »es gilt«, als Gewährlei-
stung der Offenheit auf. Das »es gilt« ist eine Art Fetisch, von
dem das Fehlen der Ableitung der Demokratie aus dem Verspre-
chen verdeckt wird.
Wenden wir uns nun den Folgen von Laclaus Kritik für Derridas
Emanzipations- und Dekonstruktionsauffassung zu. Für Laclau
ist Derridas Schritt aus der ontologischen Offenheit ins ethische
Gebot nicht nur deshalb problematisch, weil er »ungerechtfer-
tigt«, das heißt unbegründbar ist, sondern auch, weil er auf die
Begründungsproblematik zurückführt. In der Einführung der
ethischen Problematik zeichnet sich so im Grunde ein Rückfall
der ansonsten subversiven Dekonstruktion ab, da das Unter-
scheidungsmerkmal des Dekonstruktivismus gerade darin liegt,
jeden Grund, jeden Ursprung, jede Hierarchie zu subvertieren,
sie als ungerechtfertigt auszuweisen. Das ethische Gebot »sün-
digt« deshalb sowohl gegen die Dekonstruktion wie gegen die
Demokratie. Es sündigt gegen die Dekonstruktion, weil die De-
konstruktion eine Operation ist, die hinter jedem Grund seine
Abgründigkeit zum Vorschein kommen läßt und deshalb mit
dem ethischen Gebot, das Laclau nach nur als Gebot der Be-
gründung »sinnvoll« ist, unvereinbar ist. Gegen die Demokratie
wiederum sündigt das ethische Gebot deshalb, weil es als Vorbe-
dingung der »démocratie à venir« nicht nur eine unnötige For-
derung darstellt, sondern der Demokratie genau in dem Maße
widerspricht, als diese nach keiner »radikalen Begründung« ver-
langt. Die Demokratie unterscheidet sich nämlich von allen an-
deren politischen Formen darin, daß sie der Begründung absagt
bzw. sich auf dem Axiom »Es gibt keinen Anderen des Anderen«
begründet.
Was sind nun die Implikationen dieses Axioms für das Denken
der Emanzipation? Wie lassen sich die Bedingungen der Mög-
lichkeiten der Emanzipation denken, sobald sich einmal heraus-
gestellt hat, daß die Emanzipation der radikalen Kontingenz kei-
148 JELICA ÍUMI”-RIHA
neswegs näher steht als andere politische Praxen und daß der
Bezug auf das ethische Gebot als Bedingung und Gewähr der
Emanzipation nicht zulässig ist? Die Antwort auf diese Frage
muß unserer Meinung nach in der »Dialektik« von Sedimentie-
rung und Reaktivierung gesucht werden, genauer gesagt, in der
Vernähung der unendlichen Menge, von der die Situation gebil-
det wird, mit der endlichen, kontingenten Entscheidung.
Es stimmt zwar, daß der Begriff der Entscheidung in Derridas
Dekonstruktion eine immer bedeutendere Rolle zu spielen be-
gann. Das Paradox liegt aber darin, daß es Derrida, der das Ver-
hältnis zwischen dem Unentscheidbaren der Situation und der
Entscheidung, kurz, die radikale Abgründigkeit der Entschei-
dung zu denken versucht – bei aller Hervorhebung des Wahn-
sinns der Entscheidung – gerade an der Tapferkeit für die Ent-
scheidung, genauer gesagt, an der Tapferkeit, dem »Wahnsinn«
der Entscheidung gegenüber blind zu bleiben, mangelt. Das er-
laubt uns zu behaupten, daß die Dekonstruktion, weit davon ent-
fernt, ein Denken der Entscheidung zu sein, eine Operation ist,
durch die der Entscheidung auf dem Terrain des Unentscheidba-
ren gerade ausgewichen werden soll. Die Dekonstruktion, die für
jede konkrete Entscheidung im nachhinein zeigen kann, daß sie
kontingent in Bezug auf ihre Situation ist, und die antizipiert,
daß dies auch für jede künftige Entscheidung gilt, da die for-
melle Struktur der Entscheidung in beiden Fällen gleich bleibt,
kann überzeugend nachweisen, daß kein konkretes Emanzipa-
tionsprojekt das messianische Versprechen einlösen kann, daß
also jedes konkrete Emanzipationsprojekt »das Wahre« nicht
sei. Deswegen ist für die Dekonstruktion das Deklarativ »Das ist
es!«, »Das ist das Wahre!«, durch das sich jedes Emanzipations-
projekt konstituiert, vollkommen unvorstellbar. Mit anderen
Worten, im Horizont der Dekonstruktion bleibt verkannt, daß
das emanzipatorische Projekt nur dann möglich wird, wenn
schon eine Verblendung am Werk ist, ein blinder, durch Nichts
begründeter Glauben: »Das ist es!«, »Das ist das Wahre!« Im Ho-
rizont der Dekonstruktion ist es strukturell unmöglich, die Ent-
scheidung als solche zu denken. Gerade diese in Nichts begrün-
dete Entscheidung stellt nun unserer Meinung nach eine Bedin-
gung der Emanzipation dar. Anders gesagt, jedem konkreten
Emanzipationsprojekt, sei es im Denken oder in der politischen
Praxis, geht die Entscheidung für die Emanzipation voraus. Das
einzige, was sich der Dekonstruktion entzieht, was genuin unde-
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 149
konstruierbar ist, ist die Wette auf die Emanzipation selbst, und
nicht, wie Derrida dies meint, das messianische Versprechen.
Aber setzen wir uns mit einer solchen Interpretation nicht wie-
der der Kritik von Laclau aus? Ist die Entscheidung für die
Emanzipation weniger fraglich als das ethische Gebot, die Of-
fenheit zu »kultivieren«, das von Laclau an Derrida als proble-
matisch befunden wird? Wie läßt sich, nachdem gezeigt wurde,
daß das ethische Gebot, die Offenheit zu behüten, unnötig und
ungerechtfertigt sei, die Notwendigkeit der Entscheidung be-
gründen? Unsere Antwort auf diese Frage ist, daß die Entschei-
dung aus denselben Gründen notwendig ist, aus denen Derridas
ethisches Gebot überflüssig ist. Die Entscheidung ist deshalb
notwendig, weil aus der Situation, das heißt, aus der inkonsi-
stenten Menge alles mögliche, sowohl Demokratie als auch
Nicht-Demokratie folgen kann. Es stimmt zwar, daß die in einer
Situation einbeschlossenen Möglichkeiten nicht vollkommen be-
liebig sind, aber kein Situationsgesetz, keine Situationsregel gibt
an sich einer unter ihnen den Vorrang. Versuchen wir also die
Entscheidung für die Emanzipation etwas näher zu bestimmen.
Die Entscheidung für die Emanzipation zielt auf keinen Zweck
ab (auf die Versöhnung etwa), sie weist der Emanzipation kei-
nen besonderen Inhalt zu, ebenso schreibt sie ihr nicht im vor-
aus einen operativen Verwirklichungsmodus vor. Und umge-
kehrt, gerade weil diese genuin unbegründbare Entscheidung
für die Emanzipation jedem Inhalt gegenüber autonom ist, kann
sich ihr ein beliebiger Inhalt »anhängen«, d.h. ein beliebiger de-
konstruierbarer Inhalt. Nichts kann besser diese bloße, jedem
Inhalt vorgängige Entscheidungsgeste, dieses Zusammenfallen
von Entscheidung und Akt, vom Signifikanten und Handlung
veranschaulichen als jenes berühmt-berüchtigte »Aude!«, das
mindestens seit Kant als Losung der Aufklärung gilt: Wage es (zu
wissen, zu kämpfen, dich zu befreien)! Die Entscheidung für die
Emanzipation ist in gewisser Hinsicht nichts anderes als die
Leerstelle, in die konkrete emanzipatorische Forderungen einge-
schrieben werden.
Dem ersten Anblick nach scheinen wir das gleiche wie Derrida
zu behaupten: Auch für Derrida ist nämlich das messianische
Versprechen jene Leerstelle, in welche und in Bezug auf welche
konkrete Emanzipationsprojekte eingeordnet werden. Aber im
Unterschied zu Derrida, bei dem die Leere ursprünglich ist, als
(quasi)transzendentale Bedingung jeder Erfahrung fungiert, lau-
tet unsere These, daß diese Leere nicht etwas unmittelbar Gege-
150 JELICA ÍUMI”-RIHA
nis situiert. Wenn aber die Dislokation auf eine bestimmte Weise
immer schon da ist, zumindest potentialiter, dann gilt das kei-
neswegs auch für das Ereignis. Das Ereignis kommt vor oder
kommt nicht vor. Sein Vorkommen bleibt kontingent. Was aber
notwendigerweise gegeben werden muß, ist der Ort seiner Ein-
schrift, seiner Intervention: Die Dislokation. Das Problem liegt
hier darin, daß wir in einem Zirkelschluß gefangen sind. Denn
auch die Dislokation ist, auch wenn sie der Situation immanent
ist, keineswegs für jeden und von jedem Gesichtspunkt aus be-
merkbar. Im Gegenteil, sie ist, wie schon erwähnt, vom Gesichts-
punkt des Gesetzes aus überhaupt nicht bzw. nur in der verzerr-
ten Form einer empirischen Zufälligkeit wahrnehmbar. Um
überhaupt als Dislokation bemerkbar zu sein, muß ein Ereignis
vorkommen. Das Ereignis ist die »Verwirklichung« der Disloka-
tion, es ist die Verwirklichung der Destabilisierungseffekte der
Dislokation.
Aber so wie bei der Dislokation kommt auch beim Ereignis wie-
der das Bestimmungsproblem zum Vorschein, ja, es spitzt sich
sogar zu. Wenn das Verhältnis von Dislokation und Ereignis zir-
kulär ist, dann gilt das Gleiche für das Verhältnis von Entschei-
dung und Ereignis. Das Ereignis ist, wie wir mit Badiou sagen
werden, nur in der Situation möglich, bzw. die Situation ist im
Verhältnis zum Ereignis vorgängig27. Der Kern des Problems
liegt nun darin, daß das Ereignis der Ordnung des »Realen« an-
gehört, was wiederum bedeutet, daß seine zufällige und prekäre
Präsenz der Definition nach in kein Situationsgesetz einge-
schrieben werden kann. Wenn nämlich das Ereignis etwas ist,
das im Augenblick seines Erscheinens auch schon ausgelöscht
ist, dann liegt das Problem gerade darin, wie festzustellen sei, ob
das Ereignis überhaupt vorgekommen ist. In letzter Instanz muß
deshalb gesagt werden, daß es das Ereignis nur für die Entschei-
dung gibt, für das Deklarativ, das sein Bestehen verkündet.28 An-
ders gesagt, der Definition nach unentscheidbar ist das Ereignis,
und nicht die Situation. Hinsichtlich des Ereignisses bleibt näm-
lich stets der Verdacht bestehen, daß wir uns geirrt haben bzw.
daß wir ein Simulakrum des Ereignisses für ein Ereignis gehal-
ten haben. Diese Unentscheidbarkeit, das heißt, die Unent-
scheidbarkeit zwischen dem Ereignis und dem Nicht-Ereignis,
läßt sich der Definition nach nicht abschaffen. Was für Folgen
zieht diese radikale Unentscheidbarkeit für die Emanzipation
und für die Treue der Emanzipaton nach sich? Die »Postmoder-
nisten« folgern aus der Unentscheidbarkeit, daß jede Handlung,
152 JELICA ÍUMI”-RIHA
der Emanzipation geht es, wie wir gesehen haben, um kein Be-
wahren eines Emanzipationsinhaltes, wie erhaben dieser auch
sein mag (politische, rechtliche, soziale Gleichheit, Menschen-
rechte, Offenheit dem Anderen gegenüber), um kein Bewahren
eines Emanzipationsideals – sondern Treue der subjektiven Ma-
xime der Emanzipation, die Treue der Unterbrechung, die von
einer solchen Entscheidung bewirkt wird. Die Treue der Eman-
zipation ist also nichts anderes als die immer wieder beschlos-
sene Entscheidung für die Emanzipation.30 Und es ist also in
nichts widerspüchlich, wenn die subjektive Maxime Wage es! mit
dem Anachronismus artikuliert wird, ist ja der Anachronismus
nichts anderes als die Operation der Unterbrechung, eine Un-
zeitgemäßheit, von der eine neue Zeit möglich gemacht wird.
Wie ist das zu verstehen? Nun, damit wird nur behauptet, daß es
immer fortzufahren gilt, daß in jeder Situation die Dislokation
als Stelle einer möglichen Erneuerung des emanzipatorischen
Ereignisses von Neuem geortet weden muß, daß Spuren des
emanzipatorischen Ereignisses in der jeweiligen Situation auf-
gedeckt werden müssen. Damit erscheint auch die »unmögliche
Aufgabe«, von der Laclau spricht, in einem anderen Licht: Wenn
die Emanzipation nur als Post-Emanzipation möglich ist, dann
besteht die »unmögliche Aufgabe« nicht so sehr in der Dekon-
struktion von Grundlagen, Inhalten usw. der Emanzipation.
Eher besteht sie in einer fortwährenden Verifizierung des Eman-
zipationsaxioms. Diese Verifikation verlangt aber ein fort-
währendes Auffinden von Reaktivierungsmöglichkeiten, mit
Laclau gesprochen, ein fortwährendes Erschließen neuer Optio-
nen, das Erfinden neuer Protokolle, neuer Regeln, neuer Inhalte
für das Grundaxiom der Emanzipation. Emanzipation und Re-
aktivierung stimmen in gewisser Weise notwendig überein.
Die Treue der Emanzipation hat Folgen für das Verständnis und
die Praktizierung der Politik: die Politik ist weder mit der Ethik,
noch mit dem Recht, noch mit der Philosophie vernäht, sie ist
vielmehr autonom, d.h. sie schreibt sich selbst ihre eigenen
Axiome und Gesetze vor. In einer auf der Treue der Emanzipa-
tion aufgebauten Theorisierung der Politik geht es um eine Ope-
ration, die derjenigen der »Postmodernisten« symmetrisch ent-
gegengesetzt ist: Derrida und Lyotard »ethisieren« Politik und
Ontologie, bestehen auf dem Vorrang der Ethik bezüglich der
Politik, Laclau und andere emanzipationstreue Theoretiker wie-
derum »ontologisieren« die Politik. Von den ersten wird die Poli-
tik en bloc zurückgewiesen, da für sie jede Politik, auch die »be-
154 JELICA ÍUMI”-RIHA
ste«, schon in voraus verdächtig ist. Für die zweiten ist aber jede
Diskriminierung zwischen »politischer« oder »guter« Demokra-
tie und »unpolitischem« oder »schlechtem« Totalitarismus usw.
unpertinent und verdächtig, da sie darin nur verschiedene For-
men der politischen Subjektivierung, verschiedene Arten der Po-
litik sehen. Ihnen nach haben wir mit jenen Arten der Politik, die
»wir nicht mögen« (mit dem Totalitarismus, dem Terrorismus,
Faschismus usw.) nicht schon dadurch abgerechnet, daß wir sie
aus dem Feld des Politischen ausschließen und für eine Un-Poli-
tik erklären. Ganz im Gegenteil, gegen die Politik muß mit politi-
schen Aussagen, Diskursen, Praxen, und nicht mit moralischer
Verurteilung gekämpft werden.
Deshalb ist der Leitfaden und die »ewige« subjektive Maxime
einer der Emanzipation treuen Theorisierung und Praktizierung
der Politik in der Maxime, die wir Badiou entlehnen, zu finden:
Aussagen, Diskurse und Praxen, die in logischem Widerspruch
zu dem emanzipatorischen Gleichheitsaxiom stehen, müssen
praktisch unmöglich gemacht werden.31 Diese »ewige« Maxime,
die als Grundaxiom der Emanzipation zu verstehen ist, kann auf
verschiedene Weise formuliert werden: als Gleichheitsaxiom,
wie etwa bei Badiou und Ranciere, als Gleichsetzung von
Gleichheit und Freiheit, wie Balibar meint, als Gerechtigkeit,
wie Derrida behauptet. Daraus kann geschlossen werden, daß
die jeweilige Formulierung des Axioms nicht das ist, was wirk-
lich zählt: wesentlich ist vielmehr, daß das Axiom als eine immer
von Neuem zu verifizierende Voraussetzung behandelt werden
muß, d.h. als Axiom, das gewissermaßen nur so viel wert ist, wie
es wirksam ist.
ANMERKUNGEN
1 Wir denken hier vor allem an Laclaus Besprechung von Derridas Spect-
res de Marx »Time is out of Joint«, in Acta Philosophica, Institut of Philo-
sophy, Ljubljana, 2/1995.
2 E. Laclau, »Beyond Emancipation«, in Development and Change (SAGE,
London, Newbury Park and New Delhi), Vol. 23, 1992, No. 3, S. 122.
3 E. Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time, Verso, London,
New York, 1990, S. 37.
4 Ibid., S. 3f.
5 E. Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time, S. 34–35. Man
kann heute verschiedene Formulierungsweisen dieser Spaltung finden,
angefangen von Leforts schon klassischer Unterscheidung zwischen la
politique und le politique, über Balibars Begriffspaar der konstitutiven
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 155
26 Ibid..
27 Hier folgen wir in gewissem Maße Badious Konzeptualisierung des Ver-
hältnisses von Sein und Ereignis in Etre et événement.
28 Badiou spricht hier mehr von der interpretativen Intervention und der
Benennung des Ereignisses und weniger von der Entscheidung.
29 Ibid., S. 123.
30 Es ist wohl klar, daß es hier um keine Wiederholung einer »ursprüngli-
chen« Entscheidung geht. In der Terminologie Laclaus könnten wir sa-
gen, daß sich die Entscheidung in das Moment der Reaktivierung einord-
net. Cf. New Reflections … , S. 34–35.
31 Cf. A. Badiou, »Wahrheiten und Gerechtigkeit«, in Politik der Wahrheit,
hrsg. v. R. Riha, Turia&Kant, Wien 1996.
Das reine Politische
THANOS LIPOWATZ
I
Im folgenden versuchen wir, bestimmte Grundmotive der Theo-
rie Ernesto Laclaus kritisch zu würdigen. Davon bleibt sein Ver-
dienst um ein originelles Weiterdenken des Politischen unge-
schmälert. Ein Hauptanliegen seiner Theorie dürfte dabei die
Angst vor dem »Verschwinden« des politischen Diskurses sein.
Das bezeichnet er mit »Implosion«1 der Gesellschaft. Diese Ge-
fahr wurde erst in der nach-totalitären Ära nach 1945 sichtbar,
als der liberal-demokratische Gesellschaftsrahmen nicht aus-
reichte, um die Entpolitisierung der Massen und den Sinn-
schwund des Politischen zu verhindern, die er z.T. trotz aller De-
mokratisierungserfolge selbst erzeugte. Insbesondere scheint die
Herrschaft der Ökonomie und der Technik als der alles besim-
menden Diskurse die ganze Gesellschaft in ein amorphes Ge-
bilde von kleinkarierten Interessenskonflikten und Bedürfnisbe-
friedigungen zu verwandeln, in dem der Mangel und die symbo-
lische Differenz infolge der Nivellierung durch die Warenäquiva-
lente verschwinden.
Ernesto Laclau rekurriert auf die historischen Theorie-Praxis-
Debatten am Anfang des 20sten Jahrhunderts und in den 20er
Jahren, welche schon eine ähnliche Problematik zum Gegen-
stand hatten2. Allerdings fangen hier die Probleme der Interpre-
tation an, welche bedeutende praktische Folgen nach sich zie-
hen. Laclau meint, im Begriff des Antagonismus3 das Instrument
gefunden zu haben, mit dem er das Politische jenseits des Öko-
nomismus »lebendig« erhalten will. Er hat erkannt, daß der Be-
griff der Hegemonie4 darüber hinaus eine conditio sine qua non
DAS REINE POLITISCHE 159
II
Die Theorie der Identifizierung ist bei Freud und Lacan14 viel-
schichtig und zweideutig. Obwohl sie explizit den Übergang ins
Politische mitenthält, enthält sie doch auch die Frage nach dem
»Jenseits des Seins« (der Identität). Wenn das Politische der In-
halt der verkehrten Welt, des Seins der Realität ist, so ist das
zwar dialektisch zu verstehen, aber die Identität der Subjekte als
gespaltene weist auf etwas anderes hin. Der Begriff der Identifi-
DAS REINE POLITISCHE 161
zierung ist nicht vom Begriff des Begehrens (den Laclau nicht
erwähnt, denn er geht direkt zum Genießen über) zu trennen.
Und hier ist vom Differenzbegriff auszugehen. Sprachmäßig be-
deutet Differenz sowohl etwas Symbolisches als auch etwas Ima-
ginäres. In Anlehnung an das, was wir oben über die Figuren des
Imaginären gesagt haben, müßten wir die lacansche Unterschei-
dung zwischen einer symbolischen und einer imaginären Iden-
tität einführen. Beide existieren zwar zusammen, aber es geht
um die jeweilige Dominanz der einen über die andere. In der
imaginären Identität ist der Herrensignifikant des Namens der
Kristallisationspunkt aller Bilder des Selbst (moi). Andererseits
aber ist das Ichideal15 der Signifikant, der in der imaginären For-
mation das Symbolische vertritt, d.h. die Nicht-Identität später
ermöglichen wird.
Die Subjekte sind in ihrer Konsistenz zwischen der imaginären
(rivalisierenden, dämonisierenden, idealisierenden) und der
symbolischen (differenzierenden, mangelbejahenden, gewaltlo-
sen) Identität gespalten. Es genügt nicht, die Spaltung bloß als
einen Effekt des reinen Signifikanten zu bezeichenn und dann
die Beliebigkeit des imaginären Inhalts zu betonen. Der Haupt-
signifikant ist, bevor er zum Herrensignifikanten wird, der
Name-des-Vaters16, d.h. jener »Ur-Signifkant«, der garantiert,
daß das Subjekt jene symbolische Minimalkonsistenz erhält, die
es vor der Psychose schützt (was nicht immer gelingt), bevor es
sich anschließend in die Abenteuer des Begehrens der Neurose
und der Perversion stürzt (aber es gibt noch den Ausweg der
Sublimierung). D.h. der »leere« Signifikant ist nicht vom ethi-
schen Anspruch frei, denn letzterer ergeht an das Subjekt (zuerst
im Alter seiner Bildung, in der Kindheit und in der Pubertät) am
Platz des Anderen, der der Platz der Wahrheit ist. Das hat auch
Folgen für den Differenzbegriff und das Verhältnis des Subjekts
zur Gesellschaft.
Die symbolische Differenz17 ist jene Differenz (im Singular), wel-
che das Subjekt spaltet, weil es spricht und begehrt, wogegen die
Differenzen (im Plural) jene Differenzen im gesellschaftlichen,
empirischen Leben sind, welche die Bilder des Imaginären auf-
rechterhalten. Z.B. die Warendifferenzen, die ideologischen Dif-
ferenzen, die Gruppendifferenzen, die Interessensdifferenzen,
usw. Sie alle sind auswechselbar, äquivalent. Laclau hat das
Spiel zwischen den Differenzen18 und den Äquivalenzen analy-
siert; gleichwohl wird er dem psychoanalytischen Blick nicht ge-
recht. Denn die symbolische Differenz verschwindet hier hinter
162 THANOS LIPOWATZ
III
lem wenn sie selektiv und fragmentarisch bleibt, ohne den jewei-
ligen Rahmen zu berücksichtigen.
Die Psychoanlyse aber ist als Diskurs ein symbolisches Verhält-
nis zwischen zwei Subjekten, das auf einem Vertrag und auf der
Übertragung basiert; dieses Verhältnis hat ein aufklärerisches
Ziel33: dem Analysanden zu erlauben, sein eigenes Begehren zu
entdecken und sein Verhältnis zum Gesetz neu zu schreiben.
D.h. die (partielle) Wahrheit34 seines Begehrens ist unlöslich mit
seiner (partiellen) Freiheit verbunden: indem er sich von den
Phantasmen der Vergangenheit befreit (partiell) kann er so frei
werden, um mit dem realen Mangel jenseits der Phantasmen
konfrontiert zu werden, ohne ihm (dem Tod, der Depression) zu
verfallen, sondern stattdessen das Leben zu bejahen.
Daraus kann das Subjekt einen Sinn (partiell) entdecken und
sich gleichermaßen frei von Zwängen und von Beliebigkeit hal-
ten. Dabei ist das Gesetz keinesfalls identisch mit dem tyranni-
schen Über-Ich; wenn das bei Freud noch der Fall ist, so ist es
bei Lacan nicht mehr ganz der Fall, trotz seines Schwankens.
Unter Gesetz verstehen wir hier die lacanschen Definitionen:
»Du darfst Dein Begehren nicht aufgeben« und »Nicht alles ist
möglich«35.
Diese Problematik übersteigt diejenige des Politischen, obwohl
beide miteinander verflochten sein können. Man könnte die (an-
gebliche) Fragwürdigkeit des Gesetzes dahingehend verstehen,
daß das Gesetz auf überflüssige Weise etwas befiehlt oder verbie-
tet, das ohnehin unmöglich ist. Auf dieses Paradoxon hat Lacan
schon hingewiesen36; dies ist nur so zu verstehen, daß das Sub-
jekt einen realen und sprechenden Körper hat, d.h. mit den Trie-
ben behaftet ist, welcher auf Grund des Narzißmus die Tendenz
hat, den Mangel aufheben zu wollen. Man will gerade »alles«
und die »Stimme des Gewissens« erinnert einen daran, daß es
Grenzen gibt, bei deren Übertretung der Mangel verdrängt, ver-
leugnet oder verworfen wird.
Daß die Grenzen sekundärerweise immer imaginär besetzt wer-
den, ändert nichts an der Sache. Die Grenze selbst ist aber das
Gesetz, und es besteht eine Dialektik zwischen dem moralischen
und dem politischen Gesetz, welche aber keine Innerlichkeit,
sondern die Spaltung des Gesetzes voraussetzt. In diesem Sinne
kann das Politische nur zweierlei heißen: entweder das tradierte
Gesetz ausnutzen und zu Herrschaftszwecken zementieren oder
es immer wieder neu schreiben, damit dem Postulat der Freiheit
und der Gerechtigkeit (partiell) Genüge getan wird. Laclau be-
168 THANOS LIPOWATZ
IV
Laclau spricht statt von der Wahrheit vom Mythos44. Wenn man
unter Mythos eine gewisse Erzählstruktur über Vergangenes
oder Zukünftiges versteht, dann ist dieses Moment auch in der
Struktur der Wahrheit wiederzufinden. Aber Laclau meint, im
Anschluß an G. Sorel45, etwas anderes. Sorel hat jedoch seinen
eigenen Begriff des Mythos entwickelt, in Absetzung von den in-
tellektuellen Fiktionen, welche die Utopien sind. »Mythos«
meint hier den Mythos des Generalstreiks, mittels dessen eine
Mobilisierung der »Leidenschaften« der Proletarier oder ihrer
Substitute (Nation, usw.) gegen das »System« erreicht wird, die
ein Selbstzweck ist, ohne daß sie ihr vorgestelltes Ziel der Syste-
mabschaffung erreichen könnte. Dieser Mythosbegriff ist
äußerst problematisch, und nicht nur weil er gleichermaßen von
extrem Rechten und extrem Linken beansprucht wurde. Laclau
dekonstruiert die Sorelschen Analysen, ohne sich zu fragen, ob
das vielleicht in den Irrationalismus führt. Dahinter steckt aber
eine Verachtung der Massen, die bereit sein sollen, dieses Spiel
mitzumachen.
Denn damit der Mythos funktioniert, muß er geglaubt werden.
Nur die schlauen Intellektuellen werden wissen, daß dieser My-
thos den Mangel des Realen verdeckt, während die Massen wohl
an die totale Abschaffung des Mangels glauben werden. Reine
Politik schlägt hier in politische Mystik um; das war ja das Ziel
von Sorel, denn er verachtete die »schmutzige« und »korrupte«
Politik des liberal-sozialistischen »Systems« der Demokratie.
Aber die Dekonstruktionsmethode dürfte helfen, jenes »System«
der Demokratie nicht rigoristisch zu denunzieren, sondern es als
ein »Symptom« zu begreifen, mit dem man leben muß. Laclau
sieht das z.T. ein und identifiziert sich nicht explizit mit Sorel46,
sein Lob Sorels zeigt aber, daß er dessen Analysen für brauchbar
hält. Dieser Mythos von Sorel kann aber seine irrationale Struk-
tur nicht verbergen, denn die vergebliche Wiederholung des
Gleichen, die ewige Wiederkehr des Scheiterns, wobei die Gewalt
172 THANOS LIPOWATZ
»Größe« des Proletariats (oder der Nation) führen soll. Die Re-
kurse auf Walter Benjamin49 ändern die Sache nicht. Denn er hat
zwar solche apokalyptischen Momente der Gewalt in seiner
»Theorie der Gewalt« integriert, aber seine Perspektive ist trotz
allem eine eschatologische. Schließlich ist die Position von Sorel
antiliberal, antisozialistisch und antidemokratisch – weil sie
apokalyptisch ist.
VI
Laclau teilt diese extreme Position von Sorel nicht, bleibt aber
zweideutig. Aus dieser Zweideutigkeit der Position resultiert
sein Dezisionismus, dem etwas Heroisches anhaftet. Dies
kommt auch aus der Verabsolutierung des Politischen und sei-
ner Gleichsetzung mit dem existentiellen Sprung ins Reale her-
aus. Diese Haltung kommt aus einer existentiellen Verzweif-
lung50 heraus, die den reinen Willen zur Macht zu einem Willen
zur Revolution ohne Perspektive hochstilisiert. Der reine Wille
bedeutet hier die Verabsolutierung der Kontingenzen und der
Möglichkeiten eines Aktivismus, der sich weigert, das Realität-
sprinzip und seine Zwänge zu akzeptieren. So werden die parti-
ellen und reellen Erfolge im liberal-demokratischen Rahmen
verachtet; und so tritt die Realität gegenüber dem Realen
zurück. Der Dezisionismus ist dann der Sprung ins Reale; aber
ohne den Glauben, auf den Kierkegaard sich in seinen Analysen
bezieht, führt das zum Nihilismus, zur Entscheidung für die
Entscheidung.
Diese Haltung ist auch z.T. für Lacan charakteristisch. Seine
frühe Hochstilisierung des »reinen Begehrens«, das eigentlich
ein »Begehren-zum-Tod« ist, führte Lacan zur Idealisierung der
Figur Antigones51. Das ist aus dem großen Einfluß, den Alex-
andre Kojève auf ihn ausgeübt hatte, zu erklären. Später modifi-
zierte Lacan seine Haltung, und so schrieb er in Seminar XI52,
daß das Begehren des Analytikers kein reines Begehren sei. Aber
die nihilistische Haltung blieb bei ihm und bei vielen seiner
Schüler in der psychoanalytischen Praxis weiter bestehen.
Diese Einschätzung des Denkens Laclaus entspricht der ge-
schichtlichen Lage der postmodernen 80er und 90er Jahre. Diese
Lage hat eine gewisse Ähnlichkeit zu früheren Zeitabschnitten,
insbesondere zu den Anfängen des Jahrhunderts und zu der
Zwischenkriegszeit. Die postmoderne Lage wird spezieller durch
174 THANOS LIPOWATZ
ANMERKUNGEN
YANNIS STAVRAKAKIS
Zu Beginn möchte ich eine Konfusion aus dem Weg räumen, die
viele Diskussionen des Verhältnisses zwischen psychoanalyti-
scher Theorie und soziopolitischer Analyse begleitet. Wir kön-
nen uns diesem Punkt durch die Frage nähern: »Was verbindet
diese zwei Zugänge?«. Die übliche – aber völlig irreführende –
Antwort lautet: »Natürlich die Rolle des individuellen Akteurs in
der Politik«. Eine solche Sicht wurde als Kritik an Laclaus und
Mouffes Werk von Bellamy artikuliert: »Um ihre Einführung
psychoanalytischer Begriffe sinnvoller zu machen, müßten
Laclau & Mouffe genauer bezüglich der präzisen Natur der
Überschneidung zwischen dem Sozialen ( … ) und dem Psychi-
schen sein, das, so fragmentiert, entfremdet und dekonstruiert
auch immer, sicher ein bedeutender Faktor in der Implementie-
rung politischer Aktionen ist. Ihre Verwendung psychoanalyti-
scher Begriffe, um bestimmte ideologische und politische Phä-
nomene weiter zu beleuchten, ist zu breit eingesetzt, um die in-
dividuelle Psyche als Faktor in den Operationen der Ideologie in
Betracht zu ziehen« (Bellamy 1993:34–35). Hier möchte ich das
Konzept der »individuellen Psyche«, das Bellamy im Sinn hat, in
Frage stellen. Denn ihre Formulierung scheint einen gewissen
Widerstand zu verraten, eine letztlich essentialistische Perspek-
tive aufzugeben.
Hier muß betont werden, daß für Lacan die Psyche nichts ande-
res ist, als das pure substanzlose Subjekt als Mangel. Es ist die-
ser Mangel – als das charakteristische Merkmal von Subjekti-
vität –, der jede Identitätskonstruktion durch einen Identifika-
tionsprozeß gehen läßt. Durch die Einführung der Konzeption
des Subjekts als Mangel und durch die Anerkennung der konsti-
tutiven Gespaltenheit jeder Subjektivität (der Ich-Spaltung) radi-
kalisiert daher die Freudo-Lacanianische Psychoanalyse nicht
nur unser Verständnis des Subjekts in der Politik, sondern bietet
eine kohärente Beschreibung der Relation zwischen der subjek-
tiven und der objektiven Ordnung, wobei die letztere zur Ebene
des Sozialen gehört. Der Schlüsselbegriff für das Verständnis
dieser Relation ist natürlich »die psychoanalytische Kategorie
der Identifikation, mit ihrer expliziten Annahme eines Mangels
an der Wurzel jeder Identität: Man muß sich mit etwas identifi-
zieren, weil es einen originären und unübersteigbaren Mangel
an Identität gibt« (Laclau 1994:3).
180 YANNIS STAVRAKAKIS
II
III
Aber was ist mit Lipowatz’ zweiter Befürchtung, also der Be-
fürchtung, daß Laclau die ethische Dimension negiere und daß
das Primat, welches er dem Politischen, dem Kontingenten und
der Negativität zuschreibt, zu einem Relativismus oder einem
Nihilismus führt, der jedes demokratische Projekt gefährdet?
Zuallererst muß gesagt werden, daß Laclau in keiner Weise das
Moment der Ethik negiert, besonders nicht im Kontext seines
radikal-demokratische Projekts. Das letzte Kapitel von Hegemo-
nie, sowie eine Reihe seiner Artikel inklusive »Universalism, Par-
ticularism and the Question of Identity« (Laclau 1992) und »God
Only Knows« (Laclau 1991), um nur zwei zu nennen, sind be-
sonders mit diesen Themen befaßt. Daher besteht der einzige
Weg, aus Lipowatz Kritik Sinn zu machen, darin, sie als Wider-
spruch zur bestimmten Weise zu lesen, in der Laclau mit diesen
Fragen umgeht. Lipowatz’ Angst scheint zu sein, daß durch die
Betonung der Irreduzibilität und Konstitutivität des Politischen
und des Kontingenten Laclau jede rationale Basis für Ethik und
Demokratie zerstören und deren Zukunft gefährden würde. Ähn-
liche Punkte wurden von Bellamy und Butler vorgetragen. Bel-
lamys Bedenken werden auf der subjektiven Ebene artikuliert:
186 YANNIS STAVRAKAKIS
ANMERKUNGEN
Ich möchte Ernesto Laclau, Thanos Lipowatz und Jason Glynos danken, mit
denen allen ich frühere Versionen dieses Artikels diskutiert habe.
LITERATUR
SIMON CRITCHLEY
rung des Denkens der Ökonomie von seinem frühesten Werk an,
insbesondere in seinem Essay zu Bataille, und seine erhellenden
Kommentare zum Marxismus während des »Politischen Semi-
nars« zu Les fins de l’homme.2 Wenn allerdings Dekonstruktion
eine bestimmte Rezeption, Fortführung und fortgeführte Radi-
kalisierung des marxistischen Erbes darstellt, dann sind wir
einem Verständnis dessen, was das bedeuten könnte, immer
noch nicht nähergekommen. Um das zu tun, möchte ich kurz
die in SdM vorgetragene Hypothese diskutieren und ein paar Be-
merkungen zum Kontext des Buches machen. In Fortführung
dieser Diskussion möchte ich mich dann dem Thema des Politi-
schen zuwenden und dessen Sub-Themen der Hegemonie, der
Entscheidung und der Neuen Internationale. In diesem Zusam-
menhang werde ich die Verbindung zwischen Derridianischer
Dekonstruktion und dem Werk Ernesto Laclaus erkunden.
DIE HYPOTHESE
KONTEXT
erbt – was er die Abschaffung des Staates nennt und worauf En-
gels sich bezieht als dessen Schwinden. Gegen die störende Ten-
denz, innerhalb Marx’ Ontologie das Politische dem Sozio-Öko-
nomischen unterzuordnen, was in den Ökonomismus der Zwei-
ten Internationale überführt wurde, kann Derridas Argument für
eine Logik der Spektralität im Marxismus angebunden werden
an die Forderung nach der Irreduzierbarkeit des Politischen,
verstanden als jener Moment, in dem die sedimentierten Bedeu-
tungen des Sozio-Ökonomischen herausgefordert werden. Erne-
sto Laclaus Radikalisierung Gramscis folgend ließe sich die Lo-
gik der Spektralität mit der Logik der Hegemonie verbinden;
d.h., wenn man – wie man muß – die kommunistische eschatolo-
gische »A-Theodizee« der unweigerlich in Revolution kulminie-
renden ökonomischen Widersprüche zurückweist, dann ist Poli-
tik und politisch-kulturell-ideologische Hegemonisierung für die
Möglichkeit radikaler Veränderung unerläßlich.
Laclau hat auf die hier versuchte Lektüre von SdM in seinem Re-
view-Essay »The Time is Out of Joint« geantwortet, der in
Diacritics erscheinen wird, wo er einige wichtige kritische Klari-
fikationen von Derridas Argumenten anbietet, insbesondere zur
Frage der Notwendigkeit von Inkarnationsdiskursen und der
irreduziblen Teleologie des klassischen Emanzipationsdiskurses,
den Derrida angeblich unterstützen wolle. Doch Laclau ist nicht
überzeugt von der Notwendigkeit des Schritts von einem Begriff
der messianischen Versprechung zu einer ethisch-politischen
Forderung, in dem von mir in diesem Essay und in meinen an-
deren Arbeiten entwickelten Sinn. Für Laclau fließt kein ethi-
scher Imperativ levinasischer Art aus der Unentscheidbarkeit,
und demokratische Politik braucht nicht in einem solchen ver-
ankert werden. Er schließt, indem er die von ihm so einge-
schätzte Ambiguität in Derridas Arbeit zwischen Unentscheid-
barkeit als Terrain der Radikalisierung der Entscheidung und
Unentscheidbarkeit als Quelle einer ethischen Forderung ins
Auge nimmt. Sollte das tatsächlich eine Ambiguität bei Derrida
sein (und ich bin nicht völlig überzeugt davon), dann stehen
Laclau und ich an den gegenüberliegenden Polen dieser Ambi-
guität. Trotzdem habe ich mit der folgenden Diskussion des Poli-
tischen die Ambition zu zeigen, wie diese zwei Pole in eine Form
produktiver Spannung eintreten können.
200 SIMON CRITCHLEY
DAS POLITISCHE
ANMERKUNGEN
JUDITH BUTLER
fen ist. Aber welche Form von sozialer Praxis ist Logik – insofern
sie die soziale Konstruktion und Sanktion ihrer eigenen Arbeits-
weise überdeckt?
Hier wird man die Unterscheidung zwischen einerseits konzep-
tuellen Idealen oder Prinzipien bemerken, und andererseits so-
zialen Formationen, wie sie sowohl in habermasianischen
Bemühungen, kommunikative Ethik zu gründen, als auch in
manchen dekonstruktiven Ausarbeitungen des Utopischen auf-
scheinen. In beiden Kontexten wird die Kantsche Annahme
getätigt, die Kriterien, durch die eine gegebene soziale Forma-
tion vermessen wird, seien selbst kein Effekt genau dieser sozia-
len Formation, sondern Idealitäten oder Prinzipien, die sich
einer ontologischen Integrität unabhängig von (oder sogar in-
nerhalb von) den sozialen Formationen oder Praktiken erfreuen,
die sie sowohl motivieren wie vermessen. Was ist für die schein-
bare Trennbarkeit des Logischen vom Sozialen verantwortlich,
sodaß man die Logik des Sozialen anrufen könnte, als wäre
diese Logik nicht selbst der destillierte und sedimentierte Effekt
sozialer Praktiken?
Das bedeutet nicht zu sagen, daß da kein Raum für eine logische
Analyse sei, sondern nur zu fragen, ob die theoretische Demar-
kation »des logisch Möglichen« als ein normatives Ideal für so-
ziale Praktiken ausreicht, wenn die Annahme einer radikalen lo-
gischen Trennung zwischen dem Logischen und dem Sozialen
von Anfang an die Realisierbarkeit einer logischen Norm inner-
halb der Domäne des Sozialen ausschließt.
Wenn wir Logik selbst als eine soziale Praxis verstehen, eine Art
Sprachspiel, dann scheint es, daß wir mit einer anderen Reihe
von Fragen schließen können, die uns zur Frage zurückbringen,
was es bedeuten könnte, Poststrukturalismus als eine Theorie
für postmarxistische Zeiten zu historisieren. Letzteres würde
nicht die Frage beinhalten, eine Theorie namens Poststruktura-
lismus innerhalb eines Kontexts namens Geschichte zu plazie-
ren, denn das hieße, Poststrukturalismus seiner historischen
Kraft zu berauben und gleichzeitig Geschichte ihre theoreti-
schen Voraussetzungen zu verunmöglichen. Die Sphäre logi-
scher Relationen nicht nur von sozialer Praxis zu reinigen, son-
dern – wichtiger – von sozialer Macht, heißt die soziale Macht
der logischen Analyse zu ratifizieren und das logisch Ableitbare
an die Stelle des historisch Produzierbaren zu setzen. Denn we-
der das radikal Neue noch die subversive Wiederholung kann lo-
gisch garantiert werden; es wird eine notwendige Differenz zwi-
222 JUDITH BUTLER
schen dem geben, was als logisch möglich gezeigt wird, und
dem, was in jedem gegebenen Nexus von Diskurs und Macht zu
realisieren möglich ist.
Der Begriff »Poststrukturalismus« schließt heute eine Reihe von
Theorien ein, die nicht immer miteinander kompatibel sind, und
die derridianischen Positionen, die ich skizziert habe, hängen
von einer logischen Analyse ab, die nicht immer den breiteren
Diskursbegriff, wie er in Foucault zu finden ist, und noch viel
weniger dessen Machttheorie in Betracht zieht. Würde man in
einer foucaultianischen Stimmung fragen, wie die Domäne des
Möglichen, des Intelligiblen, des Logischen umschrieben wird –
und durch diese Umschreibung also auch produziert wird –,
dann würde man den Grenzen des Intelligiblen begegnen als von
sozialen Regulationsstrategien kontrolliert. Was tatsächlich
denkbar oder intelligibel ist oder nicht, was sagbar ist oder
nicht, wird durch ein variables Set von Begrenzungen fixiert, die
Verschiebungen unterliegen, die mit stärkerer und schwächerer
Rigidität aufscheinen. Diese Begrenzungen werden Effekte spe-
zifischer Machtstrategien sein. Wenn wir die Beschränkungen
des Denkbaren als historische Beschränkungen denken, fragen
wir, wie Machtverhältnisse bestimmte Objektarten als denkbar
und wißbar konstruieren und wie diese Konstruktion durch die
simultane und begleitende Konstruktion des Undenkbaren und
Unwißbaren stattfindet. Die Domäne der Logik ist genau so ein
Instrument zur Regulation dessen, was und was nicht gesagt
werden kann; logische Relationen sind, wie Paul de Man vor-
schlug, nicht beschreibend, sondern befehlend: nicht »das ist,
wie die Welt ist«, sondern vielmehr »das ist, wie die Welt sein
sollte« (de Man 198). Was das Logische vom Unlogischen unter-
scheidet, wird im Verhältnis zur vorschreibenden Dimension
von Macht bestimmt und wird den Machtstrategien entspre-
chend variieren. Die Grenzen des intelligiblen Diskurses werden
dann zu den Orten, an denen die Produktion des Intelligiblen
ihre dürftigen und strategischen Fundamente exponiert. Aber
das bedeutet natürlich auch, daß durch Macht reguliert wird,
was das »logisch Mögliche« konstituiert, und daß gleichermaßen
reguliert wird, was das Unmögliche konstituiert. Auf diese Weise
ist dann die Domäne des Logischen Instrument und Effekt so-
zialer Macht und weder deren innere Arbeitsweisen noch das
transzendentale Ideal, durch das es implizit reguliert ist, aber
dem es sich nie völlig annähert. Denn das unrealisierbare Ideal
ist vielleicht vollständiger sanktioniert als das realisierbare
POSTSTRUKTURALISMUS UND POSTMARXISMUS 223
ANMERKUNGEN
LITERATUR
ANMERKUNGEN
1 Judith Butler, Gender Trouble, New York, Routledge, 1990 (dt. Das Un-
behagen der Geschlechter, FfM., Suhrkamp, 1991)
2 Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy,
London, Verso, 1985
3 Anna Marie Smith, New Right discourse on race and sexuality, Cam-
bridge, Cambridge University Press, 1994
4 Stuart Hall und Martin Jacques (Hg.), The Politics of Thatcherism, Lon-
don, Lawrence and Wishart, 1983; und Stuart Hall, The Hard Road to Re-
newal, London, Verso, 1988.
5 Dies sind meine Beispiele.
6 Laclau und Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy, op.cit., S. 159
7 Ibid. S. 183–4.
8 Ibid. S. 182, Italisierung A.-M. S.
9 June Jordan, interviewt von Prathiba Parmar, »Black feminism: The Po-
litics of Articulation«, in Jonathan Rutherford (Hg.), Identit: Community,
Culture, Difference, London, Lawrence and Wishart, 1990, S. 112
10 Chela Sandoval, »Feminism and Racism: A Report on the 1981 National
Women’s Studies Association Conference«, in Gloria Anzaldúa (Hg.),
Making Face, Making Soul, San Francisco, Aunt Lute Foundation Books,
1990, S. 66–7.
11 Gayle Rubin, »The Traffic in Women: Notes on the ›Political Economy‹
of Sex«, in Reyna Reiter (Hg.), Toward an Anthropology of Women, New
York, Monthly Review Press, 1975, S. 157–210.
12 Butler, Gender Trouble, op.cit., S. 136
13 Ibid, S. 33
14 Ernesto Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time, London,
Verso, 1990
15 Butler, Gender Trouble, op.cit., S. 149
16 Ibid., S. 128
Gleichheiten und Differenzen
JUDITH BUTLER
ERNESTO LACLAU
Ernesto,
wir wurden gebeten, ein Gespräch über Gleichheit und zum Pro-
blem akzeptabler und inakzeptabler Differenzen zu beginnen.
Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll, und denke, Sie würden
wohl das Gefühl von Unbehagen teilen, das aus der Bitte um
eine Entscheidung darüber folgt, welche Arten von Differenzen
in eine ideale politische Ordnung inkludiert werden sollten, und
welche Arten von Differenzen die eigentliche Möglichkeit politi-
scher Ordnung untergraben, vielleicht sogar die eigentliche Ide-
alität, ohne die kein demokratischer Begriff von politischer Ord-
nung verfahren kann. Ich bin auch ein wenig verwirrt durch die
Frage, ob oder ob nicht die Idee von Einschließung und Aussch-
ließung, von der ich weiß, daß sie Ihr Werk nun seit einiger Zeit
beschäftigt, strikt mit dem Gleichheitsbegriff korreliert. So
werde ich vielleicht beginnen, indem ich eine Reihe von Unter-
schieden zwischen »Inklusivität« und »Gleichheit« anbiete. Es
scheint mir, daß Inklusivität ein Ideal ist, ein Ideal, das unmög-
lich zu realisieren ist, aber dessen Unrealisierbarkeit dennoch
den Weg anzeigt, auf dem ein radikal-demokratisches Projekt
fortschreitet.
Ich denke, daß einer der Gründe oder der zentrale Grund,
warum Inklusivität zum Scheitern verurteilt ist, genau darin
liegt, daß die verschiedenen Differenzen, die in die politische
Ordnung zu inkludieren sind, nicht im vorhinein feststehen, daß
sie in entscheidender Weise in einem Prozeß der Formulierung
und Ausarbeitung stehen und daß es keine Möglichkeit gibt, im
vorhinein die Form zu umschreiben, die ein Ideal von Inklusi-
DISKUSSION 239
*
DISKUSSION 241
Liebe Judith,
ich stimme Ihnen weitestgehend zu. Lassen Sie mich Ihre Ana-
lyse mit drei Anmerkungen ergänzen. Die erste betrifft das Ver-
hältnis zwischen Gleichheit und Differenz. Nicht nur denke ich,
daß diese beiden Begriffe nicht unvereinbar sind, sondern ich
würde sogar hinzufügen, daß die Verbreitung von Differenzen
die Vorbedingung für die Ausbreitung der Äquivalenzlogik ist.
Zu sagen, daß zwei Dinge gleich sind – i.e., daß sie sich in eini-
gen Hinsichten gleichen –, setzt voraus, daß sie in einigen ande-
ren Hinsichten voneinander verschieden sind (andernfalls gäbe
es keine Gleichheit sondern Identität). Im politischen Feld ist
Gleichheit ein Diskurstyp, der mit Differenzen zu arbeiten ver-
sucht; sie ist eine Weise, diese zu organisieren, wenn Sie so wol-
len. Etwa das Recht aller nationaler Minoritäten auf Selbstbe-
stimmung anzunehmen, bedeutet anzunehmen, daß diese Mino-
ritäten einander äquivalent (oder gleich) sind. Als allgemeine
Regel würde ich sagen, daß je fragmentierter eine soziale Iden-
tität ist, desto weniger überschneidet sie sich mit der Gemein-
schaft als ganzer und desto stärker wird sie ihren Ort in Rechts-
begriffen (i.e. in Begriffen eines Gleichheitsdiskurses, der die
fragliche Gruppe transzendiert) innerhalb dieser Gemeinschaft
verhandeln müssen. Das ist der Grund, warum ich denke, daß
eine Politik des reinen Partikularismus sich selbst besiegt. Ande-
rerseits, denke ich, ist es notwendig, solche Situationen, in de-
nen eine anti-egalitäre Politik durch die Imposition eines domi-
nanten und uniformen Kanons stattfindet (das ist die Situation,
mit der heute multikulturelle Kämpfe in der angelsächsischen
Welt konfrontiert sind), von jenen zu unterscheiden, in denen
die Diskriminierung durch die gewaltsame Verteidigung von Dif-
ferenzen stattfindet, wie in der Idee der »separaten Entwicklun-
gen«, die das Herz der Apartheid bildete. Das bedeutet, daß je
nach Umständen Gleichheit zu einer Verstärkung oder zu einer
Schwächung von Differenzen führen kann.
Meine zweite Anmerkung betrifft die Frage der Ausschließung.
Ich stimme Ihnen darin zu, daß das Ideal totaler Gleichheit un-
erreichbar ist, und auch darin, daß eine Gesellschaft ohne jegli-
che Art von Ausschließung ein psychotisches Universum wäre.
Was ich hinzufügen möchte, ist, daß die Erfordernis von Aus-
schließung der Struktur jedes Entscheidens eingeschrieben ist.
Wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe, muß eine
Entscheidung, um eine Entscheidung zu sein, auf strukturell un-
entscheidbarem Terrain getroffen werden – andernfalls wäre,
242 JUDITH BUTLER – ERNESTO LACLAU
Ernesto,
danke für Ihre Antwort. Ich würde mich gerne auf Ihre letzten
zwei Punkte konzentrieren, den einen betreffend Ausschließung
und ihre Rolle in jedem Entscheiden, den anderen die Frage be-
treffend, wie man entscheiden könnte, welche Ausschließungsar-
ten getroffen werden müssen, damit Gleichheit ein aktives Ideal
bleibt. Ich denke, daß die zwei auf interessante Weise miteinan-
der verknüpft sind, und die Verknüpfung drängt sich mir durch
Ihren Fokus auf das »Entscheiden« in beiden Kontexten auf. Ich
denke, Sie behaupten zurecht, daß keine Entscheidung eine Ent-
scheidung sein kann, wenn sie im vorhinein von einer Struktur
irgendeiner Art determiniert ist. Denn damit es eine Entschei-
dung gibt, muß es irgendeine Kontingenz geben, was nicht das-
selbe ist, wie zu sagen, es müsse radikale Kontingenz geben. Ich
nehme an, daß es die relative Determination einer Struktur ist,
die eine Position wie Ihre unterscheidet von einer existentialisti-
scheren oder von einer konventionellen liberal-individualisti-
schen Sicht auf das »Entscheiden«. Ist es allerdings nicht mög-
lich, ein Konzept von Kontext zu entwickeln – wie es in Ihrer
Antwort auf die Frage angesprochen wurde, wie zu entscheiden
sei, was und was nicht in eine politische Ordnung inkludiert
werden sollte, und welche bestimmte »Differenzen« unzulässig
sind? Es scheint klar, daß eine dekontextualisierte Antwort auf
die Frage, was nicht inkludiert werden sollte, unmöglich ist, und
ich denke, daß das Bemühen, Prinzipien auszuarbeiten, die radi-
kal kontextfrei sind, wie es manche »Prozeduralisten« erstreben,
einfach darin besteht, den Kontext in das Prinzip einzubetten
und dann das Prinzip so zu rarifizieren, daß dessen eingebette-
ter Kontext nicht länger lesbar ist. Und doch läßt uns das in
einem Dilemma zurück, da ich mir vorstellen könnte, daß Sie
die von Derrida in »Signatur, Ereignis, Kontext« aufgeworfenen
Fragen bezüglich der »Unbegrenzbarkeit« von Kontexten so
überzeugend finden wie ich. Ich denke, daß Kontexte in be-
stimmter Weise von Entscheidungen produziert werden, das
heißt, es gibt eine bestimmte Verdopplung des Entscheidens in
der Situation (dem Kontext?), in der jemand zu entscheiden ge-
beten wird, welche Differenzarten in eine gegebene politische
Ordnung nicht inkludiert werden sollten. Da gibt es zuerst die
Entscheidung, den Kontext, in dem solch eine Entscheidung ge-
troffen werden wird, zu markieren oder einzugrenzen, und dann
gibt es die Markierung bestimmter Differenzarten als unzuläs-
244 JUDITH BUTLER – ERNESTO LACLAU
sig. Die erste Entscheidung ist selbst nicht ohne Kontext, aber
sie wäre demselben infiniten Regreß unterworfen wie die zweite,
denn es gäbe keinen originalen oder bestimmenden Kontext, der
nicht gleichzeitig durch eine Entscheidung irgendeiner Art be-
grenzt wäre.
Ich halte es für einen Fehler zu denken, wir wären fähig, un-
zulässige »Differenzarten« aufzulisten, nicht nur weil Sie und
ich nicht die Macht zu solchen Entscheidungen haben, sondern
weil die Form der Frage sowohl mißdeutet, was eine Entschei-
dung ist, als auch was wir unter »Differenzen« verstehen kön-
nen. Wenn es, wie Sie sagen, keine Entscheidung ohne Aus-
schließung gibt, ohne daß etwas verworfen und dabei ein Set von
Möglichkeiten umrissen wird, das durch diese Verwerfung her-
vortritt, dann macht Ausschließung, wie Sie sagen, Entscheiden
möglich. So ist die Frage vielleicht, welche Entscheidungsarten
machen Entscheiden möglich, und muß das Treffen einer »Ent-
scheidung« dergestalt bewertet werden, daß bestimmte Arten
von Ausschließungen konstitutive Ausschließungen bleiben soll-
ten? Das erinnert mich an Nietzsches Frage: Wie wird der
Mensch zu einem Tier, das dazu fähig ist, Versprechen zu geben?
Wie kann irgendwer von uns (durch eine bestimmte Art konsti-
tutiver Verwerfung) zu einem solchen Lebewesen werden, das
Entscheidungen treffen kann und trifft? Ich habe nicht die Ab-
sicht, die an uns gestellte Frage über die Unzulässigkeit be-
stimmter »Differenzen« zu umgehen, aber ich habe immer noch
Schwierigkeiten, die Frage zu lesen. Ich frage mich, ob es sich
um ein Problem von »Differenzen« handelt, verstanden als spe-
zielle Identitätsformen oder Gruppenformationen, oder ob wir
das Feld der Differenzen im Spiel halten wollen, im Disput,
während das, worauf unter der Rubrik »unzulässige Differen-
zen« Bezug genommen wird, wirklich etwas ist, das das Spiel
der Differenzen zum Stillstand bringt. Ich freue mich auf Ihre
weiteren Gedanken.
Judith
*
DISKUSSION 245
Liebe Judith,
ersteinmal denke ich, daß das Spiel der Differenzen zur selben
Zeit eine Eröffnung und eine Stillstellung dieses Spiels ist. Ich
sage das, weil ich nicht denke, etwas wie ein unbegrenztes Spiel
der Differenzen könne beibehalten werden, nicht einmal als ein
aktives Ideal. Ich kann das Terrain mancher historischer Mög-
lichkeiten nur öffnen, indem ich andere schließe. Das entspricht
der Behauptung, daß es Politik ist, und nicht die Idee unbe-
schmutzter Präsenz, die soziale Verhältnisse organisiert. Ande-
rerseits verstehe ich nicht, was ein »sich selbst ›internes‹ Spiel
der Differenzen« sein könnte. Wenn Identität Differenz bedeutet,
dann erfasse ich die Idee eines der Differenz internen »Spiels der
Differenzen« nicht vollständig. Statt dessen denke ich, daß das
Spiel der Differenzen jede rigide Grenze zwischen dem Internen
und dem Externen subvertiert. Was mich dazu führt, daß ich
den Gleichheitsbegriff – vom Gesichtspunkt seiner konstitutiven
Strukturierung – im Feld dessen orten würde, was ich die »Äqui-
valenzlogik« genannt habe; d.h. ein Prozeß, durch den die diffe-
rentielle Natur jeder Identität gleichzeitig behauptet und subver-
tiert wird. Nun ist eine Äquivalenzkette nach ihrer eigentlichen
Definition konstitutiv offen, es gibt keine Möglichkeit, ihre
Grenzen in einem dekontextualisierten Universum zu etablieren.
Politik ist in diesem Sinn eine doppelte Operation des Brechens
und Ausweitens von Äquivalenzketten. Jeder ernsthafte politi-
sche Prozeß in einem konkreten Kontext ist genau ein Versuch,
teilweise Äquivalenzen auszuweiten und teilweise deren endlose
Ausweitung zu begrenzen. Ich verstehe Liberalismus als einen
Versuch, die Bedeutung von Gleichheit innerhalb definiter Para-
meter (Individualismus, die rigide Unterscheidung zwischen öf-
fentlich/privat, etc.) zu fixieren, die historisch begrenzt und in
vielerlei Hinsicht durch die Erfahrung gegenwärtiger Politik
überkommen sind – und nicht immer in eine fortschrittliche
Richtung. Die grundlegenden liberalen Unterscheidungen zu de-
konstruieren und dabei ein demokratisches Potential zu behal-
ten, ist, wie ich es sehe, die Aufgabe einer radikal-demokrati-
schen Politik.
Ich komme nun, Judith, zu Ihren Reaktionen auf meine Bemer-
kungen. Ich freue mich festzustellen, daß wir in den meisten
Fragen übereinstimmen. Wir wollen zu Beginn einen Punkt
klären. Ich stimme Ihnen mit Sicherheit darin zu, daß »radikale
Kontingenz« ein inakzeptabler Begriff ist, wenn wir darunter
246 JUDITH BUTLER – ERNESTO LACLAU
*
248 JUDITH BUTLER – ERNESTO LACLAU
Ernesto,
vieles in Ihrem letzten Text gibt zu Denken auf, und ich hoffe im-
stande zu sein, im folgenden in einige der angesprochenen Fra-
gen einzudringen. Ich stimme Ihrer Formulierung der Äquiva-
lenzlogik durchaus zu, nämlich als einem »Prozeß, durch den
die differentielle Natur jeder Identität gleichzeitig behauptet und
subvertiert wird«. Und ich frage mich, ob ein Nachdenken über
Äquivalenzen nicht das durch die Gleichheitsfrage hervorge-
brachte Dilemma signifikant beeinflußt. Es schien mir immer,
daß Sie und Chantal Mouffe versuchten, eine strukturelle Offen-
heit (und somit einen »Poststrukturalismus«) am Problem der
Identität zu unterstreichen, die gleichzeitig den Platz der Iden-
tität in gegenwärtigen politischen Formationen honoriert, aber
dessen gründenden oder »ontologischen« Anspruch keineswegs
honoriert. Ich nehme an, daß Ihr im folgenden Absatz einge-
brachtes Argument der Kontingenz ebenfalls auf die Frage von
Identität und Äquivalenz antwortet: Soweit alle Identitäten
darin scheitern, vollständig strukturiert zu sein, sind sie alle glei-
chermaßen (obwohl nicht wesenhaft oder »ontologisch«) durch
dasselbe konstitutive Scheitern geformt. Diese »Selbigkeit« ist
interessant, da man sie nicht rigoros im Sinne eines gegebenen
»Inhalts« verstehen darf. Im Gegenteil, sie ist es, was das Schei-
tern jedes gegebenen »Inhalts« garantiert, auf den Status des
Ontologischen oder – wie ich es nenne – »Gründenden« erfolg-
reich Anspruch zu erheben. Ich verstehe, daß sie auf Lacan
zurückgreifen, um diesen Mangel oder dieses Scheitern zu er-
klären, und das ist es, worin ich mich möglicherweise von Ihnen
unterscheiden würde; ein Unterschied in der Betonung. Denn
ich denke, daß das Scheitern jeder Subjektformation ein Effekt
ihrer Wiederholbarkeit ist; sie muß in der Zeit formiert werden,
immer und immer wieder. Man möchte sagen, via Althusser, daß
das Ritual, durch das Subjekte formiert werden aufgrund dieser
Notwendigkeit, sich selbst zu wiederholen und zu reinstallieren,
immer einem wiederholten Gang oder Verlauf unterworfen ist.
Doch ich frage mich, ob dieses Scheitern für uns beide nicht zu
einer Art universaler Bedingung (und Grenze) der Subjektforma-
tion wird; zu einem Weg, über den wir immer noch eine gemein-
same Bedingung geltend zu machen versuchen, die von einem
transzendentalen Status im Verhältnis zu partikularen Differen-
zen ausgeht. Insoweit als wir – was unsere »Differenz« auch sein
mag – immer nur partiell als wir selbst konstituiert sind (und
DISKUSSION 249
*
DISKUSSION 251
Liebe Judith,
die Probleme, die Sie in Ihrem letzten Text angesprochen haben,
würden in der Tat mehr Gedanken und Raum beanspruchen als
mir die Grenzen dieses Austauschs erlauben. Lassen Sie mich
dennoch einige Ihrer grundlegenden Punkte ansprechen.
1) Sie sagen bezüglich meines Begriffs der demokratischen He-
gemonie, daß Sie ihm aus vollem Herzen zustimmen, wenn Sie
ihn richtig verstanden haben. Tatsächlich haben Sie ihn perfekt
verstanden, also gibt es da keinen Streit zwischen uns über die-
sen zentralen Punkt meines Arguments.
2) Lassen Sie mich zu unserer Differenz in der Betonung des
Scheiterns jedes gegebenen Inhalts, den Status des »Gründen-
den« zu behaupten, folgendes sagen. Ich stimme völlig mit Ih-
nen darin überein, »daß das Scheitern jeder Subjektformation
ein Effekt ihrer Wiederholbarkeit ist«. Diese Formulierung prä-
sentiert dennoch eine Ambiguität. Denn es ist ohne weiteres
möglich, diese Wiederholbarkeit als etwas zu denken, dessen Re-
kurrenz – oder besser Linearität – die ontologische Differenz
auslöscht – i.e., dessen Bewegung zwar auf jeder Stufe unvoll-
ständig ist (und in diesem Sinne ein Scheitern), das aber als ein
System nichts außerhalb seiner selbst läßt. In diesem Fall wür-
den wir uns im Bereich von Hegels Logik befinden: Das Schei-
tern jeder einzelnen Stufe kann nicht als solches repräsentiert
werden, da es »für sich« auf einer höheren Stufe ist – und es
ergo nie ein konstitutives Scheitern, nie ein ultimatives Stecken-
bleiben gibt. Die Insistenz des Seins durch seine verschiedenen
Manifestationen ist nichts jenseits der Sequenz der letzteren.
Was jedoch, wenn die Logik von Scheitern/Wiederholung nicht
die Logik der Aufhebung ist, wenn es die Kontingenz der Serien
ist, die in der Wiederholung insistiert, die Hoffnungslosigkeit ih-
res Versuchs einer ultimativen Schließung? In diesem Fall kann
sich der Moment des Scheiterns und der Hoffnungslosigkeit
dem Repräsentationsfeld nicht entziehen. Die Varietät der Insi-
stenz, die Präsenz der Absenz des Objekts, das jede mögliche
Wiederholung in Gang hält, muß irgendeine Form diskursiver
Präsenz haben. Das Scheitern der ontologischen Absorption des
ganzen ontischen Inhalts öffnet den Weg für eine konstitutive
»ontologische Differenz«, die Macht, Politik, Hegemonie und
Demokratie ermöglicht. Nun denken Sie, daß das – soweit es
mich betrifft – die Einnahme eines lacanianischen Standpunkts
mit sich bringt. Ich bin mir dessen nicht ganz sicher. Was ich zu
252 JUDITH BUTLER – ERNESTO LACLAU
*
Weitere Reflexionen zu
Hegemonie und Gender
JUDITH BUTLER
Der Austausch, den Ernesto Laclau und ich letztes Jahr über e-
mail führten, wird jetzt zu einem Gespräch, das sich – wie ich er-
warte – fortsetzen wird. Und ich würde gerne diese »supplemen-
tierende« Reflexion nutzen, um darüber nachzudenken, was
solch ein Gespräch möglich macht und welche Möglichkeiten
aus solch einem Gespräch entspringen können.
Zuallererst wurde ich wohl in das Werk von Laclau und Mouffe
gezogen, als ich Hegemonie und radikale Demokratie zu lesen be-
gann – und realisierte, daß ich marxistische Denker gefunden
hatte, für die Diskurs nicht einfach nur eine Repräsentation
präexistenter sozialer und historischer Realitäten war, sondern
auch für das Feld des Sozialen und Historischen konstitutiv war.
Der zweite Moment kam, als ich realisierte, daß für das Konzept
der Artikulation – von Gramsci übernommen – das Konzept von
Re-Artikulation zentral war. Als ein zeitlich dynamisches und re-
lativ unvorhersagbares Kräftespiel wurde Hegemonie von
Laclau und Mouffe als eine Alternative zu statischen Formen
von Strukuralismus gefaßt, welche dazu tendieren, gegenwärtige
soziale Formen als zeitlose Totalitäten zu konstruieren. Ich lese
Laclau und Mouffe als politische Transkription von Derridas
»Die Struktur, das Zeichen und das Spiel«: Eine Struktur ge-
winnt ihren Status als Struktur, ihre Strukturalität, nur durch
ihre wiederholte Neueinsetzung. Die Abhängigkeit dieser Struk-
tur von ihrer Wiedereinsetzung bedeutet, daß die eigentliche
Möglichkeit von Struktur von einer Wiederholung abhängt, die
in keinem Sinne vollständig im vorhinein determiniert ist, daß
es – damit Struktur und im Ergebnis soziale Struktur möglich
wird – an ihrer Basis zuerst eine kontingente Wiederholung ge-
ben muß. Darüber hinaus bedeutet für manche soziale Forma-
WEITERE REFLEXIONEN 255
ANMERKUNG
ERNESTO LACLAU
Ich habe den Dialog ebenfalls sehr genossen, den Judith Butler
und ich letztes Jahr über eine e-mail Korrespondenz geführt ha-
ben zwischen den – wie es Borges genannt hätte – »unwahr-
scheinlichen Geographien« von Berkeley und London. Die Kon-
vergenzpunkte unserer jeweiligen Zugänge sind klar: Wie Butler
herausstreicht, treffen sich die gender-Formationsprozesse, die
sie beschreibt, und die Logik der Hegemonie, wie sie in meinen
Arbeiten (und in jener Arbeit, die ich in Zusammenarbeit mit
Chantal Mouffe geschrieben habe) präsentiert wurde, in einigen
ihrer Annahmen. Weder wir noch Butler sehen Identitäten – po-
litische in einem Fall, gender-Identitäten im anderen – als Aus-
druck eines zeitlosen Mechanismus oder Prinzips, sondern als
Produkte der Einsetzung kontingenter Normen; und wir alle
sprechen diesen Normen einen transzendentalen Status ab, eine
apriorische »Härte«, die sich unverändert in allen historischen
Instanzen reproduziert. Im Gegenteil, wir sehen sie historischen
Variationen unterworfen und durchdrungen von einer konstitu-
tiven Unbestimmtheit und Ambiguität.
Ich habe das Wort »transzendental« ex professo verwendet, denn
es ist der Status des Transzendentalen, der an der Wurzel vieler
entscheidender Probleme gegenwärtiger Theorie liegt. Die mei-
sten würden zustimmen, daß Transzendentalismus in seinen
klassischen Formulierungen heute unhaltbar ist, aber es gibt ge-
nauso eine allgemeine Übereinstimmung darüber, daß irgend-
eine Art weicher Transzendentalismus unvermeidlich ist. In der
dekonstruktiven Tradition etwa hat das Konzept von »Quasi-
Transzendentalien« beträchtliche Verbreitung gefunden. Aber
die meisten theoretischen Zugänge werden von der verwirren-
den Frage nach dem präzisen Status dieses »quasi« heimge-
sucht. Das Problem berührt einerseits die Frage der »Metaspra-
che«, andererseits – in der Theoriekonstruktion – den Status der
KONVERGENZ IN OFFENER SUCHE 259
scheidet. Das ist der Punkt, an dem die Nützlichkeit dieser Ana-
lyse für eine Hegemonietheorie sichtbar wird: Denn Hegemonie
beinhaltet sowohl eine Machtrelation, in der etwas Differentes
vom Gleichen assimiliert wird, als auch eine Bewegung in die
andere Richtung, durch die die differentielle Instanz – insofern
sie Teil einer Serie von äquivalentiellen Fällen ist – das Gleiche
nur produzieren kann, indem es dessen Bedeutung fortschrei-
tend entleert. Die einzigen logischen Erfordernisse, damit das
denkbar ist, sind: 1) Wir verstehen Wiederholung als einen addi-
tiven Prozeß und nicht bloß als eine diskrete Serie; und 2) die
Äquivalenzdimension der differenten Instanzen wird soweit un-
terstrichen als der Entleerungseffekt gegenüber dem hegemonia-
len Term frei operieren kann. Diese zwei Erfordernisse können –
ohne der Struktur des Wiederholungsprozesses Gewalt anzutun
– leicht erfüllt werden. Es verhält sich wie mit Wittgensteins Ar-
gument bezüglich der Befolgung von Regeln: Die Instanz der An-
wendung muß Teil der Regel selbst sein. In Begriffen der Hege-
monie haben wir eine Konstruktion der fortschreitenden Entlee-
rung dessen, was die iterativen Serien auf der Basis einer additi-
ven Pluralisierung der Fälle zusammenführt. Deshalb ist Hege-
monie eine gefährliche Operation: Einerseits hängt ihr Erfolg
davon ab, sich selbst in immer größere Systeme von kontextuel-
len Differenzen zu absorbieren; aber genau aufgrund dieses Er-
folges wird die Verbindung des hegemonialen Prinzips mit den
Differenzen, die dessen ursprüngliche Identität konstitutierten,
immer dünner.
Zum Schluß: Namen. Butler stell sich die Frage: »Was konstitu-
iert die Begrenzungen der performativen Macht der Benennung?
Was hält den Namen als einen Ort hegemonialer Artikulation of-
fen?« Meine Argumente verlaufen hier parallel zu jenen bezüg-
lich Wiederholung. Mein ursprünglicher Kommentar zu diesem
Thema – auf den sich Butler bezieht – stand in Verbindung zu
Slavoj Ÿiÿeks Analyse der Polemik zwischen Deskriptivisten und
Anti-Deskriptivisten über die Frage, wie sich Namen auf Realität
beziehen. Ÿiÿek ergreift Partei – wie ich es tue – für die Anti-Des-
kriptivisten (für Kripkes Begriff eines primal baptism), aber er
fügt die entscheidende Bemerkung hinzu, daß das X, das den
Benennungsprozeß unterstützt, nichts ist, was zum Objekt
gehören würde, sondern ein retroaktiver Effekt des Benennungs-
prozesses selbst. Das habe ich folgendermaßen kommentiert:
»Wenn die Einheit des Objekts der retroaktive Effekt von Benen-
nung selbst ist, dann ist Benennung nicht nur das reine nomina-
KONVERGENZ IN OFFENER SUCHE 261
ANMERKUNG
Anhang
Von den Namen Gottes
ERNESTO LACLAU
Eckhart sagt: »Gott ist namenlos, denn weder kann man von
ihm sprechen noch ihn kennen ( … ) Daher ist es nicht wahr,
wenn ich sage, daß ›Gott gut ist‹. Ich bin gut, doch Gott ist nicht
gut! Tatsächlich würde ich sogar sagen, daß ich besser als Gott
bin, denn was gut ist, kann besser werden und was besser wer-
den kann, kann das Beste werden! Wenn Gott nun nicht gut ist,
kann er nicht besser werden, er kann nicht der Beste werden.
Diese drei sind weit von Gott entfernt: ›gut‹, ›besser‹, ›das Beste‹,
denn er ist völlig transzendent ( … ) Auch solltest du nicht wün-
schen, irgend etwas von Gott zu verstehen, denn er ist jenseits
alles Verstehens ( … ) Wenn du etwas von ihm verstehst, dann ist
er nicht darin, und wenn du etwas von ihm verstehst, fällst du in
Unwissenheit, du wirst wie ein Tier, denn der tierische Teil in Ge-
schöpfen ist das, was Unwissen ist.«1
Wenn Gott namenlos ist, wie von Meister Eckhart im obigen Zi-
tat behauptet, dann aufgrund Seiner absoluten Einfachheit, die
von sich selbst jede Differenzierung oder jedes repräsentationale
Bild ausschließt: »Du solltest Gott nicht-geistig lieben, das heißt,
die Seele sollte nicht-geistig werden und von ihrer geistigen Na-
tur losgelöst. Denn solange die Seele geistig ist, wird sie Bilder
besitzen. Solange sie Bilder besitzt, wird sie Verbindungsglieder
besitzen und solange sie diese besitzt, wird sie keine Einheit
oder Einfachheit besitzen. Solange sie der Einfachheit erman-
gelt, liebt sie Gott nicht wirklich, denn wahre Liebe hängt von
Einfachheit ab«2.
Das einzige wahre Attribut Gottes ist Einssein, denn es ist das
einzige Attribut, das nicht bestimmt ist. Wenn ich sage, daß Gott
gut ist, dann ist »Gutsein« eine Bestimmung, die die Negation
266 ERNESTO LACLAU
fern Gott der Unaussprechbare ist, könnten wir jeden Namen be-
nutzen, den wir möchten, um uns auf Ihn zu beziehen, solange
diesem Namen kein bestimmter Inhalt zugeschrieben wird. Eck-
hart sagt, daß es genau aus diesem Grund das beste ist, einfach
»Gott« zu sagen, ohne Ihm irgendwas zuzuschreiben. So muß
der Name Gottes, wenn wir Seine erhabene Realität (und unsere
Erfahrung von dieser) nicht beschmutzen wollen, ein leerer Sig-
nifikant sein, ein Signifikant, dem kein Signifikat angeheftet
werden kann. Und das stellt uns vor ein Problem. Ist »Gott«
solch ein leerer Signifikant oder ist dieser Name bereits eine In-
terpretation des Erhabenen, der absoluten Fülle? Wenn zweites
der Fall ist, dann wäre es die schlimmste Respektlosigkeit, das
Erhabene »Gott« zu nennen. Mit anderen Worten: während die
mystische Erfahrung einer unaussprechlichen Fülle unterliegt,
die wir »Gott« nennen, ist dieser Name – Gott – Teil eines diskur-
siven Netzwerks, das nicht auf diese Erfahrung reduziert werden
kann. Und tatsächlich hat die Geschichte des Mystizismus eine
Fülle an alternativen Namen bereitgestellt, um auf diese Erha-
benheit zu verweisen: das Absolute, Realität, Der Grund, etc. Es
gab sogar einige mystische Schulen – wie bestimmte Zweige des
Buddhismus –, die konsequent atheistisch waren. Wenn die my-
stische Erfahrung wirklich die Erfahrung eines absoluten Trans-
zendierenden sein soll, muß sie unbestimmt bleiben. Nur Stille
wäre angemessen. Es »Gott« zu nennen, heißt bereits, es zu ver-
raten, und das gleiche würde auf jeden anderen gewählten Na-
men zutreffen. »Gott« einen Namen zu geben, ist eine viel
schwierigere Operation, als wir erwartet hätten.
Kommen wir nun zu unserer zweiten Schlußfolgerung. Wie wir
gesehen haben, gibt es einen alternativen Weg, Gott zu benen-
nen, und zwar durch die Selbstzerstörung der partikularisierten
Inhalte einer Äquivalenzkette. Wir können auf Gott durch die
Namen »star, stone, flesh, soul and clod« verweisen, da – soweit
sie Teil einer universellen Äquivalenzkette sind – jeder dieser Na-
men durch jeden beliebigen anderen substituiert werden kann.
Ergo wären sie alle austauschbare Begriffe, um die Totalität alles
Existenten zu benennen – i.e. das Absolute. Hier sind wir jedoch
mit einem von der direkten Namensgebung Gottes unterschiede-
nen Problem konfrontiert – oder vielleicht mit dem gleichen Pro-
blem aus einem anderen Blickwinkel –, denn wenn diese Opera-
tion gelingen würde, hätten wir mehr zustande gebracht als nur
eine universelle Äquivalenz. Wir hätten die äquivalentielle Rela-
tion zerstört und in eine einfache Identität zusammenbrechen
VON DEN NAMEN GOTTES 273
II
Wollen wir uns für einen Moment auf diese doppelte Unmöglich-
keit konzentrieren, um die der mystische Diskurs organisiert ist,
und beobachten, zu welchem Ausmaß er ausschließlich dem
Feld der mystischen Erfahrung zugehört, oder ob er eher als der
Ausdruck von etwas verstanden werden sollte (in mystischem
Gewand), das der generellen Struktur aller möglichen Erfahrung
angehört. Die Benennung Gottes ist unmöglich, sagten wir, weil
er das absolute Transzendierende ist. Er ist jenseits aller positiven
Bestimmung. Wenn wir die logischen Implikationen dieser Un-
möglichkeit radikalisieren, sehen wir, daß selbst die Annahme,
Gott sei eine Entität, daß selbst die Annahme von Einheit – wenn
Einheit verstanden wird als die Ungeteiltheit einer Entität – eine
bereits unangemessene Interpretation darstellt, weil es etwas
einen Inhalt zuschreibt, das jenseits jedes möglichen Inhalts ist.
Wenn wir innerhalb des Gebiets des Diskurses bleiben, des Re-
präsentierbaren, ist das Erhabene – das Numinose, wie Rudolph
Otto es nennt – etwas, das radikal unrepräsentierbar ist. Wenn
wir nicht von der rationalistischen Annahme ausgehen, daß es
nichts in der Erfahrung gibt, das nicht in einen positiven reprä-
sentationalen Inhalt übersetzt werden könne, wird diese Unmög-
lichkeit – als Grenze aller Repräsentation – nicht einfach ein lo-
gische Unmöglichkeit sein, sondern eine der Erfahrung. Eine
lange Tradition hat dem einen Namen gegeben: die Erfahrung
der Endlichkeit. Endlichkeit beinhaltet die Erfahrung der Fülle,
des Erhabenen, als einem radikalen Mangel – und ist in diesem
Sinn ein notwendiges Jenseits. Erinnern wir uns, wie Lacan die
imaginäre Identifikation beschreibt, die im Spiegelstadium
stattfindet: Sie setzt einen konstitutiven Mangel voraus; es ist die
Primäridentifikation, die als Matrix für all die folgenden sekun-
dären dient – sodaß das Leben des Individuums die vergebliche
Suche nach einer Fülle sein wird, der es systematisch beraubt
werden wird. Das Objekt, das ultimative Fülle erzeugen könnte,
ist das Jenseits, von dem der Mystiker eine direkte Erfahrung zu
haben behauptet. Als solches ist es etwas, das jede mögliche Er-
fahrung begleitet. Die historische Bedeutung des mystischen
VON DEN NAMEN GOTTES 275
werde mich nun auf die Strategien beziehen, die durch diese un-
vermeidliche Kontamination ermöglicht werden. Ich werde zwei
Beispiele geben, eines aus dem Feld der Politik und das andere
aus der Ethik.
Wie ich in meinen bisherigen Arbeiten argumentiert habe, ist
»Hegemonie« das Schlüsselkonzept, um Politik zu denken13. Ich
verstehe unter »Hegemonie« ein Verhältnis, in dem ein partiku-
larer Inhalt in einem bestimmten Kontext die Funktion über-
nimmt, eine abwesende Fülle zu inkarnieren. In einer Gesell-
schaft zum Beispiel, die unter einer tiefen sozialen Disorganisa-
tion leidet, kann »Ordnung« als die positive Kehrseite einer Si-
tuation generalisierter Anomie gesehen werden. Die Initialsitua-
tion, der »Ordnung« entgegengesetzt wird, ist die Erfahrung von
Deprivation, Endlichkeit und Faktizität. Wenn diese Erfahrung
einmal an verschiedenen Punkten des Sozialen auftritt, werden
alle diese als einander äquivalent gelebt werden, denn – jenseits
ihrer Differenzen – werden alle auf eine gemeinsame Situation
der Dislokation und Unvollständigkeit deuten. So ist Fülle als
positive Kehrseite dieser Situation des konstitutiven Mangels
das, was die Gemeinschaft vervollständigen soll. Hier allerdings
tritt eine zweite Dimension in den Vordergrund. Wir wissen, daß
eine Äquivalenzrelation differentielle Bedeutung schwächt.
Wenn wir uns darauf konzentrieren müssen, was alle Differen-
zen gemeinsam haben (worauf die Äquivalenz zeigt), müssen
wir uns in Richtung eines »Jenseits« aller Differenzen bewegen,
das tendenziell leer sein wird. »Ordnung« kann keinen partikula-
ren Inhalt haben, wenn sie die einfache Kehrseite aller als unge-
ordnet gelebter Situationen ist. Wie im Fall der mystischen
Fülle, muß die mystische Fülle von Begriffen benannt werden,
die – soweit möglich – von jedem positiven Inhalt entleert sind.
Die beiden beginnen sich an jenem Punkt zu trennen, an dem
Mystizismus alle möglichen Strategien einsetzen wird, um die
ultimativ unvermeidliche Positivität von Inhalt auf ein Mini-
mum zu reduzieren, während eine hegemoniale Praktik aus die-
ser ultimativen Unmöglichkeit ihre raison d’être machen wird.
Weit davon entfernt, den Spalt zwischen Fülle und differentiel-
lem Inhalt zu vergrößern, wird sie aus einem bestimmten parti-
kularen Inhalt den eigentlichen Namen dieser Fülle machen. An
diesem Punkt tritt jedoch eine dritte Dimension in Operation.
Wir haben bereits hervorgestrichen, daß die Bedingung einer
Äquivalenzrelation ist, daß die differentiellen Bedeutungen – ob-
wohl geschwächt – nicht verschwinden und daß sie der Möglich-
278 ERNESTO LACLAU
ANMERKUNGEN
(a) Bücher:
(b) Artikel
Judith Butlers Beitrag erschien zuerst unter dem Titel Poststructuralism and
Postmarxism in diacritics 4/93, Anna-Marie Smiths Beitrag unter dem Titel
Hegemony Trouble: The Political Theories of Judith Butler, Ernesto Laclau and
Chantal Mouffe in Jeffrey Weeks (Hg.), The Lesser Evil and the Greater
Good. The Theory and Politics of Social Diversity, London (Rivers Oram
Press) 1994, jener Slavoj Ÿiÿeks unter dem Titel Beyond Discourse Analysis
als Nachwort zu Ernesto Laclau: New Reflections on the Revolution of Our
Time, London/New York 1990, und jener Simon Critchleys ist eine überar-
beitete Fassung eines Textes, der unter dem Titel The Hypothesis, the Con-
text, the Messianic, the Political, the Economic, the Technological in Acta Phi-
losophica (Laibach), 2/1995, erschien.
Die Texte von Butler, Critchley, Dyrberg, Laclau, Smith, Stavrakakis und
Ÿiÿek wurden aus dem Englischen ins Deutsche gebracht von Oliver Mar-
chart.